/δBlatt_1

/ ≥ Collegium Antropologicum

/oder

/Vorlesungen über

/den

/Menschen

/von

/HE. Immanuel Kant

/Professore Log. et Metaph. ord.

/h.t. Decano spectabl.

/Academiae Regiomonti

/gesammlet

/von

/Theodor Friederich Brauer.

/civ. Acad. Regiomonti

/%den 13. Octobr. incept.

/1779. ≤

/δBlatt_1'

/ ≥ Prolegomena

/Die Wißenschaft des %Menschen $anthroopologia$ hat mit der Physiologie
des außern Sinnes eine Aehnlichkeit, insofern in beyden die Gründe der
%Erkenntniß aus Beobachtungen %und Erfahrungen genommen werden. Nichts
scheint wohl dem %Menschen interessanter zu seyn, als diese Wißenschaft,
%.und doch ist %.keine mehr vernachläßiget, als eben diese. Die Schuld wird wohl
an der Schwürigckeit beobachtungen von dieser Art anzustellen %.und an der
seltsamen Illusion, (da man glaubt dasjenige zu kennen, womit man so
genau verbunden ist,) liegen. Dadurch haben sich in manchen Wißenschaf-
ten wichtige Stücke der Beobachtung entzogen, weil man sie nicht würdig ge-
nug hielt, darauf zu reflectiren. Eine Ursache mag auch wohl mit diese
seyn, daß man nicht viel erfreuliches zu finden, vermuthet, wenn man nem-
lich die schwürige Höllenfahrt zur %.Erkenntniß seiner selbst anstellen
würde. aber warum ist nicht aus dem großen Vorrath der Beobachtungen en-
glischer Verfaßer eine zusammenhangende Wißenschaft des %Menschen zum Vorschein
gekommen, da man noch bis dato Sie als einen «d»an der Metaphysic angehängten
Theil angesehen hat %.und daher nur soviel Achtsamckeit auf Sie gewandt, als die Thei-
le der Metaphysic zuließen. Dieser Fehler ist vielleicht aus dem Irr-
thum gekommen. weil ich in der Metaphysic alles aus Mir nehme, und mithin
hat man alle Theile der Metaphysic als Folgen der Seele angesehen.

/Aber die Metaphysic hat nichts mit den ErfahrungsErkenntnißen zu thun.

/δRest_leer

/δSeite 1

/ ≥ $a$/$o$ ≤

/Die empirische Psychologie ist %.eine Art von Naturlehre. Sie handelt die Erschei-
nungen unserer Seelen ab, die einen Gegenstand unseres innern Sinnes aus-
machen, und zwar eben die Art, wie die empirische Naturlehre oder die
Physic die Erscheinungen abhandelt. Man sieht also gleich ein, wie wenig
diese Lehre einen Theil der Metaphysic ausmachen kann, da diese blos die
conceptus puros oder Begriffe, die entweder blos %durch die Vernunfft gegeben
sind, oder doch wenigstens deren Erckenntniß genau in der Vernunft
lieget, zum Vorwurf hat. Es kommt aber dieser Irrthum bloß daher,
theils, weil die Alten noch wenige Erfahrung der Seele gesamlet hat-
ten, theils, weil sie %nicht wußten, wo sie dieser Lehre ihren Platz geben sol-
ten; denn sie hielten die gantze Metaphysic für eine ausgebreitete
Psychologie, weil die Seele %.ein gegenstand des inneren Sinnes ist, aus
der Seele aber alle %Verstandes_Begriffe entspringen. Da wir aber nun
schon eine gantze Samlung dießer Qvelle der Menschlichen Handlungen
oder der mancherley Erscheinungen der Seele, Besonders %durch die %.englischen
Schriftsteller erhalten haben, so können wir diese Lehre eben wie die
Physic vortragen. Es ist zu Bewundern, daß %sich die Alten %nicht mehr %mit der
Erckenntniß des Menschen beschäftiget haben, ob sie gleich diese Bemühung
für die nützlichste erkannt haben. Es ist aber nichts gewöhnlicher, als
daß man das, womit man umzugehen gewohnt ist, erckannt zu haben
glaubet, und solches %.seiner Untersuchung %nicht würdig hält. Diese Meinung,
welche uns eingepflantzt ist, hat den Wißenschaften ungemeinen Ab-
bruch gethan, und uns die Erckenntniß vieler Dinge entzogen. Es ist a-
ber %.zugleich anzumercken, daß die Wißenschaften eben dadurch, weil sie auf
Academien in %.einer gewißen Ordnung %.und von einander abgesondert
vorgetragen werden, einen großen Zuwachs %.und Ausbreitung erhalten
haben. Eben so geht es mit der empirischen Psychologie; denn so lange
sie der Metaphysic angehängt gewesen, und %nicht besonders vorgetra-
gen worden, so ist sie %.von sehr geringem Umfange gewesen. Sie ver-
dient auch %.eine besondere Vorlesung, theils weil sie gar nicht in die

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¿¿»Metaphysic gehört, theils weil sie %.von niemanden erlernet werden kann, ohne daß
dazu vorgängige Wißenschaften erfordert werden. Man kan hier die Qvelle
aller %Menschlichen %.Handlungen %.und die Characteres der %Menschen im Zusammenhange erlernen,
die man nur hin und wieder in den Wißenschafften Romanen zer-
streuet findet; Man kann alsdenn jeden Zug der %Menschheit, den man aus einer
Schrifft bemerckt, aus %.seiner Qvelle herleiten, %.und auf diese Art seine Er-
ckentniß vom Menschen %vermehren. Montaigne, der vor 200. Jahren in
alter französischer MundArt ein Buch geschrieben, ist blos darum bey einem
jeden vernünftigen Gelehrten jetzt noch in Ansehen, weil man den %Menschen aus %.seinen Worten
in %.seinen %verschiedenen Umstanden kennen lernt, ob er sonst wohl etwas unangenehm
zu lesen ist, weil er immer von sich selbst redet.

/Wir wollen auch bey Abhandlung dieser Lehre den %Menschen in %.seinen %.verschiedenen Zustän-
den kennen lernen, zE. im rohen %.und ungesitteten Zustande, nach seinem
%.verschiedenen Alter etc. Der erste Gedancke der bey dem %Menschen bey dem Gebrauch
seines inneren Sinnes entsteht, ist das Ich. Es ist merckwürdig, daß wir
uns unter dem Ich soviel vorstellen, denn bey Zergliederung deßelben
finden wir, daß wir uns unter demselben folgende 4. Stücke dencken:

/I. Die Einfachheit der Seele: denn das Ich drückt nur den Singularem aus,
und wenn die Seele zusammen gesetzt wäre %.und ein jeder Theil der Gedan-
cken hätte, so müste es heissen: wir dencken.

/II. Die Substantialitaet der Seele, d.i. daß das Ich kein Predickat von ei-
nem andern Dinge sey, ob ihm %.gleich als dem subject viele praedicate kön-
nen beygelegt werden. Denn wenn ich zE. sage: ich wil das; ich dencke
das; so sondere ich doch alle praedicate von dem Ich ab, und betrachte
mich als das Subject, von dem alles dieses praedicirt wird.

/III. Eine vernünftige Substantz; denn indem ich das Ich dencke, so em-
pfinde ich, daß ich mich zum Gegenstande meiner Empfindung machen
kan; hieran äußert sich aber vornemlich die %Vernunft, oder das obere
%Vermögen der Seele, daß es die untern gleichsam inspirirt; und indem ich
mich zum Gegenstande %.meiner Gedancken mache, so reflectire ich über die
%Vermögen, die in der Seele liegen.

/IV. Die Freyheit der Seele. Wenn ich das Ich dencke, so sondere ich mich
von allem andern ab, %.und dencke mich unabhängig von allen äußern
Dingen. Eben dieses nun, daß man, wenn ich das Ich nenne, sich gleichsam zum
Mittel oder StandPun«¿»kte aller Dinge macht, worauf alles %.seine Beziehung hat, macht,
daß man in Gesellschafften so ungern einen anhört, der immer von sich selbst
redet, %.und wenn man sich gleich zuweilen an die Stelle desjenigen setzen kann,
so thut man es doch ungern. Man will vielmehr haben, daß keiner sich
zum Standpunkt aller Dinge macht, sondern von allen Dingen geredet werde, die auf
alles eine Beziehung haben. Daher es auch als eine Höflichckeit anzusehen,
daß alle Fürsten (der König von Spanien in neuern Zeiten ist hiervon
eine Ausnahme) sich %nicht Ich sondern Wir nennen, weil sie %.nämlich vor Zeiten
alles %mit Bewilligung der Stände erst thaten.

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/Das Ich bedeutet in weitläuftigen %Verstande den %Menschen, %.und im engern die See-
le. Daß die Seele als etwas einfaches von Körpern unterschieden sey, siehet
man daraus, daß, wenn auch ein Theil des Körpers nach dem andern zer-
stört wird, der %Mensch ohne Hände und Füße dennoch das ganze Ich sich nennt.

/Die Stoiker %.und Plato %verstanden unter dem Ich nur allein das %unsterbliche We-
sen, die Seele, und glaubten, daß sie den Körper nur als wie eine Schnecke ihre
Schaale %mit sich führe. Sie standen dahero auch in dem Wahne, daß sie auf keine
Weise beleidigt werden könnte, weil niemand ihrer Seele etwas anhaben kön-
te, wenn er auch ihren Körper marterte. Ein jeder Sclave hielt sich bey ihnen
für frey, denn er hatte eine freye Seele. Die Epicuraeer waren von der ent-
gegen gesetzten Meinung. Man muß beym %Menschen immer die Thierheit und Ratio-
nabililaet unterscheiden. In Ansehung jener ist er von andern Thieren we-
nig unterschieden; ja Lock %.und ein anderer Italienischer Medicus will
gar behaupten, daß die %Menschen geneigter wären, auf 4. als auf 2 Füßen zu
gehen, weil ihre ganze Leibes_constitution so eingerichtet wäre, daß sie auf
4. gehen müßten, %.und daß daraus, weil sie nur auf 2. gehen, sehr viele Kranck-
heiten entstehen, davon sie aber im ungesitteten Zustande abzuhelfen ge-
wußt. Wie wenig ist ein Hottentot von einem Orang-Outang unterschie-
den, wenn man ihm %.seine Seele nähme, und es scheint wircklich, daß die %Menschen ohne
Seele %.kein gutes zahmes, %sondern wohl gar ein Raubthier werden möchten. Es hat
also der %Mensch eine doppelte Persohnlichckeit, nemlich, als %Mensch %.und als Seele. Wir
sind also gewiß, daß die Seele ein einfaches, %.und vom Körper gantz unter-
schiedenes Wesen sey. $psychè$ bedeutet %.eigentlich einen Schmetterling, der
nachdem er den Wurmbalg abgelegt, ein Vogel geworden. Mit diesem
Wurmbalge vergliechen die Griechen den Körper, %.und der Schmetterling
stellete die Seele vor. Es war dieser Schmetterling schon bey den Egyptern das
Sinnbild. Als Anaxarchus auf Befehl eines Tyrannen im Mörser zerstossen
wurde, so sagte er: tunde, non tundes Anaxarchum, sed Anaxarchi culeum.

/Wir sehen hieraus wirklich, daß der %Mensch die substantiabilitaet der Seele em-
pfinde, %.und wir fühlen es auch, daß unsere Seele «zu»bisweilen leidend, und zu-
weilen thätig sey. Und daher nannte schon Lucretius die Seele in Absicht ih-
res leidenden Zustandes animam, in Absicht des thätigen animum. Wir
beobachten die Seele aber aus %.einem 2fachen gesichtsPuncte: nemlich als ani-
ma (Seele) animus (Gemüth) %.und mens (Geist). In so ferne die Seele in Ver-
bindung %mit dem Körper gedacht wird, %.und also %nicht empfinden kann, daß das, was
Die Sinne afficiret, ihm auch mitgetheilt werde, ist die Seele, %.und da ist sie blos
leidend. In so fern aber die Seele auf die %.sinnlichen Eindrücke resignirt %.und sich
thätig beweißt, ist sie animus, %.und soweit sie ganz unabhängig von aller Sinn-
lichkeit sich etwas vorstellt, ist sie mens. zE. ich kan nicht verhindern,

/δSeite 4

/daß der Schmertz, der meinem Leibe angethan wird, auch nicht in meine
Seele übergehe; allein Ich kan verhindern, daß meine Seele hierü-
ber reflectire: ZE. Wenn ich das Podagra habe, %.und dencke, was daraus
werden wird, wie ich mein Brod werde erwerben können, %.und dies
%verursacht Traurigckeit über Gesundheits_Umstände; hier agirt animus
Diese Gemüths_Kranckheit ist es auch, die elend macht: weil diese reflexion
die Thiere nicht machen, so sind sie auch niemals elend. %.Endlich aber ent-
steht der höchste Grad der Traurigckeit daraus, wenn mein geist von al-
len Schmertzen abstrahirt, einen SelbstAdel in mir erweckt, wenn er
sich vorstellt, wie ich mir diese Kranckheit zugezogen, %.und %durch meine eigene
Schuld %.unglücklich geworden bin. Diese Traurigckeit wirkt jederzeit %mit dop-
pelten Kräften auf den Körper. Es ist sehr gewöhnlich, daß die %Menschen
sagen, sie würden gern mit einem andern %Menschen tauschen; sie wünschen
sich eines andern %Menschen GesichtsBildung, Gedächtnis; und wenn sie doch %mit allen tau-
schen können, so würden sie doch ihr Ich %nicht %vertauschen, weil sich ein jeder für
vollckommen in %.seiner Art hält. Es liegt auch etwas wiedersprechendes in
diesem Satze, denn sie wollen tauschen, %.und auch nicht. Wir sagen oft
die Rede Rede hat keinen Geist, die Gesellschaft hat %.keinen Geist p p %.und
hieraus ist zu ersehen, daß wir doch %durch %.einen Geist das erste principium
der Bewegung verstehen. Das Gemüth nennt man auch im gemeinen Re-
denGebrauch das Hertz, so verstehen wir darunter %nichts anders, als des %Menschen
%.körperliche constitution ist so beschaffen, daß %.seine Meinung %nicht anders Beschaffen
seyn könne %.und daher geht es sehr wohl an, daß %.ein %Mensch sehr tugendhaft seyn
aber doch ein Böses Hertz haben könne. Solches behauptet man vom So-
ckrates, der, %.obgleich %.seine Meinung %nicht mit dem Grundsatze der Vernunft überein-
stimmete, er dennoch dieselben %durch die Vernunft zu leiten wußte. Allein wir
äußern gegen ein«ander»en ein größeres zutrauen, der ein gutes Ge-
müth hat, als gegen denjenigen, welcher zwar tugendhaft ist, aber %.ein
böses Hertz hat. Die Ursache davon ist diese: man ist immer sicherer, wenn
man sich einem anvertraut, deßen Neigungen schon mit den Grundsätzen
der Vernunft übereinstimmen, als einem, der selbige immer bestreiten muß;
denn wie oft sehen wir uns nicht von %.einem %.sinnlichen Gedancken überrascht,
noch ehe wir uns deßen recht bewußt sind. Es ist aber wohl zu mercken,
daß man niemals sagt, er hat einen bösen Geist - es sey denn, daß
er vom Teufel beseßen wäre. Aus der Ursache, weil der Geist unab-
hängig vom Körper und %.äußerlichen Antrieben blos nach dem GrundSatz der
Vernunft handelt, niemals anders, als gut handeln kann, denn er

/δSeite 5

/wählt nicht was schön, sondern was gut ist. Daher sagt man auch: das
Fleisch wiederstrebet dem geist. Wenn nun der geist blos handeln könnte,
so würde es sehr %.nützlich seyn, wenn das Fleisch dem Geist wiederstritte.
Die Welt hat eine Beziehung sowohl auf unsern Körper, als auch auf
unsre Seele; und nachdem wir die Welt aus diesem oder jenem gesichts-
Puncte betrachten, nachdem erscheint sie uns bald so, bald anders: Als
einmahl ein Bewohner einer Felsen Insul, der nichts in der Welt, als
diesen Felsen kannte, %.und einige wenige Inseln, die um ihn herum lagen,
auf den Grund des Beherrschers der Insel kam %.und %.seinen Pallast sahe: so pries
er ihn glücklich, als einen Beherrscher der halben Welt. Wenn %.ein %Mensch in die
%.unglückliche Situation kommt, daß er arm %.und %verlaßen ist, so können ihm alle Schön-
heiten der Natur, die um ihn her sind, %nicht %.vergnügen; es ist alles ein betrübter
Anblick für ihn: gehts ihm aber wohl, so heitert sich alles um ihn auf.

/Wir gehen nunmehr zu den Vorstellungen, %.und mercken an: daß man
sich derselben theils bewußt ist, %.theils aber auch nicht. Der größte Reichthum
unserer %.Erkenntniß steckt in den dunckeln Vorstellungen, die nachmals von dem
Bewußtseyn in ein größer Licht gesetzt werden: denn das Bewustseyn
bringt keine Vorstellungen hervor, sondern es kläret sie nur auf. Wenn %.ein
fertiger Musicus sich an ein Clavier setzt, %.und in Gedancken zu phantasieren
anfängt, so muß er, wenn keine Dissonance hervorckommen soll, %.theils auf
die künfftigen Thöne prospiciren, %theils auf die hervorgebrachten respiciren;
er muß die Finger recht setzen, %.und wenn er eine gantze Weile gespielt
hat, so ist er sich gar %nicht bewußt, was er gespielt hat. Ferner, wenn wir %.ein
Frauenzimmer, oder einen, den wir ehren, zur rechten Hand gehen lassen,
so geschieht solches, damit wir ihm den Gebrauch %.seiner rechten Hand %nicht benehmen
wollen. Wenn wir %.endlich den Geitz betrachten, so finden wir, daß der
Karge viele Vorstellungen hat, ohne sich derselben recht bewußt zu seyn.
ZE. wenn jemand viel Geld in der Tasche hat, so wird er sehr wenig vom
Appetit gereitzt, warum? er weiß, daß er dies alles haben kan, wann er
will. Ein Geitziger, der zu Hause %.einen Kasten %mit Gelde hat, sieht andere in
prächtigen Kutschen fahren, er bleibt dabey gelaßen, %.und mißkennt alle
äußere Triebe zur Nachahmung, woher? weil er alles dies in %.seinen Kasten
hat, %.und weiß, daß er %durch %.sein Geld alles das haben konnte, wenn er wollte:
wir sind uns alle der wenigsten Vorstellungen bewußt.

/Man konnte hier %.unendliche Phaenomena der %.menschlichen Seele erzählen, die der
Philosoph aus ihrer Dunckelheit ans Licht bringt, so wie er in der Physic
bey Betrachtung der Körper ihre geheimen Kräfte %durch die Vernunft heraus bringt.
Wir wollen nur von %.etlichen der gemeinen phaenomen den Grund anführen.
Wir bemercken ZE. daß die Mutter die Söhne jederzeit mehr liebet, als

/δSeite 6

/die Töchter, %.und unter den Söhnen den am meisten, der munterer oder lüder-
licher als die andern ist. Woher kommt das? %.responsio aus einem doppelten
Grunde:

/1. Ist die Neigung für das andre Geschlecht dem %Menschen schon in die Natur gelegt.

/2., Sieht die Mutter auf den Sohn herab, als einen, der Sie künftig beschü-
tzen soll, %.und daher hoft sie %.von dem der munter ist, sehr leicht, daß er sie be-
schützen werde, als der, welcher schläfrig oder sittsam ist, dies sind ihre dunk-
le Vorstellungen. Ferner bemercken wir auch bey dem Weisesten %.eine
geheime Furcht fürm Tode, ob er %.gleich weiß, daß die Kürtze des Lebens der
größte Trost wieder alle Unglücks-Fälle ist. Die Ursache davon liegt in
%.einer duncklen Vorstellung. Sehr oft haben wir auch gar keine Macht %durch die
Vernunft, die in der Sinnlichckeit liegende dunckle Vorstellung zu überwäl-
tigen zE. wenn wir auf %.einem hohen Thurm sind, %.und %.von dem Gange, der
fest «fes»gebauet ist, herunter sehen, so empfinden wir ein Grausen, Beson-
ders wenn man das Geländer, das auf dünne Pfähle gestützt ist, durch-
sehen kan. Woher komt das? %.responsio aus der geheimen Vorstellung, daß alle Kör-
per eine gewiße Schwere haben, %.und vermittelst derselben, sich zum Mittel-
Puncte bewegen, %.und also zum Fall geneigt sind. Unsere Vernunft tröstet
uns zwar, indem wir bedencken, daß das gantze so fest gebauet ist, daß wir
nicht fallen können; allein ein Schauer durchbebt denn gleich unsere Glie-
der, %.und wir können solches nicht verhindern. Weil nun die %Menschen dieser dunk-
len Vorstellungen %nicht bewust sind, so glauben sie das zu empfinden, was doch
auf keine Weise ihre Sinne afficirt, %sondern aus einer unbewußten re-
flexion des Verstandes entspringt. Daher sagen sie: ich empfinde, daß die-
ses Gedicht schön ist: ich empfinde ein Zutrauen zu diesem %.redlichen Manne,
und daher ist auch das %.Moralische Gefühl entstanden, welches doch in der
That %nichts gesagt ist. Denn alles, was aus reflexion des %Verstandes entspringt,
%.und %.kein Gegenstand der Sinne ist, kan ich @%nicht@ für «S»Empfindung aus geben. Es ist
gewiß der Erweiterung %.unserer %.Erckenntniß hinderlicher, als das %Menschen ihre dunckle
Vorstellungen für Empfindungen ausgeben, denn %dadurch wird alle
Untersuchung abgeschnitten: Denn empfinden wir etwas, so lohnt sichs
weiter nicht der Mühe, zu untersuchen. Wir Befinden uns oft sowohl
wachend als schlafend in %einer Gedanckenlosigckeit, wo wir uns sehr
viel, aber nur dunckel vorstellen. Wir laßen dann alle Gegenstände
und Erscheinungen vorbey flüßen, ohne auf irgend einen unsre Auf-
merksamckeit besonders zu richten, %.und dieser Zustand ist dem %.Menschlichen
Körper am zuträglichsten. Die Erfahrung lehrt überhaupt:

/1. daß dem %Menschen %nichts gesunder und beßer sey, als daß er alle %.seine Auf- 

/δSeite 7

/merksamckeit auf äußere Gegenstände richte, wenn es auch Gegenstände der
Vernunft wären.

/2. Daß dem Menschen %nichts schädlicher sey, als wenn er ein genauer Beobachter sein
selbst ist, und alle seine Aufmercksamckeit in sich selbst kehret; solches sehen wir %.deutlich
an einem hypochondrischen %Menschen, der, sobald er sich selbst betrachtet, %.und %.seiner Kranckheit
nachhängt, sich immer schlechter befindet, und %nichts ist einem solchen %Menschen schädlicher,
als ein medicinisch buch, denn alle Kranckheiten, die er lieset, glaubt er zu ha-
ben. Daher es die Pflicht %.eines medici ist, sich nach der Beschäftigung seines Patien-
ten zu erckundigen, und dahin es zu bringen suche, daß der Patient %.seiner selbst
vergeße. Es giebt auch ferner eine %.eitle betrachtung %.seiner selbst; %.und das betragen
%.eines %Menschen, der sich selbst immer betrachtet, was er für %.eine Figur in der %.Menschlichen
Gesellschaft macht, nennt man gezwungen. So wie einer, der ein Buch schreibt,
%.und immer auf den Ausdruck %.und Wahl der Wörter sieht, wird niemals naif
schreiben. Die Qvelle dieser duncklen Vorstellung nennt man die Tiefe
des Gemüths, %.und es ist Pflicht für den Philosophen, dieselbe so weit als %.möglich zu
erforschen. Wenn es in der Moral und so gar im Evangelio heißt: Wir sol-
len nicht richten; so ist dieses aus keinem andern Grunde befohlen, als weil wir oft
jemanden aus innren Zuneigung oder aus dem Temperament beurthei-
len, %.und glauben, daß dieses aus GrundSätzen der Vernunft entspringe.

/Wir kommen nunmehr zu den duncklen und verworrenen Vorstellungen.

/Es ist gleich %.anfänglich zu mercken, daß hier nicht mit Recht die %verworrenen den
deutlichen entgegen gesetzt sind. Die Deutlichckeit entspringet, wenn man sich
%.seiner Vorstellungen %nicht allein bewußt ist, %sondern auch weiß, was in derselben ent-
halten ist. Das Verworrene wird der Ordnung entgegen gesetzt; %.und %.obgleich die
Deutlichckeit allein %.eine Ordnung zum Voraus setzet, so ist es doch beßer ihr die
Deutlichckeit entgegegen zu setzen. Die Deutlichckeit ist entweder die der Anschau-
ung oder des Begrifs. Die Deutlichckeit der Anschauung beruhet auf dem
Eindruck, den die äußere Gegenstände auf meine Sinne machen. Die Deut-
lichckeit des begrifs besteht aber darin, daß ich diese Anschauung unter ge-
wiße Merckmale, die ich sonst an andern Gegenständen bemerckt habe, un-
terordnen kan, %.und kurtz in der Subordination.

/Man kan sich hier den %Verstand als %.einen ungeheuren Raum dencken, wel-
cher in gewiße locos logicos eingetheilt ist, davon jeder einen Begrif erhält.
Wenn ich nun meine Vorstellungen in %.einen solchen locum logicum setzen kan,
so habe ich einen begrif. Die %.Deutlichkeit der anschauung macht die aesthetische Voll-
kommenheit %.und die %.Deutlichckeit des Begriffes die logische Vollckommenheit aus.

/1. Das %Verhältniß unserer Erckenntniße zum Object, welches in der Wahr-
heit stehet, %.und wenn unsre Kenntnis mit dem Object von einerley qvantitaet
ist, so ist unsere Kenntniß adaeqvat.

/δSeite 8

/2. das %Verhältniß der Erckenntniß des Subjects, welches in der Verän-
derung unsers Zustandes besteht, zE. unangenehm und angenehm, Lust und Un-
lust, die Eindrücke welche in der Aesthetion %.einen großen Nutzen haben.

/3. δLücke

/δLücke

/Endlich bemercken wir auch 2. Unvollkommenheiten unsrer Erckenntnis, d. i.
Unwissenheit und Irrthum. Die Unwißenheit ist ein bloßer Mangel der %Erkenntniß.
Der Irrthum aber ist %.ein Hinderniß der wahren %.Erkenntniß und ist weit %.gefährlicher als die
Unwißenheit; denn bey der Unwißenheit darf nur %.eine %.Handlung vorgehen, %.nemlich
man bringt dem Unwißenden die wahre Kenntniß bey; allein bey dem ir-
renden sind 2. %.Handlungen nothwendig, %.nemlich man muß erst %.seinen Verstand vom Irr-
thum reinigen, %.und ihn gleichsam unwißend machen, welches sehr schwer ist, %.und
ihm als denn erst die wahre %.Erkenntniß beybringen, daher die Philosophen gantz recht haben,
welche sagen: es soll erst nur negative Erziehung bey den Kindern vorgehen, d.i.
man sollte sie erst für Irrthümern bewahren. Wir bemercken aber, daß alle
%Menschen lieber in einen Irrthum %verfallen, als %daß sie %.vorsetzlich in einer Unwißenheit blei-
ben. Daher urtheilt man auch so geschwind, %.und wil das Urtheil auch gar nicht suspen-
dirt wißen, bis die Wahrheit erhellet. Dies ist %.ein wahrer Instinct, den die Natur
dem %Menschen eingepflantzt, vermöge deßen er immer thätig seyn muß, %.und sollte
er auch irren. Da hat aber Gott dem %Menschen die Vernunft zu Regierung dieses
Instincts gegeben.

/Der Mensch empfindet das Leben nur %durch %.seine Thätigckeit. Daher sind Schrif-
ten, in welchen zwar viele Irrthümer, die aber die Kenntnis der %.Menschen erweitern,
weit nützlicher als die, welche nur die bekannten %.und allgemeinen Erckenntniße ent-
halten. Aus <eben> dem Grunde gefallen uns auch die paradoxen Schriften, oder solche,
welche der allgemeinen %.Erkenntniß wiederstreiten, %.und gleich %.anfänglich zeigen, daß man
sehr irren kan, weil wir hoffen, daß wir dadurch eine andere Aussicht in diese
oder jene Wißenschaft beckommen, vielleicht auch manches unbeckannte entdecken
können.

/Nota. Ein solches Paradoxon war das System des Copernici. Die Lehre von den
antipoden, welche Lactantius lächerlich machte, %.und %.zugleich sagte, er könte
dieses leicht wiederlegen, wenn er nur %nicht das Buch schlüßen müßte. - 

/Es ist überhaupt ausgemacht, daß ein jeder Mann von Genie erst fürs künfti-
ge oder noch entferntere Jahrhunderte schreibet, %.und daß er zu der Zeit, zu
welcher er schreibt, für abgeschmackt gehalten wird, aus der Ursache, weil
er aus eben dem Wahn, wieder den er schreibt, beurtheilt wird. Es

/δSeite 9

/ist merckwürdig, daß die Überzeigung der %.Menschen erst eine geraume Zeit erfordere.

/ ≥ Wir gehen nunmehro zu den perceptionibus concomitantibus et sociis. ≤

/Es sind die begleitenden Vorstellungen leicht von den vergesellschafteten zu
unterscheiden. Es ist ebenso, als wenn ein irrender Reisender auf ein mit
allen Natur_Schönheiten bedecktes Feld kommt, als denn begleiten diese irrenden
Gegenstände der Natur nur %.seinen Blick. Allein, wenn er der HErr %.und Eigenthümer
dieser Gegend geworden, so wird sie mit ihm als wie %vergesellschaftet betrachtet.
Doch pflegt man die oft begleitenden Vorstellungen für perceptiones socias
zu halten. Es ist zu mercken, daß man die mit einer Sache %verknüpften Vorstellun-
gen sehr oft von der Hauptsache nicht unterscheiden kann, %.und sie daher miteinan-
der verwechselt. Man sieht z.E. ein schönes Frauenzimmer, der man viele Fehler
wegen ihres guten Aussehens zu Gute hält. Ein ihre Schönheit begleitender
Umstand ist, daß sie lispelt; es läßt ihr schön, man hält dieses für die Ursache
ihrer Reitze, %.und gewöhnt sich auch das Lispeln an. Es %verdunckeln auch sehr oft
die %vergesellschafteten Vorstellungen die Haupt_Vorstellungen: z.E. Wenn
%.ein wegen %.seiner Meriten berühmter Mann sich prächtig kleidet, so vergißt man
darüber %.seine innre Vorzüge, %.und betrachtet man nur seinen Anzug, seine Treßen,
%.und %.so %weiter. Daher es zur Regel dienet, daß kein Verdienstvoller Mann sich prächtig
kleide, sondern nur reinlich %.und höchstens nach Geschmacke, wenn er %nicht haben
will, daß seine Würde %durch %.seine Kleidung verdunckelt werde. NB. die Rußen ha-
ben das Sprüchwort: Man empfängt %.einen Gast nach seiner Kleidung, %.und beglei-
tet ihn nach %seinem Verstande.

/ ≥ Wir kommen hierauf zu den sinnreichen Ausdrücken. ≤

/Ein praegnanter Ausdruck ist der, welcher viel Sinn enthält. Nach der griechi-
schen Sprache ist die Deutsche diejenige, welche viele begriffe in einem
Worte zusammenfaßt, %.und sie %.zugleich analytisch ordnet, zE. die Kleinmüthigckeit.
Es dient solches zur logischen und besonders zur aesthetischen Vollckommenheit. D«er»ie
Araber haben sehr kurze gebeter vor %.und nach dem Essen. Vor dem Eßen beten sie:
bis milla - Gott seegne es! %.und nach dem Eßen adi milla - Gott sey gedanckt! wir sind
gern leidend, %.und lieben doch das thätige über alles. Wir lassen uns z.E. gerne pfle-
gen und warten, %.und sind in dieser Rücksicht leidend, allein, wenn jemand für
unsere Glückseeligckeit mit der Bedingung sorgen wollte, daß wir gar %nichts wäh-
len sollten, sondern uns nur des andern disponiren %gäntzlich überlaßen: so wür-
den wir uns schon schwierig bezeigen, weil wir als denn gar nicht thätig seyn
könnten. Wir laßen uns gerne führen, weil wir wißen, daß wenn wir wollen,
wir auch thätig seyn %.und gehen können. Wir haben Vermögen, worin alle Verän-
derungen unsers Zustandes oder der Zustand unserer Empfindung ihren Sitz haben;
und dieses Vermögen theilen wir in das untere und obere ein. Das un- 

/δSeite 10

/tere besteht in der Sinnlichckeit in Absicht auf welche wir blos @auch@ thätig sind.
Allein außer diesem Vermögen haben wir auch eine obere Kraft d.i. die freye
Willkühr, durch welche der im Vermögen liegende Zustand der Empfindungen be-
wirket wird. Sie haben %.eine doppelte Kraft, so wie ein doppeltes %Vermögen. Die un-
tere Kraft ist die blinde Willkühr, und die ober Kraft ist die freye Willkühr. Das
untere Vermögen mit der untern Kraft zusammen genommen, macht die Thierheit
aus, und das obere %Vermögen mit der ober Kraft ist die %Menschheit. Wenn wir die obere
Kraft %mit dem untern Vermögen %vergleichen, so finden wir, daß wir vermittelst
der freyen Willkühr unsre %.sinnlichen Empfindungen dirigiren können, wie wir wol-
len. Wir können uns so gar die Schmertzen lindern, indem wir davon abstrahi-
ren, %.und unsre Vorstellungen auf andre Dinge richten. Ja es ist beckannt, daß man
%einen kleinen Schmertzen %durch die Situation eines größern dämpfen könne. z.E. wenn ein
Vater durch den Todt %seines eintzigen Sohnes sehr betrübt worden, %.und es wird ihm %.plötzlich
die Nachricht gebracht, daß sein Schiff mit waaren versuncken, so vergißt er
den Todt seines Sohnes, %.und richtet %.seine Gedancken nur auf den Verlust %.seines Vermö-
gens; darauf wird ihm gemeldet, daß das Schiff glücklich eingelaufen, nun
ist der Stachel der vorigen betrübnis stumpf %.und er wird aus beyden Betrübni-
ßen gerissen; Nur Schade, daß das Mittel %nicht immer gebraucht werden kann.

/Der oberen Krafft trauen wir so viel zu, daß wir auch so gar wegen un-
srer Gesinnungen %nicht beckümmert sind, ob sie %.nemlich gut oder böse sind, weil
wir glauben, daß wir solche in %.einem Augenblick ändern können; wenn
wir wollen; ob man sich gleich darin sehr irret.

/Diese freye Willkühr oder obere Kraft wird eingeschränckt:

/1. Durch unwillkührliche Vorstellungen; z.E. wenn die Vorstellung ei-
ner üblen Begegnung, die ich erlitten, meine Ruhe stören; Sehr oft
will ich sie verbannen, weil es verdrießliche Vorstellungen sind,
Allein ich kann solches nicht bey aller Macht meiner freyen Willkühr.
Der solches kann, kann niemals beleidiget werden.

/2. Durch die übermäßige Begierden, die durch Antriebe bewirckt
werden. Die %.sinnliche %.Erkenntniß ist von der Verstandes_%.Erkenntniß nur der Qvel-
le nicht aber der Form nach unterschieden. Daher bleiben die dunck-
len Vorstellungen, so %.undeutlich sie auch sind, immer Verstandes-
Vorstellungen, und die %.sinnlichen Vorstellungen, sie mögen so deut-
lich seyn, als sie wollen, bleiben doch nur immer sinnlich.

/Hierin haben viele, auch sogar der berühmte Mendelson geirret, der
die %.deutlichen Vorstellungen für Verstandes_Vorstellungen hält, da er doch
eingesehen, daß sehr oft die Sinnlichckeit vor den Verstandes_Begriffen große
Vortheile hat, so hat er solches au«ch»s der Verwirrung herleiten wollen. Al-
lein dieses ist nicht %.möglich, denn die Deutlichckeit der %.sinnlichen Vorstellungen kann
sehr groß seyn, demohnerachtet kan man dies noch keine Verstandes_Begriffe
von der Sache haben. z.E. Wenn ein Wilder in unsre Stadt käme,

/δSeite 11

/%.und ein großes Gebäude ansähe, so wird er zwar alle theile deßelben un-
terscheiden %.und jedes insbesondere klar erckennen, deswegen hat er von
dem Hause noch gar keine begriffe, er weiß noch nicht, zu welchem Ende sol-
ches errichtet ist. Die Sinnlichckeit giebt uns die Materialien, %.und der Verstand
hat gleichsam nur die potestas nectoria %und disponirt. Hieraus fließt, daß
die Sinnlichckeit gar nicht zu verachten sey. Denn so wenig es einen Beherr-
scher des Staats geben würde, wenn der «¿¿»niedrige Stand, als die Bauren ihn
%nicht ernährten; eben so wenig kan der %Verstand ohne die Sinnlichckeit etwas
nutzen. Es ist also kein vitium, wenn ein %.Mensch blos sinnlich ist, %sondern nur ein
Mangel, es fehlt ihm nur %.eine Wissenschaft. Es ist eben so als eine Uhre, da-
ran noch das Ziffer_blat fehlet; ohnerachtet des letzteren kan man sie %nicht
für fehlerhaft halten, denn thut man dieses hinzu, so ist sie fertig.
Es ist also nicht nöthig, daß man, wenn das Wort Sinnlichckeit genennt
wird, die Nase rümpfe. Sie hat ihren Nutzen, wenn sie vom %Verstande diri-
girt %.und %nicht gemißbraucht wird. Es frägt sich nun, ob das Bewußtseyn zum
untern oder obern Vermögen gehöre? Durchs Bewußtseyn wird keine
Vorstellung hervorgebracht, %sondern sie wird nur in ein näheres Licht gesezt.
Es ist also nur die Bedingung, unter welcher die obere Kraft würcksam seyn
kann. Es ist die Sinnlichckeit bey einigen so verhaßt, daß auch Pallas in %.seinen
Reisebeschreibungen Pillen erfunden haben will, die, wenn sie jemand
vor seinem @Tode@ einnimt, ihn auf ewig %.von %.seiner Sinnlichckeit befreyen. Es ist
wahr, daß die Sinnlichckeit jederzeit das niedere andeutet, weil sie der
freyen Willkühr des %.Menschen sehr %.hinderlich ist, allein das Vermögen, sich etwas
%.sinnlich vorzustellen, ist sehr %.nützlich, weil der %.Mensch allein nur %.sinnliche Anschau-
ungen hat, %.und nur das Vermögen, das allgemeine in Concreto zu betrach-
ten, bringt den %Menschen zur %.deutlichen Erckenntniß der Wahrheiten. Es wäre sehr
gut, daß diejenigen Schriftsteller, welche von der rührenden Schreibart zur
launichten übergegangen sind, die Laster der %.Menschen mehr lächerlich zu machen
suchten, als daß sie sie gleichsam mit Furien verfolgten; letzterer macht
den Schriftsteller leicht zum %Menschenhaßer. Es ist beßer, den %Menschen in eine
Narren Kappe zu hüllen, als %.seine Fehler zu detestiren; denn nicht fürch-
tet der %Mensch mehr als ausgelacht zu werden, eher will er lieber alle
zu Feinden haben. Daher ist es beßer ein Heraclitus als Democritus
zu seyn. Man betrachtet die Welt als ein Narren Haus %und belacht die
Thorheiten der %Menschen. Man muß sich selbst aber niemals ausschlü-
ßen, %.und denn wird man ein Freund aller %.Menschen seyn, man wird ihre
Thorheiten belachen, %.und wird sie doch lieben.

/Wir gehen jetzt zur Betrachtung der negativen und «passiven » positi-
ven %Erkenntniß. Die negativen Kenntniße sind blos Mittel Irrthümer zu ver-
hüten. Die negativen Handlungen, die dahin abzielen, um Irrthümer zu
verhüten in die kein %.Mensch gefallen wäre, nennt man «¿¿» leere %Handlungen: initi

/δSeite 12

/um sapientiae est caruissse stultitia. So ist Rousseaux Erziehungs-Plan in
den ersten Jahren blos negativ. Er zeigt, daß man im Anfange Kinder
blos für Irrthümern bewahren müße. Derjenige <ist> negative ehrlich, der
%nicht aus Grund_Sätzen, sondern blos ein solcher ist, weil er beqvemer auf
den geraden als krummen Wege fortckommt. Der negative Stoltz ist ein
Begleiter der Tugend. Ein %.Mensch der diesen Stoltz besitzet, wendet blos da-
mit ab, daß er %nicht verachtet wird. Die negativen Handlungen haben ih-
ren großen Nutzen %.und %.ein %.Mensch kan niemals anders als negative wei-
se seyn. Derjenige %Mensch ist gewiß hoch zu schätzen, der, ob er %.gleich keinem eintzi-
gen %.eine Wohlthat erwiesen, doch niemanden beleidiget, niemals sein Ver-
sprechen gebrochen, niemals die Unwahrheit geredet, %.und also blos nega-
tive tugendhaft ist. Man hat gewiß nicht nöthig, %.einen solchen für lieb-
los auszuschreyen. Dieser darf %nicht erst händeln, daß etwas nicht sey, so wie
ein Irrender erst den Weg zurückgehen muß, auf dem er sich verirret
hatte. Das Element des %.Menschen ist schertzen %.und lachen, %und wenn sie etwas ernst-
haftes thun, so thun sie es aus Zwanck. Die Griechen erzählen von den Ta-
rentinern, daß sie bey allen Geschäfften in %.ein Lachen aus«ge»br«o»achen: da sie nun
den Apoll gefragt, was sie machen sollten, um %nicht stets zu lachen; so sagte
er, daß sie dem Neptun am Waßer einen Ochsen opfern sollten, ohne zu
lachen. Da sie nun damit beschäftiget waren, so drängte sich ein
kleiner Junge unter sie, der bald sie, bald den Ochsen ansah: Sie zerre-
ten schon das Gesicht %.und stießen den Jungen, daß er sie nicht zum Lachen
bringen sollte, heraus, der darauf schrie: Denckt ihr denn, daß ich Euren Och-
sen auffreßen werde? worauf sie «¿¿»in ein lautes Gelächter ausbra-
chen, %.und also Narren blieben. - 

/Da aber die negativen Handlungen der Thätlichckeit des %Menschen als
einem ihnen eingepflantzten Instinct zuwieder, so bemühen sie sich je-
derzeit positive zu handeln. Wenn %ein %.Mensch alle %.seine Nerven in Bewegung
empfindet, so fühlet er %.sein gantzes Leben, und ist vergnügt; wenn a-
ber alle nerven gantz gleich gespannt, so daß er %.eine jede nach Belieben in
Bewegung setzen kann, so befindet er sich in einer gewißen Ruhe %.und Zufrie-
denheit; er empfindet %.seinen Verstand, seinen Körper, er erinnert sich nie-
manden beleidigt zu haben, %.und das ist der glückliche Zustand des %Menschen.

/Da nun der %.Mensch, wenn er durch seine Thätigckeit in einen Irrthum
verfält, durch %.einen jeden Einwurf, den ihm %.ein anderer macht, in
%.seiner Thätlichckeit gestört wird, so nimt er es bald übel, daß ihm ein
anderer wiederspricht. Daher %auch bey dem Einwurf die Einleitungs_For-
mel eingeführet ist: Ich bitte um Vergebung. Allein hier kommt es sehr
auf den Thon an, mit welchem jemand diese Formel sagt, als man da-
mit eben soviel ausdrücken kan, als du bist ein dummer Kerl. Über- 

/δSeite 13

/haupt ist diese Formel gleichsam ein Cartel, wodurch man %.einen andern zum
Streit gleichsam ausruft, %.und ist also kein Wunder, daß der, an welchem
ich sie reitze, alsbald stutzt, %.und «¿¿»mein Feind wird. Daher ist es besser, wenn
jemand irret, daß man <%nicht> gerade zu mit dieser Formel anfängt, %sondern
daß man erst einem darinnen, wo er recht hat, Beyfall giebt, %.und allmäh-
lich ihn hernach so herum zu bringen sucht, daß er nicht einmahl merckt,
daß man anderer Meinung sey.

/ ≥ Von der Schwierigckeit %.und Leichtigckeit. ≤

/Man braucht zwar Schwere %.und Leichtigckeit von Körpern, allein %.vorzüglich
nennt man das schwer, was in einem großen Verhältniße mit unsern
Kräften steht, %.und dasjenige leicht, was in kleinem Verhältniß zu unsern Kräf-
ten steht. Da wir nun bey allen Dingen, die wir ergreifen, auf den Über-
schuß unserer Kräfte, nach welchen wir noch in andern Dingen thätig
sein können, sehen: so verabscheuen wir jederzeit das Schwere %.und erwäh-
len das Leichte. Derjenige nun, dem das, was den mehrsten %Menschen schwer ist,
leicht wird, hat Ehre. Derjenige aber, der jemanden das Schwere leicht ma-
chen kan, hat Verdienst. Es giebt sehr wenige, die das Schwere leicht «vertragen»machen
können. Man schätzt unter diesen den Fontenelle, den Secretaire der acade-
mie der Wissenschaften zu Paris %.und den Voltaire. Überhaupt sind die frantzosen
die, die das Schwehrste jemanden am faßlichsten machen können. Man un-
terscheidet die Schwürigckeit %.und Leichtstimigckeit in die innere %.und äußere.
Die innere %.Schwierigkeit und %.Leichtigkeit ist in sofern man einen kleinern oder größern
Überfluß der Kräfte bey sich empfindet; die äußere in so ferne diese
oder jene Sache mehr Hinderniß hat, die durch diese Kräfte weggeschaft
werden müssen. So kan man %.eine innere Leichtigkeit %.und eine %äußere %.Schwierigkeit
%.zugleich empfinden, wenn <man> z.E. ein junges Frauenzimmer, welches darauf nur
bedacht ist, ihre Reitze zu vermehren, in metaphysischen Dingen unterrichten soll,
so kan zwar der Lehrende darin %.eine große Fertigckeit besitzen, einem solche auf
das planste %.faßlich zu machen. allein das Frauenzimmer ist immer zerstreut,
und denckt nur an Putz, Assemblees und andere %.ähnliche Dinge. Hier ist eine innere
Leichtigckeit %.und %.äußere Schwierigckeit.

/ ≥ Von der Attention und Abstraction. ≤

/Die Aufmercksamckeit besteht %nicht in der Klarheit der Dinge selbst, denn bis-
weilen ist eine Sache, wenn man blos leidend ist, klärer, als wenn man
blos thätig ist; sondern sie besteht in der Anstrengung unserer Kräfte %.und
in der Richtung, die wir unsern Gedancken in Ansehung %.einer Sache geben,
indem wir sie blos %.und %.vorzüglich auf einen Gegenstand lenken: Und diese abs-
traction besteht gleichfals in %.einer Anstrengung, indem wir gleichsam eine Sa-
che von allen sie begleitenden Umständen abgesondert, %.und für sich allein be- 

/δSeite 14

/trachten. Was aber bei einer solchen Anstrengung in unserer Seele vorgehe,
ist nicht zu ercklären, gnung, daß es sehr schwer ist, besonders von %sinnlichen %.Erkenntnißen
%.und von Empfindungen von dieser Art zu abstrahiren, daß sie %nicht bis in un-
sre Seele dringen, oder wenigstens doch nur eine dunckle Vorstellung in uns her-
vorbringen. Ein empirischer Kopf abstrahirt zu wenig und ein speculativischer
zu viel. z.E. wenn man bey betrachtung der Sittlichkeit von dem Subject selbst
als dem Menschen abstrahirt. Es giebt eine %.willckührliche abstraction %.und attention,
aber auch %.eine unwillckührliche. Dies ist %.ein elender Zustand. Dagegen ist es sehr
vortheilhaft, wenn die attention %.und abstraction in unserer Willckühr liegt,
denn so kan keine beleidigung uns unglücklich machen. Wir abstrahiren,
und machen dadurch dasjenige bild, was uns qvält, unsichtbar. So kan man so
gar den größten Schmertz überwinden. Wie man denn sagt, daß jemand,
der auf der Tortur lag, blos dadurch, daß er %.seine Aufmercksamkeit auf
ein Bild richtete, die größten Schmertzen überstanden habe. Es ist deshalb
kein Zustand für den %.Menschen unerträglicher, als wenn er Zwischen Furcht
%.und Hofnung ist, denn so kan er sich in keine gewiße disposition versetzen.
Z.E. wenn mein Freund in Todes Noth liegt, so dencke ich, es wird ihm viel-
leicht noch können geholfen werden. Gleich darauf fält mir ein, er wird
doch sterben müssen, %.und man fällt als denn %nicht auf das Mittel oder die
Möglichckeit beyder Fälle, welches doch beruhigen könnte. Ist er
aber einmal todt, so disponire ich gleichsam über mein Gemüth, und
abstrahire davon. Als man dem Sockrates anzeigte, wie ihm die
Athenienser den Todt zu erckannt hätten: auf solche weise setzte er sich
in eine solche disposition, daß er den Todt leichte ertrug.

/Rausseaux merckt an, daß die ärtzte den %.Menschen so feige für dem Tode
gemacht hätten; denn man sehe nur %.einen Wilden, wie ruhig der stirbt.
Aber dadurch, daß der artzt dem «¿¿»Krancken Hofnung zur Genesung macht,
gleich darauf aber der Krancke an den Gesichtern der Umstehenden
%.und aus %.seinen Schmertzen bemerckt; daß er gewiß sterben muß, so ist er
gleichsam in einem beständigen Schrecken, %.und wird feige. Bey einem
Hypochondristen ist ein %.vorzüglicher Fehler, der Mangel an Abstraction:
denn von denen gedancken, die ihm einmahl einfallen, kan er sich %nicht
leicht loß machen. Sonst glaubt man auch, daß ein %Mensch vermögend sey,
von allen Dingen zu abstrahiren und daß man den Schlaf dadurch beför-
dern könne. Allein man findet «¿¿»wohl, daß der Schlaf vielmehr da-
durch befördert wird, daß man %.seine Aufmercksamckeit von allen Din-
gen abzieht %.und alles durcheinander denckt, was einem einfällt.

/δSeite 15

/ ≥ Von den gehäuften Vorstellungen. ≤

/Perceptiones complexae, Gehäufte Vorstellungen nennen wir nicht das, wenn
wir uns viele Dinge zugleich vorstellen, %sondern wenn aus subjectiven Gründen
%.eine Vorstellung viele andre NebenVorstellungen begleiten. So dencken wir z.E.
wenn uns eine grammattickalische Regel, die wir in der Schule gelernt ha-
ben, einfällt, an jene gravitätische Miene, mit welcher sie der Lehrer vor-
trug. Die Vorstellungen nun, die wir uns %.willckührlich vom Object machen,
nennt man perceptio primaria. %.Diejenigen aber, welche die HauptVorstellungen
gebrauchen, perceptiones adhaerentes vel secundariae. Nun aber geschieht es
%nicht sellten, daß diese perceptiones objective adhaerentes subjective regnan-
tes werden. z.E. wenn man in %.eine Kirche geht, %.und eine Predigt hört, «so»die wohl
ausgeschmückt war, so geht man erbaut heraus, doch denckt man %nicht lange da-
ran, und solches komt daher, weil unsere Andacht mehr durch perceptiones ad-
haerentes rege gemacht ist, als sie auf der perceptio primaria beruhet.
%.Vorzüglich bemercken wir diese bey Leuten, die %nicht nach Grundsätzen han-
deln, daß die perceptiones adhaerentes praevaliren z.E. beym Frau-
enzimmer, die mehr auf den Putz und meubles im Hause siehet, als auf ein
beqvemes Leben. Als Miltau von %.seiner Frau erinnert wurde, seinen
Patriotismus fahren zu laßen, %.und nunmehr die Parthey des Königs wie-
der zu ergreifen, da ihm über dies %.eine Seckretaire Stelle bey demselben
aufgetragen wurde, so antwortete er ihr, weil er sie liebte: Sie ha-
ben Recht, weil sie nur dencken in Kutschen zu fahren, allein ich
muß ein ehrlicher Mann bleiben. Sie dachte, daß ein Schelm zu Wa-
gen beßer wäre, als ein %.ehrlicher Mann zu Fuß. Als eine Gesellschafft
über die schlechten Zeiten klagte, %.und einen, der dabey ruhig saß, fragte,
was er dazu meinte? so fing er an zu sagen, indem er %seine Tabacks_Pfeife
ausklopfte, wie die %Menschen %.durch die Vermehrung ihrer Bedürffniße sich selbst
die Zeiten schwer machten, %.und hielt darüber eine ordentliche Rede. Man hörte
ihm, wie %.einem Prediger zu, gieng nach Hause, %.und blieb wie vorhin. Es ist merck-
würdig, daß %Menschen oft bey der HauptVorstellung gar nicht, aber bey den
Nebenvorstellungen sehr gerührt werden. Als ein %.Englischer Officier aus
der Bataille, da die Engländer von den Franzosen waren geschlagen worden,
nachdem dem Könige deshalb abgestatteten Rapport, auf ein Koffee_Hauß
kam, %.und daselbst den Kartenspielern die traurige Nachricht erzählte, so nick-
ten die Spieler mit dem Kopfe, %.und spielten weiter. Hierauf erzählte er, wie
die Frau eines Capitains, die aus Liebe zu ihrem Manne in die Bataille
gefolgt war, nach vollendeter Bataille auf dem erblaßten Körper ih-
res Mannes gefunden, %.und auf demselben ohnmächtig niedergesuncken und
auch gestorben wäre. Bey dieser Erzählung hört die gantze Gesellschaft auf
zu spielen, %.und eine Mitleidsvolle Thräne Zittert in ihren Augen. Woher
kommt es, daß sie bey Erwähnung so vieler 1000. sich gantz gleichgültig, über
den Tod einer eintzigen Frau aber so erstarret und gerühret wurden?
Dies entstand blos aus einem sympatetischen Gefühl gegen das andere Ge-
schlecht, und man schätzt hier mehr Gefühl des Subjects als den Werth des Ob

/δSeite 16

/jects. Es giebt überhaupt keine Vorstellungen ohne adhaerentien, %.und es ist %auch
eine solche Vorstellung ohne %.adhaerentien sehr %.verdrießlich. Wir nennen eine
Vorstellung ohne perceptiones secundariae eine trockne Vorstellung. So sagt man:
er hat ihm gantz trocken die Wahrheit gesagt, d.i. ohne alle Ausschweife, ohne
ceremonie. Man hat diese Benennungen von den Speisen hergenommen, die,
wenn sie trocken unangenehm sind; daher Wissenschaften, die an sich
selbst schwer sind, wenn sie trocken vorgetragen werden, dadurch noch
verdrießlicher werden. Rabner sagt: Verstand ist wie Rind %.und Schöpßen-
Fleisch, welches für Bürger %.und Bauren gut ist, allein ein gut Gerüchte
Thorheit %mit einer guten Brühe von Witz übergoßen, ist ein Gericht, wel-
ches man auf %.eine %.königliche Tafel setzen kan. Es machen zuweilen bey
Predigten wie bey Gerüchten die Souce die perceptiones adhaerentes
mehr aus,, als die %.perceptio primaria. Es kommt hier nur auf den Koch
an, der sie zurichtet.

/ ≥ Von der Überredung %.und Überzeugung. ≤

/Diese beyden Stücke können in Subjecto nicht unterschieden werden. Sie
haben in Ansehung des Objects gleiche Wirckungen. Überzeugungen sagt man,
wenn die Vorstellung mit dem Object überein kommt. Bey Unterscheidung
des wahren %.und falschen geht in uns ein %.ordentlicher Process vor. Der Ver-
stand ist der Richter, die beyden Urtheile sind die streitenden Partheyen, %.und
die criteria, die ein jedes Urtheil für sich anführt, sind die advocaten. Als-
denn hört der Verstand beyde Partheyen ab, allein es finden sich oft Wieder-
sprecher, die bey dem Verstande das %durch Gunst zu erlangen suchen, was sie
durch den process %nicht erlangen würden. Jedoch, weil der Verstand %nicht ger-
ne etwas lange in Zweifel hält, so schließt er bald die acten, %.und entschei-
det, %.und dann geschieht es oft, daß wie bey %.weltlichen Gerichten die schwächere
Parthey blos deshalb sieget, weil die stärckere auf ihr Recht so stoltz thut %.und
trotzet, denn der %.Mensch ist immer geneigt, demjenigen, der auf sein Recht
trotzet zu wiedersprechen. Weil nun der Verstand so eilig mit %.seiner Ent-
scheidung ist, so heißt es oft: %.und der Dieb gieng schnell zum Strick, denn
die Richter wollten eßen. So wie solches in England oft geschieht, weil
die Richter nicht eher eßen können, als bis die Sache abgeurtheilt ist. Wenn
ein türckischer Richter Partheyen verhört, %.und sie führen beyde sehr viel <zu> ihrer
Vertheidigung an, so wird er %dadurch gantz verwirret gemacht, %.und glaubet,
daß die Partheyen blos aus gar zu vieler Hitze soviel reden; er läßt sie
daher beyde auf den Bauch legen, %.und ihnen %.etliche 50 Schläge zur Abcküh-
lung aufzehlen. Die Lehre der Sinnlichckeit überhaupt ist die aesthetic,
diese aber ist 3 fach: aesthetica transcendentalis ist, die sich blos mit
der %.Erkenntniß das nach Gesetzen des Raumes oder der Zeit entspringt,
beschäfftigt. Aesthetica physica die sich mit der Natur der Sinnen
beschäfftigt. Aesthetica practica

/δSeite 17

/ ≥ Von den Sinnen. ≤

/Die Materie der Sinnlichckeit ist die Form der %.sinnlichen Vorstellungen, in so
fern wir uns etwas dieser Empfindung parallel vorstellen. Bey ei-
ner jeden Sinnlichckeit ist %.zugleich %.eine Abbildung, in der wir die bilder der
Eindrücke, die auf unsre Sinne geschehen, sammlen, %.und sie uns auf einmahl
vorstellen, daher man sich auch oft kein Bild von einer Sache machen kan,
blos weil die Einfachheit bey demselben fehlet. z.E. bey der gotischen Bau-
Art, wo viele Zierrathen angebracht sind. Wir haben auch das Ver-
mögen, @uns@ bey Abwesenheit des Objects noch das Bild vorzustellen,
und solches nennt man die Nachbildung; welche beyde Begriffe nur der Zeit
nach unterschieden sind. Hiervon aber ist gantz unterschieden die Ein-
bildung, da wir uns ein gantz neues Object schaffen. Der gemeine Rede-
Gebrauch deutet den wahren Begrif dieses Worts an, %.obgleich solches bey
den Philosophen oft an statt der Nachbildung gebraucht worden. Eine sol-
che Einbildung muß ein Poët haben. Diejenigen, welche äußere Gegen-
stände blos für Erscheinungen halten, nennt man Idealisten. Die Roma-
nen, die den %.Menschen in %.eine eingebildete Welt setzen, sind gantz untauglich,
sie dienen aber vielleicht dazu, daß sie die nerven des %.Menschen auf allerley
Weise zerren. Es hat der %.Mensch Macht, %.seine Empfindungen sowohl des äußern
als des innern Sinnes %.seiner freyen Willkühr zu unterwerfen. Die ame-
ricanischen Knaben legen eine Kohle zwischen ihre zusammengebun-
denen Hände, %.und sehen einander an, wer unter ihnen zuerst das Gesicht
verzerren wird, worüber sie als denn lachen. Sie gewöhnen sich hier-
durch von aller Empfindung zu abstrahiren, und gleichsam fühlloß zu
werden. Es geziemt sich für einen Mann bey dem Spiel des Schicksals gleich-
sam %.unempfindlich zu seyn, %.und durch Anwendung %.seiner attention %.und abstra-
ction %.sein Unglück zu %vermeiden. Man kan es hierin auch sehr weit brin-
gen. Alle unsere %.Erckenntniß hat ihre Qvelle in der Erfahrung. Ob wir nun
%.gleich %nicht alle %.Erkenntniß aus der Erfahrung schöpfen, so erwerben wir auch selbst
die Vernunft_%.Erkenntniße %.leichtlich bey Gelegenheit der Gegenstände der Sinnen, und
welches besonders zu mercken, so haben alle unsre %Erkenntniße, selbst die wir %.durch
die Vernunft bey betrachtung der Welt von einem Urwesen %.oder von Gott
haben, ihre Beziehung auf die Gegenstände der Sinnen; denn dadurch, daß
wir von dem Daseyn Gottes überzeugt werden, werden wir auch be-
wogen, uns in Absicht der Welt auch so zu verhalten, daß wir der %.Glück-
seeligckeit würdig werden, die uns die Güte %.eines höchsten Wesens %verspricht.
Diejenige Methode der Beurtheilung der Welt, die wir in Rücksicht deßen,
was in uns ist, die äußere Gegenstände für bloße Erscheinungen halten,
nennt man den Idealismus. Diesen theilt man ein in den theoretischen,
aesthetischen %.und pracktischen. Es giebt ein vernünftiges Ideal, da wir
%.nemlich den äußeren Gegenständen %.einen Werth zueignen, als in so fern

/δSeite 18

/sie auf ein vernünftiges Wesen ihre Beziehung haben. Daher wir bey Betrach-
tung der unzähligen WeltKörper, so bald wir uns kein vernünftiges
Wesen auf denselben dencken, auf welche soviel Gegenstände ihre Bezie-
hung haben. Daher wir bey Betrachtung der unzähligen WeltKörper, so
bald wir uns kein vernünftiges Wesen auf denselben dencken, auf
welche soviel Gegenstände ihre Beziehung haben, gegen alle diese un-
geheuren Körper, in denen vielleicht crystallene Berge etc. befindlich,
eine geheime %Verachtung empfinden. Aus diesem vernünftigen Ideal
aber ist der theoretische Idealismus entstanden, indem man glaubte,
daß man in der Welt blos vernünftige Wesen annehmen, %.und den %kör-
perlichen Dingen außer uns alle Wircklichckeit nehmen könnte. Man stell-
te sich %.nemlich vor, daß die Erscheinung der Welt ein bloßer Traum sey,
worin aber die Erscheinungen sich nach %.einer gewißen Ordnung zutrü-
gen, und es wäre kein anderer Unterschied zwischen einem %.wircklichen Trau-
me %.und den Erscheinungen der %.Körperlichen Welt, als zwischen Ordnung %.und
Unordnung. Allein dieses theoretische Ideal hat einen so wenigen Ef-
fect, in Ansehung der %.Menschlichen Handlung, daß ein jeder %.Mensch bey %.wircklichen
Empfindungen, die von den äußeren Gegenständen herrühren, %.gleichsam
gezwungen wird, ohnerachtet der subtilitaet, die Wircklichkeit der Ge-
genstände anzunehmen. Was nun das aesthetische Ideal betrift, so ist
solches %.theils chimaerisch, %.theils wircklich. Es besteht in %Verachtung des Werths
der Dinge, wie sie nach einer im Verstande liegenden Idee seyn könnten.
Uns gefält nicht alles in der Natur, %sondern wir glauben immer, daß, wenn
es so und anders wäre, wie wir wohl dächten, es doch beßer wäre, wenn
wir z.E. unsern nackten Körper betrachten, und das Musculoese ansehen, wie
es allerley Biegungen %.und Eindrücke macht, so gefällt uns dieses %nicht, %.und dies
kommt daher, weil dem %.Menschen %nichts gefällt, was eine Bedürfniße verräth,
denn der Mensch schämt sich gleichsam %.seiner Bedürfniße. Daher wir auch in Ge-
sellschaften gewohnt sind, unsere Bedürfniße mit aller Sorgfallt
zu %versteken. Die größte Schönheit des Körpers setzen wir in eine in uns
liegende Idee; und das Mittel zwischen Feistigckeit %.und Magerheit. Ei-
ne solche proportion haben die Alten des Bachus Apolls beobachtet,
die heut zu Tage kein Künstler mehr nachahmen kann. So hat %.ein
rechter PferdeKenner %.eine rechte Idee von einem vollkommen schönen
Pferde, ob ein solches %.gleich niemals anzutreffen, %.und er selbst, wenn er
auch mahlen könnte, %.ein solches aufs Papier zu bringen, %nicht im Stande ist.

/δSeite 19

/Es dient ihm dieses Ideal dennoch zur beurtheilung der Pferde. Ein jeder %Mensch
von genie hat ein solches Ideal. Weil aber heut zu Tage die Leute die Tugend %vor-
nemlich als ein Muster - im %.eigentlichen Verstande giebt es kein Muster %sondern solches
liegt allein im Verstande %.und in der Idee, es ist dieses nur ein Beyspiel - 
weisen, so werden sie blos «den» Nach«na»ahmen, %.und getrauen sich %nicht etwas von
ihrem eigenen hinzu zu setzen. Ja nichts ist unvernünftiger, als daß man Kin-
dern so gar lateinische Phrases, die von andern gebraucht sind auswendig ler-
nen läßt, da sie denn nichts als einen Teutonen zusammen stoppeln lernen.
So ist es in Franckreich, der Geist der Einheit %.und Nachahmung ist so groß, daß,
wenn man 10. Franzosen kennt, man die gantze Welt kennt. Dagegen ein
Engländer, der ungesellig, %.und nicht gewohnt ist, sich andern zu accommodiren, viel
leichter etwas hervor bringt, was aus %.seiner Idee flüßt, %.und genie zeigt. Man
sollte billig bey Unterweisung <der> Jugend ihr zwar Beyspiele vorlegen, allein sich
auch bemühen, ihr genie zu excoliren, %.und sie von der Nachahmung abzuhal-
ten. Was %endlich das pracktische Ideal anbetrift, so hat der %.Mensch das beson-
dere Vermögen, den Dingen %.einen Werth zu geben, denen er will. Daher je-
mand, der zuvor in Kutschen gefahren, jetzt aber in dürftigen Um-
standen lebt %.und zu Fuße geht, sich %.seinen Zustand gantz %.ertraglich machen kan,
wenn er diesem %.seinem Zustande noch einen Vorzug vor jenem giebt. Er
darf z.E. nur dencken, daß, wenn er zum Krämer selbst geht, er weit
mehr gegenstände zu sehen bekommt, als wenn er im Kasten verschloßen
wäre. Kurtz er darf nur an die Kürtze des Lebens dencken, %.und daß es ihm
gleichviel sey, wie dieser ErdenBall geschlagen werde, wenn er nur auf
%.seinem StandPunckte bleibt. Es ist also %.ein %.Mensch der sich %über %.seinen schlechten Zustand grämt
%.und mit Sorgen martert auslachenswerth.

/ ≥ Von den Sinnen und sinnlichen Organen. ≤

/Zuerst müßen wir die Empfindung %.von der Erscheinung wohl unter-
scheiden. Durch die Empfindung drückt man die Veränderung aus, die in un-
serm Körper vorgeht; die Erscheinung aber ist, wenn wir uns etwas
dieser Empfindung correspondi¿¿»endes «¿¿»vorstellen. Zuweilen hat bald die
Empfindung bald die Erscheinung ein Übergewicht. Z.E. Wenn wir Vitriol-
Säure auf die Zunge legen, so herrscht bey uns die Empfindung, wir
unterscheiden hier nicht mehr, ob es sauer oder süß ist. bey den Gegenstän-
den aber, die auf unsre Augen würken, herrscht die Erscheinung, weil das
Gleichgewicht unsers Körpers im gantzen betrachtet dadurch nur unmercklich
aufgehoben wird. Daher der gemeine Mann auch glaubt, nicht daß die

/δSeite 20

/Lichtstralen von den Gegenständen in unsre Augen fallen, %sondern daß sie
aus unsern Augen auf die Gegenstände fallen.

/Wenn nun die Empfindung so starck ist, daß alle reflexion über die Gegen-
stände bey uns aufhöret, so nennt man dies Gefühl. z.E. wenn jemand aus %.einem
finstern Orte in ein sehr helles Zimmer gebracht wird, so nennt man bey ihm
die Vorstellung der Objecte %nicht Schein %sondern Gefühl. Unsere Sinne sind %.theils mittel-
bar, %.theils unmittelbar. Der eintzige Sinn, durch welchen wir uns die Objecte
unmittelbar vorstellen, ist das Gefühl oder der Tactus, die übrigen sind alle
mittelbar. Man empfindet die Gegenstände %nicht anders, als vermittelst
eines Mitteldinges, welches sich zwischen dem Gegenstande in unsern
Organen befindet. So empfinden wir etwas z.E. durchs Gehör nur ver-
mittels der Bewegung der Luft, die mit den aufgelößten Theilgen
eines Dinges angefüllt ist. Wir schmecken etwas nur vermittelst der
durch den Speichel aufgelößten %.und in papillas oder Wärtzchen eingeführ-
te Saltz Theilgen. Ferner die Gegenstände würcken auf unsere Sin-
ne, entweder mechanice, %durch Stoß %.und Druck, oder chymice %durch die auflösung.
Die Sinne, auf die die Gegenstände mechanice würcken, sind das Gefühl, Gehör
und Sehen; %.diejenigen Sinne, auf die die Gegenstände chymice würcken, sind der
Geschmack %.und Geruch. Der Sinn, der für den gröbsten gehalten wird, %.nemlich
das Gefühl, ist %nicht der wesentlichste %.und stärckste, denn durchs Gehör stell ich mir
%nicht vor, ich habe gar %.keinen Begrif von dem Gegenstande, die die Bewegung der
Luft verursacht. Durchs Sehen erckenne ich nur die Form der Dinge, und
etwa ihre Farbe, welches uns auch zuweilen ein Blendwerk seyn
kan. Allein durchs Gesicht kenne ich die Dinge ihrer Materie nach. Man
sagt: Es wären 2 Schwestern gewesen, davon die eine taub geworden,
indeßen hat sie doch mit ihrer Schwester im finstern reden kön-
nen; %.und zwar auf diese Art, daß sie ihrer Schwester die Finger auf die
Lippen gelegt %.und aus der Bewegung derselben ihre Worte genau erra-
then können, also blos durchs Gefühl. Ein Blindgebohrner in London,
dem der Staar gestochen war, hatte zwar viele Vorstellungen, allein
er konnte sie nicht eher erckennen, als bis er sie mit dem Gefühl vergli-
chen hatte, %.und nachdem er alles durchs Gesicht erckennen konnte, so konte er
doch keine Race von Hunden erckennen, bis er sie beyde betastet hatte.
Ja, da er einmahl in %.einen Saal geführet wurde, deßen Wände mit per-
spectivischen Materien ausgezieret waren, so freuete er sich, daß er in
einen schönen Garten kam, ging gerade zu, bis er mit der Nase an die Wand
stieß. Hier stutzte er und fing die Wand an zu betasten, wo er denn ge-
wahr wurde, daß es nur eine Fallacia optica war.

/δSeite 21

/Dem Gesichte kommt der Geschmack am nächsten, weil sich da die aufgelößten
Saltz_theilchen in die Geschmacks_Drüsen hineinziehen. Daher kommt es, daß den
%.Menschen nichts so sehr als der Geschmack %vergnügt. Ein wilder americaner, der neben der
oper eine garküche fände, würde gewiß die schönste Music fahren laßen, %.und
sich zu sättigen suchen.

/Wir müßen Hier mercken, daß sich die Geschmacks_Drüsen durch den gan-
tzen Mund, so gar durch den Schlund bis an die Milchgefäße erstrecken, daher,
wenn die innern Drüsen afficirt werden, der Appetit entsteht, %.und wenn
die Menschen nicht aus Eitelckeit ihren Geschmack %verderbten, so würde ihnen %nichts schme-
cken, was ihrer Gesundheit nicht %.zugleich %.zuträglich wäre. Sehr oft afficirt et-
was die Geschmacks_Drüsen auf der Zunge sehr angenehm, beym he-
runterschlucken aber findet man, daß es mit den hintersten Ge-
schmacksDrüsen %nicht übereinstimmt, und so ist es mit allen süßen Speisen;
dagegen der Rhein_Wein mit den vordersten GeschmacksDrüsen %nicht harmo-
nirt, da doch der Nachgeschmack sehr angenehm ist. Das ist allemal gesun-
der, was zwar im Anfange etwas wiedrig schmeckt im Nachgeschmack %aber
angenehm ist.

/Dem Geschmack kommt der Geruch am nächsten, da %.nemlich die jeder-
zeit feuchten Drüsen auf diese oder jene Art angenehm oder unange-
nehm afficirt werden.

/ ≥ Vom gebrauch der Sinne. ≤

/Wir gebrauchen die Sinne:

/1.) zur Empfindung, und

/2) zur reflexion über die Empfindung %.und zur Bildung der Begriffe aus
diesen reflexionen.

/Es becklagen sich viele über die blödigckeit der Sinne; allein sie haben
vielleicht eben so starcke Sinne, %.und werden eben so starck gerührt, als
andere, nur es fehlt ihnen an nöthiger reflexion über die Eindrüke.

/Man schreibt es dem Gesicht der Jäger zu, daß sie so scharf sehen, a-
ber man sollte es eher ihrer EinbildungsKraft beymeßen. - Nach dem
ersten virtel Jahr geht eine große Veränderung in den kleinen Kin-
dern vor, vorher weinten %.und lachten sie nicht, %sondern schrieen nur, attendirten
auch nicht auf die Dinge, die ihnen vorkamen, %.vermuthlich weil sie da noch
nicht die Handgriffe, das Organ zu gebrauchen wußten, z.E. die Pupille
beliebig zu schlüßen, %.und zu erweitern, welches zum Sehen nothwendig
ist; %.und es scheint daher, als ob sich die Kinder erst selbst müßten sehen lernen.
Es ist %nicht genug, Eindrücke zu haben, %sondern es muß auch das BildungsVermögen

/δSeite 22

/die Eindrücke modeln. Das Bildungs_Vermögen ist der Grund des Dich-
tungs-Vermögens. Gewohnheit schwächt die Aufmercksamckeit auf die Ein-
drücke, %.und eben dadurch auch die Empfindung der Eindrücke selbst; aber sie
stärckt die Fähigckeiten der Vorstellungs_Kraft, %.und macht das Vermögen
geschäftig (%.nemlich das bildungs_Vermögen) es lindert schmertzhafte Empfindun-
gen, %.und schwächt auch %.zugleich unser Vermögen. Der innere Sinn ist der,
vermöge deßen die Seele den Körper als etwas äußeres betrachtet;
oft ist die starcke Empfindsamckeit das größte Uebel, ja die HauptUr-
sache einer Kranckheit. Opium schwächt sie und <wird> daher mit Nutzen ge-
braucht. Wir empfinden blos %durch Hülffe der nerven, so bald diese be-
rühret oder laediret werden, so bekommt gleichsam unser gantzes ner-
ven System eine gewaltsame Bewegung. Es scheint, daß %Menschen sich
wohl zu befinden glauben im Alter, weil sie wenig fühlen, al-
lein eben der Mangel an Empfindsamckeit ist ihr Unglück. Denn da
der Alte nicht fühlet, dem kleine Ungemächlichkeiten an %seinem Körper na-
gen, %.und seinen Bau zerstöhren: so geschiehts, daß mit einmal eine Kranck-
heit ausbricht, die ihm unvermuthet das Leben raubt.

/Die Sinne werden durch Gewohnheit stumpf. Daher kommt es, daß %Menschen,
die die größten Leibes-Uebel tragen, derselben zuletzt gewohnt werden.
Die Wilden fürchten sich «@vor@»für dem Tode eben so wenig als für der Nacht,
denn sie wißen kein Mittel dafür. Wenn das Übel zuerst da ist, so fin-
det sich jeder %.Mensch darin, allein der Zweifelmuth, ehe das übel kommt, oder
der Zustand zwischen Furcht %.und Hofnung ist der Unglücklichste. Die
Gewohnheit macht alles %.erträglich sie schwächt aber auch die angenehmen
Empfindungen. Die Sinnes Fähigckeit hingegen wird durch die Gewohn-
heit größer, aber die aufmercksamckeit nimmt ab. Die Sinne werden
stärcker gerühret, wenn die %.sinnlichen Gegenstände uns als interessant
vorgestellet werden. Daher rührt uns %nichts so sehr als unser Name.
Es bringt uns aus der größten Zerstreuung, %.und sogar Nachtwanderer
aus den Träumen.

/Der %.Mensch sucht sich in allen Dingen auch das geringste zuzueignen,
auch das geringste vortheilhafte auf sich zu beziehen, %.und alles nachtheilige
von sich abzuwenden. Wenn uns jemand von einem %verdienstvollen Manne
erzählt, %.und er hätte auch nur eine Aehnlichckeit %mit unserm Namen, oder
wäre ein LandsMann, oder redete mit mir %.eine Sprache, so ist er uns noch
einmahl so lieb; %.und so sehen wir, daß wir uns alles bis auf minutissi

/δSeite 23

/ma zueignen, was unser interesse betrieft. Denn das interesse ist etwas re-
flectirendes. So wird mir eine gegend noch einmal so angenehm, wenn
sie meinem Freunde gehört, oder wenn ich sie aus dem Fenster %meiner
Stube, wenn sie auch nur gemiethet ist, übersehen kan. Reisende loben in
fremden Ländern ihr Vaterland, %.und in ihrem Vaterlande die fremden
Länder. Die Zerstreuungen durchs dencken schwächt die Schärfe der Sin-
ne. Eigen ist es, daß bey den Wilden die Sinne %.und überhaupt das thieri-
sche viel vollkommner ist, als bey uns. Ihre Organe sind zwar an sich %nicht schär-
fer, aber ihre Sinne werden %.durch reflexion nicht gestöhrt. Bou δLücke führt
an, daß die Wilden auf der Georgen Insel einen Matrosen den Augenblik
für eine FrauensPerson erckannten, die es auch war. Durch welchen Sinn %aber
mögen sie dies entdeckt haben?

/Der Zustand ist der schlimste, da man %.seine Aufmercksamckeit weder auf sich,
noch auf äußere Gegenstände richtet, die Abstechung macht starcke Empfin-
dung, %.und wir fühlen die Ruhe nur nach der Unruhe. beständige Unthä-
tigckeit ist nicht Ruhe, denn letztere kann %nicht gefühlt werden, außer wenn
sie auf Unruhe folgt. Eine Zärtliche Erziehung öfnet so gar alle Orga-
na, die Ungemächlichckeiten desto besser zu empfinden. Rousseaux Er-
ziehung hat den GrundSatz, die Kinder abzuhärten, um sie dadurch für Unge-
mach zu sichern, und für Vergnügen zuzubereiten. Jedermann wünscht
%.sein Leben so einzurichten, daß er, wenn er auch jetzt die größten Uebel er-
tragen müßte, er solche geduldig aus steht, wenn er nur für die Zu-
ckunft Vergnügen erwarten kan. Nicht die Sinne, %sondern die Ordnung des
Vergnügens ist angenehm. Armuth auf Reichthum ist %.unerträglich %.und es
ist daher gut, wenn man %.sein Leben so einrichtet, daß das %Vergnügen immer
stuffenweise steigt.

/ ≥ Vom Betrug der Sinnen. ≤

/Die Sinne betrügen nicht, weil sie %nicht urtheilen, denn Irrthum ist allemal
ein Werk der reflexion bey Gelegenheit der Sinne. Oft aber maßen
wir %.eine Vorstellung der Empfindung bey, die in der That %.eine geburt der
reflexion ist. Weite %.und große bekommen wir durch begriffe, %.und glauben
sie zu empfinden. Besonders sind Vorstellungen, die uns gelaufig sind,
diesem Fehler aus gesetzt. Der betrug der Sinne geschieht aber entweder
aus einem Blendwerck oder Hirngespinste. Jenes ist, wann man durch
die Erfahrung betrogen wird, %.und die Ursache in der Sache selbst lieget; letztere

/δSeite 24

/aber entsteht, wenn wir unsere Einbildungen mit unsern Empfindungen
vermischen, %.und so sieht jeder das, wovon er den Kopf voll hat. Diejenigen,
welche ihre Imagination wenig geübt haben, sind den Blendwercken
%vorzüglich unterworfen. Der Wilde fürchtet sich %nicht auf Kirchhöfen herum
zu gehen, um desto mehr aber erstaunt er, wenn man ihm einen
optischen Kasten zeigt. Der Nebel mahlt die Sachen dunckel ab, Sachen
aber, deren bild sich im Auge dunckel abmahlt, referiren wir sehr
weit. Überhaupt ist kein Sinn dem betruge mehr unterworfen, als das
Gesicht, weil das die meisten reflexionen erfordert. So scheint eine
lange Allée sich hinten zu zu spitzen, weil die Strahlen, die von so weit
herkommen, kleinere Winckel machen. Von %.einem Hohen Gegenstande
z.E. einer Raqvette, die gerade über uns steigt, kömmt es uns vor als ob
sie sich gerade über unsern Kopf biegte. Einen Stein, den wir per-
pendiculair von einer Höhe herunter werfen, scheint uns %.anfänglich
sich sehr weit davon zu entfernen, nachher aber wieder zu nähern.
Das Meer scheint uns, wenn wir vom Ufer sehen, in der Ferne
höher zu seyn, als das Land. Dieses alles aber läßt sich aus optischen
Gründen sehr wohl ercklären. Es giebt auch einen betrug der
Sinne, wo %nicht eine wahre Erscheinung die Ursache davon ist, wie hier
die Stralen Erscheinungen machen, die dem begriffe %nicht gemäß sind.
Z.E. der Mond scheint uns beym Aufgange größer als ein Zenith. Der
Astronom weiß es, daß es davon herkomme, weil er im ersten Fall
viele Gegenstände zwischen %.seinem Standpunkte %.und dem Horizonte, im le-
tzteren Falle aber keine erblicke, wovon ihn auch die Einerleyheit des
Winckels, den die äußersten Strahlen machen, überzeuget. Hier haben wir
den Schluß %.und begrif des Verstandes für Empfindung, an statt, daß wir
sonst die begriffe für Erscheinungen hallten, %.und so betrügt uns auch zuweilen
das Gefühl.

/ ≥ Von den Vorstellungen nach dem Verhältniße, was sie un-
ter einander haben. ≤

/Eine Vorstellung hat oft die Eigenschaft, andere zu beleben, %.und matt zu ma-
chen. Wir Menschen lieben

/1. Mannigfaltigckeit. Dies ist die Vielheit verschiedener Dinge. Wir
lieben sie in den Schriften auch bey Tafeln, %.und es gefällt uns sogar die
Mannigfaltigkeit der Gebäude. So lesen wir gerne den Montagne %oder
auch Wochenblätter. Auch ist uns die Mannigfaltigckeit in der

/δSeite 25

/Gesellschaft angenehm, wenn jeder gelehrt spricht. Parade alleen, garten-
Hecken sind nicht sehr angenehm, weil keine Mannigfaltigckeit da ist.
Der Wald gefält. Man mischt auch gerne das schlechte mit ein; der Schöpfer
hat, wie es scheint, Mannigfaltigckeit bey der Welt zum Augenmerck
gehabt; denn manches scheint gar %.keinen Zweck zu haben, als zur Nachfrage
da zu seyn. Die Mannigfaltigckeit ist %nicht gewißer Reichthum.

/2. Abwechselung. Dies ist gleichsam eine Mannigfaltigckeit in
verschiedenen Zeiten. Die Ursache scheint sehr mechanisch zu seyn, %.und
sich auch hernach auf Erweiterung der %.Erkenntniß zu beziehen.

/Wir können in einerley Stellung gar nicht lange bleiben. Man
darf nur eine Zeitlang %.unbeweglich im Bette in einerley Stel-
lung liegen bleiben, so ist gar nicht nöthig ein Schwitzpulver einzu-
nehmen, %sondern man wird schon von selbst gnug schwitzen. Wir haben zu
jeder Muskel einen Antagonisten, %.und dahero muß man die Glie-
der bald so, bald so legen. In einerley Stellung stehn zu bleiben, be-
günstiget eine Muskel, %.und mattet die andere nur ab. Daher machen sich
einige Leute unnöthige beschwerlichckeiten, %.und geben sich selbst Arbeit auf,
die sie doch leicht entbehren könnten. Auch beym Studieren ist eine
Mannigfaltigckeit sehr vortheilhaft, denn die organa des Gehirns wer-
den zu sehr angestrengt, wenn man beständig an eine Sache denckt.

/Eine kleine oft wiederholte Bewegung verursacht %.eine %ansehnliche
bewegung, und ein Tropfen Waßer, wenn er oft auf eine Stelle
von unsern Gliedern fällt, verursacht Schmertzen. Es kündigt ei-
ner einem Musicus, der in %.seinem Hause wohnte, das Logis auf, weil
%.seine baß geige ihm %.sein Haus baufällig machte. Wir lieben ferner:

/3. Neuigckeit, dadurch das Gemüth in Activitaet gesetzt wird. Was
abwechselt, darf nicht neu seyn, %sondern «¿¿»neu ist nur das, was wir vor-
her %.nicht gehabt haben. %Menschen sind nach dem neuen sehr begierig, wenn
es auch gar %nicht wichtig ist. Neuigckeit beruht nicht bloß darauf, daß der
Gegenstand neu ist, %sondern wenn die %.Erckenntniß davon neu ist. Aber noch mehr
vergnügt man sich, wenn auch der Gegenstand neu ist, weil wir
es als denn communiciren können. Wenn ich in eine Gesellschaft
komme, %.und sogleich aus London etwas neues zu erzählen anfange, so
wundert sich ein jeder, wie ich unmittelbar auf London gekommen bin.
Wetter discurse sind %.gemeiniglich der Eingang, auch fängt man von

/δSeite 26

/dem Wohlbefinden der Person, mit der man spricht, das Gespräch an.
Nachher kan man in weniger als einer viertel Stunde vom schlech-
ten Wetter auf den großen Mogul kommen. Neuigckeit macht Sachen
auch im besitz angenehm.

/4. Seltenheit. ist uns lieb. Sie bestehet darin, daß eine Sache <%nicht> bey
vielen anzutreffen ist. Charactere, wenn sie etwas haben, was nicht
allgemein ist, erregen schon dadurch die Neugierde. %.Eine Müntze, die selten
ist, sie sey so schlecht als Sie wolle, gefält; indeßen ist die Liebe zur Sel-
tenheit eine falsche Richtung des Geschmacks, %.und der Grund davon ist Eitel-
ckeit %.und wenig Verstand.

/Man kan also auch schon aus dem, worauf %.Menschen einen Werth setzen, von
ihrem Character richtig urtheilen. Auch Neid nimmt an der Liebe zur Selten-
heit Antheil. Es ist aber noch eine andere Liebe, Seltenheit zu sehen - 
Man hält einen %.Menschen der viele Seltenheit gesehen hat, auch für selten.
Es giebt Seltenheiten der Natur, z.E. in Marmor findet man oft rudera
von Städtchen u. s. w. Das %Vergleichen, Gegeneinander halten, Entgegensetzen
der Sachen bringt Sie in ansehn, wenn man z.E. sagt, was eine Sache %nicht ist.

/Die Abstechung oder der Contrast besteht darin, wenn Dinge %.sogleich
erckannt %.und befunden werden, darinn eines des andern Wiederspiel ist.
So hatte eine Printzeßin lauter heßliche oder weniger schöne Hofdamen,
um gegen sie desto beßer zu gläntzen, %.und die Hofdamen mußten ihr zur
Folie dienen. Ein %.Mensch der sich klug dünckt«¿», %.und seine Weißheit auskramen will,
muß es unter Gelehrten thun, denn sonst entsteht %.ein wunderbarer con-
trast. In der Natur giebt es viele Contraste; z.E. an den Norwegischen Kü-
sten, wo schöne Thäler Zwischen hoch besneieten Bergen liegen. Die Chinser
wißen in ihren gärten schöne Contraste anzubringen. Es haben aber auch ei-
nige Contraste wiedersprüche bey sich; Nichts kan mehr zur Verunehrung
eines %Menschen beytragen, als Contraste, worin Wiedersprüche sind, denn sie
ziehen die Aufmerksamckeit auf sich, %.und zeigen den Wiederspruch %.gleichsam
herfürstehend. Ein Nachfolger in %.einem Amte, der einen schlechten Vor-
gänger gehabt, hat es immer gut. Denn es kommt bey %.Menschen fast alles aufs
Verhältniß an, %.und sie beurtheilen alles nach andern. Daher ist es auch %nicht gut,
eine Witwe zu heyrathen, denn sie erinnert sich immer ihres vorigen Man-
nes, wie gut der gewesen ist. Es wäre gut, wenn sich jedermann solche Äm-
ter wählte, in denen er hervor sticht. Ein Mann, der ein vortheilhafter Schul-
Meister ist, würde als Prediger die elendeste Figur machen. Es giebt
auch schädliche Contraste, die vermieden werden müssen, z.E. Ein
pöbelhafter Ausdruck bey einem Vornehmen. In Kleidern muß man

/δSeite 27

/sich nicht sehr putzen, sonst sticht jede Kleinigckeit hervor, eben so muß man
sich %auch in Reden hüten, %.einen hohen Thon anzunehmen. In Predigten contrastiret
ein eintziges frantzösisches Wort sehr. Mit dem Prediger-Stande ist es hierin
sehr mißlich, denn die geringste Schwachheit, die man bey andern übersieht,
sticht bey ihnen so hervor, wie schwartz auf weiß. Kontraste, darinnen Wieder-
sprüche sind, erwecken Lachen. Daher kommts, daß in den Stellungen des %.Menschen, wo
sie am allermeisten ernsthaft seyn sollten, alle Personen am meisten
zum Lachen gestimmt seyn, und in solchen Fällen, wo man dem Lachen %nicht Aus-
bruch laßen kann, wird es immer heftiger wegen des contrasts. Das Ge-
müth liebt den allmählichen Übergang, %.und der Contrast ist ihm %nicht lieb.
In einem Discurse muß man auf sich Acht haben, daß man %nicht contrastire.
Wenn Dinge so aneinander gestellt sind, daß kein Übergang von einem
zum andern ist, so schreit das, wie man sagt.

/Bey der Wahl der Farben zu Kleidern sieht man dies deutlich. 2. Far-
ben, die einander fast gleich sind, lassen nicht: Ein lichtgrauer Rock %.und
eine etwas duncklere Weste; denn es scheint, als ob die West auch licht-
grau werden wollte, %.und es nicht werden kan. Die Farben müßen also
so gewählt seyn, daß wegen ihres Unterscheidens kein Zweifel ist. Sie
müßen aber auch so unterschieden seyn, daß vom Rock zur Weste %ein
kleiner Übergang ist. So paßen z.E. Ein blauer Rock %.und eine rothe Weste
sehr gut, denn am Rande vermischt sich ein wenig roth mit vielem Blau,
%.und dies giebt eine %.begreifliche Farbe, %.nemlich Violett. Ist aber der Rock roth, %.und
die Weste blau, so giebt die Vermischung ein schmutziges Roth. Überhaupt, was
wenig ist, muß lichte seyn. Die Aufschläge, das Futter müßen etwas lichter
seyn, denn man liebt die Verlichterung sehr, %.und fast mehr als die Verdun-
ckelung, %.und überdies sind einige Farben hart. Eigen ists, daß alle Junge
Leute %.und alle Wilden die rothe Farbe über alles lieben, %.und sie ist doch die härteste.
Einem %.Menschen dem so wohl ist, wird schlimm %.und übel zu Muthe, wenn er eine har-
te Farbe ansieht, %.und wieder wohl, wenn er eine δLücke Sache sieht. Es
scheinen helle %.und einfache Farben die Jugend gut zu kleiden, das Alter
hingegen dubieuse Farben, die überhaupt dem feinen Geschmack gefallen.
Den blonden Personen stehen blaße %.und gantz schwartze Kleider am besten,
jene wegen der übereinstimmung, diese wegen dem Contraste. Die Bru-
netten kleiden harte Farben gut.

/ ≥ Von der Schwächung der Vorstellungen %.durch die Zeit. ≤

/Wenn man eine Vorstellung lange hat, so wird sie schwach, denn die Aufmercksam-
keit schwindet. Wenn man über %.eine Sache immer denckt, so denckt man zu letzt %nichts. Beym
Studieren muß Mannigfaltigckeit seyn, damit alles immer neu vorkomme. Ei-
nerley Empfindung ist %.anfänglich immer unangenehm, zuletzt wird man es
so gewohnt, daß man nicht mehr darauf attendiret. Die Wiederwärtigkeiten machen
aufmercksam, %.und das Gemüth, welches furchtsam, sie noch einmahl zu em- 

/δSeite 28

/pfinden, lauscht sehr genau auf sie; wir müßen uns immer Hoffnung ma-
chen zu wachsen, sonst hört die Vorstellung %.einer Sache bald auf. In den
jüngern Jahren ist das die Höchste Regel: Man fange immer so an, daß man
%.seinen Zustand steigern kan. Dinge %.und Vorstellungen, wenn sie %.einen Stillstand be-
kommen, verliehren viel von ihrer Kraft. %.Eine Freundschaft, welche dauer-
haft seyn soll, muß %.nicht gleich mit %.einem großen Grade anfangen, %sondern von
der Vertraulichkeit bis zur Entdeckung der Geheimniße steigen. Man muß
eine gute Sache %nicht auf einmahl zeigen, %sondern allmählig mehr Hofnung geben. Der
%Mensch begiebt sich oft in die wiedrigsten Umstände %.und Gefahren, um nur in an-
dere Umstände zu kommen.

/ ≥ Von den %.unterschiedenen Umständen der Menschen. ≤

/Wir bemercken, daß in uns Zustände %verschieden sind, nachdem die Em-
pfindung bey uns in gehöriger Klarheit seyn, oder nicht. Zu den letztern
gehören 2erley: Im gesunden Leben sind der Zustand des Schlafs %.und der
Trunckenheit; In Kranckheiten aber Ohnmachten %.und der Übergang vom
Leben zum Tode. Seiner selbst ist jemand mächtig, wenn %sein innerer
Zustand %.seiner Willkühr unterworfen ist. Man kan aber %.seiner Willkühr %nicht un-
terworfen %.oder %.seiner %selbst %nicht mächtig seyn, %.theils bey Eindrücken von äußern Din-
gen oder Empfindungen, %.theils bey Handlungen, die im Gesicht %.einer
großen Menge %.von %Menschen wegzunehmen sind. Man findet oft:

/1. daß bey gewißen Umständen z.E. wenn man vor einer großen Men-
ge treten soll, der Zustand %.unserer Selbst unsrer Willkühr %nicht unterworfen ist.
Manche grossen Helden sind zu gewissen Zeiten wieder ihren Willen feige
gewesen. Montagne führt an, daß wenn die Nachricht von der Annäherung
des Feindes %.und der Zukunft des Treffens dem General gebracht wird,
wenn er im Schlafe ist, mehr erschrickt, als wenn er gerüstet %.und stan-
desmässig angeckleidet ist. Überhaupt dünckt sich ein jeder %.Mensch wacke-
rer zu seyn, wenn er sich recht angeckleidet hat, vielleicht, weil die
Kleider die Musceln in beßerer Ordnung halten, %oder weil man glaubt
wenn man gut angeckleidet ist, im Stande zu seyn, jedem unter die Au-
gen zu treten. Der Selbstbesitz (animus sui compos) der @%Gott@ der Stoiker
ist viel erhabner, als das stets fröliche gemüth des Epicurs. Denn ist man
Meister über sich, so ist man auch %.HErr über sein Glück und Unglük.

/2. Wenn wir %.unwillkührlich zu %Handlungen gezwungen werden, so
setzt dies unsern Werth weit mehr herab, als wenn man blos seine %.seine Empfin-
dung nicht in %.seiner Gewalt hat. Mancher %Mensch wird Z.E. gantz %.unwillkührlich

/δSeite 29

/zu Klagen hingerißen, %.ein anderer fährt den Augenblick im Zorn auf, %.und be-
reut es sogleich. Die Leidenschaften sind so beschaffen; daß man durch sie den
Zweck nicht erreicht, auf den sie zielen. Dem Frauenzimmer ist das Aufschreyen
in Erschreckungen und plötzlichen Gefahren fast allgemein angebohren. Vielleicht
hat die Natur dies dem schwächern Geschlechte eingeprägt, damit sie %durch die
Mittel sich vom Schrecken erholen können. Alle heftige Gemüthsbewegungen
setzen den Menschen außer Vermögen, sein selbst mächtig zu seyn. Dies ist die Ursa-
che, daß ein Zorniger %.und bis zur Thorheit Verliebter niemals %.seinen Endzweck er-
reicht. Jener, weil er %nicht einmahl die Ursache %.seines Zorns erzehlt; %.und dieser
%.weil er die Ercklärung der Liebe zu thun nicht im Stande ist. Wenn der %.Mensch
außer sich selbst gesetzt oder aus dem Zusammenhang %.seiner Gedancken %durch
angenehme Empfindungen gebracht wird, so heist dies Entzückung; geschiehts
durch unangenehme Empfindung, so ists betäubung.

/ ≥ Von der Trunkenheit. ≤

/Dies ist der seltsamste Zustand %.von der Welt, da die %.Menschen mehr den Chimaeren,
als der Wahrheit nachhängen, sich starck genug glauben, alles zu unterneh-
men, %.und doch %nicht %das geringste thun können. Sie fühlen sich im beßern Zustan-
de, da sie doch im elendesten sind, wo ihr Gefühl gantz stumpf %.und ihre Ima-
gination gantz lebhaft ist. Verschiedene Nationen, die keine berauschende Ge-
träncke haben, betrincken sich nicht. Andere Wilden, die solche Mittel haben,
sind dem Soff gantz erstaunend ergeben, so das Wilde, wenn sie ein Fäßgen
Brandtwein kriegen, %nicht eher davon gehen, bis alles ausgetruncken ist. Bey
%Menschen die %nichts dencken bringt der Rausch mehrere Empfindungen herfür,
daher lieben alle rohe Nationen den Trunck. Die Wirkungen der Trunckenheit sind
bey verschiedenen Volkern %verschieden. Im Orient werden die Leute %durch den Soff gantz rasend,
im Norden gesellig. Man muß das Trincken bis zur Frölichckeit %.oder bis zum
Rausch %.von der versoffenen Neigung noch unterscheiden. Das letztere ist nieder-
trächtig; das erstere aber bedarf noch %.einer Untersuchung. Man bemerckt zuerst,
daß %.ein %Mensch, der sich still auf %.seine eigne Hand betrinckt, sich schämt, dies zeigt, dies zeigt,
daß der Rausch ein Mittel zur Geselligckeit seyn soll; %.und wenn die Geträncke in
Gesellschaften %ein Mittel zur Geselligckeit abgeben sollen, so haben sie ihren Werth.
Das Trincken, wann man die Grentzen %nicht überschreitet, ist zur Geselligckeit %.wirklich
sehr %.dienlich; der Grad aber, wie weit man in %.verschiedenen Umständen gehen kann,
ist sehr delicat. Man wird nach %.und nach gesprächiger, man macht sich vom Zwange
der Verstellung frey, %.und befindet %.sich gleichsam im puren Natur-Zustande.

/Die Geträncke %selbst haben %verschiedene Wirckungen. Brandtwein macht %.heimlich,
und man betrinckt sich gern daran, aber dieser Rausch ist %schimpflich. Bier
macht schwer %.und ungesellig, Wein ist geistiger. Prediger, Frauenzimmer
%.und Juden betrincken sich nicht, geschiehts aber, so verdenckt man es ihnen sehr. Den
erstern, weil sie sich das Recht der Lehrer anmaßen; dem Frauenzimmer, %.weil
es schwächlicher Natur ist %.und gleichsam %.eine Schantze zu bewachen hat, woran durch
den Trunck alle Schildwachen abgelößt werden. Denn die Natur hat dem

/δSeite 30

/Weiblichen Geschlecht alles geben wollen, was nur irgend %.einen Schein hat und
daher müßen sie sehr behutsam seyn. Die Juden betrincken sich nicht,
denn man leidet es %nicht an ihnen wegen der Singularitaet ihres Characters,
ihrer Kleidung etc. Einem besoffnen Juden läuft alles nach. Die Freyheit zu
trincken, scheint überhaupt nur das Privilegium der Bürger zu seyn. Alle %Menschen
aber, die sich verstellen müßen, so wie die, welche sich in %.einem großen Haufen
von %verschiedenem Zustande befinden, müßen den Trunck als den Verräther
ihres Temperaments ansehen %.und meiden. Denn man kann %durch den Trunck
das Temperament %.eines %Menschen schon sehr gut erkennen, %nicht %aber %.seine gesinnungen.
Nicht blos der Trunck, %sondern auch das Eßen verändert das Naturell. Einige
%Menschen sind nach dem Mittags_Eßen sehr zornig andere gütig. Manche %Menschen, be-
sonders vornehme Herren, sind beym kalten %.und %.unfreundlichen Wetter
barbarisch. Man hat in der Geschichte Henrichs_des_III. ein Exempel davon.
Unter Henrich_dem_III. König in Franckreich begieng %.ein vornehmer Mann
ein großes Verbrechen, dachte aber gnade zu erhalten, weil er den König
immer als großmüthig gekannt hatte, und reisete in der Absicht nach Pa-
ris. Ein Connetable, der dies hörte, sagte zum andern, dieser Mann ver-
liehret gewiß %.seinen Kopf. Als ihn der andere fragte, woher er dies wiße, so
sagte er, es ist heute %.ein kalter Tag, wo der König %.gemeiniglich hart ist. Der
Mann kam nach Paris, und wurde wirklich enthauptet.

/ ≥ Vom Schlaf. ≤

/Der Zustand, der %nicht %.künstlich %sondern natürlich ist, da der %Mensch zu gewißen Zei-
ten in einem Zustande der stumpfen Empfindung %.und %.einer %.unwillckührlichen be-
wegung geräth ist der Schlaf. Er entsteht stuffenweise. Zuerst kommen wir
in eine Art süßer Ruhe, wenn er uns anwandelt, darauf werden %.unsere Em-
pfindungen stumpf, denn komt die Zerstreuung, %.und hernach werden wir un-
thätig. Es ist sonderbar, daß der Schlaf Kälte verursacht, denn wir kommen
durch Kälte in den Schlaf. Die %Menschen, so erfrieren, erfrieren alle
im Schlaf. Einige Thiere schlafen den gantzen Winter über, %.und die
Kälte versetzt das Thier in den Schlaf. Es hat auch als denn %nicht mehr wärme
als die Luft. Der Schlaf scheint also aus Mangel der Lebens_Wärme zu
entstehen; denn indem man einschlafen will, so frieret man. Durch
vielen Schlaf wird überhaupt das Blut zähe, %.und die Lebens_Wärme wird
verringert.

/ ≥ Phaenomena des Schlafs. ≤

/Beym ersten Auftrit der Schläfrigckeit wird die %.Aufmercksamkeit
auf äußere Gegenstände schwächer, %.und hierauf fängt die Imaginati-
on erst an, ihr Spiel fortzusetzen. Im tage wirckt sie zwar auch, %aber
ihre bilder sind um so helle, wie ein brennend licht am hellen
Tage. Jungen Leuten wird bange, besonders wenn sie anfangen
zu schlafen, vielleicht, weil die brust beklemt, %.und dadurch der Lun-
ge die Ausdehnung schwer wird. Schlummer ist vom Schlafe nur dadurch

/δSeite 31

/unterschieden, daß man im Schlummer noch stumpfe Empfindungen hat, %.obgleich
die Vorstellungen, die man sich aus diesen Empfindungen macht, gantz falsch sind.
Im Schlummer allein geschehen die Träume, denn im tiefen Schlafe träumt
man %nicht; weil wir da %.eigentlich keine %.sinliche Empfindung haben. Der Chimae-
ren im tiefen Schlafe sind wir uns wachend %nicht bewußt, %.und wir sind da-
rin %.einem Todten sehr ähnlich. Der Athemzug geht da sehr langsam; wenn
man im Schlafe aufwacht, so ist sehr rathsam, daß man gleich aufsteht, %.und
den Schlaf lieber auf eine andere Zeit aufschiebt. Denn, indem man
sich angewöhnt, soviel mal einzuschlafen, so giebt man dadurch dem Ner-
ven Safte immer %.eine andere %.Richtung, und veranlaßt dadurch %.ein Nerven Fieber.

/ ≥ Ursachen des Schlafs. ≤

/Alle Empfindungen geschehen durch die Nerven. Ihre Wurtzel ist im Ge-
hirn, und der Hauptstamm ist die medulla oblongata. Im Gehirn scheint die
Fabriqve des Nerven_Saft zu seyn. So wie aber ein Baum, dem man ein Stück
Wurtzel wegnimt, doch noch blüht, so hat man auch Beyspiele, daß die %Menschen, die %.einen
guten Theil vom gehirn verlohren haben, doch noch leben. Das Gehirn besteht
aus 2. theilen, dem cerebro %und cerebello. Im cerebro oder Vorder-Gehirn
scheinen alle organa der Empfindsamkeit %.und der %.willkührlichen Bewegung zu seyn,
so wie im cerebello alle Lebens-Säffte %.und principia des Lebens. Man «¿¿»hat
grausame experimente mit Thieren gemacht, die dieses Beweisen:
man nahme einem Hunde das cerebrum ab, %.und drückte ihn da sanft, %.und
%.zugleich gerieth er in einen Schlaf. Es scheint hieraus, daß denen, die die Lethar-
gie (Schlafsucht) haben, das Vordergehirn eingedrückt seyn müße. Wir
verschwenden des Tages den Nervensaft; Wenn wir uns einförmige
Bewegungen machen, so daß man nicht attendiret, mithin %verursachen sie %den Schlaf.
Daher die Zuhörer am ersten einschlafen, wenn der Prediger in einem
einförmigen Thone redet, oder gewaltig %.und zwar gleichförmig nach schrey-
et. Ferner entspringt der Schlaf aus allem, was %.unserm Lebens_Safte %.eine an-
dere Richtung giebt, daher das Eßen schläfrig macht. Weil aber der Schlaf
abkühlet, so ist %nicht rathsam nach dem Eßen gleich zu schlafen, desto beßer
aber, bey Tische lange zu sitzen, %.und sich mit Sachen zu unterhalten, die nicht
viel Nachdencken erfordern. Auch mag man bey Tische gerne lachen, %.weil
das Lachen viel zur Verdauung beyträgt. Des Morgens sind lächerliche Sa-
chen %nicht angenehm, sondern man redet da lieber von Geschäften; des Abends
hingegen von Gespensterhistörchen. Besonders Lachen fette Leute gern
über alles, %.und es schickt sich auch in der That ein kurtzer drollichter Kerl
zum Lachen besser, als ein langer hagerer %Mensch. Den Tag über trit der
Lebens_Saft aus dem hintern Gehirn zu den Organen der willkührlichen bewe- 

/δSeite 32

/gungen und Empfindungen. Nun erschöpft sich allmählich der Lebens_Saft,
%.und dann geräth die Maschine in Schlaf. Während des Schlafs aber elaborirt
sich im hintern Gehirn der Nerven Saft, flüßt ins Vordergehirn, %.und der %Mensch
wacht auf. Durch unmäßiges Schlafen wird der %Mensch schläfrig. Es geht überhaupt
mit dem Schlafe so zu: die Lebens_Geister und der Nervensaft muß sich in 24.
Stunden aus dem Vordergehirn ins hintergehirn bewegen. Wenn die
Säfte in großer Menge am Tage verdürstet sind, so wird zwischen dem vor-
dern %.und Hintern Gehirn gleichsam ein Schützbrett die Mühle vorgezo-
gen, damit der Nervensaft wieder einen Zufluß erhalten könne.
Wenn nun während dem Schlafe ein gnugsamer Zufluß geschehen, so wird
dieses Schutzbrett aufgezogen, %.und die Lebenssäfte fangen sich wieder an
zu ergüßen. Man nennt übrigens im Redegebrauch alles schläfrig,
wo eine Mattigckeit herrscht. Es ist ein Unglück, wenn der Schlaf den %Menschen
oft %.unwillkührlicher Weise überfällt, %.und man ihm den Zwang %vertreiben muß.
So gesund der Schlaf ist, so %.schädlich ist er, wenn er übertrieben wird. In den Nor-
dischen Gegenden richten sich die %.Menschen im Schlafe %.gemeiniglich nach den Jahres-
Zeiten. In Janutzkan schlafen die %.Menschen %.gemeiniglich 20. Stunden, %.und wa-
chen nur 3 oder 4. Stunden. Diese Unregelmäßigckeit in Abwechselung
des Tages %.und der Nacht %verursacht bey den Völckern auch eine Unordnung
in der Lebens_Art: als z.E. in einem Theile %.von Rusland; dahingegen die
Leute in dem wärmern Clima, wo beynahe 12 Stunden Tag %.und Nacht ist auch
weit mäßiger %.und ordentlicher leben. Wir haben Vermögen, %.und d diese
sind gleichsam nur Werckzeuge: Wir haben aber auch %.eine Kraft, die diese Ver-
mögen in Wircksamckeit setzen kan; %.und dies ist freye Willkühr. Wenn diese
Vermögen aber den Physicalischen Kräften unterworfen sind, so wircken in
uns %nicht die obern Kräfte. So hat das Waßer ein Vermögen, Mühlen zu trei-
ben, wenn es gleich %nicht allemahl %.eine Mühle treibt; diese Vermögen werden
belebt %.entweder durch eine physicalische Nothwendigckeit, %.und dies sind die un-
tern Kräfte, welche die Niedrigckeit %.oder Thierheit des %.Menschen ausmachen, oder
durch die freye Willckühr, %.und dies ist die obere Kraft. Der Zustand der
Dunckelheit beraubt uns der Macht in Ansehung äußerer Dinge.
So ist ein Trunckener jederzeit schwach, ob er %.gleich weit unternehmender
ist, als im nüchternen Zustande. Und eben dieser Wahn, den ein %Mensch
alsdenn hat, reitzet ihn zum Truncke %.und %nicht die Annehmlichkeiten deßelben.
Denn es ist bekannt, daß %.Menschen die wiedrigsten Geträncke trincken, blos um
berauscht zu seyn. Wenn man sich um der Annehmlichkeit der Geträncke
Willen berauschte, so wäre dies noch eher zu %vergeben. Es ist aber ein grosses
glück, daß der Rausch den %.Menschen schwach macht, denn sonst würde er %.seiner lebhaften

/δSeite 33

/Phantasie nachgehen, %.und viel Unglück anrichten. Was die Folgen der Trun-
ckenheit betrift, so sind es

/1. Ohnmacht.

/2. Unvermögen.

/3. Hinderung der öbern Kraft. Oft will ein trunckener %.Mensch %nicht erschei-
nen, allein man darf ihm nur aufgeben Licht zu putzen. Alle die Spi-
ritus, so aus einem gehörigen Saffte bestehen, bringen dem %.Menschen den Wahn von
einem größern Vermögen bey, daher sich ein solcher %.Mensch einbildet, weit
mehr %.sein Leben zu fühlen, welches daher kommt, weil die Nerven zwar weit
mehr relaxirt, %aber weniger corroborirt werden. Dieses eingebildete
Vermögen scheint der Grund zu seyn, warum sich %Menschen betrincken. Es wä-
re in der Medicin noch zu untersuchen, woher diese falsche opinion
entstehe. Und gesetzt, ein trunckener Mann hätte auch alle %.seine Kräfte beysam-
men, so würde es ihm doch an der Macht fehlen, über sich selbst zu herrschen,
denn er würde doch immer %.unwillkührliche Phantasien haben, %.und wenn er auch
%nicht schwach wäre, so würde er durch diese Phantasien noch %.gefährlicher werden.
Aber die Natur hat schon dafür gesorgt, daß die Geträncke, welche när-
risch machen, auch %.zugleich den %.Menschen ohnmächtig machen, diese Narrheit aus-
zuüben. Was die Ohnmacht betrift, so entspringt sie aus der nachge-
laßenen Lebens_Bewegung. Beym Ohnmächtigen aber findet sich ein
träumerisches Wohlbefinden %.und ein sanfter Zustand ein. Wenn wir
hier vom Tode reden, so reden wir nur vom Übergang vom Leben zum
Tode. Wenn ein %.Mensch %.natürlicher Weise stirbt, so stirbt er als ein Thier nach
mechanischen Gesetzen. Durch eben die Mittel, wodurch ein %Mensch wächst %.und %sich
nährt, eben dadurch muß er auch sterben. Die Nahrungsmittel setzen sich an je-
des Glied an, %.und treiben die Alten weiter. Wenn nun aber mehr frische or-
ganisirte Theilchen hinzukommen, die Alten aber %nicht mehr die Theile des Kör-
pers durchdringen können, so werden sie %verstopft; %.und auf die Art glaubt %.ein
%.Mensch %.von 80. Jahren, dem Tode <noch> eben so fern zu seyn, als einer von 20. Jah-
ren. Dies verursacht die Ungewißheit des Todes, %.und die wenige Furcht für
demselben. Ein jeder %.Mensch hoft noch lange zu Leben, so gar der Kran-
cke, dem der Artzt %.und alle Umstehenden das Leben absprechen. Sehr oft
rühmen sich alte Leute der Gesundheit, %.und der Todt liegt schon in ihren
Gliedern, denn wie könnten sie sonst nach kurtzer Zeit sterben?
Dies kommt besonders %.von dem Mangel der Empfindsamckeit her, die mit

/δSeite 34

/dem Alter abnimmt, so daß er %.keine Schmertzen empfindet, wenn gleich vie-
le Übel an %.seinem Untergange arbeiten. Der Schmertz in Kranckheiten
ist eine Anzeige von vieler lebensfähigkeit; welcher aber schon
gantz bleich im bette liegt, %.und sagt, daß er keine Schmertzen empfinde, von
dem kan man gewiß sagen, daß %nichts mehr an ihm Lebe, als das Gehirn.
Es geht also die Stumpfwerdung der Empfindungen vor dem %.natürlichen
Tode vorher. Die Unempfindlichkeit der Alten macht auch, daß sie star-
cke Geträncke lieben, welche junge Leute %nicht vertragen können.
Nach verlohrner Lebhaftigckeit muß %endlich der %Verstand nachlassen, weil er
keine Materialien mehr hat. Vom %.wircklichen Tode wollen wir weiter un-
ten reden. Wir müßen einen Unterschied machen zwischen den Ober
%.und Untern Kräften %.und dem Ober %.und Unter Vermögen. Zwischen eini-
gen Bestimmungen ist eine natürliche Verbindung. Einige Bestimmungen
entstehen blos %.willckührlich, aber dies setzt %.eine %.Natürliche Bestimmung zum vo-
raus. Die %.willckührliche Vercknüpfung unserer Vorstellungen entsteht
wenn wir auf die Übereinstimmung der Dinge mercken. Diese Handlungen
des Verstandes, wodurch ich mancherley Dinge unter Geschlechter brin-
ge, sind %.willckührliche %.Handlungen. Andere bestimmungen laufen in eins fort
nach Gesetzen der Sinnlichckeit. So müßen wir uns bey dem Worte
Rom nothwendig eine Stadt dencken. So wie die Theile des Körpers
im nothwendigen Zusammenhange stehen, so haben auch die %.Natürlichen Ide-
en ihren Gang. Diesen Ideen kan der %Verstand zwar eine Leitung ge-
ben, allein er muß sich ihnen doch accommodiren. So darf man auch, wenn man
Waßer an %.einem niedrigen Ort will haben, %nicht Machinen haben, das Waßer herun-
ter zu werfen, sondern man darf nur Canäle ziehn. Es sind aber auch Qvellen
in uns, wo sich Vorstellungen in uns physicalisch verknüpfen, %.und rastlos,
unaufhaltsam %.und unwillkührlich fortlaufen.

/ ≥ Von den sinnlichen Vorstellungen. ≤

/Hier kommt alles auf Bilder an, %.und wir können unterscheiden:

/1.) das Bildungs- 

/2.) das Nachbildungs- 

/3.) das Vorbildungs- 

/4.) das Einbildungs- 

/5.) das Ausbildungs-Vermögen.

/Die Sinnlichkeit bringt lauter bilder herfür, der Verstand aber Begriffe.

/δSeite 35

/1. Vom Bildungs-Vermögen. Bey Oefnung der Augen geschehen viele sinnliche
Eindrücke, mein Gemüth setzt sie zusammen, %.und macht ein gantzes daraus.
Dies ist das bildungs_Vermögen. So hat ein Mahler, wenn er die komischen
Züge %.einer Gesellschaft in ein bild bringen will, große Mühe. Bey allen
Empfindungen oder %.sinnlichen Anschauungen sind wir leidend, aber das Bildungs
Vermögen ist thätig.

/2. Von der Nachbildung. Wir können %.eine Sache, die ehedem geschehen, uns jetzt als
gegenwärtig vorstellen. Dies ist die Qvelle von der Fruchtbarckeit vergangener
Zeiten, in Ansehung künftiger. Man nennt dies Vermögen auch die Ima-
gination. In Gesellschaften ist die praetension, wenn alles still ist:
erzehlen sie doch etwas, %.und man weiß als denn %nichts zu erzehlen. Dies kommt
daher, weil man, obschon der Vorrath von bildern bey einem sehr groß ist,
sie doch %nicht <bald> nachbilden kann. Sehr oft ist das gegenwärtige die Ursache, das Ver-
gangne zu removiren, %.und es ist also eine conexion zwischen den Empfindun-
gen %.und den bildern vergangener Zeit, %.und zwar %.eine physicalische Verbindung.

/3. Die Vorbildung geschieht eben so, wie die Nachbildung. Man setze %.nemlich
das Bild vergangener zeiten auf die zuckünftige Zeit, %.und die ist <ein> natürlicher Fluß.
So gar ein Hund weiß, wenn der Jäger das Jagtzeug nimmt, daß die Jagd vor sich
gehen soll. Wer dieses Spiel unseres Gemüths versteht, wird im Reden %.und Dichten
uns leicht zu rühren wißen. Wir wollen %.kürtzlich die vorigen Sätze wiederho-
len. Daß das Bildungs_Vermögen von der Anschauung gantz unterschieden sey, se-
hen wir daraus, wenn der, der %.eine Sache zum erstenmahl sieht, zwar eben die
Empfindung hat, als der, welcher sie oft gesehen. Allein jener weiß sich noch
kein Bild davon zu machen. Wir bemercken ferner, daß %das Gemüth so gerne bil-
det, daß, wenn auch nur einigermaßen Zwischen Dingen eine Ähnlichckeit da ist,
es das Bild also bald vollstandig macht. Wenn z.E. ein %.Mensch halb schlummernd im
Bette liegt, %.und die Gegenstände, die um sind, gantz gleich gültig ansieht, dabey aber
etwan einen Fleck an der Wand gewahr wird, wo etwa Kalck abgebrochen, so
kommt ihm solches bald als %.ein %.MenschenKopf mit grauem Barte vor. Woher komts aber,
daß das Gemüth am geneigtesten ist, allenthalben %.eine Aehnlichkeit %.von %.Menschen zu entde-
cken: Wenn z.E. jemand des Abends reiset, %.und in der Entfernung einen Baum
sieht, so kommt er ihm %.sogleich als ein %.Mensch vor. Die Ursache ist, weil dem %.Mensch %nichts mehr
im Sinne liegt, als der %.Mensch, %.weil in Ansehung unserer %nichts wichtiger als ein %.Mensch.
Denn oft hängt unser Glück %.und Unglück %.von Ihnen ab. Man sieht aber auch, daß
das gemüth in Bilder formiren muß geübt werden. So ist z.E. bekannt, daß,
als die Patres missionarii nach China kamen, sie unter andern Künsten auch

/δSeite 36

/die Music aufs Tapet brachten; Nun war die Music den Chinesern fast schon be-
kannt, %.und sie hatten auch ein musicalisch Tribunal gehalten, allein ihre music
war immer nur einstimmig gewesen; da sie nun die Music der Europäer hör-
ten, die aus vielen Stimmen bestand, so kam es ihnen als ein geräusch vor, %.und
sie konnten %.keine Einheit bemercken. Dies kam blos daher, weil sich ihr gemüth %.kein bild
davon machen konnte. Mancher kann sich sehr leicht ein bild %.von %.einer Sache ma-
chen, ein anderer aber schwer. Das %Vermögen zu Bildern äußert sich %.entweder bey
Gegenwart der Dinge, welches man %.eine Anschauung nennt, %.oder es ist nur eine
wiederholte ehemals gehabte Anschauung, %.und dies ist das Nachbildungs_%Vermögen.
Wir können uns aber auch etwas vorbilden; So müßen wir uns, wenn
wir z.E. ein Haus bauen wollen, die Form deßelben vorbilden. Auch kön-
nen wir uns etwas einbilden, wenn z.E. die Sache vor dem niemals in
der Erscheinung gelegen hat. Hier deuten wir uns Ideale. Wir
copiren zwar bei jeder Einbildung die Materialien zu neuen Bil-
dern, denn gantz vollkommene Ideale können wir uns %nicht einbilden, %sondern wir
copiren nur immer die data der Sinne. Die Zusammensetzung aber geschieht
nach Belieben, %.und dies nennt man die Einbildungs_Kraft, die das Fun-
dament %.von alle dem ist, was erfunden wird. So muß sich ein Künstler
zuweilen ein Ideal einbilden, bisweilen muß er auch blos nachbilden.
Einbildung, unabhängig von aller %.sinnlichen Anschauung heißt Imagination.
Man sieht, daß hier allenthalben das Bild zum Grunde liegt.

/ ≥ Phantasie

/Sie ist %nicht eine wiederholte Einbildung, %sondern Nachbildung. Unser gegenwärtigen
Zeiten sind voll %.von Bildern der Vergangenheit, denn sonst würde kein
Zusammenhang zwischen beyden seyn. Wir appliciren das vergangene immer
auf das Gegenwärtige; wenn uns %nicht die Lebhaftigckeit der %.sinnlichen Eindrücke
im Wachen begegnete, so würden wir die Bilder z.E. von Nordlicht, vom
See Sturm gantz unvollkommen zu sehen glauben. Man sieht es im Schlafe,
%.und man glaubt %.wirklich das zu sehen, woran man doch nur denckt. Bey je-
dem Worte bildet man sich die Vorstellung nach, die man mit dem Wor
te zu %verknüpfen pflegt, %.und bey Nennung %.eines Namens, bildet man sich alle
Zeit %.einen %Menschen vor. Wir sind voll von Phantasien, selbst des Nachts sind
sie so starck, daß man die nachgebildeten Vorstellungen anzuschauen glaubt.
Im Zorn werden sie %durch die äußere Empfindung verdunckelt; diese reprodu-
ctiones sind bey verschiedenen Leuten auch sehr verschieden. Junge

/δSeite 37

/Leute sehen mehr aufs künftige als <aufs> vergangene, %.und zwar «¿¿»ist «¿¿»Bey den Al-
ten dieses reproductions_Vermögen so starck, daß sie der jetzigen Welt ih-
re Aufmercksamckeit %nicht würdigen, keine eintzige Vorstellung hat bey Ih-
nen mehr %.einen rechten Eindruck, %.und es dringt %nichts mehr bis zu ihrem gehirn.
Daher kommt es, daß sie sich den längst vergangenen Zustand leicht, den kurtz
vergangenen aber gar %nicht reproduciren können. Sie glauben, daß nunmehr
%nichts so angenehm ist, als zur Zeit ihrer Jugend, ja so gar die %Sonne deucht ihnen %nicht
mehr so helle zu scheinen, als ehedem. Die Ursache ist, weil ihre Nerven mit
%.einer dicken Haut umgeben sind, %.und sie %nicht mehr die Empfindsamckeit besitzen,
welche sie in ihrer Jugend hatten. Sehr oft ist aber auch die Partheylichkeit die
«¿»Ursache dieses Mißfallens dieser alten Welt, weil sie nunmehro der-
selben bald Abschied geben müßen. Die reproduction ist %.entweder die der
Empfindung oder der Bilder. Letztere ist objectiv, jene subjectiv. Wir können uns
die Bilder klärer vorstellen als die Empfindungen. Wenn «¿¿»einer z.E. vorhin
in dem elendesten Zustande gewesen ist, %.und hernach reich ist, so kann er sich
zwar das Bild seiner Armuth lebhaft vorstellen, aber sehr schwach, dagegen
die Empfindung, die er bey damaligen Umständen gehabt. Die Phantasie
geht also mehr auf bilder, %.und dies ist auch die Ursache, warum zuweilen
Strafen %nicht viel helfen wollen, denn man erinnert sich wohl an die Methode
des Schlagens, aber %nicht wie einem damals zu Muthe gewesen. Doch giebts
auch Fälle, wo die Empfindungen starck reproducirt werden, daher man
von einer Sache %nicht gern mag reden hören.

/Das Vermögen nachzubilden ist zwar allen %.Menschen nöthig; aber eine sehr
Lebhafte Nachbildung ist auch oft %.hinderlich. Von demjenigen, was selten
empfunden wird, kann man sich %nicht leicht ein Bild formiren; Wenn aber eine
Sache gar zu oft empfunden wird, so wird das Bild davon in uns immer
schwächer; daher muß eine Sache von uns in gewißen Intervallis vergeßen
werden, wenn sie %.einen Eindruck auf unser Gemüth haben soll. Das lange Auf-
halten bey Bildern, Besonders bey schmertzhaften, ist auch %nicht gut. Was
hilfts einem, wenn er sich %.seiner %.seeligen Frau erinnert %.und zwar oft %.und lebhaft;
denn es kränckt ihn nur noch mehr. Wenn wir jemanden von etwas ein
starckes Bild machen wollen, so müßen wir ihn mit der Sache %nicht gar zu be-
kannt machen. Denn daher kommt es, daß man sich in %.einem Lande, wo auf
alles Strafe folgt, zuletzt gar %nicht mehr an die Strafe kehrt. Rausseaux
erzehlt, daß ein Vater seinen Sohn, der allen Wo«h»llüsten ergeben war, einst
in ein Lazareth geführt, welches %mit lauter solchen unglücklich Leuten

/δSeite 38

/angefüllt gewesen, die die %.natürliche Strafe ihrer Laster erduldeten, %.und daß
er ihn durch %.glückliche Anwendung dieses bildes auf %.seinen Zustand von seiner
Ausschweifung %.gäntzlich abgezogen habe. Hieraus sieht man, wie starck %.ein sel-
tenes Bild sey. Man muß aber dabey so zu Wercke gehen, daß man seine
Empfindungen steigern kann, denn es ist bekannt, daß in <den> Ländern, wo auf die ge-
ringsten Verbrechen eine Barbarische %.und %.unmenschliche Strafe gesetzt ist, man
sich am wenigsten daran kehre. Die Ursache ist, weil ein starckes Bild das
vorige schwächt %.und verdunckelt, denn wer die größte Strafen aus gewohn-
heit ohne Schaudern ansehen kann, der wird die kleinern um so viel we-
niger fürchten, %.und wo man die Diebe flichtig aufhängt, da wird am mei-
sten gestohlen. Denn die Phantasie will immer steigern, %.und daher müßen
harte Strafen ersparet werden, damit kleinere ihre Kraft behalten,
weil ein größeres Bild mehrere Empfindungen macht.

/Ferner giebt auch die Neuigckeit der Imagination %.eine Stärcke, dies sieht
man an den Empfindungen der Verliebten, die alsbald verschwinden,
wenn sie verehlicht worden sind. Denn sie dürfen als denn die Imagination
%nicht mehr brauchen, %sondern nur die Sinne vor sich nehmen. Die Imagination wird
%durch die Neuigckeit exercirt, %.und das vorgebrachte bild haftet länger«,». Über-
haupt haften die Bilder im Gemüthe allemal länger, als die Sache selbst.
Wenn wir das Bild %.einer Sache in unsrer Seele zeichnen, so flüßen aller-
ley Neigungen mit ein, nach deren Verschiedenheit denn auch %das Bild %verschieden
ausfällt, %.und zwar je nachdem der Hang ist, als Vorurtheile, Vorliebe %.und haß,
jenachdem werden sie verbeßerd %.oder verschlimmert. Gewiße Leidenschaften
verursachen, daß manche Gegenstande mehr in der Abwesenheit als in der
Gegenwart gefallen. So ist es mit der sogenannten Zauber Liebe beschaffen,
da die Imagination dem Verliebten immer ein %.vortrefliches Bild %.von %.seiner Schöne
einflößt, so daß sie ihm mehr gefällt, wenn er %.von ihr gegangen, als wenn er bey
ihr ist. Solche Verliebten sind unheilbar, weil die Entfernung ihre Ge-
müths-Kranckheit mehr %vermehrt als vermindert. Sie sehen in der Ab-
wesenheit der Person aufs Große, %.und vergeßen die Fehler. Wer in der Ab-
wesenheit gar %nicht, hernach aber sehr gefällt, der ist unglücklich. Es ist dies %nicht
leicht zu erklären, man könnte es die Annehmlichkeit im Nachschmack nen-
nen. Dasjenige, was nach der reflexion gefällt, gefällt weit inniglicher, als
das, was sich %.unseren Empfindungen gleich aufdringt. Daher kommt es, daß ein
Frauenzimmer, wenn es %nicht bezaubernd schön ist, daß es gleich beym ersten

/δSeite 39

/Anblicke gefällt, %sondern «¿¿»Bey dem man erst vermöge der reflexion vortheil-
hafte Züge entdeckt, immer das glücklichste ist. Es ist hiermit so, wie mit
dem Nachschmack beschaffen, %.und das Wohlgefallen daran ist das größte %.und
beste. Die süßen Weine haben %.gemeiniglich im Schlunde einen wiedri-
gen Geschmack, %.und umgekehrt, andere wieder im anfang %.einen wiedrigen,
im Schlunde aber wegen der feinen Saltze %.einen angenehmen Nachge-
schmack. Mit den Jahren lieben die %.Menschen immer die Weine, so ihnen im Nach-
geschmack gefallen. So giebt es auch %.Menschen, die nur im Nachsmack gefal-
len, %.und dies sind %.gemeiniglich solche, die in Gesellschaft etwas an sich haben,
was %.theils mißfällt, %.theils gefällt. Wenn wir z.E. %.einen %Menschen in Gesellschaft
sehen, der %.einen wiedersprechenden Contrast bey sich führet, dem etwa
die «¿»Naht im Kleide aufgetrennet ist, so mißfält er uns schon;
kommen wir aber nach Hause, so läßt die Imagination diesen Fehler
weg, %.und geht nur auf das hohe, das er etwa in %.seinem Gespräche gezeigt
hat. Denn wenn %mit Personen redet, so sind Fehler %.und Vollckommenheiten
vermischt. In ihrer Gegenwart sieht man aber lieber auf die Feh-
ler (wenn solche da sind) mehr; %.und wenn auch nur ein Knopf vom
Rocke fehlen sollte. Ebenso ist es mit den witzigen Einfällen bescha-
fen; %.anfänglich stutzen wir, sie entwickeln sich aber ohne Zeitverlust,
%.und wir mercken alsdenn leicht, wohin sie abzielen. Eine gleiche
Bewandniß hat es mit dem Lachen; die Materie, worüber man lacht,
muß gleichsam 2. Seiten haben. Wenn man sie nur %.von %.einer Seite be-
trachtet, %.und das gegentheil fällt uns %.plötzlich in die Augen, so legt sich %das
Lachen in uns. Als der Pabst einen Poëten, der ein Gedicht auf ihn ge-
macht hatte, %.eine Stelle darinnen wieß, wo ein vers mangelte; so
antwortete ihm der Poët: er möchte das Gedicht nur bis zu
Ende lesen, %.vermuthlich würde zuletzt einer zu viel seyn. Hier lach-
te der %.Heilige Vater. - Das Gegentheil ist eben hier, da ein Vers
am rechten Orte zu wenig, %.und am unrechten zuviel ist. Oft
sagt man: Was dieser %.Mensch an dieser Person liebenswürdig fin-
det, weis ich %nicht, allein dies Liegt schon in der Imagination, er kann sich
in der Abwesenheit mit ihr Zancken, nachher ists seine Gattin, denn
er copirt alsdenn die Fehler %nicht. Das Nachbilden ist angenehm,
in so ferne wir uns aus Partheylichkeit etwas %.von der vortheilhaf-
ten Seite vorstellen. Man kann sich aber auch Kraft dieses Bil-
dungs-Vermögens %.ein fürchterlicher Bild von künftigen Sa-
chen entwerfen, und in diesem Falle ist man elend daran,

/δSeite 40

/weil man hier ohne hofnung ist, da doch Hofnung %.und Schlaf die Mittel sind,
wodurch wir uns alles Unglück %.erträglich machen können. Auch ist man-
ches Schrecken in der Imagination stärker, als in der Sachen. So stellen
sich manche Leute ihr künftiges Alter erschrecklich vor. Stärcke, richtigckeit
%und Ausbreitung der Imagination sind sehr voneinander unterschie-
den. So haben Frauenzimmer eine starcke %.und ausgebreitete Ima-
gination, aber sie ist darum %nicht immer richtig. Leute, die alles nachäffen
können, zeigen %.eine starcke Imagination: man hält dies %.gemeiniglich
für Witz, aber es ist nur Lebhaftigckeit. Diese Imagination muß
uns helfen, wenn wir uns an die Stelle andrer setzen wollen; So
muß ein Redner, ein Dichter auch ein Comoediant %.eine starcke Ima-
gination haben, %.und es taugt keiner dazu, der sie %nicht hat. Eine Actrice
spielte einst die Rolle einer liebhaberin, der Principal sagte ihr, daß
sie die Rolle schlecht %.und frostig mache, %.und fragte sie sogleich, was sie
wohl machen würde, wenn ihr ihr Liebhaber untreu würde. Sie
antwortete: ich würde einen andern wahlen; Worauf der Principal
sagte: Sie verdiente %nicht geliebet zu werden, am wenigsten %aber
Actrice zu seyn. Das beste Mittel für Comoedianten ist, sich die Sache
so vorzustellen, daß sie vergeßen, daß es nur eine Nachahmung ist.
Solche %.Menschen können auch %.keinen %.eigentlichen Character studiren, auch keinen haben,
weil sie sich zu viel mit Fremden abgeben müssen. Man sieht aber wohl,
daß es schläfrig geht, wenn man sich kein lebhaft bild von der Person
macht, die man vorstellt. Denn %.diejenigen auf welche die Sachen %.einen großen Ein-
druck machen, können sich auch starcke bilder Formiren. Comoedianten
sollten andre Personen vorstellen; Sie müssen aber auch solche
Personen im Sinne haben, deren Miene, Stimme etc. bey ihnen einen
Eindruck erregen. Das rathsamste dabey ist, wenn man sich %nicht das bild
von andern, sondern (das Bild) die Sache selbst vorstellt, so, als ob sie %.wirklich
da wäre, %.und %nicht eine bloße Imagination %.und Vorstellung davon. Auch po-
etische Naturelle haben %.eigentlich %.keine Charactere, die recht bestimt sind,
sondern sie sind Mahler der gegenstände, %.und versetzen sich zuweilen
in gantz verschiedene Zustände. Plato sagt %.vortreflich: die Poeten ent-
werfen nur die bloßen bilder der Tugend, %.und daher suchen die %.Menschen
nur die Nachahmung nicht das Wesen der Tugend. Man sagt, daß veleius ein
Mathematicer, eine so starcke imagination gehabt habe, daß er aus einer
Reihe von 15 bis 20. Ziffern die Cubic Wurtzel in finstern habe herauszie-
hen können. Die orientalischen Nationen haben eine starcke Imagina-
tion, daher auch ihre Schriften alle so bildreich sind. Dagegen aber

/δSeite 41

/haben sie eine schwächere Vernunft. die araber %.und Türcken können kein
ausgeschnittenes Bild leiden, weil ihrem Vorgeben nach, die Bösen Geister
solche Statüen, die %.keine Seele haben, bewohnen, %.oder wie andere sagen, weil die
Statüen in der Ewigckeit die anderen %.Menschen verschwürtzen werden, weil man
ihnen keine Seele gegeben. Der Grund davon ist aber wohl dieser, weil
ihre Imagination beym Anblick dieser Statüen so groß ist, daß sie sich sol-
che als lebendig vorstellen. Denn das ist ausgemacht, daß die %Menschen um
destomehr den Phantasien ausgesetzt sind, je weniger sie reflectiren.
Das größte Unglück der hypochondrischen %.Menschen besteht <blos> darin, daß sie ihre ima-
gination %nicht unter der Herrschaft ihrer Willckühr haben, daher ein solcher %.Mensch
in Gesellscha@fft@ über eine ihm einfallende Materie für sich lachen kan,
ob er gleich einsieht, daß es dem Wohlstande zuwieder ist. «e»Ein Hypochondrist
ist einem Wahnsinnigen ziemlich ähnlich. In den Leidenschaften werden die
Bilder jederzeit in ihrer Richtigckeit verfälscht. Daher irrt sich ein Redner
sehr, wenn er glaubt, daß %.eine Rede, welche die Leidenschaften rege macht, schön
sey. Das rührende ist jederzeit das niedrige Product des %.Menschlichen genies, weil
es nur die Anwendung einer schon erfundenen Vorstellung auf die Trieb-
Federn des gemüths ist. Wenn %nicht Richtigckeit in der Rührung ist, so verdrießt
es nachher den Gerührten, weil er sich ärgert, daß er dem andern gleichsam
zum Instrument gedienet, da er auf %.seinen Nerven als auf %.einem Seitenspiel
gespielt hat. So ärgert man sich über einen Dichter, der durch die geburt
%.seiner ausgelassenen Phantasie wohl noch gar rühren will. Herrscht aber
Wahrheit in dem Gedichte, oder die Erdichtungen sind der %.Menschlichen Natur %.und
Vernunft gemäs, so ärgert es mich %nicht, wenn ich auch gerührt werde,
denn ich sehe mich als denn ins Land der Möglichkeiten, der Erdichtung %.und imagi-
nation, gesetzt. So kann uns auch %.eine erdichtete Geschichte rühren, aber der
Plan muß %.mit der Wahrheit correspondiren. - Eine ungezämte
Einbildungs_Kraft ist eher %.schädlich als %.nützlich, denn sie hat über sich selbst
keine Macht, %.und ist %.eine Kranckheit, die sich bey hypochondrischen, melan-
cholischen %.und Träumenden %.Menschen befindet. Sie muß %nicht zügelloß seyn,
sondern Vernunft %.und Erfahrung müssen ihr die Schrancken setzen. Des %Verstan-
des können wir dabey nicht entbehren, denn er mu«¿»s die Einbildung ord-
nen %.und ihnen Ihre Falschheit %.und Zügellosigckeit benehmen. Um sei-
ne Phantasie zu mäßigen, muß man sehen, ob Richtigckeit darin-
nen Herrsche, %.und sich hüten, daß sie nicht allenthalben %.unwillckührlich
verfolgen. Bey Verliebten thut sie großen Schaden, denn sie ist %nicht
richtig, %.und erdichtet viele %.Annehmlichckeiten. Die Wilden haben

/δSeite 42

/soviel Geschlechts_Neigung, als zur Fortpflantzung gehört. Überhaupt rüh-
ren alle Ausschweifungen von ihr her, %.und wer also mehr von %.seiner
Phantasie, als der Gegenwart der Sache dependiret, ist %.unglücklich.

/ ≥ Von dem Vermögen über alle diese Bildungs_Ver-
mögen zu disponiren, oder Ähnlichkeit %.und Unterschied zu
Bemercken. ≤

/Diese Vermögen bestehen %.eigentlich nur in actibus der Vergleichung,
%.und sind von der %.Sinnlichckeit gantz unterschieden, als wodurch die
Vorstellung bey uns erzeugt wird. Es kommt bey diesem Vermögen
also %.wircklich etwas auf die physickalische beschaffenheit unsers Ge-
hirns an. Und es ist %nicht unrichtig, wenn Switft in seinen physickalischen
Betrachtungen von der Dicht-Kunst sagt: daß das Gehirn der Poeten %mit
Würmern angefüllet sey, die durch das verschiedene Nagen der Ner-
ven verschiedene Einfälle zuwege bringen. Denn ob er dies gleich satyrisch
sagt, so ist doch gewiß, daß keine characteristische Fähigkeit des %.Menschen ohne
physickalische Veränderung im Gehirn %.möglich sey; ob zwar niemand
diese Veränderung selbst %durch Vergrößerungs-Gläser bemercken kann. Eine je-
de distincte Empfindung erfordert eine Besondere Organisation des
Gehirns, denn es ist beckannt, daß es gewiße empirische genies giebt,
so wie es im Gegentheil speculativische Köpfe giebt, die im Stande
sind, alles genau zu beobachten, besonders, die ein %.fürtrefliches
Augen_Maas haben. Wo aber werden denn nun Bilder der Sache
aufbehalten, im Gehirn, oder in der Seele? Wir befinden uns
zuweilen in einer solchen Gedanckenlosigckeit, daß wir, wenn
wir in Gesellschaften gebeten werden, etwas zu erzehlen, %nicht wi-
ßen, was wir anfangen sollen. So bald %aber jemand etwas an-
fängt, so kommen wir leicht auf Materien, die zur Unterhaltung
dienen. Es muß also doch etwas im Kopfe liegen, was angren-
tzende Bilder hat. Wenn nun ein Bild rege gemacht wird, so wirckt
hier ein Vorfall den andern. Es ist %.wahrscheinlich daß alle Bilder,
die einmahl in unser Gehirn kommen, nie wieder aus demselben
verschwinden, aber %.dadurch, daß sie %nicht gebraucht werden, gleichsam
in Schut %.und Staub vergraben liegen, so daß sie gantz unkenntlich seyn.
%.Diejenigen Medici, welche mit der Artzney Wissenschaft die Kenntniß
von den Seelen Kräften verbunden haben, sagen, daß die

/δSeite 43

/Bilder der Sachen im Gehirn aufbehalten werden. Die wahre Gelehr-
samckeit ist allein die Kunst, %.dasjenige im gedächtnis aufzubewahren,
was seines Nutzens wegen im gemeinen «¿»Leben aufbehalten zu wer-
den verdient. Aber die Neubegierde besteht in einer eitlen Auf-
mercksamckeit auf alles das, was nicht dahin gehöret, %.und worauf die
Welt, weil es unnütze ist, am wenigsten achtet. Die genaue Richtigckeit
ist das <rechte> Verhältnis der Theile gegen einander %.und ihrer Übereinstim-
mung zu einem gantzen. Wer diese %nicht hat, begnügt sich mit einer
Genauigckeit in Kleinigckeiten, %.und Beschäftiget sich mit Sylben %.und Wor-
ten. Wir haben eine lebhafte aber auch matte Imagination; Wenn
wir auf etwas dencken %.und schreiben wollen, so müßen sich viele
Dinge in unserer Seele öfferiren, woraus wir %.dasjenige was zu %.unserer Ma-
terie dient, aussuchen können, so wie ein Officier, der die größten
Leute aus einem Regimente aussondern soll, sie alle zusammen
kommen läßt; so müßen wirs auch in Ansehung unserer Bilder
machen. Wir müßen als denn gleichsam Lerm im Gehirn schlagen,
%.und alle Bilder rege machen. Hierauf überlaßen wir uns dem
Strome unserer Vorstellungen, %.und eine bringt die andere herfür,
so daß wir dabey weiter %nichts zu thun haben, als daß wir die
Haupt-Vorstellungen %nicht aus dem Gesichte laßen; denn die Bil-
der laufen immer fort, nachdem sie im Gehirn vergesellschaftet
sind. Weil nun die Imagination oft den gang nimmt, den die Bil-
der in Ansehung der Zeit haben, so könnten wir sehr leichte gantz
von unserm Objecte abgeführet werden, wenn wir %nicht aufmerck-
sam sind; wir haben über unsere Imagination eben so wenig Macht,
als über den Lauf des Blutes. Dies aber können wir thun, daß wir
sie sistiren, wenn sie gar zu sehr aus schweift, %.und als denn von da anfan-
gen zu dencken, wo man erst angefangen zu dencken, ihr hierauf
wieder den freyen Willen laßen %.und sie wird als denn wieder einen
andern Weg nehmen. Man muß sich aber hüten, %.seiner Imagination
Gewalt anzuthun, denn man hindert auf diese Art den gantzen
Fortgang %.seiner Ideen. In diesen Lauf der Imagination flüßen
die Bilder entweder nach ihrer Nachbarschaft, je nachdem sie zu-
sammen liegen; oder nach ihrer Verwandschaft, die von jener gantz un-
terschieden ist. Man wird auch bisweilen durch die Nachbarschaft der
Ideen eben so %.verdrießlich als wie man sich im gemeinen Leben über
einen %nichts würdigen Nachbar ärgert. Die Imagination denckt

/δSeite 44

/selber %nicht, sondern ich bemercke nur, ob ich in dem Strome meiner Imagina-
tion %nicht Bilder entdecke, die in meine Materie einschlagen. Oft ge-
schieht es, daß in dem Fluße dieser Bilder eins mir %.augenblicklich ent-
wischt, welches ich doch hätte brauchen können, %.und als denn ist man %.gemei-
niglich unruhig %.und beckümmert. Das Beste Mittel, wieder auf dieses Bild
zu kommen, ist, daß man wieder von neuem anfange zu dencken. Kann
man es noch %nicht aus fündig machen, so fange ich eben von dem Puncte
an; %.gemeiniglich gelingt es, das verlangte Bild zu ertappen. Denn jetzt
darf es nur noch einmahl vorckommen, so wird man es leicht bemer-
cken, weil man schon praeparirt ist, es aufzufangen. Wenn man
also etwas schreiben will, so muß man einige Zeit vorher der Ima-
gination freyen Lauf lassen. Man darf nur gleichsam einen Zet-
tel im Gehirn anschlagen, die Haupt_Idee darauf niederschrei-
ben, %.und dann kann man unbeckümmert in Gesellschaft gehen. Hat sich
diese in Partheyen getheilt, und man gewinnt nur einen Augenblik
für sich, so fällt einem %.gemeiniglich der Gedancke ein, den man sonst %mit
Mühe herfürgebracht hat. Wenn man zu Hause, %.und sich %mit dieser Ma-
terie beschäfftiget, so darf man nur noch Bücher von gantz anderen
Subjecten, z.E. Lustige Geschichten, Reise Beschreibungen etc. zur
Hand nehmen. Wird die Imagination schwach, so lieset man in
einem solchen Buche. Bis weilen geschieht es, daß ein eintziges Wort,
welches darin vorkommt, ein gantz vortrefliches %.und %meiner Materie
anpaßendes Bild excitiret, denn dasjenige, worauf man sich am
wenigsten praeparirt, ist das Naivste. Bey allem diesem Dencken %aber
muß man einen gebrochenen halben Bogen Papier zur Hand
haben, worauf man alle Bilder, die zur Materie gehören pro-
miscue aufzeichnet. Ferner muß man auch einige intervalla
Beym Dencken haben, die zur Erhohlung %.und Stärckung der Imagina-
tion ungemein viel beytragen. Auch hüte man sich, das, was
man selbst geschrieben hat, oft durchzulesen. (Schriften über
die Materie, über welche man nachdenkt, muß man %nicht nach-
lesen, sonst bindet man das genie.) Und man dencke viel-
mehr nur immer an die Sache selbst, %.und sammle Bilder. Wenn nun
alle Materialien zu unsrer Sache da sind, so wird Beym durch-
lesen in uns ein Schema entspringen, welches wir in
kurtze Sätze einkleiden, %.und ohne Zwang aus Beßern.

/δSeite 45

/Ist das Schema richtig, so recurriren wir zu unserm Bilder Magazin.
Nun schreiben wir die Materie ohne Nachzusinnen nieder, %.und fält uns et-
was %nicht gleich ein, so laßen wir ein Spatium %.und notiren mit einem
Wort am Rande das, was dazwischen kommen sollte. Darauf sehen
wir es durch, füllen das aus, was uns fehlt, schreiben es nochmals ab,
poliren es hin %.und wieder, %.und so wird es fertig«,» «¿»Wer etwas auf einmahl
recht gut machen will, %.und dazwischen seine Gedancken anstrengt;
der denckt sich dumm, %.und verfehlt seinen Zweck gewiß. Auch Beym
Bücherlesen ist es rathsam, daß man <es> erst flüchtig durchlese; wenn
man gleich %nicht alles versteht, so findet man, daß der autor selbst
nachgedacht, %.und %nicht blos geschmiert habe, noch auch %.alltägliches Zeug erzählt, so
ließt man es nach einem %nicht großen Intervalle noch einmahl.
Man nimmt als denn eine Bleyfeder, %.und notirt sich die %.vorzüglichsten
Stellen, es sey nun eine gute Historie, %.oder etwas recht arges; oder
auch ein schöner Einfall, denn man kan dies alles brauchen. Da
wir nun schon Beym ersten durchlesen des Buches die Absicht
des Auctors gesehen, so werden wir Bey den Beweisen %.oder definitio-
nen, worauf der Auctor seinen gantzen Vortrag gründet, etwas stil-
le stehen, %.und das, was der Auctor sagt, etwas genauer examini-
ren; da wir solches erst, ehe wir wußten, was er hieraus folgern
wollte, übergiengen. Aus fremden Büchern kann man sich zwar
Auszüge machen, sie müssen aber kurtz seyn, %.und solcher Stellen gibt es
auch %nicht viel. Im Montagne findet man viele naive Gedancken. Er
hat sehr %.gewöhnlich geschrieben, denn als Seignere gab er sich nicht
viel Mühe, %.und niemand konnte es ihm verdencken. Er schreibe, sagte
er, um sich wohl zu Befinden. So bringen die Einbildungen eine Men-
ge Ideen hervor, %.und alles das, was bisher gesagt worden, dient dazu,
daß man einsehen könne, wie die Ideen verbunden, %.und wie man aus
dem Strome %.seiner Ideen einige nach Willkühr auszeichnen könne.

/ ≥ Vom Gedächtniß. ≤

/Das Gedächtniß ist das Vermögen beliebiger reproductionen ehe-
mals gehabter Vorstellungen. Es unterscheidet sich also von der
Phantasie hauptsächlich darinn, daß man seine Vorstellung nach Belie-
ben müße reproduciren können, da hingegen die Phantasie %.unwillkührlicher
Weise die vorigen Bilder in unser Gemüth zurück bringt. Die Phan-
tasie ist einer rastlosen Thätigckeit gleich, sie ist ein Strom von Bildern,
der %.unaufhörlich dahin flüßt. Dieser Bilder sind wir uns zuwei-
len Bewußt, «¿¿»zuweilen auch %nicht. Hier macht ein Bild das andre

/δSeite 46

/rege, %.und dies geht ohne Ende so fort. Wenn wir also eine Sache verheelen
wollen, so müßen wir im Discur alles dasjenige sehr sorgfältig decli-
niren, was beym andern das angrentzende Bild von dem, was ich verheelen
will, excitiren könnte. Wenn man z.E. irgend wohin reisen will, seine
Reise aber niemandem entdecken, damit man %nicht mit Commissionen beschwe-
ret werde; so muß man, wenn man mit ihm spricht, %nichts von der
Post oder von dem Wege reden, denn davon kommt er leicht aufs Reisen.
Man pflegt den Klugen von Narren blos dadurch zu unterscheiden,
daß der Narr alles sagt, was er denckt, ein Kluger aber nur das,
was zur Sache gehört, %.und sich dazu schickt. Möchte ein jeder das
reden in Gesellschaften, was ihm nach den Gesetzen der Phantasie ein-
fällt, so würde man auch den Klügsten für einen Narren hal-
ten müßen. Hieraus folgt, daß wenn ein Wilder verrückt wird, er nie
ein solcher Narr seyn könne, als einer, der mehrere Materialien
in der Phantasie gesammlet hat. Unsere Phantasie ist mit ein
Stof zur Klugheit, sie muß aber unter unsrer Willkühr stehn, denn
sonst ist sie mehr %.schädlich als %.nützlich. Es können Leute eine starcke Ima-
gination %.und %.ein schwaches Gedächtnis haben, %.und oft ist die größte %.Lebhaftigkeit
der Imagination die Ursache des schlechten Gedächtnißes. Die Phantasie
hat ihren Sitz im Gehirn, %.und es kann also geschehen, daß das Gedächtnis
welches alle Sachen daraus hernimmt, %durch «¿»Kranckheit geschwächt wird. Das
Gedächtnis besteht also darinn, daß ich von den Bildern, die ich einmahl
gehabt, willkührlich einige herfürbringen kann. Zuweilen %aber fält mir auch
mehr ein; wie es aber das Gedächtnis mache, aus allen Bildern das her-
vor zu bringen, was es will, ist nicht zu begreifen.

/ ≥ Handlungen beym Gedächtniße, %.und deßen Grade. ≤

/Zum Gedächtniß gehören 3 besondere Stücke:

/1. etwas faßen,

/2. etwas Behalten,

/3. sich etwas erinnern.

/Die Fähigckeiten äußern sich bey manchen subjecten nur langsam, bey
andern sehr leicht. Man kan ein gut Gedächtnis haben, %.und doch etwas sehr
langsam %.und schwer faßen; dies findet sich %.gemeiniglich Bey Leuten, die wenig
Witz haben; wenn sie sich aber einer Sache erinnern, so thun sie es mit weit
mehrerer Richtigckeit, als andere. Etwas im Gedächtnis faßen, ist, wenn
man etwas in der Phantasie gründet, %aber so, daß man es wieder herfür lan-
gen kann, wenn man will. Um letzteres %aber zu Stande zu bringen, muß man
Ideen mit einander verknüpfen. Dies geschieht

/δSeite 47

/1. dadurch, wenn man oft Bilder zusammen stellt, z.E. wenn man einen Namen
%nicht behalten kann, so darf man sich nur einen andern %.ähnlichen Namen nennen,
so daß wenn man nur einen behält, dieser ihn sogleich auf den ihm %.ähnlichen führt. Dem-
nach ist das erste Mittel Ideen leicht aus der Phantasie herfür zu bringen, die
bloße association, %.und Vergesellschaftung der Begriffe. Diese association ist
von der Begleitung gantz unterschieden. Denn es kann mich jemand eine Zeit-
lang in enge Straßen begleiten, aber er ist deshalb noch kein Gesellschaf-
ter von mir. Derjenige %aber ist es, der mich beständig begleitet. Indeß ist
doch nach der Natur der Phantasie die Begleitung ein Grund der associati-
on, diese aber ist auch oft ein Grund des Ekels für %einer Sache. So kann man-
cher keinen Thee mehr trincken, blos weil er die Rhabarber, welche er
ehemals darinn einnahm, noch darinn zu schmecken glaubt. So gar Wörter
beckommen eine andere Bedeutung durch %.eine zufällige association. Z.E. Cour
machen, hat jemand vielleicht im Schertz gebraucht, statt an den Hof gehen,
%.und nun denckt sich fast %.ein jeder beym ersten, auch das letzte. Ja die Ide-
en hintergehen auch bisweilen die %Menschen. Es hat das, was %durch einen Um-
schweif der Phantasie in unser Gemüth gebracht wird, lange %nicht einen so
starcken Eindruck, als das, was gerade zu in unser Gemüth kommt. Woher kommts,
daß Autores oder auch Leute in Gesellschaft von lauter Gelehrten, die Wörter,
die die naturalia hominis angehen, %nicht deutsch, %sondern lateinisch sagen, da
sie es doch so gut als das deutsche verstehen? Darum, weil man das Wort
in Gedancken übersetzen muß, daß also der Begrif %durch einen kleinen Umschweif
in unser gemüth kommt, welcher aber wegfallen würde, wenn man sich
des deutschen Ausdrucks bediente. Durch den lateinischen Ausdruck wird
also die Bescheidenheit %nicht so gerade zu beleidigt. Wenn aber ein solcher Um-
schweif oft gebraucht wird, so laßen wir ihn zuletzt gar weg, %.und nehmen den
Begrif unmittelbar in unser Gemüth auf. So nannte man auch die Kranck-
heit der Wollüstigen, die aus West Indien ihren Ursprung nahm, die veneri-
sche, zuerst neapolitanische Kranckheit. Weil dies aber mit der Zeit zu grob
klang, so brauchte man den %.frantzösischen Ausdruck, Mal de Naples. Da aber die
Französische Sprache so gemein wurde, daß man keinen Umschweif mehr brauch-
te, um diesen Ausdruck ins Gemüth zu faßen, so nannte man sie wiederum
die neapolitanische Kranckheit. Hier kann jemand %.wircklich seinen Witz gebrau-
chen, wenn er in Gesellschaft %mit Frauenzimmer von dingen die zwar gerne gehört
werden, aber doch wieder die Gesetze des Frauenzimmers laufen, solche Ausdrücke
gebraucht, die zwar jeder versteht, bey denen sich aber jeder so verstellen kann, als ver-
stünde er sie nicht. - 

/δSeite 48

/I. Die 1. Methode also, sich etwas leicht zu reproduciren, ist die association. Wenn
Kinder etwa einen Spruch auswendig lernen, so beten sie ihn so oft her,
daß einem andren die Ohren weh thun. Sie associiren dadurch, %.theils die
Wörter unter einander, %.theils den gantzen Spruch mit allerley Vorstellun-
gen, die sie beym herbeten haben, %.und auf diese Weise behalten sie ihn.
Ferner wenn ein Kind das 1 mal 1 aus wendig lernt, so hat es eine
Zahl mit der andern in Gedancken so associirt, daß nun eine Zahl durch die
andere reproducirt wird. Daher kommt es, daß, wenn man Es eine Zahl fragt,
z.E. wie viel 5 mal 7 ist, daß es die gantze Reihe wiederholen muß, bis es
an die Zahl kommt. Es ist %aber diese association %.gefährlich, weil das Kind das
gantze Einmal Eins vergeßen würde, wenn es %nicht rechnen dürfte. Wie-
derholt man ein Wort nur einigemal, so ist dies schon eine associ-
ation mit den Begriffen, die man bey jeder Wiederholung gehabt hat.

/II. Das 2te Mittel der leichten reproduction ist die Ähnlichkeit. Hier wird %durch
das Spiel des Witzes eine Vorstellung mit der andern associirt. Wenn man
aber nur immer mit der äußern Seite der Dinge spielt, so wird der Ver-
stand dadurch corrumpirt. So ist es in Banonius Bilder Bibel. Um den %.Julius
Caesar zu behalten, ist dabey geschrieben: Eine Uhl scharet im Käse. Um
den Titul aus den Pandecten de haeredibus suis et legitimis zu behalten,
hat man einen großen Geld Kasten gemacht - haeredibus - bey diesem
ein paar Säue - suis - %.und zuletzt die Tafeln Mosis - legitimis - diese Ähn-
lichkeiten zu behalten ist allerdings schwerer als die Sache selbst. Wir be-
mercken ferner, daß wenn jemand etwas falsch gerathen %.oder etwas einmal
falsch ins gedächtnis gefaßet hat, so bleibt dies immer. Und daher müßen
in diesem Falle die ersten Eindrücke immer richtig seyn. Es ist auch %nicht %.gleich
leichte, Historie %.und geographie zu lernen, denn in der geographie gehe ich
mit dem Finger um die Land Charte herum, %.und zeige die Provintzen
nach einander, aber sie bleiben mir doch alle vor den Augen: In der
Historie ist immer ein König gleichsam weg, wenn der andere kommt, da-
her ist geographie leichter als Historie. Es ist auch interessanter, daß %.ein Land
in der Welt legt, als daß ein Churfürst in derselben gelebt hat. Man
nennt leges phantasiae beatae, wenn das Bild blos %durch die Zusammenpaarung
herfürgebracht wird; wenn man aber %durch eine Ähnlichkeit %.eine Sache repro-
duciren will, so muß es eine wahre Ähnlichkeit in den Sachen, %nicht aber
in %.willckührlichen Sachen seyn.

/III. Das 3te Mittel der leichten reproduction ist die Verbindung der begriffe nach

/δSeite 49

/logischen Gesetzen, in so fern Sachen unter Claßen gebracht werden. Man kann
sich den Verstand als einen %.unermeßlichen Raum vorstellen, worinn für jeden
Begrif Behältniße sind %.und Abtheilungen, die man locos logicos nennen
könnte. In diese muß eine jede neue Vorstellung gesetzt werden, wenn man
sich dieselbe leicht reproduciren will.

/IV. 4tens Müßen die dinge nach dem Verhältniße des Verstandes %und der Vernunft
%.verglichen werden. Es wird hier %.nemlich nur die Ursache mit der Würckung ver-
glichen. Wenn man Z.E. das mumia mineraliter behalten will, so muß man
wißen, daß es %.ein balsam sey, vermittelst deßen der zerbrochne Fuß ei-
nes kleinen Thieres in 24. Stunden geheilt werden kan.

/V. 5tens Muß man die Dinge in %.ein Verhältnis %mit den Gesetzen unsrer Neigung
setzen. Dies ist die größte Aehnlichckeit, daher kommt es, daß man von ju-
dicioesen Leuten sagt, daß sie allemal ein schlecht Gedächtnis haben; Und
es ist %nicht gantz unwahr, denn solche Leute behalten solche Dinge nur, die <sie> mit
den Gesetzen des Verstandes zusammen paaren können, %.und also behalten
sie nur wenig. Hätten solche Leute weniger %Verstand, so würden sie mehr
mit ihrem Witz spielen, %.und dadurch mehr behalten. Es darf aber niemand
mit einem schlechten Gedächtnis pralen, um %dadurch sein großes judicium
erheben zu wollen, denn es ist immer %.ein Fehler, wenn die Unter Vermögen
schwach sind, %.und man kan den %Verstand auch nur in so fern brauchen, als
man viele Materialien hat. Diese %.Materialien %aber geben uns die äußern
Dinge, die man mithin ins Gedächtniß faßen muß. Die association,
von der wir oben gehandelt haben, ist %.theils %.sinnlich, %.theils %.bildlich. Jenes ist
die association der Empfindung, diese der Anschauungen. Alle Dinge,
die sich gleichsam in einen Riß bringen laßen, sind leicht zu behalten.
Daher ist auch die Geographie weit leichter zu erlernen als die historie.
Denn in letzterer ist eine solche Anschauung %nicht %.möglich, weil die Stelle der
%.verstorbenen Könige %nicht mehr übrig bleibt. Ein gutes Mittel, die Geschichte leich-
ter ins Gedächtnis zu bringen, wäre, daß man die Zeit in große Abschnitte,
%.und diese wieder in kleine theilte. Denn weil jedes Land %.seine eigene Geschichte
hat, so trägt der Synchronismus viel dazu bey. Die Ähnlichkeit macht, daß
man etwas leicht behalten kann, wie auch die Abtheilung des gantzen in die
Theile. Überhaupt hilfft alle Ordnung dem Gedächtniße sehr; die Dinge,
die sich %nicht unter allgemeine begriffe bringen laßen, sind sehr schwer zu
behalten. %.Gemeiniglich machen sich die %.Menschen zwar nicht viel daraus, daß sie ein schwa-
ches Gedächtniß haben, aber wenn man ihrem %Verstande etwas entziehen

/δSeite 50

/will, so nehmen sie es sehr übel auf, weil ein jeder %.Mensch %.seinen Verstand für
groß genug hält. Die Ursache ist, weil jeder die größe seines %Verstandes nur
durch den %Verstand selbst erckennt. Das judicioese memoriren ist einem %.Menschen
von Jahren sehr leicht, aber das sensitive memoriren fält ihm schwer. Es
ist daher sehr rathsam, daß junge Leute bis zu ihrem 30. Jahre sich einen
Haufen Materialien ins Gedächtniß faßen, weil dies nach dem 30. Jahre
fast %.unmöglich ist. %.Unverantwortlich aber ists, daß Lehrer die Kinder in
den Schulen mit einer Art von Philosophie, Naturlehre %.und %.dergleichen Wißen-
schaften beschweren, die sich doch nur für ältere Leute schicken. Die
Ursache davon ist, daß Lehrer %.und Eltern «¿¿»ihre Kinder wieder ihre Natur
zu alten Leuten machen wollen, da sie doch dieselben nur darin
unterrichten sollen, was sich für ihre Kindheit schickt. Man solte sie
in diesem Alter viele Sachen sensitive memoriren laßen, weil sie
da am fähigsten dazu sind. Bisweilen scheint es, als habe man et-
was vergeßen, allein es sitzt dennoch im Gehirn. So weiß man, daß
ein Engländer, der vorher die deutsche Sprache gelernet hatte,
hernach sich aber 3. Jahre in England aufhielt, %.und als er wieder
zurück kam, glaubte, er habe die gantze Sprache vergeßen; allein
nach einigen Wochen redte er die deutsche Sprache so voll-
kommen wie vorhin. Was den Grund des Gedächtnißes anbetrift,
so findet man hieran Wunderdinge. Ein Polyhistor hatte den In-
halt von einer gantzen Bibliothec inne. Wenn es %.möglich wäre,
alles in ein klares Anschauen zu setzen, was in der Seele %.eines
solchen Mannes %.befindlich ist, so würde man gantz erstaunen. Ein
%.außerordentliches Gedächtniß hatte Magliabecki Bibliothecair des
Hertzogs von Florentz. Er war %.anfänglich ein Bauerjunge, der al-
lenthalben Bücher suchte, wo er sie nur ertappen konnte. Er war
zuerst bey %.einem Gärtner, kam aber hernach zu %.einem Buchhändler,
wo er lesen lernte %.und sein %.glückliches Gedächtniß äußerte. Sein %HErr
wollte ihn einst probiren, %.und %verabredet %mit einem andern, daß er
ihm etwas zum Druck geben solte, Magliabecki, der alles

/δSeite 51

/gleich durchlaß, laß auch diese Piece. Sein Herr stellte sich nachher,
als wäre diese Piece %verloren gegangen, %.und fragt ihn, ob er sich %nicht
noch auf den Inhalt zu besinnen wüßte, worauf Magliabecki
es ihm auf eine fast träumerische Art %von Wort zu Wort dictirte.
Er wurde %.endlich wegen %.seiner großen belesenheit Bibliothecair
an gedachtem Orte, %.und %.zugleich das Orackel von Europa. Er
lernte die Italienische Sprache bloß %durch das Lesen der gram-
maire %.und des Lexici. Wer über den obscursten Sachen Nach-
richt verlangte, correspondirte mit ihm. Übrigens war er
sehr schmutzig. Er trug lederne Bein Kleider, die aber so schmu-
tzig waren, daß er bisweilen %mit %.einer Stricknadel %.seine Gedan-
cken darauf schrieb; er lebte zu Ende des vorigen %.und zu
Anfange des gegenwärtigen Seculi.

/Ein %nicht weniger merckwürdiges Beyspiel eines %.glücklichen Gedächtnißes, war
Robert Hill ein Schneider in England, der etwa noch vor 15. Jahren lebte
%.und der die arabische %.und andere fremde Sprachen weit beßer Verstand, als
einer der größten gelehrten. Man. findet Bentleys Polyhistor ein
arabisches Manuscript von diesem Hill. Er wurde Bibliothecair in
Cambridge, Befand sich aber dabey schlechter, als bey seinem Metier. Es
ist sehr %.wahrscheinlich, daß alle Eindrücke auf unser Gehirn fest kle-
ben bleiben, %.und daß es nur daran liegt, daß einer für dem andern ein
Beßeres Mittel hat, die Sachen in ein gewißes Licht zu setzen. Daß Kinder
etwas leichter behalten, wenn sie es des abends übersehen, hat %.seinen grund,
weil die Seite Vocabeln, die sie gelernet, die Nacht über in der Phan-
tasie schweben, diese aber kan sie sich um «,»desto lebhafter vorstellen,
je weniger die %.sinnlichen Gegenstände, die alsdenn daran fehlen, sie hin-
dern können. Wir haben ferner %.ein Vermögen, Vorstellungen herfür
zu bringen, die niemals in %.unserer Phantasie aufbehalten worden, die
niemals in unserm Sinn gelegen, %.und dies ist

/δSeite 52

/ ≥ Das Dichtungs_Vermögen. ≤

/Phantasie war das Vermögen, die auf uns geschehene Eindrücke nachzu-
bilden. Wir haben %aber nun noch ein anderes, Bilder %.und Vorstellungen aus
uns selbst schöpferisch hervorzubringen, welche in unsrer Phantasie %nicht aufbe-
halten %.und gar %nicht in den Sinnen waren. Dies %Vermögen ist gleichsam ein condus
promus, der die Vorstellungen herfür langt. Sie werden aber %nicht durch
dasselbe renovirt, sondern es werden neue herfürgebracht %.und fingirt. Gleich wie
aber der Bibliothecaire wohl Bücher herfür langen, auch nach belieben
finden kan, welche er will, %aber deßhalb %nicht gleich neue Bücher schreiben
kann, so ist es auch mit unsrer Phantasie beschaffen. So heißt der Töpfer
Figulus a Figurando, weil er dem Ton nur die Form giebt, denn er muß
erst den Ton haben, ehe er ihm eine Gestallt giebt. Und so müßen auch
einem Dichter erst die Materialien gegeben seyn, denn er gibt ihnen nur
die Form. Die %.Materialien müßen uns daher durch die Sinne gegeben werden,
%.und das Dichten geht blos auf die Form. Bey den %.sinnlichen Dichtern liegen
die Phantasmata von den Erscheinungen %.und Empfindungen zum Grunde,
welche aber auf mancherley Art von ihnen vermindert werden.
Der %.Mensch dichtet auch im Traum, der Stof dazu aber liegt in der Empfin-
dung. Da sich nun keiner %.eine Empfindung andichten kan, so hat man da-
raus die Formel gemacht: das könnt ihr euch %nicht vorstellen, was das für
Angst %.oder Schmertz %.oder Traurigckeit ist. Vielfältig bildet man sich ein,
daß etwas selbst müße empfunden werden. Das Dichten geht bald un-
willkührlich oder aus physickalischer Nothwendigckeit in uns vor, bald auch
willkührlich. Das %.unwillckührliche Dichten gehöret unter das Vermögen zu dichten.
Das Romanen lesen macht träumerisch %.und %verursacht ein %.unwillkührliches
Dichten, denn man kann es dabey bald dazu bringen, man verliehret da-
bey auch alle %.seine %.Gelehrsamkeit so daß man, wenn man nachher ein ander Buch ließt,
%.und %.eine Seite gelesen hat, man %nicht weiß, was man gelesen hat. Das Dichten
im Traum ist von «¿¿»der «¿¿»Stärcke, daß man es für %.würckliche Erscheinungen hält.
Alle hofnung ist beynahe eine Art von Dichten; wenn aber das, was man
dichtet, %.keine Möglichckeit in sich enthält, so ist dies %.ein hirngespinst. Ein
Hypochondrist dichtet immer %.unwillkührlich %.und darinn besteht eben %.seine größte
Kranckheit. Man lacht daher %.gemeiniglich einen Hypochondristen aus,
weil die Hypochondrie im höchsten Grade einer Narrheit %.ähnlich ist,

/δSeite 53

/und weil man denckt, daß ein solcher %.Mensch, wenn er nur wollte, alle die Poßen
könnte fahren laßen, welches ihm %aber %nicht %.möglich ist. Man hat bemerckt,
daß melancholische Leute %.gemeiniglich zum dichten geschickt sind, %.und ihre Ge-
dichte sind lebhaft. Vielleicht besteht auch die Melancholie blos im Dichten.
Das Dichten ist uns %aber %.theils %.schädlich, %.theils %.nützlich damit wir uns aber von unwill-
kührlichem Dichten befreyen, so müßen wir unsere Aufmercksamckeit im-
mer auf Erfahrungen richten. Ein %Mensch ist zerstreut, blos, weil er dich-
tet, wir können %aber auch die größte Gewalt zum Dichten moderiren. Die
müßige Einsamckeit giebt die meiste Gelegenheit zum %unwillkührlichen
Dichten, %.und wir müßen sie daher %vermeiden. Ein Hypochondrist denckt
%.gemeiniglich der Gesellschaft %.beschwerlich zu fallen, %.und bleibt deshalb zu
Hause. Er schlägt also das eintzige Mittel aus, %wodurch ihm könnte geholfen werden.
Wir können auch nach dem bloßen Hange der Phantasie dichten, %.und als-
denn giebt den Materialien, die uns die Phantasie darbeut, entweder
der %Verstand oder der Geschmack die form. Es ist «¿¿»der Unterschied zwischen
dem Dichten beym Lügen, %.und dem Dichten beym Poëten. Ersteres hat nicht
die Ähnlichckeit, die man beym Poëten findet. Man geht auch mit den Poëten
die conjuction ein, daß er uns etwas vorlügen soll, dies ist aber ein gantz
anderes Lügen. Es giebt Leute, die aus %.einem besondern Instinct lügen,
welches entweder aus der ungezähmten DichtungsKraft %.oder auch aus Ei-
telkeit herrühret, indem die Wahrheit etwas gemeines ist. Auch sind
solche Leute, die da lügen, oft gute Leute, denn es giebt %.wirklich gantz
%.unschädliche Lügen. Ja ein solcher Lügner kann zuweilen %durch %.seine Kunst
Feinde %mit einander versöhnen, indem ein jeder wechselsweise ver-
sichert, daß der andre %nicht feindseelig gegen ihn gesonnen sey, %sondern ihm alles
Gutes gönne. Einen solchen Lügner haßet man zwar, %nicht %aber man ver-
achtet ihn; Es flüßen diese Lügen blos aus einem ausschweifenden
Hange zum dichten. Betrachtet man den Dichter als Dichter, %.und %nicht als ei-
nen solchen, der %.alltägliche Gedancken im Schwunge führt %.und sie in Reime
bringt, so sind die reqvisita deßelben folgende:

/1. Er muß in den Bildern neu seyn, die er sich gemacht. So sagt ein
strenger Recensent, das Gellert ein $Pseudo$-Poët sey %.und %nicht den Namen %.eines

/δSeite 54

/Dichters verdiene, weil er zwar beckannte Sachen gut zu erzählen wußte,
jedoch kein %.eigentlicher Dichter wäre, %.und ob er schon in der Fabel %.glücklich sey,
so würde dazu doch %nicht das große Talent des Dichters erfordert. Über-
dies sind auch seine Fabeln mehrentheils aus andern Schriften ent-
lehnt.

/2. Der Dichter muß in seinen Schriften immer ein analogon veritatis
Beobachten, die Bedingungen seiner Erzehlungen müßen mit dem angenomme-
nen Charakter übereinstimmen, %.und hat also %nicht die licence zu sagen, was er
will. Milton ist ein Dichter im %.eigentlichen Verstande, Klopfstock komt ihm %nicht
Bey, denn er rührt per sympathien, indem er gefühlvoll redet, so bewegt er
den Leser mit, gleichwie einen erblaßten sehen, %.und mit ihm erblaßen. %.Diejenigen
welche den Klopfstock mit dem Milton %.verglichen haben, haben dies %nicht einge-
sehen. Der Dichter muß erfinden, %.und seine Erfindung in eine anschauende
Klarheit zu setzen, wißen. Das Dichten ist die Qvelle %.von vielen Erfindungen.
Wenn keine Dinge da sind, die der Dichtung entsprechen, so ist dies %nicht Erdichtung.
Das, was gedichtet ist, ist noch %nicht leer, %sondern leer nennt man %.ein Gedichte, wenn
es der Natur wiederspricht, mäßig nennt man es, wenn die gehörige
Kraft %nicht angewandt ist, %.dasjenige auszuführen, was man dichtet. Pia de-
sideria sind %nichts anders, als Dichtungen, von einer %.moralisch vollkommnen Welt.
Ein Philosoph, der immer mit solchen frommen Wünschen um sich wirft, ist
ein sehr mäßiger Philosoph. Ein Philosoph muß aufs pracktische dencken,
wie er %.nemlich Mittel ausfündig machen kann, diese pia desideria auszu-
führen, das Glück des %.menschlichen Lebens vollckommner zu entwerfen, wie
es %.wircklich ist, ist das Werck eines Romanen Schreibers. Sie schaden da-
her so viel, %.und nutzen nur, wenn sie etwa einen %.wircklichen Character schil-
dern. Sie machen die Gemüts_Art chymaerisch, %.und verzärteln sie; die Ge-
dancken des %.Menschen machen sie müßig, %.und rauben dem Staate einen %.nützlichen Bür-
ger, denn ein solcher %.Mensch beschäftiget sich lieber mit Staats_Unterhaltun-
gen seines Gehirns als mit %.seiner Arbeit. Sie machen das hertz welck %.und %.weichlich
da doch ein %.Mensch suchen soll, sich genügsam %.und hart gegen die Schicksale des
%.menschlichen Körpers zu machen. Ja wenn ein %.Mensch von Jahren einen Roman
lieset, so findet er immer, daß er nach dem Lesen %nicht so wacker ist, als
wenn er eine wahre Geschichte %.oder etwas lehrreiches gelesen hätte, er em-
pfindet vielmehr einen %.heimlichen Vorwurf. Der Mann ist %.unglücklich der eine
Romanen Leserin zur Frau hat; denn in gedancken ist sie gewiß schon an
Grandison verheurathet gewesen, %.und nun Wittiwe geworden. Wie wenig
Lust wird sie als denn haben in die Küche zu gehen!

/δSeite 55

/Eine Idee ist auch eine Dichtung %.und darinn von der Notione unterschieden,
daß letztere ein allgemeiner %.und von der Erfahrung abstrahirter Begrif
ist. Denn die Begrife eines höchsten Wesens, des himmels etc. entspringen
alle durchs Dichten, %.und sind Ideen. Der %.Mensch vergrößert die dinge so
lange, bis er sie zur Vollkommenheit gebracht hat. Das Wohlwollen
%.und die Freundschaft unter %.Menschen ist sehr mangelhaft; Indeß dichtet man
sich doch nach Regeln der Vernunft eine vollkommne Freundschaft,
welches die Idee der Freundschaft ist, der man sich im concreto gleich
zu kommen, bemühen soll. Das Dichten geschieht entweder nach Regeln
der Vernunft, %.und als denn ist es das intellectuelle Dichten, oder nach
der bloßen Erscheinung, %.und denn ist es das sensitiue dichten. Eine
Vorstellung, so intellectualiter erdichtet ist, heißt Idee. Man macht
sie sich, indem man sich das maximum, von einem Begriffe denckt,
%.und ist auf verschiedene Art erdichtet. Die Idee ist also immer das
maximum, so complet ist, %.und zum Maas-Stabe dient, die andere
Dinge darnach abzumeßen. So dachten sich die Stoicker %.und Epicu-
raeer ein Ideal von %.Menschen. Jene setzten es in die Stärcke
des Geistes, diese in die kluge Wahl der Mittel zu einer dauer-
haften Glückseeligckeit. Platonis Buch de Republica enthält
gleichsam ein Ideal.

/ ≥ Vom Ideal. ≤

/Eine Idee, die richtig ist, ist zur Beurtheilung nöthig, ob sie %.gleich niemals er-
reicht wird. Ein Ideal bedeutet die Idee in Concreto oder das maximum in
Concreto betrachtet. So soll grandison das Ideal einer Manns Person seyn,
die complet ist, allein weit gefehlt; denn das Ideal muß richtig gezeichnet
seyn. Socrates kann ein Ideal seyn, wenn er so gelebt hat, wie er geschildert
wird. Allein die %.Menschen sind immer zu dem geneigt, welches zwar vollckommen,
jedoch %nicht complet vollckommen ist, das fehlende zu suppliren, weil aller
Mangel dem %.Menschen verhaßt ist.

/Das Ideal ist entweder, aus der speculatiuischen Vernunft, oder das
aestetische, oder das pragmatische Ideal. Was das aestetische Ideal betrift;
so ist zu mercken, es ist %nicht %.möglich, sich etwas von Empfindungen zu dichten,
mithin @%auch@ %nicht von Empfindungen ein Ideal zu machen. Unsre Ideale gehen
blos auf die Form, weil unser Dichten blos auf die Form geht. Daher sind

/δSeite 56

/das nur leere Worte, was uns von der Glückseeligckeit der andern Welt gesagt
wird, wozu uns das concretum fehlt; Eine solche Glückseeligckeit ist zwar ein all-
gemeiner Begrif, aber kein Ideal. In der Form der Erscheinungen aber kann
man sich wohl ein Ideal errichten, denn da liegt der %unendliche Raum zum
Grunde. Ein Mahler kann in 3 facher Rücksicht betrachtet werden: %.Entweder ahmt
er nur nach, %.und denn ist er %.kein original_Mahler, %.oder er mahlt das Werck %.seiner ei-
genen Schöpfung, %.oder er mahlt das Ideal. Nun giebt es nur ein eintziges
Ideal, welches %.ein Mahler mahlen kann, das ist die vollckommenste %.Menschliche ge-
stallt. Der berühmte Mahler Mengs gedenckt 3er Mahler.

/1. des Raphaels, der das Ideal am besten gemahlt, indem er alles das
eckigte eines %Menschen, was Bedürfniße verräth weggelaßen.

/2. des Coreggio, der ein Mahler der holdseeligckeit war, der die Annehmlich-
keiten betrachtete, die schweresten Schatten vermied, %.und %durch das Spiel der Em-
pfindungen, Gegenstände anbrachte, %durch deren reflexion der Schatten der
andern gemildert wurde.

/3. des Titians, der nur ein Mahler der Natur war.

/Unsre Freyheit im Dichten ist durch die Condition der Möglichkeit ein-
geschrenckt, so gar beym Fabel dichten. Denn der Character, den man
einem Thiere giebt, muß der Natur angemeßen seyn. Dichtet man
den Character eines %.Menschen so muß er gut ausgezeichnet seyn, %.und dann muß
man die %.moralischen Empfindungen zu excitiren suchen, denn dies ist das
practische. Fielding hat hierin einen Vorzug, weil er sehr launicht zu
seyn scheint, er eyfert %nicht aufs Böse, %sondern stellt es %.lächerlich vor; man
muß aber auch %nicht gar zu viel vom %.Menschen %verlangen. Zuweilen fordert das
Dichten außer dem Vermögen dazu einen grund im Naturell, dadurch
wir angetrieben werden, unserm Character gemäß zu dichten, %.und dies
Dichten kann man das Dichten aus dem Temperament nennen. Hypochon-
drische %.Menschen haben den Kopf beständig voll von traurigen Figmenten,
%.und entdecken bey jeder Gelegenheit gefahr, %.und Bey den geringsten %.handlungen
Böse Absichten, welches Naturell Tacitus in seinen Schriften außer
dem darinn %.befindlichen Scharfsinn, verrathen zu haben scheint. Man tadelt
eben dieses auch an dem Rousseaux, der doch sonst ein gutes hertz be-
sitzt. Man kann ihn aus %.seiner Streitigckeit mit Hume kennen lernen. Wir
nennen dies einen Hang zur Phantasterey, wenn jemand figmente,
die er seinem Wunsch gemäß gebildet hat, für %.wirckliche Dinge hält. Solche
phantastische Bilder macht sich %.gemeiniglich die Jugend von ihren Gegen-
ständen, %.und sieht bey allen Gelegenheiten den klaren Ehstands himmel
vor Augen, %.und dies stimmt auch mit ihrem raschen Blute vollkommen überein.

/δSeite 57

/Zuweilen geht die Phantasie aufs Gute, %.und Leute, die mit tugendhaften Be-
griffen Leidenschaften verbinden, werden phantastisch genennt. Solche
phantastische Tugend Freunde werden sehr leicht %.und mehrentheils bald in
%.Menschen Feinde verwandelt, weil niemand ihrem Ideal von Tugend gleich-
förmig leben kann.

/Das Vermögen zu Dichten, ohne Verhältnis auf Gefühl %und %Verstand, %.und
der Mangel irgend eines Characters, macht den Dichter aus. Alle %.diejenigen
%.nemlich die einen Hang zur Dicht Kunst haben, aber %nicht sehr viel geschicklichkeit
dazu besitzen, %.und oft dieses Naturells wegen ein schlechtes aufsehn ma-
chen, %.und nur elende Verse schmieren, scheinen %.keinen %.eigenthümlichen Character
zu haben, %.und die Natur hat ihnen alle %.diejenigen Dinge versagt, %durch die sie gut dich-
ten sollten. Solche %.Menschen wißen sich in alles zu schicken, %.und stellen sich in
allen Standspunckten gleich. Dies würde aber %nicht geschehen, wenn sie
einem Charackter %vorzüglich ergeben wären. %.Derjenige der gerührt ist, kann
keine entgegengesetzte Bewegungen annehmen, %.und ein jeder andrer
affect verstummt. Man muß von einem jeden Poëten glauben, daß er
schertze, %.und %.diejenigen sind betrogen, welche %.keinen Spaß verstehen, %.und in seine Re-
de lauter Wahrheit setzen, da das Poëtische Feuer nur immer eine nachge-
ahmte Miene bleibt«,». Eine Acteue muß gleichfals %nicht, wie man glaubt
von dem, was er sagt, gerührt werden, %sondern viel mehr %.eine große Einbil-
dungs_Kraft haben, über den Zustand desjenigen, den er vorstellt.
Von Poeten %.und Advocaten sagt man, daß sie lügen, jener lügt im
Schertz %.und wird im Schertz belacht, dieser im Ernste, %.und erhält im Ern-
ste auch Belohnungen dafür. Ja er stellt sich beständig das Unrecht %.einer
Sache, die er als wahr vertheidigen will, wie es %.wircklich ist, vor, %.und
sucht alsdenn, wenn er %.wircklich bey sich selbst beschloßen, die Begebenheit
einmal als gesetzmäßig zu behandeln, in der Person %.eines Beleidi-
gten wie Cicero für den Milo zu reden. Das Dichten ist auch zuwei-
len eine Frucht des Müßiggangs. Denn der Faule ist niemals ist gantz
faul, %sondern zehrt an %.seiner Einbildung, %.und das Romanenlesen unterhält
diese %.unglückliche Läßigckeit. Eine Idee ist eine Vorstellung, die den
Grund der %.Möglichkeit einer Sache in sich enthält. So erblicke ich an kei-
nem Steine, wohl aber, an einer Pflantze, daß sie vor ihrem Daseyn in
einer Idee gelegen haben müße. Unter dem Ideal ist das %.moralische
das vollckommenste. Die Alten nannten %.einen solchen, der %.diesem Ideal ge-
mäß lebte, %.einen Weisen. Indeß ist es in der That %.unmöglich, weil %.kein
%.Mensch %.von Natur solche Gaben erhalten hat, daß er diesem Ideal gemäß le-
ben kann; alle diese Ideale sind in der %Vernunft, aber %nicht real in

/δSeite 58

/der Welt. Und %.diejenigen welche sie zu realisiren gedencken, heißen Phantasten
der Vernunft.

/ ≥ Von der Träumerey %.oder dem Zustande
des
%.unwillkührlichen Dichtens. ≤

/Unser gemüth ist beständig geschäfftig sich neue Prospecte der Gegenstän-
de zu verschaffen, %.und aus den Materialien, die es vorräthig hat, neue
Bilder zu formiren. Dieses geschieht im Wachen %.und Träumen, letzte-
res aber erfordert %.keine Besondere Kraft in unsrer Seele, %sondern der
Unterschied des Dichtens Beym Träumen %.und Wachen liegt blos darinn
daß beym Wachen die %.sinnlichen Eindrücke %.und ihre Lebhaftigckeit des Bewust-
seins der chymerischen Fülle berauben, %.und die Reihe der erdichteten Bil-
der, die ihren Lauf in unsre Einbildungs_Kraft immer indeß fortse-
tzen, verdunckeln, so wie phosphorische Erden, aufhören zu leuchten,
wenn sie an das %.Tageslicht gebracht werden. So lange der %.Mensch träu-
met, ist er %nicht fähig, Wahrheit %.und Falschheit zu unterscheiden. Da-
her nennt man auch %.denjenigen einen wachenden Träumer, bey welchem
keine äußere Veränderungen %.und Empfindungen haften, %.und Eindrücke
machen. Doch ist ihm dieses %nicht zu %verdencken, weil er sich in %.seiner erdichteten
Welt erholen kann. Der %.eigentliche Traum setzt 2erley voraus. 1. den
Schlaf, %.und

/2; die Angrentzung des Wachens %.und des Schlafens. Denn sobald der Schlaf
gantz aufhört, so hören wir auch auf zu träumen. Und eben dies geschieht
wenn wir im tiefen Schlafe sind, %.und alle %.willkührlichen Bewegungen auf-
gehoben w«o»erden. Man sieht dies daraus, daß man des Morgens am
meisten träumet, %.und bey %.demjenigen der sehr leise schläft, wird dies gleich-
fals bemerckt. Eine %.sinnliche Empfindung macht allemal den Anfang des
Träumens, worauf denn das Gefolge aus der Einbildungs_Kraft ent-
lehnt wird. Wir haben im Zustande des Schlummers %.oder Halbschlafs,
immer stumpfe Empfindungen, welche sich %.mit unserm phantastischen
Gemälden %vermengen. Man kann auf diese Weise jemanden nach be-
lieben Träume erwecken, welche mehrentheils %.schrecklich sind, wenn
die Körper der Schlafenden %.eine solche Lage beckommen, daß das blut
%nicht stangniren kann. Dies ist auch die Wirckung, welche der Caffée

/δSeite 59

/%.gemeiniglich herfürbringt. Wenn aber der tiefe Schlaf nur allein Erholung
bringt, so muß man %.vorzüglich in der Ruhe %.und Abend Mahlzeit Maaß halten. Denn
so lange man träumt, schläft man nur mittelmäßig. Im Schlafe %.und im Trau-
me hören die %.Willkührlichen Bewegungen auf, jedoch %aber wird der eingebildete
Körper %durch unsern Willen in Träumen bewegt. Sobald aber auch solches
mit unserm %.willkührlichen Körper vorgeht, daß sich derselbe damit vereiniget,
so wird dieses die Schlafwanderung genannt. Die Einbildungen vom Wa-
chen %.und Schlafen sind %durch die Stärcke unterschieden; Im schlummernden Zu-
stande fängt man an zu träumen; So kommt uns im Schlummer das Geschrey
eines Hahns als eines weit entfernten %.Menschen vor, %.und dann geht die Reise
des Traums immer fort. Durch verschiedene Mittel kan man %.wircklich
einem andern Träume verursachen. So sah z.E. Jemand einen %.Menschen, der
an der Wand mit ofnem Munde schlief, er nahm einen Schwam, %.und
tröpfelte dem Schlafenden Waßer in den Mund; dieser hob sich %.anfänglich
ein wenig, %.und denn immer mehr %.und mehr auf, %.endlich bewegte er die Glie-
der, so, als ob er schwimmen wollte, bis er %.endlich aufwachte. Will man
%nicht träumen, so muß man suchen fest zu schlafen, %.und %nicht eher zu Bet-
te zu gehen, bis man schläfrig ist. Der kurtze %.und feste Schlaf erhä«¿¿»lt
am meisten, der schlechte Schlaf %.und die Träume ermüden. Man
muß also alles meiden, was den Schlaf hindert. Im Traume laßen
die %.sinnlichen Empfindungen nach, %.und der %.Mensch hat einen eingebildeten Kör-
per; wenn er glaubt zu laufen, so lauft er %nicht %.wircklich.

/ ≥ Vom Schlaf_Wanderer. ≤

/Der eingebildete Körper, deßen sich der %.Mensch im Traume Bedient, wird
durch seinen Willen im Traume bewegt. Geht dies aber mit seinem %.will-
kührlichen %.oder %.wircklichen Körper vor, so heißt dies %.eine Schlafwanderung,
welche %aber zu seinen Kranckheiten gehört. Der %.Mensch bewegt da seinen Kör-
per einstimmig mit den eingebildeten Chimaeren. Der gelindeste Grad
ist das Sprechen im Schlaf; der stärckere Grad des Nachtwanderers ist so
weit gegangen, daß man sich an den Tisch gesetzt, %.und Abhandlungen ver-
fertiget, %.obgleich die Buchstaben sehr unregelmäßig geschrieben wa-
ren. Man nannte diese Kranckheit die Mondsucht, weil man glaubte, daß sie
sich nach dem Monde richte. Das beste Mittel dafür ist, man lege eine

/δSeite 60

/naße Decke vor ihr Bette, damit sie sogleich aufwachen, wenn sie die-
selbe mit ihren Füßen berühren. Das vornehmste %.und Bewundernswür-
digste ist die richtige Benennung der Gliedmaßen, da ein solcher %.Mensch
doch nur stumpfe Empfindungen hat, %.und dennoch Treppen, Dächer etc ac-
curat heraufsteigen kan. Es ist aber gar kein Aberglaube, daß sie
bey Nennung ihres Namens erwachen, denn es frappirt einen %.Menschen %nichts so
sehr, als sein Name. In dem Memoire de la Academie de Boúrgogne
steht: Ein italienischer Graf hatte einen Hofmeister, dieser wurde des
Frühjahrs Abends um 9 Uhr %.verdrießlich, um 10. Uhr schläfrig %.und schwach,
so daß er zuletzt im Sitzen einschlief. Nun fing er im Schlafe an sein
Gesicht zu streicheln %.und alsdenn ging sein Wandern an. %.Gemeiniglich Bil-
dete er sich ein, daß Gäste gekommen wären; weil er nun gewohnt war,
sie zu umfangen, so setzte er die Tische zu rechte, nahm Licht, und
gieng seinen Gästen entgegen %.und bat sie mit viel Complimenten zum
Eßen; wenn man ihm nun einen falschen Tisch hingesetzt hatte, so
schimpfte er %.und schalt die Bedienten. Er gieng an den Schrancken, %.und
wenn man ihm Papier ins Schlüßelloch gesteckt hatte, so klopfte
%.und arbeitete er solange, bis es heraus war. Schlug man ihn auf
die Füße, so schalt er den hund, er solte ihn %nicht beißen; denn in diesem
Zustande hat er keinen andern Sinn, als das Gefühl. Er forderte vom
der Köchin etwas Kohl, den er ihr hatte zu verwahren gegeben. Um zu
sehen, ob er auch Geschmack hätte, gab man ihm hunde Brey, %.und er aß ihn.
Er beredte sich mit den bedienten, ins Weinhaus zu gehen, da die
HErschaften, wie er sagte, äßen. Die Bedienten nahmen ihm das
Geld aus der Tasche, %und %.einer von ihnen ging mit ihm. Man gab ihm Wa-
ßer %.und er trank es für Wein. Da er bezahlen wollte %.und kein Geld
fand, schimpfte er die Leute etc. Der Graf bat viele Gelehrten zu sich, die
dieses Beobachteten. Wenn man ihn wollte zu sich selbst bringen, so mußte
man ihm ein naßes Tuch aufs Gesicht legen.

/Die Ursache dieses Zustandes scheint diese zu seyn. Die Nerven der
%.willkührlichen bewegung haben noch Nervensaft; hingegen haben die Nerven der
%.sinnlichen Empfindung außer einem gewißen Grade von Gefühl %.keinen Nerven
Saft, %.und also dringt die Qvelle davon ins Gehirn. Übrigens giebt es noch
viele andere Arten der Schlafwanderung.

/δSeite 61

/ ≥ Von der Erstarrung. ≤

/Dies ist %.ein besonderer Zustand, der sich aber selten bemercken läßt.
Man hat in diesem Zustande keine Empfindungen, kein Gefühl. Souvage erzählt
von %.einem Frauenzimmer, daß sie oft ohne alles Gefühl, ohne Em-
pfindung stehen blieb, oder nach ihren Einbildungen gieng. Sie fühlte nichts, ob
sie gleich über alles fiel. Man machte grausame %.und unanständige
Experimente mit ihr, die sie aber nur nachgehends im Erwachen em-
pfand. Man tröpfelte ihr Lack auf die hände, schoß eine Pistole bey ihr
ab, %.und sie blieb ohne alle Empfindungen. Sie sprach viel %.und oft klüger
als im Wachen, repetirte Predigten, %.und konnte im Lazareth geschickt
zwischen den Betten fort gehen. Jedoch antwortete sie niemals
recht auf vorgelegte Fragen. Übrigens war alle Hülfe %.und aller
Gebrauch der Mittel bey ihr umsonst.

/ ≥ Vom Phantast, oder gestörten Menschen, oder vom
krancken Zustande der Seele. ≤

/Die Psychologie oder der gesunde Zustand des %.Menschen Seele wird oft tra-
ctirt aber nicht die Pathologie. Von diesem phantastischen oder gestörten hat
man überhaupt noch %.keine gesetze %.und Regeln aus fündig gemacht, da doch
bis zum Überfluß Regeln aus fündig gemacht worden nach denen wir
in unserm Gesunden Zustande verfahren. Ein Phantast ist der, welcher
das, was er im Gehirn hat, für %.wirckliche Dinge hält. Denn Phantasterei ist die
realisirung der Ideen. Ein jeder affect wird phantastisch, wenn man
mehr dem ideellen als sensuellen nachhängt, %.und jeder affect hat etwas von
Phantasterey an sich. hierzu trägt noch die Neuigckeit der Sachen viel bey. Man
glaubt bey einer Sache mehr zu finden, als %.wircklich ist. So macht bey der Ge-
schlechter Liebe das Idealische das mehrste aus. Die affecte dienen zu %.nichts
%.und verschwinden, wenn die %Vernunft die Oberhand bekommt; indeß sind sie in
der Welt %nicht unnütze, %sondern für die Narren gleichsam, für welche die weise Vor-
sicht auch hat sorgen wollen. Sie machen aus der vernünftigsten Idee, die sonst
%nicht chimaere ist, Grillen, indem sie ihr gar zu sehr nachlaufen. Und Rousse-
aux irrt nur darinn, daß er ein %.wirckliches exempel an die hand giebt, wie
die Erziehung auf eine solche Art, wie er sie vorträgt, gelingen könne. Es ist
%aber gewiß, daß er wenig Nachahmer finden wird, %.und daß seine Lehren %nicht den
verlangten Nutzen haben werden. Er ist ein Tugendfreund %.und %.kein Phantast;
seine Ideen sind richtig %.und %.keine chimaeren, aber die Wircklichkeit derselben ist %nicht
möglich. Denn ein Ideal ist das Maximum %.eines Dinges, in so fern ich es mir

/δSeite 62

/ohne alle Sinne aus mir selbst gedencke. So ist Tugend Ideal %.und himmel %.und hölle
ideal der größten Glückseeligckeit %.und Marter. Will man sich das Ideal der
Freundschaft dencken, so muß man sich die größte Freundschafft vorstel-
len; denn Ideale finden sich %nicht im Contrafait. Junge Leute sind aus Un-
wißenheit %.hertzliche Freunde, mit zunehmenden Alter %.aber lernt man die %.Menschen
%.und ihren Eigennutz kennen, %.und die Freundschaft nimmt ab; im vollkommensten
Grade ist sie im concreto %nicht möglich. Nimmt man das Ideal %nicht als den Gegen-
stand des Verlangens, den wir suchen (principium practicum) %sondern als
ein Mittel der beurtheilung an, (principium dijudicandi) so ist das
Ideal gut %.und %nützlich. Sucht man aber einen solchen Freund, wie ihn
das Ideal beschreibt, so wird man ein Phantast. Daher kommen die
%.Menschen Feinde, die Misanthropen, die alle große Tugendfreunde sind.

/ ≥ Von dem Enthusiasmus. ≤

/Man nennt ihn Phantasterey, in so fern er aus dem Ideale der Vollkommen-
heit entsprungen ist. Ein Enthusiast ist also ein Phantast, ab man %.gleich das
letztere Wort %nicht so leicht braucht, denn es ist etwas spöttisch. Ein Enthusiast
ist allemal ein edler Phantast, voller Leben %.und Stärcke, daher auch die Tu-
gend dazu inclinirt. - Ja es verschwindet viel Gute@s@ aus dem Lande,
wo sie ausgerottet sind. Indeßen sind auch Enthusiasten idealisch be-
truncken, %.und die geistliche Berauschung schadet jederzeit mehr als die
körperliche. Enthusiasterei bringt große Dinge zuwege, die kalte
Vernunft aber muß sie dauerhaft machen. Es giebt %auch Phantasten der
geistigen Anschauungen, welche Dinge glauben anzuschauen, die blos
aus dem Verstande entspringen, %.und %durch ihn bekannt werden, dies sind die Schwär-
mer. Diejenigen aber, welche Dinge, die in ihrer Einbildung sind, in die Stelle
der würcklichen substituiren, die auch bey jedem Tritte Geister Erscheinungen zu
haben glauben, werden Bixonarii genannt. Es giebt Enthusiasten in der Freund-
schaft, in der Liebe, im patriotischen Eifer etc. die affecten taugen %nichts sie
müßen gemindert werden, denn die Vorsicht gab sie uns zu Triebfedern,
aber nur %.eigentlich für die Narren, weil sie wohl wußte, daß der größte
Theil der %.Menschen wohl Narren seyn würde. Phädrus sagt in %.seiner Fabel; von
der Freundschaft des %.Menschen %.und des Bären: mache mit keinem Tölpel Freund-
schaft, aber auch mit keinem hitzigen %.Menschen, wenn er auch uns zu gute hitzig wird,
denn er kann uns dadurch großen Schaden thun. Der Enthusiasmus in der
Religion ist %.gefährlich, %.und ein solcher %.Mensch richtet viel Übel an, um nur %.seinen

/δSeite 63

/Ernst zu Beweisen. Die %.Menschen werden vom Enthusiasmus leicht angesteckt %.und
Berauschen sich leicht davon. Durch unsern Körper haben wir Anschau-
ungen: die Seele aber reflectirt nur. Wer aber mit %.seiner Seele etwas
anzuschauen glaubt, der ist ein Schwärmer %.und ein Phantast der geistigen
Anschauungen. Der Phantast ist %.kein Schwärmer, er ist nur zu hitzig %.und zu
strenge in %.seinen Grundsätzen. - Die Zeiten der Ritter waren enthu-
siastische Zeiten der Liebe %.und der Tapferkeit, da der Ritter eine Schöne
als eine Schutz-Göttin nöthig hatte. Solche Ritter logen niemals, %.und %das
war edel. Man weiß %nicht, ob man diese Zeiten den unsrigen %nicht
vorziehen sollte, da sich unsre Ritter keine Schande daraus machen,
zu versprechen %.und es %nicht zu halten, ja oft andre %nicht bezahlen können. - 
Der Enthusiasmus überwindet viel, %.und dauret nicht. Er bringet gro-
ße Dinge herfür, aber die kaltblütige Natur muß sie verbeßern
%.und poliren. Der Phantast, wenn er fort fährt, scheitert allemal.
Der Fanaticus %.oder Schwärmer kommt dem gelehrten Kopfe näher
als der Phantast. Der Phantast glaubt %.entweder Geister um sich
zu sehen oder sie %.innerlich anzuschauen. Die %.gäntzliche Verckehrung des
Gehirns %.und der Erkenntniß heißt:

/ ≥ Die Stöhrung. ≤

/Diese ist das genus aller Gemüthskranckheiten, in so ferne sie keine
bloße Abweichungen, %sondern %.wirckliche Verckehrtheiten sind. In Ansehung der
Sinne sind sie %.entweder Wahnsinn %.oder Blödsinn. Jener sieht zu viel, %.dieser zu wenig.

/Blödsinnige sind gar zu stumpf, in Ansehung der Sinne, die für sich al-
lemahl gut sein mögen, nur daß sie von der Aufmercksamckeit %.und reflexion
des Verstandes, die bey allen Erscheinungen des Verstandes statt finden muß, entblößt sind.
Sonst aber Beweißt der Blödsinn allemahl Schwäche des %Verstandes. Blödsinnige
sind mehrentheils harthörig.

/Der Wahnsinn beruht %nicht auf %.einem Fehler des %Verstandes, %sondern darauf, daß
die Einbildungen auf einmal %.einen großen glantz bekommen. Es ist mit den mehrsten
hitzigen Fiebern %verbunden, %.und die Hypochondrie ist %.gleichsam %.ein Anfang dazu.
Ist der Hypochondrist überdies ein Phantast %.seiner Muthmassungen, so ist er
gantz %.unerträglich da man ihm sonst zu gute gehalten, daß er nur über sei-
ne Schmertzen klagt. Die Verkertheit in Ansehung des %Verstandes ist Wahnwitz %.und
Dummheit. Ein Wahnwitziger reflectiret da, wo die %Vernunft gar %nicht appli-
cable ist; der Dumme hingegen urtheilt da zu wenig.

/δSeite 64

/Der Unterschied zwischen Wahnwitz %.und Wahnsinn, besteht darinn, daß Beym letzte-
ren ein guter Verstand haben kann, Beym erstern %.aber die Anwendung der
%Vernunft schlecht ist. %.Diejenigen nähern sich ihm, die die Schrancken der %Vernunft über-
treten, wovon man in Böhmens schwärmerischen Schriften viele Proben
hat. Indeß bleibt der Wahnwitz immer ein größerer Fehler, als der Wahn-
sinn, weil er immer das Grund-Verderben des %.Menschen anzeigt. Von diesen
Fehlern des Verstandes ist die Albernheit unterschieden, welche ein Mangel
der Zusammenstimmung mit dem Object ist, %.und in dem Spiel des Witzes, der %aber
«doch»den Umständen %nicht angemeßen ist, besteht. Es ist beständig %.eine Lustigckeit, die
aber übel angebracht ist. z.E. im Alter. Auch ist Narrheit %.und Thorheit un-
terschieden. Narrheit nennt man das Ungereimte; wenn es lasterhaft
%.und %.schädlich ist, so nennt man es Thorheit, %.und von dieser konnte man sagen,
daß alle %.Menschen damit behaftet sind. Denn man %verfält in Thorheit, wenn
man alles das sagt, was im Gehirn liegt. Der Kluge unterscheidet
sich immer dadurch vom Thoren, daß er eine geschickte Wahl zur Unter-
redung zu treffen weis. Die Narrheit aber hat noch das besondere
an sich, daß sie sich um ihre Absicht selbst bringt, welches nothwendig
aus ihrer Natur folgt. Der ungereimte Stoltz, oder die Aufgeblasen-
heit, so daraus entsteht, reitzt die Spötter an, den Stoltzen zu demüthi-
gen %.und sich daran zu divertiren. Dies gilt %.aber von %.einer jeden Begier-
de, gelehrt zu werden. Ja es wird %nicht einmal für Narrheit
gehalten, wenn man das Mittelmaaß der Ehrenbezeugungen, die
man zu fordern berechtigt ist, überfordert, %.und mehr Ehre begehrt,
wenn man diese Begierden nur %nicht %.äußerlich mercken läßt. Man könnte
hier fragen, ob %nicht alle Laster unter den %.Menschen Narrheiten seyn mögen?
Democritus, deßen Character uns %.aber in der Geschichte %nicht %.son-
derlich beckannt ist, scheint den %.Menschen aus diesem Gesichts_Punkte betrachtet
zu haben, da er die glänzendesten Personen nur für verdeckte
Thorheiten hielt. Wenn sich die %.Menschen überhaupt entschlüßen möchten,
ihre ambition einzuschräncken %.und die Eitelckeit bey Seite zu setzen,
%.und sich vielmehr dem genuß, der eine weit nützlichere Begierde ist, als
die Ehrsucht, angelegen seyn ließen, so würde das %.Gesellschaftliche Ver-
gnügen einen hohen Grad erreichen. Es ist uns sehr nützlich, daß wir den
%.Menschen auch von seiner ungereimten Seite kennen lernen, %.und Beßer, daß wir %das
Laster von %.seiner %.lächerlichen als von %.seiner verabscheuungswürdigen Seite betrachten.

/δSeite 65

/Wir bemercken auch, daß hierin Wahrheit sey, denn der Mensch verwickelt sich %.ge-
meiniglich aus ungereimten Absichten in Laster. Diese Methode hat auch den Vor-
theil, daß sie die gute Laune %.desjenigen erhält, der die %.Menschen betrachtet %.und beurthei-
let. Er wird angereitzt, die %.Menschen zu verabscheuen, %.und ihnen %.feindlich zu be-
gegnen, auch wird die Verrichtung des Lasters eher Vergrößert als ver-
ringert. Überdies gefält eine solche Schreibart, da man außer der Recht-
schaffenheit alles für Tändeley ansieht, ungemein gut. Fiedling hat
hierin ein großes Verdienst. Es scheint, als wenn der %.Mensch auf %.keine Weise auf
etwas ernsthaftes gebracht werden könnte, als durch ceremonien, da sie
doch, wenn man sie mit ruhiger %Vernunft betrachtet, höchst %.lächerlich sind.
Indeßen zeigen sie an, daß der Mensch %.eine Neigung zum %.sinnlichen habe; die %Menschen
scheinen zum %Vergnügen gebohren zu seyn, %.und daher ist das gezwungene
Wesen in Gesellschaften höchst lächerlich, da sich ein jeder bemüht, eine ernst-
hafte Stelle anzunehmen, %.und doch %.heimlich wünscht, alle Narrheiten ausstoßen
zu können, die ihm einfallen. Man könte von diesen Gesellschaften eben
das sagen, was Cicero von den Harusp«¿¿»icibus sagt: daß er sich wun-
dere, wie sie sich ohne Lachen ansehen könnten, wenn sie einander be-
gegneten. Von den Mungalen in Harni sagt man, daß sie fast be-
ständig lachten; da nun der %.Mensch zum Vergnügen geboren ist, so miß-
fält es uns, wenn wir jemanden %mit finsterer Stirne sehen, be-
sonders, wenn es %.eine Leidenschaft, mit der wir %nicht sympathisiren kön-
nen. Wenn z.E. jemand %.verdrießlich ist, daß ihm eine haarlocke aufge-
gangen sey, %.und er %nicht in das Assembés gehen kann. Eben daher sieht
man %auch %nicht gerne weinen, es sey denn, daß die %.Traurigckeit durch das
Weinen zerstreut wird, welches man %.gemeiniglich an Frauenzimmern Be-
merckt. Alle %.Menschen haben Thorheiten, %.und es scheint, als ob dies die größte
wäre, wenn jemand seine Thorheit noch dazu zu %.einer wichtigen Sache macht.
Es hat ein jeder Mensch sein Stecken Pferd %oder Lieblings-Thorheit. So will
jemand gern ein Dichter seyn, %.und sich unter diesem Namen herfürthun.
Er geht so weit, daß er seine Geschäfte (metier) niederlegt, um sein
Glück in der Dichtkunst zu genüßen. Nero suchte seine Geschicklich-
keit besonders darinn, daß er 6. nebeneinander gespannte Pferde len-
cken könnte. - Überhaupt war Nero mehr ein Narr als %.ein Tyrann.
Da er sich den Dolch in die Brust stieß, sagte er: qvantus artifex
morior! Er Bewunderte also nur seine Kunst %nicht seine Kayser-
Würde. - Dieses Stecken Pferd mag ein jeder mithin behalten;

/δSeite 66

/Sterne sagt: es mag ein jeder auf seinem Stecken Pferde immer auf und
nieder reiten, wenn er mich nur %nicht nöthigt, hinten auf zu sitzen - 
Schöner Gedancke! Weil nun jeder Mensch seine Dosin Narrheit besitzt, so ist
es nöthig, daß er mit den Thorheiten andrer Gedult habe. Es ist zu weit
getrieben, wenn man jemanden als einen großen Mann vorstellt, denn
jeder Mensch ist in %.seinen %Verdiensten ein Zwerg. Daher müßen wir den %.Menschen
nie gros, wohl %.aber gut nennen. Oft scheinen Talente Größe zu haben,
allein dies macht %nicht die Schätzung des %.Menschen aus. Die moralitaet giebt uns
keine Idee von der größe des %Menschen. Es giebt Talente, die man für Größe hält,
z.E. einen großen Körper, Geschicklichkeit, Kräfte, Stärcke des Verstan-
des %.und der %Vernunft, allein dies macht %nicht das %.wesentliche des %Menschen aus.

/ ≥ Von der Vorhersehung. ≤

/Die Vorhersehung ist %.ein besonderes Vermögen der Seele. Wir überse-
hen jederzeit %.einen Umkreis der Zeit, %.nemlich das vergangene, gegenwärti-
ge %.und zukünftige. Wir aber verändern blos unsre Stelle in der
Zeit. Ein jeder Zusammenhang von Gedancken, Vorträgen u.s.w. erfor-
dert, daß man prospicire. Ja alle unsre Vermögen der Sinne %.und der
Imagination sind nur durch die prospection %möglich. Weil aber das gegenwär-
tige nur ein Punckt ist, so ist das Feld der Zeit %.eigentlich nur das vergan-
gene %.und zukünftige. Das Vergangene hat nur in so fern einen Nutzen
als es den Saamen zum künftigen enthält. Wenn z.E. Gelehrte %.und Bau-
ren eine Feuer Kugel sehen, so werden erstere fragen, Was mag
wohl die Ursache davon seyn; letztere aber, was mag das wohl bedeu-
ten. Jene sehen auf das Vergangene, diese aufs Künftige. Die
Voraussicht ist nur %.möglich, in so fern wir %.einen Umfang der Zeit übersehen.
Wir sehen immer mehr ins Künftige hinaus, als auf das Gegenwärtige
zurück, wenigstens sehen wir doch in den %.unendlichen Raum der Zeit. Die
Zukunft ist für uns auch weit wichtiger als das vergangene, %.und unsre
%.Erkenntniß ist als denn praktisch, wenn sie einen Einfluß auf das künftige hat.
Wir sind auch vom Künftigen einer praesension fähig. Durch die Voraus-
sicht in die Zukunft wird der %Mensch bewogen, einen Unterschied in Absicht
auf %.seine Glückseeligckeit zu machen. Die Türcken sagen, um sich zur
Mäßigckeit aufzumuntern: Es wären für jeden %.Menschen im himmel schon
gewiße Portionen Nahrungs_Mittel abgemessen, %.und wenn die- 

/δSeite 67

/se verzehrt wären, so müßten sie sterben. Wer also wenig ißt, zehrt
lange an %.seiner Portion, %.und lebt also lange. Es ist %.aber doch wunderbar,
daß der vorhergesehene Tod des %.Menschen %nicht furchtbar ist. Es geht ihnen so wie
einem, dem sich in einer weiter Entfernung die Allee zuzuspitzen
scheint, geht er weiter darinn, so sieht er wieder in einer weitern
Entfernung das scheinbare Ende, stellt sich beym 3. %.oder 4ten male
wieder vor, daß es nur so laße, als wäre das Ende da, %.und kommt, ehe
er es vermuthet, zur Allee heraus. So hintergeht uns oft unsere
provision selbst. Es scheint aber, als ob die Vorsicht dieses mit Vorsatz
in unsere Seele gelegt habe, damit jeder %.seinen Kreis vollende; daher
kommts, daß man %.gemeiniglich die Erfüllung %.seiner Pflicht weiter hinaus
setzt, weil man sein Lebens_Ende gleichsam durch ein optisches glas
sieht, obgleich die %Vernunft einem alten Manne sagt, daß er %.ohnmöglich
mehr lange leben könne. Oft sieht der %.Mensch die gegenwärtige
Zeit nur als einen Zusammenhang %mit dem Künftigen Wohlbefinden an;
%.und alsdenn wird ihm dieser Übergang zu lange, %.und die gegen-
wärtige Zeit wird ihm lastig. Wenn %.aber jemand in der gegen-
wärtigen Zeit %.glücklich ist, so scheinet ihm die Zeit sehr kurtz, daher
Schakspear die Zeit mit einem Pferde %vergleicht %.und sagt: Sie gallopirt
mit einem Diebe, der zum galgen geführt wird, %.und geht im Baß mit ei-
nem Bräutigam. Weil man die gegenwärtige Zeit nur für %.einen
Übergang hält, so verträumet man sein Leben. Man empfindet
sehr wenig davon, weil die praevision %.unwillkührlich ist, %.und man nur
immer aufs künftige denckt. Es ist also nöthig, daß man das %Vermögen
der Seele, in die Zukunft zu sehen, durch die Vernunft moderire %.und di-
rigire.

/ ≥ Von der Praesagition. ≤

/Es ist gewöhnlich, daß die %.Menschen gerne ihre künftigen Schicksale wißen wollen,
weil in der That %nichts wichtigers ist, als dieses. Da nun die Astronomie die ein-
tzige Wißenschaft ist, vermöge welcher man Phaenomena einige secula vo-
raus wißen kan, so hat man geglaubt, %.sein künftiges Schicksal in den Gestir-
nen lesen zu können, daher ist das nativitaet stellen aufgekommen. Die Prae-
vision unsers Schicksals würde uns aber in der That mehr schaden als nützen.
Ein eintziges Bevorstehendes Übel würde die %.Menschen einige Jahre vorher bestürtzt

/δSeite 68

/machen, %.und der Lauf der Dinge würde gantz anders gehen, als er sollte. Aus eben
der Neigung, das künftige vorher wißen zu wollen, entspringt %auch das Ver-
langen, die Veränderung des Wetters vorher sagen zu wollen. Einige
wollen dies aus %.einem alten Schaden, andere aus Wettergläsern, noch an-
dere aus dem Monde prophezeyen. Dieses alles %.aber zeigt %nichts mehr, als das
gegenwärtige Wetter an. Wenn %.aber der %.Mensch die Veränderungen des künfti-
gen Wetters voraussagen könnte, so würde dies zu vielen Unordnungen
Anlaß geben, weil sie %nicht wißen würden, was sie bey %.einer jeden Witte-
rung vornehmen solten. Dieses %.sehnliche %Verlangen zu praesagiren macht die %.Menschen
sehr leichtgläubig. Hieraus entspringt die Neigung zur Wahrsagerey; die
Vorbedeutung der Träume; die Achtsamckeit auf die Stimme der Thiere.
Der %.Mensch überläßt sich dieser ungezähmten Neigung %nicht aus Mangel der
Vernunft, sondern aus gar zu großem affect. Es ist aber %nicht %.möglich
daß Träume etwas vorbedeuten können, es sey denn, daß die Ursache vom
künftigen schon in meinem gegenwärtigen %.körperlichen Zustande liegt z.E.
Kranckheit. Man sagt, wenn Manns Personen von Kurren %.und Frauens-
Personen von Stecknadeln träumt, so bedeutet es Zank %.und Streit. Wenns
eintrift, so ist die Ursache hievon %nichts anders, als daß während dem Schlafe
in dem Körper des %.Menschen galliente disposition vorgegangen. Und da
also der %.Mensch schon %.verdrießlich aufsteht, so ist es %.kein Wunder, daß er zu händeln kommt.
Wenn %.aber Träumer nicht ihre Ursache in sich selbst haben, so bedeuten sie
auch %nichts. Personen, die viel träumen, zeigen dadurch, daß sie auch im Wa-
chen sehr zu träumen geneigt sind. Das %.Weibliche Geschlecht träumt mehr als
das %männliche. Die Ordnung, welche man in den Träumen bemerckt, hat
%verursacht, daß man glaubte, die Seele schwärme zur Zeit des Schlafs in der
Geister Welt herum. Der weise Mann hat facultatem divinatricem, weil
er die Ursache der gegenwärtigen dinge %.und ihre %Verbindung mit den künfti-
gen übersehen kan; denn er hat viele beurtheilungs-Kraft - lange ge-
lebt %.und viel erfahren. Unter Friedrich_I. prophezeyete sich ein %.Mensch %.ein
langes Leben, er wurde %.eines Verbrechens Beschuldiget, %.und der König
verdammte ihn zum galgen, um zugleich die Prophezeyung zu vereiteln. Bey
der Execution %.aber kam die Prinzeßin von Mecklenburg zum Könige
gefahren, ihn zu besuchen, %.und erbat das Leben dieses Missethäters.

/Wenn alle Wahrsagungen für wahr solten angenommen werde, so wür-
de dies die Regel der Vernunft ungemein stöhren. Vernünftige Leu-
te können %nicht wahrsagen, aber unwißende Weiber können es. Unter Carl_II
Könige in Franckreich fand sich ein Wahrsager. Der König

/δSeite 69

/ließ ihn für sich kommen, %.und fragte ihn, wie lange er noch leben würde?
Weil nun der Wahrsager wußte, daß der König ein grausamer %HErr
wäre, %.und ihn auf der Probe hätte können umbringen lassen, so sol er
gesagt haben: den Tag seines Todes wisse er zwar %nicht gewiß, aber das wiße
er, daß er 3. Tage vor dem König sterben würde der König glaubte,
es könne wohl eintreffen, %.und ließ ihn leben.

/ ≥ Von den Zeichen, deren sich der Mensch bedienet. ≤

/Es sind gewiße Zeichen, die Blos Mittel sind, Vorstellungen herbey zu locken,
%.und andre, die den Begrif der Sache ersetzen. Zeichen von der 1sten Art sind
Wörter, %durch deren Gebrauch auch nur unsre Einbildungs-Kraft rege gemacht
wird. Zeichen aber, die die Begriffe der Sachen ersetzen, finden wir bey den
Poeten, %.und dies sind die Bilder, deren sie sich bedienen, als das Bild des Neides.
So kann die Heiterckeit der Luft als ein Zeichen angesehen werden, welche
den Begrif %.von der Seelen Ruhe eines Weisen vorstellt. Bilder %.und Wörter
sind also Zeichen, die von einander sehr unterschieden sind; denn die Wörter
müßen nach Verschiedenheit der Sprachen verändert werden, wenn sie
den Begrif hervor locken sollen; da ein Bild hingegen Bey allen %.und jeden
Nationen die Stelle eines %.und eben deßelben Begrifs vertreten kann.
Ein solches Zeichen nun, welches die Vorstellung %.einer Sache vertritt, nennt
man ein Symbolum, welches sich von den Characteren unterscheidet.
Zur Begleitung des Begrifs brauchen wir Wörter. Jemehr nun der Be-
grif im Sinne liegt, desto weniger braucht man Wörter dazu. Je abs-
tracter %.aber die Begrife sind, desto mehr Wörter braucht man, z.E. Mäßigckeit,
Billigckeit, S«¿¿»anftmuth etc. Die %.Menschen haben %.eine so große Neigung zu den Bil-
dern, daß den Kindern auch nur durch die Bilder Begriffe können beygebracht
werden. Die genies aller %.orientalischen Völker sind %.vorzüglich Bilderreich, %.und dies
ist ein Beweis des Mangels ihrer Einsicht. Bey symbolis setzt man an die
Stelle der Sache andere %.ähnliche Sinnbilder. Die %.Menschen sind so sehr an Bilder ge-
wöhnt, daß sie fast alles mit symbolis Begleiten. So sind die Titel symbo-
la des Ranges, Kleider symbola des Reichthums. Die Orden symbola der
Gnade. In unsern äußer Religions-Gebräuchen herrschen sogar viele sym-
bola. Das traurigste dabey ist wohl dieses, daß sich die %.Menschen können dahin bringen
lassen, blos an den Symbolis kleben zu bleiben %.und die Sache selbst darüber
zu vergeßen. Man sieht nur auf den Titel, ohne daß man bedenckt, wie
man sich dieses oder jenes Ranges durch %Verdienste würdig machen könne,
So sind alle symbola %.und Feyerlichkeiten, Vorstellungen einer geheimen Bedeu-
tung. Z.E. die Trauer: Hieraus ersieht man, daß, je mehr die symbola die Sinne

/δSeite 70

/einnehmen, desto größere Vernunft dazu gehöre, um durch den Schleyer der sym-
bolorum durchzudringen. Diese Symbola bringen %.eine Menge Irrthümer
dem %.Menschen bey. So stellt man sich z.E. Gott als %.einen Fürsten %.und die %.Menschen als Unter-
thanen vor. Dieses Symbolum ist zwar gut, allein der gemeine Mann ver-
gißt, daß der Fürst die Unterthanen, %.und jene den Fürsten nöthig haben, %.und
daß der Fürst %nicht ins Hertz der Unterthanen sehen kann. Daher ge-
wöhnt sich der %.Mensch nur %.äußerlich, Gott zu dienen, %.und im Hertzen anders
zu dencken. Man muß sich also hüten, daß man das Sinnbild %nicht für %.eine Ähn-
lichckeit in der qvalitaet der Bestimmung hält. Eine %.Erkenntniß ist symbolisch,
wenn man an dem Leit-Faden der Ähnlichkeit zu der %.Erkenntniß kommt.
Ein Prediger kann symbolisch schön predigen, obgleich die Predigt %nicht die
wahre Schönheit hat: d.h. die Entschlüssung %.einer Beßerung herfürbringt.
Zahlen sind symbolische Vorstellungen der Größen; Wenn sie aber
intuitiv werden sollen, so müßen sie auf %.eine Sache angewandt werden.
Da man den Grönländern die Menge %.Menschen in London %.faßlich machen
wollte, so sagte man ihnen %nicht die Zahl, %sondern, daß ihrer so viel wären, daß sie
einen Wallfisch zum Frühstück verzehren könnten. Haselqvist in
%.seiner Reise nach Egypten sahe, daß er %.einen gantz speciellen Begrif von den
Pyramiden gehabt hatte, ehe er nach Egypten gereißt war; allein beym
Anblick vergaß er, daß er jemals von ihnen gewußt hatte. Zu-
weilen dient ein Symbolum nur dazu, daß uns %.ein anderer Begrif %.Be-
greiflich gemacht wird. Prof. Neil zu Cambridge berechnete die feinen Theil-
chen des assa Foetida, die aus %.einem eintzigen Lothe in die Luft steigen. Ob
nun %.gleich die Zahl, welche heraus kommt, sehr groß ist, so sieht man sie doch
gantz gelassen an. Um aber Bewunderung zu erregen, wählte er
eine andere Berechnung: Er Berechnete die Sandkörner, so auf dem
Berge Pico, der eine Meile hoch ist, %.befindlich sind, %.und welcher 5. Meilen im
Umfange hat. Hierauf sagte er, daß in einem Lothe assa Foetida so
viel kleine Theilchen wären, als in 5. Bergen, die so groß als der
Pico wären, SandKörner sind. Dies setzt in Erstaunen. - 

/Wenn ein Nachdruck seyn sol, so muß die %.symbolische %.Erkenntniß aufhören, %.und
die intuitive anfangen. Man muß manchen Leuten von Sachen reden,
so, daß sie von andern verstanden werden, ohne daß sie sie verstehen
%.und empfunden haben. So lehrte Sandson Prof. zu Cambridge, ein
Nachfolger von Neuton die Optic gantz %.deutlich ohnerachtet er gantz
Blindgebohren war. Die verschiedene Arten der Berechnungen der

/δSeite 71

/Lichtstralen hatte er von andern gehört. Er zeigte, daß die rothe Farbe die hell-
ste %.und stärckste sey, ohne daß man weiß, was er sich für %.einen Begrif vom Lichte
gemacht habe. Die Stärcke des Lichts bildete er sich ein, wie die Stärke des
Eindrucks beym Schatten. So hören auch viele von Tugend mit Eindruck
reden, %.und drücken sich die Empfindung ein, ohne an die Sache selbst zu ge-
dencken. Und auf diese Art sind viele %.Menschen ein lebendiges Echo. Frau-
enzimmer fragen nur darnach, was die Leute von %.einer Sache reden,
nach dem Werthe aber der Sache fragen sie %nicht. Man muß überhaupt
vom Frauenzimmer %nicht verlangen, was %.über ihre Kräfte geht, da sie %nicht
erschaffen sind, Vermögen zusammen zu bringen, so sollen sie auch %.keines dissipi-
ren. Und dies ist der Grund ihrer Kargheit. Daher kommt es, daß sie per
sympathie in gewißen Worten Achtung %.und %Verachtung gegen eine Sache äu-
ßern. Viele tadeln zwar die Laster, %.aber sie haben %.keinen %innerlichen Abscheu da-
für, %sondern, weil sie andere mit %Verachtung davon reden hören, so spre-
chen sie ihnen nach, %.und haben also nur einen sympathetischen Abscheu
dafür durch die Mienen %.und Worte eines andern erlangt, %aber %.keine inne-
re Abscheu dafür. So machen die Ammen, daß sich die Kinder fürchten viele Dinge
in die Hände zu nehmen, denn wenn sie Beym Anblick %.einer Raupe
%.eine %.fürchterliche Miene machen, so werden die Kinder die Raupe gewiß zufrie-
den laßen. Das %.männliche Geschlecht hat überhaupt andre Empfindungen,
als das %weibliche. Es hat zwar das %.weibliche auch erhabene Empfindungen von
Dingen, aber %nicht wegen der Erhabenheit selbst, %sondern weil sie andre dafür
halten, denn sie folgen nur dem Urtheil andrer, %aber %nicht nach der Sa-
che selbst. - Bloße Wörter können bey einem %.Menschen mit Empfindungen %verbun-
den seyn, wenn man z.E. lieset, daß Vulcan dem Iovi die Pfeile geschmie-
det, %.und blitz, donner, Hagel, dicke finsterniß etc. darunter gemischt, wie
ein Englischer Schriftsteller dies beschreibet, so rühren hier die bloßen
Wörter: wenn man jemand auf der Stelle rühren will, so muß man
sich rührender Wörter bedienen. Bey Predigten hingegen kommt es auf die
Sache selbst an, die vorgetragen wird. Klopfstock ist lange kein %.eigentlicher
Dichter, denn er rührt nur per sympathie, indem er als ein gerührter re-
det, %.und wenn man %.seine Schriften mit kaltem blute lieset, so verliehren
sie viel. Oft Bedient er sich einer ungewöhnlichen %.und halb pohlnischen
Sprache, spricht abgebrochen, %.und zeigt, wie gerührt er ist. Wenn uns ein
Dichter eine Menge furchtbarer Dinge %.fürchterlich vorstellt, %.und uns
in Schrecken setzt: so ist %.eine Menge Bilder da, die sich die Seele ausmahlt.

/δSeite 72

/Zuweilen kommen so wunderbare Dinge zusammen, daß man sie sich %nicht einmal
recht einbilden kann, %.und man wird doch gerührt. Wie z.E. im Virgil die Cy-
clopen, die auf einem Amboß donner %.und Regen schmieden. Wenn wir da-
her etwas lesen, so müßen wir sehen, ob uns die Sache selbst %.oder das Bild,
worinn uns die Sache vorgestellt wird, %.oder ob uns nur bloß die Worte rüh-
ren. Denn %nicht das Anschauen der Sachen, %sondern die Wörter erschüttern oft al-
lein %.unser Gemüth, %.und jagen uns Schrecken ein, wenn sie von %.fürterlichen Din-
gen gebraucht sind. Daher dencken wir oft an die Sache selbst %nicht, weil uns %das
Wort schon in Bewegung gesetzt hat, %.und so ist es oft mit rührenden Reden be-
wandt. Will man uns aber auf der Stelle Bewegen, so muß man gute
Worte gebrauchen. So machte es jener Redner, der den Körper des Cae-
sars bringen ließ, %.eine schöne Rede hielt, %.und das Volck %.sogleich bewegte,
mutig wieder die Feinde des Caesars zu handeln. Will man eine
lang dauernde Entschlüßung %.und Vorstellung herfür bringen, so muß
man die Sache selbst vortragen. Ein Prediger der %.seine Zuhörer rührt,
Bewegt sie %nicht durch Sachen selbst, %sondern durch %.die Worte. wenn er z.E. den
Donner der %.göttlichen Strafen droht, so bezeichnet er %nicht die Sachen selbst, %sondern er
sagt nur die Bilder davon, welche Schrecken herfür bringen. Sind
sie aber schon an gewiße Bilder %.und Rührungen gebunden, so dürfen
sie nur recitirt werden, %.und ich werde mehr gerührt %.und Bewegt. Will
man einen Dichter recht beurtheilen, so muß man das metrum %.und die
Bilder weglaßen %.und es nur historisch als %.eine Erzehlung weglesen %.und
sehen, ob er auch da noch rührt. Sind die Begriffe nachher, wie vorhin,
%.und er rührt noch, so ist er %.ein Dichter zu nennen. Muß man %.aber beym re-
citiren die Worte %.und den Thon %.eines gelehrten brauchen, so ist er kein
Dichter der %.eigentlichen Art. Dies aber muß man besonder bey Klopfstocken
thun. - 

/ ≥ Vom Witze, Scharfinnigckeit %.und Urtheils-Kraft. ≤

/Der Auctor hat dem Witze die Scharfsinnigckeit entgegen gesetzt, %.und
erklärt jenen %durch ein %Vermögen der Ähnlichkeit, diese %.aber %durch ein Ver-
mögen, den Unterschied der Sachen zu erkennen. Es ist aber beßer,
wenn man dem Witze die UrtheilsKraft entgegen setzt. Zum Erfin-
den wird Witz erfordert, zur Behandlung %.aber %.und Tractation %.einer
erfundenen Sache Urtheils-Kraft. Zur UrtheilsKraft gehöret auch
das Unterscheidungs_%Vermögen, wodurch man die Dinge in Ordnung
bringt. Der Witz ist das Vermögen zu vergleichen; die Urtheils- 

/δSeite 73

/Kraft das Vermögen, die Zusammenstimmung der Verhältniße einzusehen, %.und
die Dinge zu verknüpfen %.oder zu trennen. Der Witz urtheilt also %nicht, %sondern
er schaft nur die Materialien herbey, worüber hernach geurtheilt wird.
Witzige Leute können Bald Ähnlichkeiten finden, aber %.ähnliche Dinge sind
darum noch nicht vercknüpft; denn die Begriffe der Sachen können in un-
serm Kopfe wohl %vercknüpft seyn, %.aber die Sachen selbst können himmelweit
unterschieden seyn. Ähnlichkeit ist also %nicht die %Verknüpfung der Dinge,
%sondern die Vorstellung derselben; %.und das %Vermögen, den Unterschied einzusehen,
gehört zur Urtheils-Kraft, aber %nicht zum Witze. Die Scharfsinnigkeit ist
das genus von beyden, %.und die Fähigkeit, überaus verborgene Kleinigkeiten zu ent-
decken %.und leicht zu bemercken. Es kann also sowohl beym Witze als bey der Urtheils-
Kraft ein acumen %.oder Scharfsinnigkeit seyn. Ein Advocat, der eine unge-
rechte Sache vertheidigen will, muß einen scharfsinnigen Witz haben,
%.und alle Gesetze herfürzusuchen wißen, die seiner Sache scheinbar favori-
siren. Der Richter muß eine scharfsinnige Urtheilskraft besitzen, wenn er die
gekünstelte Vertheidigung des Advocaten wiederlegen, %.und der gerech-
ten Sache mit seinem Urtheil beytreten will. Ein %Mensch ohne Witz ist
ein stumpfer Kopf, ein %Mensch aber ohne Urtheils_Kraft ein Dummkopf.
Wer ohne Scharfsinn ist, hat keine Ehrentitel, denn man kan von jedem %.Menschen
%nicht Scharfsinnigkeit verlangen, so wie man bey der Schönheit %nicht jeden, der
%.heßlich ist, eine %.heßliche Kreatur nennen kan; ein dummer %.Mensch kan sich gar kein
concept von einer Sache machen, weil man nur dadurch einen Begrif be-
kommt, in dem man %.dasjenige abstrahi«¿»rt, was viele Dinge ähnliches unter
sich haben. Daß man %aber viele stumpfe Köpfe für Dumköpfe gehalten sieht
man aus dem Beyspiel des Clavius. Dieser Mann war zuerst ein
Jesuiter-Schüler %.und so weit gekommen, daß er nun elaborationes, Reden
%.und Verse machen sollte. Es war ihm aber %nicht %.möglich sich auf einen Einfall %.und
auf eine poetische Wendung zu besinnen. Die Jesuiten, welche, wie beynahe alle Lehrer,
die ausarbeitung einer Rede %.oder eines Gedichts für die höchste Stuffe der geschicklichkeit
hielten, die ein Schüler erreichen kan, hielten den Clavius für einen dumm Kopf und
gaben ihn zum grob-Schmiede. Er fühlte %aber bald seine Fähigckeit, gieng vom grobschmie-
de weg %.und legte sich auf die Mathematic, %.und wurde der größte Mathematicus %.seiner Zeit.

/δSeite 74

/Hieraus sehen wir %.deutlich, daß Clavius viele beurtheilungskraft hatte, %.und wohl ein
stumpfer Kopf %.aber kein dumkopf war. Bey vielem lebhaften Witze zweifelt man sehr
an der Urtheilskraft, indem man %nicht glaubet, daß jemand 2 so große Vermögen %.zugleich
haben kan. Indeßen ist der Witz doch der Liebling unsers Gemüths, %.und ein Poet würde
sich eher der Gefahr aufgehangen zu werden, aussetzen, als daß er einen witzigen ge-
dancken ersticken sollte. Denn er hält es gleichsam für einen Kinder Mord, besonders
wenn der Witz in der Natur ist, %.und er ihn für ein allzu schönes Geschöpf ansieht. Wer
einmal einen hang zum Witze hat, der kan ihn %nicht dämpfen. Spielender Witz ist
der, welcher %nicht mit dem Verhältniße der dinge übereinstimmt, der nur vergleicht, %.aber
nicht dazu dient, daß man den Grund der Verknüpfung einsehe. Er unterscheidet sich
dadurch vom ächten Witze, daß er zufällige Aehnlichkeit für wahre %.und beständige ansieht.
Wenn man z.E. aehnlichkeiten der Wörter %.oder Wortspiele hervorsucht, die gar %nicht mit
der Sache stimmen. So findet sich in England im Palaste des hertzogs Malboroughs zu
Blentheim ein hahn %.und ein Löwe, der den hahn zerreißt. Über dem hahn steht das
<%.lateinische> Wort gallus, welches die Franzosen bedeuten soll. Man sieht, wie weit hergehohlet
das Wortspiel sey. Ein spielender Witz kan ein schaaler Witz genannt werden, wenn
er nur auf %.willkührliche Bewegungen %.und zufällige Kleinigkeiten gerichtet ist. So schreibt
Kaestner, daß man das Wort Sat durch einen deutschen, der aus Franckreich zu-
rück kommt, übersetzt, %.und das Wort Fca %durch einen deutschen, der nach Franckreich rei-
set, weil er in Deutschland eben das hätte lernen können, %.und wenn er zurüke kommt,
hat er %.gemeiniglich etwas läppisches an sich, indem ein deutscher nie die gelehrsamkeit
eines Franzosen wird annehmen können. Das alltägige hat %nichts reitzendes, das
faade %.aber ist eckelhaft, denn es ist eine Beschäftigung, die zu %nichts taugt. hat man
nichts zu thun, so kan man etwas noch dulden. So werde ich %nicht %.verdrießlich wenn
mir jemand aus der Gesellschaft keine Beschäftigung giebt, denn ich bin schon zu-
frieden, wenn ich sie ansehen kan; will man mich %.aber durch schaalen Witz belustigen,
und beschäftigen, so wird mir die Gesellschaft gantz unerträglich. Denn der %.Mensch in
dem Zustande, da er sich selbst überlaßen wird, doch noch glücklicher, als wenn er sich
mit leeren Sachen beschäftigen soll, ob er schon ohne bemühung nicht %.glücklich seyn kann. - 
Der %Mensch muß bey allen Beschäftigungen irgend eine Absicht %.und Endzweck haben;
%.und wenn mir jemand riethe, daß ich zur motion eine Glocke ohne Kleppel läuten sollte,
so werde ich %nicht verdrießlich, denn ich erreiche meinen Endzweck, habe motion %.und
beunruhige auch %nicht die Stadt. Oder auch, wenn ich auf einem Stecken Pferde rei-
ten sollte, denn ich erreiche meinen Zweck, %.und diese leere Beschäftigung ver-
drießt mich also %nicht. So handeln wir auch %nicht gerne beym Spatzierengehn ohne
Endzweck. Denn wir setzen uns %.gemeiniglich vor, an einen Ort zu gehen, den wir
uns bestimmt haben, um da auszuruhen, da wir doch eben die motion haben könn- 

/δSeite 75

/ten, wenn wir eine gewiße Weite hin %.und her giengen; allein hier hindert uns das
Leere, dieses zu thun. Von den Schiffern bemerckt man, wenn sie auf dem Lande spatzie-
ren gehn, daß sie nur eine Schiffslänge vorwärts gehen, %.und dann wieder umkehren,
weil sie gewohnt sind auf ihrem Schiffe immer hin %.und her zu gehen %.und nach allem zu
sehn; uns %.aber wird das Spatzierengehen immer angenehmer, wenn wir uns einen
Ort bestimmt haben. Schaaler Witz ist ein Wortspiel. Ein %.HErr war bey einem Präsi-
denten zu Gaste, der bediente reichte ihm den Suppen Teller, %.und begoß damit seinen
Rock, %.und sagte dabey: hier heißt es wohl recht: summum jus, summa injuria. Das Läster-
lichste dabey war, daß er dies Brocardicon der Juristen auf eine Suppe applicirte.
%.anfänglich gefällt es wegen der Überraschung, hernach %aber lacht man %nicht mehr darü-
ber. - Witz %.und Urtheilskraft gefallen uns so wohl an uns, als auch an andern.
Der Witz belustigt %.und vergnügt; die UrtheilsKraft macht zufrieden. Daher lieben
wir den, der Witz hat, %.und schätzen den hoch, der UrtheilsKraft besitzt. Der Witz
bringt alle gemüthskräfte in Bewegung, die UrtheilsKraft %aber hemmet sie, bringt
sie zusammen, %.und erhällt sie in Ordnung. Der Witz legt alles vor, %.und die Urtheilskraft
ordinirt. Der Witz öfnet ein Feld zu Aussichten, paaret die dinge, giebt neue
Einfälle, hat die Kraft eine Menge andere in Bewegung zu setzen, %.und schaft
neue Ideen. Die UrtheilsKraft %aber muß %.seine unbedachtsame Ausschweifung hem-
men %.und ordnen. Witz erfodert Leichtigkeit. denn dies empfiehlt ihn eben. Er
muß %nicht lange vorher ausgedacht seyn, %.und der ihn hört, muß ihn leicht faßen können.
Wenn jemand zu reden anfängt, %.und jedermann auf einen schönen Einfall hoffen
macht, hernach %aber etwas gezwungenes %.und leeres herausbringt, so mag er
selbst, wie es oft geschieht noch so sehr über %.seinen Einfall lachen, er w@a\i@rd von der
Gesellschaft doch %nichts als ein wohlanständiges grieseln oder eine verzogene la-
chende Miene erhalten, weil er doch einmal haben will, daß man darüber lache, %.und
die Höflichkeit erfodert es, daß man in %.sein Gelächter mit einstimme. Wenn sich jemandes
Urtheilen Schwierigckeiten entgegen setzen, %.und er sie %.glücklich überwindet, so schätzt man
ihn sehr hoch; wie z.E. Neuton. Scheints ihm überdies noch leichte geworden zu seyn, so
gefällts noch mehr. Man kann den %.Menschen von vielen Seiten betrachten; Er gebraucht
%.sein Gedächtniß %.und Verstand %.entweder zum Witz %.oder zur beurtheilungsKraft. Das geselli-
ge Leben erfordert mehr Witz als Nachdencken, denn der Witz erzeugt Einfälle (Bon
mots) die UrtheilsKraft bringt Einsichten herfür. Der Witz hat mehr Nachfolger als
der Verstand. Und wenn die Wißenschaft %nicht in Schulen bleibt, sondern sich über ein
gantzes Volck auszubreiten anfängt, wie ohngefehr vor 100. Jahren in Franckreich,
so bringts nur Überschwemmung von witzigen Schriften zuwege. Denn die %Menschen
suchen sich mehr zu belustigen als zu belehren. Bonmots sind im genausten

/δSeite 76

/Verstande Einfälle, die überraschen. Der Witz bringt Einfälle, die Urtheils_Kraft Ein-
sichten herfür. Man sieht es an den frantzosen %.und Engländern. Die frantzosen ha-
ben mehr Einfälle als Einsichten; daher sind ihre philosophische %.und andere Schriften voll
von Einfällen. Terrassons Philosophie giebt uns ein beyspiel von dem Geschmack der
Frantzosen. Troublets Werck besteht aus lauter Einfällen %und keinen Einsichten.
So ists auch %mit ihren Moralischen Schriften beschafen. Auch Montesqvin zeigt mehr Einfälle als Ein-
sichten. Die Engländer hingegen haben wieder mehr Einsichten, %.und ob
uns %.gleich bis weilen etwas als ein Einfall vorkömmt, so ist doch zu sehen, daß es prae-
meditirt ist. Einfälle %aber müßen %nicht praemeditirt, sondern überraschend seyn. Gewiße
Wißenschaften laßen sich %nicht durch Einfälle tractiren. Die Freyheit %.und Naivitaet des
Witzes sind unterschieden. Feinheit des Witzes zeigt «¿»Scharfsinnigckeit an, %.und geht auf
kleine unmerckliche Verschiedenheiten. Die Naivitaet des Witzes belustigt mehr als
die Feinheit. Es giebt %aber wieder eine grobe %.und feine Naivitaet. Zum beyspiel darf
man nur den Donqvichotte lesen. Als Sanche Pansa gefragt wurde; was denn
ein irrender Ritter wäre? sagte er, ein irrender Ritter ist, der keinen Tag
für einer Krone, %.und %.keine Nacht für Schlägen sicher wäre. Naivitaet ist das gesunde,
das unerwartet woraus entspringt %.und mit Witz verbunden seyn kann. Der
Witz ist veränderlich, um Neuigckeiten begierig, %.und wird ungeduldig, wenn
ihn etwas lange aufhält. Er sucht soviel dinge zu vergleichen, als nur im-
mer %.möglich ist. Daher sind witzige Leute %.gemeiniglich veränderlich, welches
sich sowohl bey gantzen Völckern als bey eintzelnen Personen findet. Man sieht
dies an der %.frantzösischen nation. Solche Leute haben einen großen hang ihren Witz
zu äussern, es sey nun %.unwillkührlich oder durch satyren, %.oder @%durch@ ein Gedicht, oder @%durch@
Nachsinn, um nur der Gesellschaft etwas zum Lachen geben zu können. Sie
können ihre witzige Einfälle %nicht bey sich behalten, %.und wenn sie selbige %nicht unter ih-
rem eigenen Namen bekannt machen können, so thun sie es unter einem frem-
den. Daher stellen sie die Sachen %nicht nur «¿»in verschiedenen Veränderungen
vor, %sondern sind auch selbst veränderlich. Die Veränderung selbst %aber ist schon et-
was, das die %Menschen vergnügt, denn es vermehrt ihre Kenntnis; Übersteigt aber
die Unveränderlichkeit ihren Grad, so daß der %.Mensch %nicht lange genug %über einer Stelle
seyn kann, wenn er von Urtheils_Kraft leer ist, so sind es hirngespinste %.und Phantomen.
Es giebt einen gewißen dauerhaften Witz, sagt ein Engländer von Popens Schrif-
ten. Und ein Cenntner schweren Witzes, wie Popens ist, kann unter dem hammer
eines Frantzosen weit gedehnt werden, %.gleich einem Stücke Golde.

/Der Witz der Engländer ist scharfsinnig, der frantzosen ihrer belustigen

/δSeite 77

/der. Der Hudibras zeigt einen sehr scharfsinnigen Witz, wiewohl er ihn nur auf pobel-
hafte dinge angewandt, er paaret die sonst %.unähnlichen Sachen sehr leicht zusammen.
Hume, Voltaire %.und andere haben es für das wichtigste in der Welt gehalten, das
man nur j«a»e in Form eines gedichtes gesehn. Jede Zeit ist zusammen gedrungen %.und es
ist ein Auszug der tiefsten Kenntnis. Solcher Witz %aber belustigt %nicht so sehr, als Ka-
lecho dem Hudibras rieth, er sollte doch einer Wittwe, den besuch gönnen, da er
ihr ihn versprochen hätte, so antwortete ihm Hudibras, das gewißen gleicht ei-
nem Collegio, wo viele Sachen abgemacht werden. Gleichwie %aber die Collegia ihre
Ferien habe, so hat auch jetzt mein Gewißen seine Ferien, %.und ich kan also deinen
Antrag %nicht annehmen. Ein solcher Einfall gefällt, bey deßem ersten anbringen
man ernsthaft aussieht, deßen Schwierigckeiten man aber bald überwindet, %.und
der also im Nachgeschmack gefällt. Der Witz hat einen Einfluß aufs Lachen,
aber nicht aller Witz macht Lachen. Es gibt zwar %Menschen, die auch ohne Witz Lachen
erwecken, allein dies geschieht auf ihre Kosten. Es gibt %aber eine geschicklich-
ckeit, das Lachen durch Einfälle zu erregen. Einiger Witz ist ernsthaft, wie
z.E. der Witz der ausleger der Profan, %.und auch oft der %.Heiligen Scribenten, die alle
aehnlichkeit herfür suchen, um die Sache zu rechtfertigen. Solcher Witz setzt
%nicht viele Talente zum voraus, denn man kann viel muthmaßen. Dieser erstre
Witz zeigt sich auch bey Erfindungen, denn der Witz gibt alle hypothesen an die
Hand; daher gehts einem schwer von Hertzen, einen Einfall zu verlaßen,
der ihm viele Mühe gekostet.

/

/Es giebt verschiedene Gattungen des Witzes, die das Lachen erre-
gen. %.Derjenige Witz, der die Laune erhällt, heißt auch die drollichten Ein-
fälle. Hudibras ist voll davon, so wie die Schriften der Engländer meh-
rentheils sind, welches %aber den Frantzosen fehlt. Hieher gehört auch der
Tristam Schandus. Bey dieser art des Witzes scheint man gar %nicht die ab-
sicht zu haben, das Lachen zu erregen, %sondern die Sache geht ernsthaft fort, doch so ab-
gemeßen, daß es ins lächerliche fällt, %.und dies macht eben die Laune aus. Die
Vorstellung von glück %.und Unglück kommt %nicht von dingen der Welt, %sondern von der Gemüths-
art der %Menschen her, daher drücken unsere Reden davon unsre Gemüthsart aus. Nach-
dem man also die dinge ansieht, nachdem sind die Reden von Laune unterschieden.
Auf diese Art giebt es ein Misantropische %.und hypochondrische Laune, wenn dem
%Menschen alles widrig ist, %.und alle Freunde ihm als Heuchler vorckommen.

/δSeite 78

/Wenn %.aber ein %Mensch eine solche Gemüths art hat, daß er sich über alles lustig macht, %die
%Menschen in ihrem eitlen Wahne, den sie an sich haben, betrachtet, so kommt ihm
die Welt erträglich, ja wohl gar verschönert vor; er wird lustiger %.und findet wohl
gar Vergnügen «¿»dran. Solch Naturell giebts %.wircklich %.und dies nennt man über-
haupt die Laune. Man stellt sich die Sache dem Speciellen Gemüths_Character
aller gemäs vor. Wenn ein jeder %Mensch sich eine solche Laune anschlafen könnte,
daß er alles in der Welt für ein Spiel ansähe, so würde es das größte glük
für die %Menschen seyn, nur müßte sie dies %nicht hindern, ihren Pflichten Genü-
ge zu leisten. - Viele %Menschen sehen viele dinge gantz anders an, als an-
dere. Ist zum %.Exempel jemand einem andern in einem Amte vorgezogen wor-
den, so sieht er es für ein wiedriges Schicksal an, %.und grämt sich. Ein anderer
nimt dabey Gelegenheit, seinen Witz zu zeigen, wenn überdies, der ihm
vorgezogen worden, ein ungeschickter %Mensch seyn sollte. Ein %.Mensch der alles von
der lustigen Seite ansieht, %.und nichts als wichtig betrachtet, hat auch die ge-
schicklichkeit so zu schreiben, nur muß dies nicht aus Nachahmung geschehen.

/ ≥ Vom Lachen. ≤

/Dies ist eine sonderbare Erscheinung. Alle %Menschen mögen gerne lachen, auch
sogar Hypochondristen. Die wohl beliebten feisten %Menschen, sind am mei-
sten geneigt dazu, %.und es steht ihnen auch gut an. Man nimmt daher auf dem
Theater zu einer recht lustigen Rolle einen kleinen dicken Kerl, weil
er schon durch sein aussehn %.und par sympathie zum Lachen reitzt; denn wenn es
ein hagerer langer Kerl wäre, so würde ihm das Lachen %nicht so %.natürlich
seyn. Besonders lachen fette Leute gerne beym Eßen, %.und jemehr anla-
ge ein %.Mensch zu einem feisten Körper hat, desto mehr bemüht er sich bey Tische
alles zum Lachen anzureitzen. Es ist %.aber nicht so leicht alle, selbst vernünfti-
ge %.Menschen ins Lachen zu versetzen, %sondern es muß alles unerwartet seyn, %.und es muß
sich gleich darauf ein contrast zeigen, wenigstens muß es in der Vorstellung unerwar-
tet seyn. In Franckreich wurde der Bau commission aufgetragen, eine Brücke zu
bauen; da die Leute eines Tages zum Eßen giengen, %.und ein gasconier immer
hin %.und her gehen %.und die brücke %.bedencklich betrachten sahen, so schloßen sie, daß die-
ser gasconier auch ein Bauverständiger seyn müße. Sie baten ihn also zum Eßen,
um ihn um seine Meinung zu fragen. da sie sahen, daß er so sehr beschäftiget

/δSeite 79

/war, seinen Hunger zu stillen, so warteten sie, bis er abgegeßen hatte, darauf
frug ihn einer, was er von dem brücken bau hielte, den sie eben unter den Hän-
den hätten? Ja, sagte er ernsthaft, ich sehe, daß ihr eure Sache recht gut gemacht,
besonders, daß ihr die brücke quer über den Fluß gelegt, denn hättet ihr sie in die
Länge auf den Fluß legen wollen, so würdet ihr das Werck nicht so geschwin-
de endigen. Hier brach ein jeder in Lachen aus, weil sie sich viel versprochen
hatten %.und nun das gegentheil gewahr wurden. Alle witzige Einfälle haben dies
Merckmal, daß man sich in der Erwartung betrogen findet. Das Gemüth wird
dabey auf eine gewiße Art in eine andere dipation gebracht %.und %.gleich einem Ball
zurück geschlagen. Und eben dadurch wird eine solche Erschütterung in dem Kör-
per verursacht, die das Lachen genannt wird. Woher kommts aber, daß das La-
chen dem %.Menschen so angenehm ist, da es doch %nichts für den %Verstand ist, %.und nur Unge-
reimtheiten jederzeit die Ursachen davon sind? Wir wollen das Lachen zuerst
von der Seite des gemüths betrachten. Es ist einmal aus gemacht, daß bey allem
was %.lacherlich ist, ein Wiederspruch seyn müße. Zuweilen aber lachen wir auch
ohne denselben; das auslachen ist von dem frölichen Lachen gantz unterschie-
den. Ersteres zeigt eine gemüths_art an, die nicht die beste ist. Daher wird ein
Guthertziger nie mitlachen, %sondern er thut es nur als denn, wenn alle mitlachen können.
Das Auslachen ist auch immer affectirt. Denn ob man %.gleich aus vollem Halse lacht, so
empfindet man doch immer etwas, was dieses Lachen mißbilliget. Einige %Menschen
können sehr darüber lachen, wenn sie einen andern fallen sehen, da hingegen
andre nicht lachen können, denn sie setzen sich alsdenn in die Stelle des ge-
fallenen; das fröliche Lachen muß jederzeit unschuldig seyn, %.und sich allen mit-
theilen können. Es giebt %aber auch ein Lachen, das aus einer gewißen Verkert-
heit entspringt, %.und zum Nachtheil des andern gereicht. So lacht man, wenn jemand
in allen seinem T@h@un Pracht verrathen will, %.und oft wieder Willen armseeligkeit
verräth. Man la@cht in@ diesem Falle darüber, daß der hochmüthige gedemüthigt ist. Ob
%.aber %.gleich hierin d@em@ gantzen %.Menschlichen Geschlecht gleichsam satisfaction geschieht, so ist dies
Lachen doch boßhaft. Will einer eine pathetische Rede halten, der er hätte kön-
nen überhoben seyn, %.und bleibt alsdenn stecken, so ist das Lachen darüber er-
laubt, denn warum übernimmt er es, eine Rede zu halten, da er doch %nicht kann.
Predigt hingegen ein junger Candidat zum erstenmale, %.und bleibt stecken, so wird

/δSeite 80

/uns dabey %.zugleich mit kalt, weil der Candidat leidet, %.und wir uns leicht vorstellen
können, was in seinem Hertzen vorgeht. Oft geschiehts, daß jemand aus distra-
ction Ungereimtheiten begeht, worüber er selbst lacht, wenn er sich besinnt.
So schrieb einer an einen Pächter %.und an einen Grafen, verwechselte %aber die
Couverte, %.und nannte den Grafen, mein lieber guter Johann! %.und den Pächter
Hochwohlgeborner %.HErr Graf! in diesem Falle lacht man mit! Wenn jemand viel
Umstände %.und Ceremonien macht, %.und es zeigt sich das gegentheil, so daß man %.seine
%.armseeligkeit %.und das eitle sieht, so lacht man %.hertzlich darüber, %.und dies demüthigt ihn.
So auch, wenn ein Railleur wieder raillirt wird, denn dadurch, daß er wieder ver-
spottet wird, geschieht gleichsam allen gnüge. Das Lachen überhaupt ist eine Art
von Banden_Losigkeit, %.und diese ist erlaubt, wenn ihr nur kein moralisches Ge-
setz entgegen steht. Wenn wir auf die Materie des Lachens sehen, so ent-
springt es jederzeit aus einem sich %.plötzlich zeigenden Gegentheil. Ein gasconier
sahe einmal eine Ehren Pforte, worauf der König gemahlt war, dem der
genius einen Lorbeer_Krantz über den Kopf hielt %.und sagte: es ist ja %nicht zu
sehen, ob der genius dem Könige den Lorbeer_Krantz abnimmt, oder aufsetzt.
Man lacht bißweilen auch %über eine Kleidung, die %nicht %.armseeligkeit %sondern Eitel-
keit verräth. Sonderbar ist der Putz der hottentotten Weiber: Eine braut
denckt ihrem Bräutigam recht liebenswürdig vorzukommen, wenn sie sich
mit Schaaf-Fett beschmieret %.und 6. schwarze Streifen auf ihr Gesicht mah-
let. Sie denckt alsdenn alle Liebes_Pfeile auf ihrem Gesichte zu tragen,
welche das Hertz ihres Liebhabers verwunden. Man hat gesehen, daß beym
Lachen ein Wiederspruch seyn muß, der eine Ungereimtheit ist, %.und wenn sie
%.plötzlich kommt, ein Lachen verursacht. Dieses Lachen läßt bey uns ein anden-
cken zurück, denn wenn wir auch die prächtigsten Speisen, die wir in einer
Gesellschaft gehabt, längst vergeßen haben, so erinnern wir uns doch noch
dieser %.oder jener Erzehlung, die dabey vorkamm, %.und worüber wir so sehr gelacht, %.und
wir sind unzufrieden, wenn der andre, dem wir den Spaß erzehlen, %nicht mit-
lachen will. Dies zeigt %.aber eine Schwäche seiner selbst an, wenn man eine solche
Sache %nicht vergeßen kann, %sondern für sich darüber nachlacht. Boßhaft ist das Lachen
über die Thorheiten anderer, denn es zeigt wenig %Verstand an, %.und man
hat wenig Ursache sich zu freuen, daß man %nicht so dumm ist, wie andre, %.und

/δSeite 81

/man müßte auf der Straße beständig lachen. Man kann auch %nicht einsehen, daß
eine Ungereimtheit eine Ergötzlichkeit seyn %.oder machen könne. Es ist %nicht im-
mer so leicht, die Ursache des Lachens durch einen Wiederspruch einzu-
sehen. Heinrich_II. sah in Louvre einen Land_Edelmann mit einer trotzigen
Miene auf %.und nieder gehen, es schien, daß er selten aus seinem Dorfe müße
gekommen seyn, wo er der Vornehmste war. Der König der schlecht angezogen
war, fragte ihn, wem dienen sie? Er antwortete, niemandem, denn ich bin ein
eigner Herr, Hierauf sagte der König; so bedaure ich Euch, daß ihr einen
solchen Flegel zum Herrn habt. Hier steckt der Wiederspruch darinn, daß
der König beym Bedauern etwas gutes im Sinne zu haben scheint, %.und just das
Gegentheil meint. Ein Indianer war bey einem vornehmen %.englischen Herrn
in der Factorey auf der Insel Surette, zu gaste. Bey Oefnung einer Bou-
teille Champagner_Wein sagte er, daß der Wein heraus spritzte, %.und wunderte
sich darüber. Der Engländer fragte, worüber er erstaune, da dies doch %nichts
besonders wäre; der Indianer ärgerte sich, daß er sich so bloß gegeben, %.und
sagte, ich wundere mich %nicht daß es in die Decke spritzt, %sondern wie ihr dies habt
in eine Bouteille bringen können. Je mehr das Gemüth ernsthaft zu seyn
scheint, %.und gleich einem Balle zurück geschlagen wird, um desto mehr schwankt
es. Die wahre Frölichkeit des Lachens ist melancholisch. Hierdurch können
viele andere Sachen erklärt werden. Warum gehen wir z.E. gerne in die
Tragoedie um zu weinen? Das melancholische Lachen wird bey %.demjenigen
%Menschen sehr leicht erregt, die %.kützlich sind; dies ist ein %.unwillkührliches La-
chen, es ist ihnen wiedrig, %.und sie werden ungeduldig. Da Kützeln ist
ein mechanischer %.und der wahre Grund der Frölichkeit beym Lachen.
Daher kann man sich im Lachen gegen den, den man kützelt, %nicht %.feindlich
betragen, das Kützeln ist eine Reitzung der Nerven und Fasern, deren
Zukungen %.und Erschütterungen sich bis zum Zwergfell propagiren,
welches den gantzen Leib umgiebt. Daher zieht ein %Mensch, wenn er weiß, daß
er gezwickt werden wird, schon im Voraus alle Fasern zusammen, so daß sie

/δSeite 82

/gespannt werden. Berührt man diese gespannte Fasern, so erfolgt ein ge-
spanntes Schrecken: das Schwancken des Zwergfels bringt eine Bewegung in
der Lunge herfür, %.und die Lunge, die als denn die Luft geschwinder als sonst
einzieht %.und ausstößet, bringt alle Blutgefäße in Bewegung, %.und diese große
innere Bewegung ist das Lachen. Der Gedancke also, der Beym Lachen ist,
macht %nicht %.frölich, %sondern die innere Bewegung durchs Lachen. Es ist dies eine Be-
ßere Bewegung als holtz saegen %.und %.so weiter, den die Transpiration
wird nach dem Lachen vergrößert, %.und der %Mensch findet sich gantz renovirt.
hingegen ist das unmäßige Lachen %.schädlich %.und erschlaft die Nerven %.und Fa-
sern. Daher sitzen einige, die starck gelacht haben, gantz träumerisch da,
so daß von ihnen gesagt wird: sie sind wie auf die Nase geschlagen. Wenn
die Medici wüßten, daß eine innre Bewegung beßer sey, als eine äu-
ßere, so würden sie «ihm» mit einem Patienten sorgfältiger umgehen,
%.und bey ihm einer motion %.zugleich einen gesellschafter mitgeben, der
Ihn lachen macht. Unsere Seele denckt nie allein, %sondern in elaboratorio
des Körpers, zwischen welchen beyden immer eine Harmonie ist. alle
%.Handlungen des Gemüths haben eine Harmonische Bewegung im Körper,
%.und so wie die Seele denckt, bewegt sie den Körper mit. Die gedanken
Bewegen die Fasern, %.oder die Bewegungen des Gehirns gehen weiter fort,
%.und verursachen die %.Handlungen. Daher macht der %.plötzliche absprung der Ge-
dancken eine zitternde Bewegung im Zwergfell«e», %.und trappirt uns.
als Heinrich_III. die Magistrats_Personen einer kleinen Stadt ent-
gegen kamen, %.und Eßen mit hatten, so hielt einer eine Rede von ihnen,
während welcher ein Esel %.gräßlich zu schreien anfing, worauf der
König sagte: Ihr %.HErren Magistrats_Personen redet doch nicht alle durch-
einander, damit ich die Rede des einen verstehe. Die Heilkraft des
Lachens macht vergnügt, %nicht die Ungereimtheit. Daher muß

/δSeite 83

/derjenige, der andere zum Lachen bewegen will, es sich %.anfänglich %nicht mer-
cken laßen, sondern den Contrast bis zuletzt %.oder bis in die letzte Zeile verspa-
ren, denn das gemüth muß treuhertzig den Weg geführt werden. Und wenn man
eine solche Sache %nicht so ernsthaft erzehlen wollte, so würde zwar die Ungereimt-
heit bleiben, %.aber das Lachen wegfallen. Alles also, was das Lachen verur-
sacht, gefällt dem gemüth nicht unmittelbar, %sondern weil der Absprung der Ge-
dancken die Nerven erschüttert, die Erschütterung %.aber bis diaphragmo, vom
diesem bis zur Lunge gelangt, %.und also die innere Bewegung verursacht. In
der Gesellschaft mag jeder gern erzehlen, %.und wartet Begierig, bis der
andre aufhört, blos, weil ihm dies eine größere Motion verursacht, als
wenn ihn «¿¿»ein anderer erschüttert. Er lacht über die Erzehlung eines
andern, blos weil ihn diese auf eine weit %.lächerliche bringt, die er gleich
darauf erzehlen kann, %.und er behält eine solche historie, damit er andre
wieder zum Lachen machen kann; Eben so ists auch mit den tragischen Be-
¿¿»egungen Beschaffen, da uns bald Zorn bald hofnung, bald großmuth
rührt. Unsere gliedmaaßen sind von der Art, daß einige die ausdeh-
nung, andre die Zusammenziehung der gefäße des Blutes Bedürfen.
Daher geht man der Transpiration wegen in die Comedie: geht
man %aber in die Tragaedie, %.und vergißt Thränen %.oder empfindet doch we-
nigstens alles das, was Thränen erregen kan; so ist es so gut, als
Ließe man sich schröpfen. Es ist gewiß, daß das Weinen erleichtert,
wenn man sich auch schämt in Tragoedien zu weinen, denn es sind doch
alle Bewegungen da gewesen; nur muß es nicht unsere eigne an-
gelegenheiten Betreffen, denn diese liegen uns zu Lange im Kopfe.
Auch ists gut, wenn der %Mensch bisweilen in affect gesetzt wird. Nur muß
sich ihm niemand wiedersetzen, wenn er z.E. in Zorn geräth, damit er
auspoltern kan; ein solcher %.Mensch kommt hernach recht munter in die
Gesellschaft. Viele ärtzte haben dies mit ihren Patienten versucht,

/δSeite 84

/und es war ihrer Gesundheit sehr %.zuträglich.

/Wir übergehen hier das %.Capitel vom Geschmack, weil wir zuerst von allen %.Erkenntniß
Kräften, hernach %.aber vom Gefühl der Lust %.und Unlust, wohin auch die Lehre vom Ge-
schmack gehört, weitläuftig reden wollen.

/ ≥ Von den obern Erkenntniß Kräften der %.menschlichen Seele. ≤

/Nicht durch den Geschmack erkennen wir die dinge, %sondern wir ertheilen ihnen nur
den Werth darnach, wohl %aber durch den %Verstand. Der %Verstand ist das Vermögen
zu urtheilen; Vernunft %aber das Vermögen zu schlüßen. Der %Verstand urtheilt a
posteriori, die Vernunft schlüßt a priori. %Verstand haben, heißt etwas verstehen.
Es gehört %aber viel dazu, eine Sache zu %verstehen. Die definitiones dienen zum %Verste-
hen einer Sache. Die %Menschen äußern bey allen Kräften des gemüths keine
so große Eyfersucht, als wenn es auf den Punct des %Verstandes kommt. Sie geste-
hen ihre blöde Augen, Witz, schwach gedächtnis etc. nur in Ansehung %eines gesun-
den Verstandes, %.und eines guten Hertzens, wollen sie keinem nachstehen. Dies kommt
daher, weil der %Verstand alle übrige %Vermögen brauchbar machen kan. Denn ohne
%Verstand helfen uns unsere Seelen Kräfte %nichts. Er diripirt alle andre
Seelen Kräfte, %.und macht alle übrige Talente; die größte Schärfe der
Sinnen, die Stärcke des Witzes, gut gedächtnis würden den %Menschen ohne %Verstand
noch mehr herabsetzen, als wenn sie alle schlecht wären. Die üble disponirte
Proportion der Erkenntniß Kräfte mit dem %Verstande macht die größte heß-
lichckeit der Seele aus. Gleichwie %aber ein %Mensch deßwegen noch nicht %.außeror-
dentlich schön ist, wenn alles bey ihm in gehöriger Proportion ist, so ist auch ein
kleiner Verstand %nicht zu verwerfen, wenn nur alles darnach proportio-
nirt ist. Es ist dies gleichsam ein %Mensch nach dem verjüngten Maas-Stabe, denn
nur die disharmonie %.und disportion macht die %.Heßlichkeit aus. Wie z.E. Witz,
gut gedächtnis, ohne %Verstand. Die Seele ist ohne den %Verstand gleichsam krüppelhaft.
Einen %.Menschen der viele Dinge im gedächtniße hat, %aber wenige im %Verstande, laufen
oft viele Sachen %durch den Kopf, die ihn, da er sie oft unrecht anbringt, lächerlich
machen. Viele Leute studiren, um recht große Narren zu werden. Denn
da sie vieles gehört, %.und %nicht recht verstehen, so wollen sie von allem urthei-
len, welches alsdenn dumm herauskommt. Solche Leute «¿¿»aber sind in Gesell- 

/~δRand_084_Z_14

/Vorzüge
des
%Verstandes. ~

/δSeite 85

/schaft unerträglich, Schreyhälse. Als jemand in einer gesellschaft war, wo
sich ein solcher Schreyhals befand, der von allem redete %.und %nichts %verstand, so lenckte er
das Gespräch so herum, daß er erzählte, wie Xerxes einen bestellt hätte, der
bey der Tafel immer ausrufen mußte, Gedencke König, daß du ein %Mensch bist.
Dies applicirte er auf den Schreyhals %.und sagte ihm, er solle auch jemanden be-
stellen, der ihm zurufte, bedencke, daß du ein Narr bist. So wie der himmel oft
einen Verschwender mit Millionen heimsucht, so trift e«r»s sich auch, daß mancher,
der keinen %Verstand hat, andere Freyheiten in großem Maaße bekommt. - 

/Wir können uns einen %Verstand dencken, der durch die Erfahrung geworden,
%.und der gnugsame Urtheilskraft in ansehung der Erfahrung hat. Ein %.Mensch der
ihn hat, attendirt auf alles, was in die Sinne fällt, %.und wird also durch Erfahrung
klug. Viele %aber werden auch wieder %nicht durch die Erfahrung klug, weil sie we-
nig acht darauf haben. Nur selten findet es sich, daß %.wircklich scharfsinnige Leute
diese«m»n empirischen %Verstand besitzen. Denn es ist das %Vermögen etwas in abstra-
cto zu erkennen, gantz unterschieden von dem, was in concreto zu beurtheilen
ist. Warum nennt man einen medicus einen großen Theoreticus aber
schlechten schlechten Practicus. Deshalb, weil mancher einen empirischen
guten Kopf hat, der gute Regeln auf einen gewißen Fall geben kan, %aber
dabey keinen speculativischen %Verstand besitzt %.und %.seine Regeln %nicht allgemein ma-
chen kan. Viele haben bloß einen practischen Kopf. So finden sich z.E. Leute,
die ein vortreflichs augen_Maas haben in Ansehung der Kunstwercke. Es
giebt Leute, die in <der> Kunst, aus zerbrochenem Porzellan schöne Stücke zu ma-
chen, z.E. Tische ausgelegte Rabatten auszuzieren, so fertig sind, daß sie gleich
wißen, was für eine Farbe von Porzellan sie ergreifen sollen, um den
Tisch %.zierlich auszulegen. Und so ist es auch mit den Sinnen. Einem guten Pferde
darf man nur, wenn es an einen graben kommt, den Zügel schießen laßen,
%.und es hat schon das augenmerck, ob es herfür kommen wird, oder %nicht. Was
dazu erfordert wird in ansehung des augenmaaßes den practischen Ver-
stand zu cultiviren, wäre für einen denckenden Kopf noch immer et-
was untersuchenswürdiges. Der theoretische %Verstand ist der, der alle auf
allgemeine Sätze anwendet, von solchen %aber heißts: lateinische Wirthe taugen

/δSeite 86

/nichts. Es gibt im Grunde einen doppelten %Verstand, einen kan man Talent;
den andern %Verdienst nennen. %.Diejenigen %Menschen, welche die vorgelegten Dinge verste-
hen, %.und gut beurtheilen können, haben Talente. Nun aber gehört auch %.ein %Verstand dazu,
der da überlegt, «¿»was für gebrauch man von diesen Talenten machen könne, und
dies ist der dirigirende %Verstand oder %Verdienst, vermöge deßen man von dem gan-
tzen alles %.möglichen auf die Theile geht, dahingegen das Talent, %.oder der subordi-
nirte %Verstand von den Theilen zum gantzen hinauf steigt. Der dirigirende Ver-
stand geht vom allgemeinen zu besondern Theilen fort, beurtheilt die Sachen, %.und
macht sie stimmig mit %.seinem eigenen Plan. %.Obgleich viele Wirthschaftsverständige
Bauren auf einem Guthe sind, so wird ihnen dennoch ein Arendator gesetzt, denn
die Bauren haben einen subordinirten %Verstand, sie arbeiten alle, jedoch fehlt es
ihnen am dirigirenden Verstande, der die Wirthschaft im gantzen übersieht, %.und die
arbeiten so vertheilt, daß ein jeder Tag mit demjenigen, was im gantzen Jahre ver-
richtet werden soll, einen Zusammenhang hat. D«er»en subordinirten %Verstand kann man auch
den administrirenden nennen. Viele %.Menschen besitzen einen guten administrirenden
%Verstand, so daß sie zu allem geschickt sind, nur die dirigirende Kraft fehlt ihnen,
%.und sie wißen diese %.Geschicklichkeiten %nicht zu einem allgemeinen Zweck anzuwen-
den. Einige halten die Koenigin Christina in Schweden für eine kluge, andere
für eine einfältige Dame, %.und beyde haben Recht. Sie hatte große Talente %.und ei-
nen guten administrirenden %Verstand. Sie Besaß %.eine große %.geschicklichkeit ihre
Sachen auszuführen, mehr als viele Männer. Auf der andern Seite hingegen war
wieder keine Printzeßin so dumm, als Sie. Sie war %nicht im Stande, eine gute
Wahl ihrer Zwecke %.und projecte zu treffen, %.und es fehlte ihr also der dirigirende
%Verstand. Sie hatte alle Ehre, die ihr nur %.möglich war, %.und doch schienen ihre Untertha-
nen so ungesittet zu seyn, daß sie ihre Talente %nicht gewahr werden konnten.
Sie reißte herum, chargirte die Religion, wurde andern Höfen lästig, %.und
bey ihrem %Verstande %.unglücklich. Was sie redete, waren alles sehr kluge Sachen,
was sie %aber that war alles unkluges Zeug. Der dirigirende %Verstand muß
alles zusammen nehmen, %.und fragen, wozu soll das dienen? %.und was wird
nun mein Zweck seyn? Viele bearbeiten Sachen, andere %aber führen sie aus.
So ist es beym bau einer Stadt, eines Hauses etc. Einer macht den Riß da-
von, der andere bauet es auf. So geht es auch den Comoedien Schreibern.
Sie wißen, wenn sie einer Person eine Rolle geben, ihr diese %.vor-
treflich spielen zu laßen, sich gut auszudrücken etc. ließt man %aber die «k»Comoedie

/δSeite 87

/zu Ende, so läuft der Leser in gedancken das gantze Stück durch, %.und sieht auf die
Verbindung, %.und kann alsdenn oft %nicht einsehn, warum der dichter diese oder jene
Person herein gebracht. Galdoni ist @ein %.comischlich@ %.vortreflicher z.E. der diener 2er
herrn. Wenn ich aber ans Ende komme, so laufe ich das Stück durch, frage nach
dem rechten Zweck, %.und finde ihn %nicht. So weiß man beym Lessing, so viel Witz
er auch immer zeigt, z.E. im Freygeist, wo Theophan viel gutes sagt, doch
nicht, warum er ihm diese Rolle gegeben. Solche comoedien Schreiber haben
einen administrirenden %aber keinen dirigirenden %Verstand. Wenn man also
von diesen einen für verstandig preisen, von andern %aber tadeln hört,
so darf man nur auf den doppelten %Verstand recurriren. Der %Verstand,
in so ferne er Talent ist, zeigt sich frühzeitig %.und junge Leute können ihn
im größten grade haben, %aber von dem %.verdienstlichen %Verstande, den allgemeinen
%.und %Verhälltnisweisen Werth der Dinge zu schätzen %.und zu betrachten, heißt
im Sprüchwort mit Recht: %Verstand komt %nicht vor <den> Jahren. Er verspätet %sich
zuweilen bis ins 40ste Jahr. In diesen Jahren geht alsdenn gleichsam
eine palingenesie im Verstande für. Man verliehrt alsdenn oft die %.anfänglichkeit
an dies oder jenes Ding, das uns vorher viel werth war. Beweise, die vor-
hin %.unwiedersprechlich schienen sind hernach bey reiferm %Verstande keine Wich-
tigckeit. Der Verstand heißt der richtige, der gesunde, der durchdringende,
der ausgebreitete %.und tiefe %Verstand. Der richtige %Verstand ist, der %nicht
durch den Witz der gauckler der Seele verdorben %.und irre gemacht wird %.und be-
steht darin, daß man %nichts zuläßt, was %nicht mit abgemeßener Wahrheit ge-
nau paßt. Vor allen Nationen haben die Engländer einen richtigen %Verstand.
Er ist %aber %nicht immer mit Lebhaftigkeit verbunden, %sondern oft sehr langsam %aber um
desto zuverläßiger. Man bemerckt, daß das Frauenzimmer wohl einen subor-
dinirten %Verstand oder Talente habe aber %.keinen dirigirenden. Daher sind sie geschickt,
die Mittel, die Ihnen an die Hand gegeben werden, auszuführen, %aber sie
können sich nie einen rechten Begrif vorsetzen, %.oder selbst gute Zwecke wäh-
len, sondern es Läuft alles auf Tändeleyen hinaus. Überhaupt ist es mehr für den
%.Männlichen als %.weiblichen %Verstand, den Werth der Dinge zu schätzen. Eben so ists auch
mit den Wißenschaften. Es ist dabey, wie auf einem Schiffe, wo alle %.Menschen

/δSeite 88

/ihre Arbeit wißen, aber einer muß sie dir«e»igiren. Einige %Menschen haben einen tech-
nischen Kopf, die in besondern Stücken, in eintzelnen Sachen sich %.vortreflich zei-
gen, %.und subtil sind, aber aufs gantze keinen Blick werffen können. Sie sind wie
Leute, die weit gereißt sind, %.und die Land Charte %nicht kennen. Sie wißen von je-
dem Orte etwas zu erzehlen, %aber sie haben %.keinen Begrif vom gantzen Lande,
%.und %.seiner Verbindung. So mahlen manche Mahler gute Füße p p aber %nicht proportio-
nirte gantze Statuen. Einige haben einen architectonischen Kopf. Diese ent-
werfen Riße, %.und übersehen das Gantze, welches sie alsdenn den technischen Kö-
pfen zur aus arbeitung überlaßen. So haben Maurer %.und ZimmerLeute tech-
nische Köpfe. Sie können ein haus recht gut bauen, wenn ihnen der Riß vor-
geleget wird, den %aber ein architectonischer Kopf muß aus gearbeitet ha-
Ben, der vielleicht keinen technischen hat. So können auch einige Philosophen
einige philosophische Sätze recht gut vortragen, allein sie haben nie das erha-
Bene der Philosophie geschmeckt. So gehts auch der Jugend, die man viel
gelehret, der man %aber nie den Geist aus vielen Wißenschaften heraus gezo-
gen hat. Manche Wißenschaften sind so beschaffen, daß man vom gantzen
auf die Theile gehen muß, z.E. Geographie %.und Astronomie. Dieser Praesidi-
rende %Verstand ist nun die oberste Kraft der Seele. %Menschen, die voll von Leiden-
schaften sind, vergleichen nie, das, was sie thun, mit dem gantzen aller ih-
rer Zwecke, %sondern nur mit einer ihrer Neigungen, %.und %vergeßen sie mit der Summe
aller übrigen zu %vergleichen, daher sie auch Sklaven ihrer Leidenschaften genannt
werden. Es ist aber %.schändlich wenn der große herr, der den %Verstand gleichsam de-
gradirt, hinter dem @Poebre@ der Leidenschaften gehen muß. Pyrrhus, Kö-
nig in Macedonien %.und Nachfolger des großen Alexanders hatte den Kopf
voller großen Thaten. Einst sagte er zu seinem HauptMann «¿¿»Cyrus, nun
will ich nach Indien, %.und die Raemer überwinden. Dieser fragte ihn, und
hernach? Der König antwortete, dann will ich nach Sicilien gehen, und
die Einwohner daselbst vertilgen. Dieser frug weiter, %.und her- 

/δSeite 89

/nach? denn will ich nach Kleinasien gehen, %.und die kleinen Völcker demüthigen, %.und denn
nach Syrien. Cyrus fragte ihn weiter: %.und hernach? denn antwortete Pyrrhus wol-
len wir in Ruhe ein glas Wein trincken. Ey sagte Cyrus, so wollen wir jetzt
lieber anfangen Wein zu trincken, denn wer weiß, was dort für Ungemäch-
lichkeiten auf uns warten. Hieraus sieht man %.deutlich daß die %Menschen, die in
Leidenschaften sind, niemals aufs gantze zusammen genommen sehen; Es giebt un-
gemein kluge Frauenzimmer, denen fast allen %aber der dirigirende %Verstand feh-
let. Sie können %nicht einsehen, warum sie %nicht die Herrschaft erhalten. Und
doch sagen sie, wenn sie den Mann in Unglück gebracht, %.und man es ihnen vorwirft,
der Mann hätte sollen klüger seyn. Es ist auch %nicht zu leugnen, daß es fälle giebt,
wo dem Manne der dirigirende %Verstand fehlt, %.und die frau ihn besitzt. Mit sol-
chen frauen mag ich %nicht gerne viel zu thun haben. allein man muß eine jede
Regel, wenn auch einige folgen davon abgehen, so viel %.möglich ist, allgemein
laßen. Nach meiner Meinung ist den Männern durchgehends die Herr-
schaft anvertrauet. Die Ursache ist diese, weil die Natur doch etwas
in den Mann gelegt, was man bey der Frau %vergebens suchen wird.
Der erfinderische Verstand der frauenzimmer, der die Entwürfe des Mannes exe-
qviren soll, ist vom dirigirenden %Verstande des Mannes so sehr unterschieden,
daß der Mann gegen die frau wie ein Klotz aussehen kann. Und dies ist bisweilen
die Ursache, daß sie sich wundern, warum der Mann sich der H«f»errschaft anmaßt.
Denn weil sie %nicht wißen, daß ihnen «¿»dieser %Verstand fehlt, so glauben sie alle herrschen zu
können. Sonderbar ist es doch, daß die Berühmtesten klugen Weiber, die die besten
Bücher geschrieben, die dümmsten Dinge angegeben haben. Dieser technische Frauen-
zimmer Verstand ist den Leidenschaften zinnsbar. Er wird durch sie verdunckelt, %.und muß
ihnen wie ein Sclave nachgehn. Der große Dichter Milton hatte Cronvells Parthey
gehalten, da nun die Parthey des Königes gewaltiger wurde, so traten viele von
Cronvells Parthey ab, %.und zu des Königes Parthey. Milton %aber that es %nicht. Nun %aber
wollte man doch gerne einen so großen Mann erhalten, %.und bot ihm also die Stelle

/δSeite 90

/eines %.Cabinett Secretairs an, wenn er zur Parthey des Königes treten wollte, wobey
er viel 1000 %Pfund Sterlinge bekommen sollte. Milton %aber, der von Würde einer
republicanischen Regierungs_Form allzu überzeugt war, blieb %.unbeweglich. Sei-
ne Frau, die er %.zärtlich liebte, suchte ihn dazu zu bereden, %.und gebrauchte alle
%.möglichen Vorstellungen dazu; Milton aber sagte: ach meine wertheste Frau, Sie
haben gantz recht, Sie %.und alle Ihres geschlechts wollen in Kutschen fahren,
ich aber will ein %.ehrlicher Mann bleiben. - 

/Der %Verstand ist vom Witze gantz unterschieden. Der %Verstand ist beständig, dauerhaft,
der Witz %aber flatterhaft. Wer Witz ohne %Verstand besitzt, ist ein Witzling; der
%Verstand ist thätig %.und gesetzt, daher nimt man in der Fabel den Fuchs für witzig
an, %.und läßt einen standhaften gravitaetischen Ochsen verständig reden. Der
Witz spielt %.und vergleicht nur die Dinge unter einander. Der Verstand %aber sieht
die Dinge ein, wie sie sind, %.und unterscheidet sie. Der Witz %aber muß dem %Verstande
Materialien darbieten. Ein %Verstand ist aufgelegt zu Einfällen, ein ande-
rer zu Einsichten. Ersteren besitzen die Frantzosen. Denn alle Wißenschaften,
Politic, Moral, Metaphysic nur die Mathematic ausgenommen, Bestehn bey
ihnen in Einfällen. Ein Einfall ist eine %Erkenntniß, die ohne einen überdachten
Zusammenhang derselben mit andern Erkenntnißen entspringt. Er gefält
am besten, wenn er überraschend %.und unerwartet, selbst dem, der ihn vor-
trägt, in den Mund kommt. Hingegen ist ein gantzes Buch voller Einfälle
%.unerträglich %.und sie gefallen nur, wenn sie bisweilen vorkommen. Die Deut-
schen sind zu Einfällen nicht aufgelegt; denn ihr Naturell ist langsam, %.und
sie sind bestimmt, verständig zu schreiben. Auch im Witze bringen sie es %nicht
hoch, denn es fehlt ihnen gantz die Lebhaftigckeit der Frantzosen. Die Engländer
haben auch zuweilen Einfälle, die man %aber mit recht witzige Grimaßen
nennen kann, weil sie gar zu sehr überlegt zu seyn scheinen, %.und so ausge- 

/δSeite 91

/sonnen, daß sie der Munterkeit der Frantzosen gar %nicht gleich kommen. Die Frantzösi-
sche Nation ist die Mutter des Geschmacks. Es kommt ihr keine, außer den
alten griechen gleich. Man kann ihr gewißermaßen die Italiaener an die
Seite setzen; die %aber haben nur einen Geschmack der Sinne. Z.E. in der bau-Kunst,
Bildhauerkunst, Musik, Mahlerey etc. Die Franzosen %aber haben gleichsam einen
Ideal-Geschmack in Schriften, gedichten %.und gesellschaften. Der %Verstand
wird ferner eingetheilt in den seichten, %.und gründlichen. Der seichte %Verstand
erckennt gleichsam nur die Oberfläche der Dinge; der gründliche %aber dringt
ins innere der Dinge hinein. Mancher Kopf ist von Natur seichte (superficiell)
ein anderer «¿¿¿»tiefsinnig %.und %.gründlich. Die Rede Kunst macht seichte Köpfe, die
Mathematic aber könnte %.gründliche Köpfe bilden, wenn sie sich %nicht bloß mit einem
Gegenstande, %.nemlich der Größe, beschäftigte. In der Erziehung hüte man
sich mit der Redekunst anzufangen, beßer noch mit der Mathematic. Noch
beßer %aber ist es, wenn man jungen Leuten gleich zu anfange, %moralische Sätze
vorlegt, %.und sie ihnen %.hinlänglich beweiset. Denn man lehrt sie dadurch %nichts ohne
Grund anzunehmen. Die Engländer sind %.diejenigen die am %.gründlichsten dencken,
d.h. ihre Sachen sind der Idee Adaeqvat, die man von der Sache hat. Und wenn
gleich die Arbeit der Frantzosen mehr Geschmack verräth, so fehlt ihr doch die prae-
cision %.und abgemeßenheit der %.Englischen arbeit. Der %.gründliche Verstand unter-
scheidet sich %.vorzüglich dadurch vom seichten, daß er die Sachen complet bis auf
die ersten gründe untersuchet. Ein Tischler, der alles so macht, daß es genau
zusammen paßt, hat einen %.gründlichen %Verstand. Denn so bald eine Sache adaeqvat der
Idee ist, die der Sache zum Grunde liegt, so ist sie %.gründlich.

/Es giebt ferner einen anhaltenden %.und flüchtigen oder tumultuarischen %Verstand.
Letzterer ist der, der vom Witz dahin gerißen wird. Der Verstand ist folgender maßen
von der %Vernunft unterschieden: der %Verstand urtheilt über alles, was ihm durch die
Erfahrung vorgelegt wird, %.und darf also nur das verstehen was ihm gegeben ist.
Die %Vernunft %aber urtheilt a priori, d.h. über Dinge, die durch %.keine Erfahrung ge-
geben sind; %.und dies heißt man schlüßen. Und nur durch Schlüße kann man
etwas fürs Künftige heraus bringen. Man fodert daher, von dem %.oder

/δSeite 92

/jenem %Menschen, daß er nur %Vernunft haben solle, um voraus zu sehen, daß dies oder
jenes geschehen %.oder %nicht geschehen wird. Wenn man z.E. einem Juden, deßen aufent-
halt man %nicht weiß, Geld borgt, so ist leicht zu vermuthen, daß er es %nicht wiedergeben
werde. Wenn man %Vernunft hat, so wird man es leicht voraus sehen. Vorstellun-
gen also, die zum Erkenntniß der Erfahrung gehören, betreffen den %Verstand. Vor-
stellungen %aber, die zur praevision %.dienlich sind, bringt die %Vernunft zuwege. Wenn z.E.
Ein general beordert wird, seinen Platz zu behaupten, %.und den Feind davon ab-
zuhalten, so braucht er nur Verstand, damit er diese Order recht verstehe. Wenn
er aber beordert wird seinen Feinden abbruch zu thun, so muß er %Vernunft haben.
Denn hier muß er selbst schlüßen, wie dies am füglichsten angehen kann. Und
so braucht ein Bedienter nur %Verstand, ein Mandatarius, Hofmeister pp aber
muß Vernunft haben. herren, die despotisch regieren wollen, haben gern
Bediente, die %nichts als %Verstand besitzen. Man sollte %nicht eher Begriffe brauchen,
als bis man sie versteht. Indeß brauchen doch viele Leute Worte, die sie
in ihrem Leben %nicht verstehen; ja selbst Philosophen thun es. Und daher
entsteht dann ein vieljähriger Streit, bis man %.endlich darauf verfällt, %.und fragt,
was versteht man dadurch? So ist z.E. %.gewöhnlich, daß man einem Krancken süchti-
ge Speisen verbietet, der Artzt recensirt auch wohl einen gantzen catalogum
von %.dergleichen Speisen, ohne selbst zu wißen, was süchtig ist; als Schweinfleisch,
weiße Erbsen etc. %.und kommt dabey oft selbst in Verlegenheit. So ists auch %mit
dem Worte Gift. Bald nennt man das Gift, was schädlich ist, bald das, was
in der medicicin gebraucht wird, %.und verwirrt doch %.endlich den Begrif so sehr,
daß man %nicht weiß, was Gift ist. Wenn man %aber den Begrif <von> Gift dadurch er-
klären wollte, daß man sagt; gift ist %.dasjenige was %.keinen bestandtheil des %.menschlichen Kör-
pers ausmachen kann, %.und also %durch die innere mechanic fortgetrieben würde, so
wäre dies der wahre Begrif vom gifte, %.und so könnte man viel medicin zum
Gifte machen z. E. qvecksilber; denn es kann %nicht ein Theil des Körpers bleiben.
China %aber %.und Eisen gibt %.wirklich dem %.menschlichen Körper Nahrung %.und ist also %kein Gift.
Gift hieß in den alten Zeiten so viel als Dosis, %.und zeigte %nichts schlimmes an, da-
her auch zugift so viel heißt als zugabe. Und venenum kommt her von venum da-
re, welches %aber durch verkaufen übersetzt wird. Wenn man so die gantze Spra-
che durchgehen wollte, so würde man erstaunen %über die Menge Wörter,

/δSeite 93

/die die %Menschen gebrauchen, %.und doch %nicht verstehen, so daß mancher sich selbst %nicht ver-
steht. Man suche erst ein Wort, eine Sache zu verstehen, %.und denn raisonire man
%über die Sache. Die %Menschen Bedürfen der %Vernunft %nicht so sehr als des %Verstandes; will man
also den Kindern den %Verstand excoliren, so muß man es dahin zu bringen suchen, daß
sie die Worte, mit denen sie einen zweydeutigen Begrif verknüpfen, recht ver-
stehen lernen, %.und sie werden hiedurch gewöhnt werden, %nichts so leicht anzuneh-
men, was sie %nicht verstehen. Die definitiones %.aber dürfen %nicht die qvellen %.und gründe
der begriffe, %sondern nur blos das Verstehen entdecken %.und öfnen. Der %Verstand aber
wird analytisch, wenn man %.seine eigne begriffe zergliedert; alle %.menschlichen Begriffe
sind solche %Verstandes_begriffe. Sie entspringen aus dem %Verstande %.und %nicht aus den Sin-
nen.

/ ≥ Vom gesunden Verstande. ≤

/Es giebt einen scharfsinnigen, lebhaften %.und ausgebreiteten %Verstand, allein
der gesunde hat doch den größten Beyfall, ob er %.gleich seine Schrancken hat. Durch
ihn erkennen wir Recht %.und Unrecht, %nicht %aber aus den Sinnen, denn sonst würden wir
an allen Orten Gegenstände davon entdecken. Wir stutzen bey der Frage,
was ist Recht. Und es ist wunderbar, daß man nach 1000. Jahren sich besinnt zu
fragen, was man im anfange vergeßen, %.und so oft darüber gestritten hat.
Der %.Mensch bittet um das wenigste, wenn er um Gesundheit seines %Verstandes bittet, %.und
alle Wünsche, die drüber gehen, scheinen unverschämte Bitten zu seyn, denn der
gesunde %Verstand ist gleichsam das %.tägliche brodt, um das wir bitten sollen. Er
ist so nothwendig, wie die gesundheit des Körpers. So wie %aber eine gekün-
stelte %.und nur durch artzney unterhaltene gesundheit %.keine %.gesundheit des Körpers ist,
so muß auch der gesunde %Verstand ungekünstelt seyn; denn er ist %nicht %.eine Sache der Kunst,
%sondern er liegt im Naturell zum Grunde. Er gehört also nur dazu, %.und es wird von
ihm erfodert, daß er richtig sey. So wie %aber zur %.körperlichen gesundheit nicht lachen
%.und springen, sondern nur die congruentz mit den %.wesentlichen handlungen erfor-
dert wird, so braucht auch beym gesunden Verstande eben %.keine gründlichkeit, Schärfe
Lebhaftigckeit pp zu seyn. Diogenes sagte von Plato, der ihm 2mal soviel gab,
als er von ihm bat: Plato ist doch ein Schwätzer, er giebt mehr als man haben will.
Diogenes forderte hier Praecision, nichts mehr, nichts weniger, denn es mu-
ßte abgemeßen seyn. Der gesunde %Verstand braucht eben %nicht lebhaft zu seyn,

/δSeite 94

/%sondern die Sachen nur in concreto zu erkennen, d.h. in Fällen, die durch die Erfah-
rung angegeben sind, %.oder a posteriori, denn %.derjenige %Verstand, der die Wahrheiten in ab-
stracto erkennt, ist schon ein subtiler Verstand. Läßt man z.E. an einen gemeinen
Mann, der bloß gesunde Vernunft hat, eine Rechtsfrage ergehen, z.E. Ob der, deßen Thier
seinem Nachbar Schaden gethan ohne seine Schuld, verbunden sey, den Schaden zu er-
setzen? So wird er dies %.anfänglich %nicht verstehen, läßt man ihm %aber Zeit, so wird er sich
erst einen %.wircklichen fall in concreto dencken, %.und dann urtheilen. Der Jurist <aber> erkennt
es in abstracto, %.und wird %.gleich decidiren. Das %Vermögen in concreto zu urtheilen
ist also der gemeine %Verstand; insofern %aber dieser richtig ist, heißt er der gesunde.
Man hat in Hontichia einer Stadt im Kirchen Staat einen Rath, der nur aus 4.
Personen (qvadri illiterati) besteht, die %aber weder schreiben noch lesen kön-
nen, weil sie bey den Leuten, die schreiben %.und lesen können, listige Räncke
%.und %nichts gutes vermuthen. Und um also %.ehrliche Leute im Staate zu haben, so la-
ßen sie den, der eine Ra«h»thsStelle erlangen will, schwören, daß er weder
«¿¿¿»lesen noch schreiben könne. Bey uns giebts auch gerichte von Bloßen Schultzen,
die nur nach dem gesunden %Verstande, %.und dabey sehr richtig urtheilen. Solche Leute
urtheilen bloß in concreto, %.und wißen auf jeden fall zu antworten, niemals
%aber in abstracto. Ein gesunder Verstand ist %.zugleich practisch; der subtil «¿¿»oder ab-
strahirende ist, der die allgemeine Regeln, nach welchen in besonderen fäl-
len geurtheilt werden soll, erkennet z.E. den Willen Gottes gerne zu thun
heißt Gott lieben, hier ist ein solcher fall, ergo pp Todes Urtheil in abstracto
ist blos als eine Regel anzusehen. Nur aber durch den gesunden %Verstand können
wir einen Fall unter einer allgemeinen Regel subsumiren, %.und es kann
dies kein geschickter, kein gelehrter %Verstand thun, wenn der gesunde fehlt.
Es ist daher zu Bewundern, daß %.keine Gelehrsamckeit, keine Unterweisung
auch %nicht der höchste grad der Scharfsinnigckeit den Mangel des gesunden %Verstan-
des ersetzen kan. Der Rechen Meister gibt seinen Schülern allgemeine
Regeln zum Rechnen, hat %aber der Schüler keinen gesunden %Verstand, so wird er
keinen besonderen Fall unter dieser Regel subsumiren können. Denn von
dem Falle kann Er %nicht neue Regeln geben, weil dies wieder die Na-
tur der allgemeinen Regel wäre. Und so kann man keinen %.Menschen einen
Fall unter eine Regel subsumiren lernen, wenn er %nicht <einen> gesunden

/δSeite 95

/Verstand hat. So kann man z.E. einem Frauenzimmer die complimente wohl lernen,
aber %nicht sie zu unterscheiden %.und zu untersuchen, wenn %und wie sie sie machen soll;
sondern man überläßt die Regeln davon %.und ihre anwendung ihr selbst, %.und ihrem gesunden
%Verstande. Es ist also der %Verstand eine subsumtio casus dati sub certa regula, ob es
der gegebene Fall ist, wo die Regel soll angewandt werden. Es ist minor prae-
positio in syllogismo practico.

/Man erkennet daher einfältige Leute sehr leicht, denn sie verfahren immer nach
Regeln, %.und dies zeigt schon an, daß sie immer am Gängelbande müßen gefüh-
ret werden, %.und nach Regeln, die man ihnen genau vorgeschrieben. Narren
kann man also nach Regeln leiten, %aber %nicht vernünftige Leute. Daher sagt
man oft: dieser %.Mensch hat es sich zur Regel gemacht, %nichts wegzugeben, als was
höchst nothwendig ist, %.und was ein anderer mit Recht von ihm fordern kann. Denn
es erfodert zuweilen die Klugheit, daß man freygebig sey, wenn man %nicht
wieder den Wohlstand pecciren will. In solchen Fällen läuft man oft
übel an, da man %durch abweichung von der Regel sich großen Nutzen verscha«ff»-
ffen könnte. Bisweilen %aber ist es auch gut, Regeln zu einem allgemeinen
Gesetz zu machen; z.E. bey Heurathen, %.und ihren bewegungsgründen. Die Eltern
haben eine Neigung ihre Art zu erhalten. Daher prägen sie den Kindern
nur zu sehr ein, so zu heurathen, daß sie ein großer %Vermögen bekommen, wenn
ihnen z.E. d«er»ie braut %.oder der Bräutigam %nicht gefällt. Sie stellen ihm vor,
wie bald die erste hitze, «¿¿»dann die Lieb %.und mit ihr die Schönheit vergeht, oder
sagen wohl gar, die Liebe werde sich schon noch finden. Dies alles %aber zweckt
dahin ab, daß sie nur %.hauptsächlich für die Erhaltung ihrer Art sorgen«,». Und in die-
sem Falle ist es im gantzen beßer, daß man darnach verfährt, um zu leben
zu haben. Dies ist die Ursache, daß %nicht nach Gemüths_Eigenschaften, %sondern nur
nach Schönheit %.und Geld sehen. hat %aber ein %.Mensch gesunden Verstand, so darf
man ihn %nicht an Regeln binden. Einige nennen den gesunden %Verstand, den
schlechten, geraden %.und einfältigen. Man kann den gesunden von jedem
%Menschen verlangen. Es ist bey ihm die Richtigckeit %.und Einfalt zu bemerken,
%.und die Einfalt ist der kleinste grad des %Verstandes. So wie aber die
Foderung des gesunden %Verstandes billig ist, so ist es auch die foderung
seiner Richtigckeit, %.und der ist oft bey der Einfalt, denn das %.künstliche

/δSeite 96

/ist eher dem betruge unterworfen. Wie %aber die gesundheit keine Sache der
Kunst ist, so ists auch beym gesunden %Verstande. Und wir finden beym Menschen etwas,
was ihm die Natur unverderbt gab, %.und was %durch Kunst %nicht verschaft werden
kann. Der gesunde %Verstand ist also das Vermögen im Concreto zu urtheilen, der
feinere urtheilt in abstracto. Eine Regel z.E. Casum sensit dominus,
wird der gesunde %Verstand %nicht verstehen, er muß einen fall haben. Im all-
gemeinen kann der blos gesunde %Verstand %nicht erckennen. Man sieht aus
diesem allen leicht, daß der gesunde %Verstand empirisch ist, %.und %.folglich seine
Urtheile durch die Erfahrung formirt. Die Moralische Gesetze der Philoso-
phie %.und der gemeinen Leute sind nur darin unterschieden, daß der
gemeine %Verstand die Regeln %nicht einsieht. Er übt den gesunden Verstand
bey den gegenständen der Sinne aus. Wollte man aber alle Wißenschaften
in concerto vortragen, so würde man keinen allgemeinen Begrif
von einer Sache haben %.und es wäre alsdenn gar kein begrif.

/ ≥ Von der gesunden Vernunft. ≤

/Die gesunde %Vernunft ist das %Vermögen a priori zu erckennen, d.h. ohne alle Er-
fahrungen. Man braucht %Verstand, um etwas anbefohlnes auszuführen, man
braucht %aber Vernunft, um etwas auszurichten, was %nicht befohlen ist, %.und einzu-
sehen, was in diesem Falle %.nützlich zu thun wäre. Man weis, was der andre
wohl würde geurtheilt haben, wenn ihm der Umstand bekannt gewesen wäre.
Alles Vorhersehen, Muthmaßen pp geschieht durch die %Vernunft, weil wir alsdenn
nicht aus ähnlichckeiten, %sondern aus gründen schlüßen. Sie zeigt sich darin, daß wir
die Dinge erckennen, ohne daß davon Fälle gegeben werden. Durch den %Verstand
erckennt erckennt man aus dem rothen aufgange der Sonne, daß es regnen
werde. Will man aber aus dünnheit der Luft den Regen schlüßen, so braucht
man Vernunft. Gesunde Vernunft ist, die aus den Erfahrungs_Sätzen apri-
ori urtheilt. Sie schlüßt, %.und deswegen heißt sie das %Vermögen zu schlüssen.
Cicero sagt: Ein Philosoph, der die Geschichte mit einem philosophischen
Auge durchlieset, kann einen Wahrsager abgeben. Die Vernunft urtheilt
apriori oder sie schlüßt. In jedem Schluße ist

/1. Ein allgemeiner Satz, der durch die Vernunft eingesehen wird.

/2. Die application eines Falls auf den allgemeinen Satz %.und dies geschieht %durch den %Verstand.

/δSeite 97

/3. Die Conclusion, die sowohl %durch den %Verstand als durch die Vernunft geschieht.

/Z.E. «¿¿»Alles, was %.veränderlich ist, hat eine Ursache. Die %Vernunft sieht dieses ein - 
der Mensch ist %.veränderlich - dies subsumirt der Verstand, also hat der %Mensch einen
grund. Also schlüßt die %Vernunft in majore propositione, der %Verstand in minori,
beyde in Conclusione. - Der gesunde Verstand appliciret %.eine allgemeine Re-
gel auf einen casum datum: die anwendung der Regel beruht überhaupt nur
auf dem Verstande. Z.E. beym rechnen. Hier muß der Lehrer seinem Schüler über-
laßen, einen Fall unter die Regel zu bringen. denn dies kann %nicht %durch Regeln erkannt
werden, %sondern %durch Übung. Der gesunde %Verstand dient zur application der Regeln @der@ %Vernunft
ad casum datum. Daß z.E. der %.Mensch ein %.veränderliches Wesen sey, ist schon klar aus dem %Verstan-
de. Sehr oft haben Leute, die einen feinen %Verstand haben keinen gesunden %Verstand.
So können viele gelehrte, die alles in abstracto erckennen, keinen gegebenen Fall
mit Gewißheit unter eine Regel subsumiren, denn hiezu gehört eine empi-
rische Fähigkeit. Die %Vernunft kann durch Regeln bereichert werden, der gesunde
%Verstand nicht. Dem gesunden %Verstande ist die Nachahmung am meisten entgegen gesetzt.
Alles Lehren, das %nicht blos eine Nachahmung ist, geschieht: daß gewiße allgemeine
Sätze gesagt werden, wie z.E. in der Mathematic, Philosophie p. Die %Vernunft
wird dadurch excolirt, denn die Schulen können den gesunden %Verstand %nicht geben, %aber
wohl durch viele vorgelegte fälle cultiviren. Die Nachahmung ist für die gesun-
de Vernunft der Todt Diese Nachahmung wirkt bey der Jugend um desto
stärcker, %.und diser Geist der nachahmung bleibt auch haften, wenn %nicht gleich-
sam eine philosophische Palingenesie vorgeht, da der %.Mensch wenn er zur %Vernunft
kommt, sich gleichsam nochmals erzieht. Diese Nachahmung ist darum der gesunden
Vernunft zuwieder, weil man dabey weder a priori noch a posteriori etwas er-
kennt, sondern nur Copie vom Verstande eines andern wird. Daher kommts, daß der Mann
von gesunder %Vernunft den Betrug sieht, wo der andere Zauberey sieht. Wo
einer Anti- %.und Sympathie findet, wird der andere %nichts als Einbildung gewahr.
wo der eine Schicksale sieht, erblickt der andre seine eigene Schuld. Der ge-
sunden %Vernunft ist alles dies gemäß, wodurch die %Vernunft a priori urtheilen
kan. Diese Mittel aber, wodurch die %Vernunft a priori schlüßt, sind die gesetze
der Natur, und es läßt sich über die Dinge in der Welt also nur urtheilen,
wenn sich die gesetze der Natur %.deutlich zeigen. %.Derjenige also, der den ge-
brauch meiner %.Erkenntniß nach den Gesetzen der Natur %.unmöglich

/δSeite 98

/macht, handelt dem gebrauch der gesunden Vernunft zuwieder. So scheint
ein Weib, die Zauberey zu spielen, vorgiebt, %durch mächtige %.und herbeyziehung hö-
herer Wesen, die Ordnung der Natur umzukehren. Wenn solche Vorurtheile
bey einem Volcke gegründet sind, so thun sie der Vernunft großen Abbruch. Bis-
weilen %aber incommodirt die Vernunft, %.und man lößt sie denn %.gemeiniglich %.von ihrer
Schildwache ab, %.und überläßt sich den Neigungen %.und Phantasien anderer.
Es ist uns zwar angenehm, wenn wir %durch die %Vernunft die dinge a priori erken-
nen können, allein es ist etwas mühsames dabey, weil man Scharfsinnigckeit
gebrauchen muß, %.und man ist also im geheimen froh, daß man vom gebrauche der-
selben befreyet wird. %.Vorzüglich wenn wir bey einem gegebenen Falle die allge-
meinen gesetze erkennen, die %Veränderungen des Witzes vermeiden %.und also
Scharfsinn gebrauchen müssen. Aus eben der Ursache ist der %.Mensch zu Wunderdingen
geneigt, besonders zu solchen, die %durch äußere Vernunft %nicht zu begreifen sind, denn
diese Befreyen ihn %.von der Nothwendigckeit %.seine Vernunft zu gebrauchen, %.und ertheilen
ihr Ferien. Wir würden es uns immer vorwerfen, wenn wir bey %.begreiflichen Dingen
%nicht unsere %Vernunft gebrauchet hätten; aber jetzt, da die Sache über unsre %Vernunft
gehet, dürfen wir uns keine Vorwürfe machen. Zu diesen Wunderdingen gehört

/1. Träume %.und ihre Bedeutung.

/2. Einbildungs_Kraft schwangerer Weiber %.und der vermeinte Einfluß auf die frucht.

/3. Erscheinungen der Geister.

/4. Einflüße des Mondes auf die Pflanzen etc.

/5. Anti- %.und Sympathie.

/6. Die Wünschel Ruthe.

/Der Wahn in Ansehung schwangerer Weiber, deren starcke Einbildungs-
Kraft Einfluß auf die geburt haben soll, wird lange dauren, (ob er %.gleich
%durch medicinische Gründe wiederleget ist) weil er vom %.Weiblichen geschlecht herrüh-
ret. Das %.weibliche geschlecht nimmt eher einen Wahn an, als das %.männliche, %.und dies
macht die %.gemächlichkeit, die sie lieben. Dieser Wahn ist ihm auch sehr %.nützlich. Ja sie
freuen sich, daß ihre Einbildung einen so wichtigen Einfluß haben soll. Und, wenn
die Kinder hernach fremden mehr als ihrem Vater %.ähnlich seyn, so sind sie im
Stande, solches auf ihre Einbildungs_Kraft, als die Schopferin %.glücklich zu reduciren,
%.und die Männer müßen es ihnen glauben. Dieser Wahn dient ihnen auch dazu, daß
sie die Männer zu allerhand Ausgaben nöthigen, um ihren appetit zu stillen,
wenn sie %nicht zugeben wollten, daß das Kind etwa mit Katzen Ohren zur
Welt kommen soll. Man lese Wirkmanns Buch Von der Einbildungs_Kraft nach.
- Was die Wünschel Ruthe betrift, so wird sie den Bergleuten zugestanden.
Man würde sie %aber sehr wieder sich aufbringen, wenn man ihr die einmal
Beygelegte Wirkung absprechen wollte. Selbst Valerius der große Minera- 

/δSeite 99

/lien Kenner ist dieser Meinung. Mit der Wünschel Ruthe hat es diese Bewandniß, daß
man sagt, es muß in der Johannis Nacht ein zweig vom haseln abgeschnitten werden,
so daß er die gestallt einer gabel hat. Wenn man nun diese zwey H@e\a@cken anfaßt,
%.und auf den Berg geht, wo Metall ist, so soll dis die Spitzen dieser Ruthe an sich ziehn; Ei«n»-
nige vernünftige Verfechter, denen bey diesem Instrument vieles abergläubisch vor-
kam, schrenckten dies ein, %.und sagten: Sie dürfen %nicht in der Johannis Nacht abgeschnitten
seyn. Andere sagten gar, es wäre einerley, ob sie von Holtz oder Metall sey, %.und es kom-
me nur auf die Person an. Diese setzen die Ursache der Bewegung der Wün-
schel Ruthe in die electrische Wirckung, die die mineral Theile auf den Leib machen,
so daß seine muskeln dadurch auf diese art beweget würden, daß er sich mit dem Stöck-
chen bücken müßte, allein diese Meinung ist eben so thöricht. - Vom Einfluß
des Mondes ist bekannt, daß er die See 2mal in 24 Stunden %durch die Ebbe %.und fluth be-
wegt. Daraus %aber will man schlüßen, ob z.E. die Erbsen gut blühen würden, %.und, daß
der Mond auch auf %.Menschen %.und Bäume einen Einfluß habe, %.und will daraus die Zeit,
Bäume zu fällen, errathen. Dies ist %aber ein Gegenstand, der wenigstens noch %.eine
Untersuchung verdient. Was die Geschichte der Geister Erscheinungen be-
trift, so scheinen die Ausdeutungen der Träume ihren Uhrsprung daraus
hergenommen zu haben. Daß aber aller dieser Wahn so leicht angenommen ist, ist <gar> %.kein
Wunder. Denn man verschafte sich zur Zeit der Scholasticker in den Klöstern einen
angenehmen ZeitVertreib damit, indem die Mönche zur Abendzeit solches Zeug
den Leuten erzehlten, wobey man den %Verstand gar %nicht brauchen durfte %.und die Zeit
vertrieb. Wollte sich einer den Kopf darüber zu brechen, %.und es %durch seine %Vernunft
zu erklären suchen, so erzählte der andre etwas 10mal ärgeres. Ja man ver-
fertigte zuletzt ein %.ordentliches System von solchen grillen, %.und theilte die Geister
in Classen ein, in Cubor %.und subcubor, ohne daß sie je einen gesehen hatten. Siehe
Kants träume eines Geistersehers, erläuter %durch Träume der Metaphysic.
Es war dies %.ein freyes Feld für die Erdichtungen %.und für witzige Köpfe. Man fin-
det %aber immer einen Wiederwillen dafür in sich, so wie ein %Mensch einen
Abscheu empfindet, wenn er was Böses thun soll. Wir fühlen immer bey an-
hörung solcher Wunder %.einen Befehl in uns, der uns zuruft: bediene dich deiner
%Vernunft. Denn fällt die %Vernunft weg, so haben wir %nichts, als den thierischen Instinct,
die Vergleichung durch Witz %.und die Einbildungs_Kraft übrig.

/ ≥ Von den Gemüths-Fähigkeiten. ≤

/Man nennt die %.Erkenntniß Fähigckeiten im gemeinen Redegebrauch Kopf; so wie
man die %.menschlichen Begierden %.und Neigungen durch das Wort Hertz anzeigt.

/δSeite 100

/Man giebt einem %Menschen einen solchen Beynamen, der von dem %Vermögen, wo er be-
sonders inclinirt, entlehnt ist. Und so unterscheidet man die %Menschen ihren Gemüths-
Kräften nach, in witzige, judicioese, zerstreute p Köpfe; dem objecte oder den Wißen-
schaften nach, in pöetische, mathematische %.und philosophische Köpfe %.oder auch empirische.
Das Studium, eines jeden %Menschen seine gemüthsfähigckeiten zu erforschen, ist %.von der
äußersten Wichtigckeit. Und es ist belehrend gnug zu untersuchen, was für ge-
müths_Kräfte erfodert werden, einen jeden Kopf %.oder Fähigckeit zu machen;
Mancher %Mensch hat einen guten medicinischen Kopf. hierzu %aber gehört e.g. der geist
der Beobachtung, ein gesunder %Verstand, der %.zugleich beobachtet, d.h. ein empirischer Kopf.
Es gehört %nicht dazu die feinheit der %Vernunft um in abstracto zu urtheilen (welches
doch auch gut ist) %sondern er muß die Umstände %.und ihre %Verknüpfung untersuchen, um
zu bemercken, was der Krancke für eine Kranckheit hat. Als Carl_VI. gestorben
war, so stritten die ärtzte noch, was für eine Kranckheit er gehabt hätte, %.und so ge-
schieht es noch oft. Aber zum empirischen Kopfe gehören %nicht blos gute Sinnen,
%sondern auch das Vermögen, zu vergleichen, also %.ein ausgebreiteter sensitiver Intui-
tus. Er muß %.ein gut gedächtnis haben, sich der vorigen Umstände des Kran-
cken erinnern zu können, %.und sich auch auf viele andere fälle besinnen. Wir fin-
den in dem Hamburger Magazin ein vortrefliches Beyspiel des Nutzens eines empiri-
schen Kopfes. Es soll eines Bauren Sohn in Sachsen eine so wunderbare %.Kranckheit
gehabt haben, daß er gantz ausgetrocknet, %.und wenn er gegangen alle Glieder «sei-
¿¿»an <seinem> Leib geklappert haben. Die medici stritten nun %über die art %.seiner Kranck-
heit %.und %über die Mittel, wie sie sie heben könnten. %.Endlich erklärten sie sich, daß die «Urs¿-
¿¿»Kranckheit von %.einer Vertrocknung %.derjenigen Säfte herrühre, die sich in den Muskeln
Befänden %.und %durch welche die Glieder beysammen erhalten würden. Die Frage
%aber war nun, wie sie diesen Saft erweichen, %.und wieder herstellen sollten.
Man sann lange nach. %.Endlich besann sich ein empirischer Kopf auf die Erfahrung,
daß sich das qvecksilber mit Speichel vermischen laße, %.und eine zähe Materie abgebe.
Hieraus schloß er, daß durch solche %.mercurialischen Mittel auch vielleicht die Säfte
ihre vorige Flüßigckeit erhalten könnten, das GliederWaßer wieder herzu-
stellen. Er applicirte mercurial Salbe, %.und stellte diesen krancken %Menschen %dadurch
völlig wieder her. hieraus läßt sich nun ercklären, wie ärtzte, die doch
wenig Theorie haben, viele %.glückliche Curen unternehmen können. Der artzt
also, zu dem ich Zutrauen habe, braucht von der Structur des %.menschlichen Körpers
%nicht eine so große Erfahrung zu haben. Denn diese ist sehr klein, %.und die %.Erkenntniß
sehr eingeschränckt, so hoch sie auch die aertzte treiben. Selbst Hippocrates,
der an der Spitze der aertzte steht, %.und deßen asche mit Recht %.von allen
verehrt wird, %.und der so %.glücklich war in %.seiner praxis, %.und wußt %nichts %.von der circulation des

/δSeite 101

/Bluts, gute historische Kenntniße können nebst einer sorgfältigen Beobachtung
mehr dienen, als wenn einer eine Kranckheit a priori nach seinem System curiren
wollte. Denn der %.menschliche Körper soll sich da nach dem System des artztes, das er im
Kopf hat, richten. Der empirische Kopf untersuchet zuerst die Natur der %.Kranckheit
%.und denn curirt er; da hingegen %.derjenige artzt, der viel Theorie %aber %.keinen empirischen Kopf hat,
alle Kranckheiten a priori heilen will, welches ihm denn oft fehl schlägt. Es wäre
überhaupt sehr %.nützlich wenn das genie eines jungen %Menschen erst wohl probirt wür-
de, denn die Wißenschaften sind sehr unterschieden, %.und einer ist zu dem, der
andere zu jenem aufgelegt. So wird zum Mathematicer ein gantz anderer
Kopf erfodert, als zum Philosophen, denn die Wißenschaften sind sehr von einan-
der unterschieden. Die Philosophie ist eine Wißenschaft des genies, die Mathe-
matic eine Kunst. Sie kan als ein Handwerck %.ordentlich erlernt werden,
%.und man kann es darinnen sehr hoch bringen, wenn man auch nicht selbst erfin-
det. Man braucht in der Mathematic nur contenance zu haben, seinen Kopf
auf eine %.und eben dieselbe Sache lange zu heften, %.und ein gut gedächtniß, daß
man die aufgaben im Kopfe Behalte. Man muß dabey das Spiel des Witzes
hemmen können, damit er nicht im Nachdencken störe. Ja es ist bisweilen gut,
wenn ein Mathematicus einen stumpfen Kopf hat. Und ob er auch %.gleich ge-
nies darinnen giebt, so fließt dies doch aus einer gantz ander qvelle, %.und ge-
hört nicht %.wesentlich zum Studio der Mathematic. hingegen wird zu einem phi-
losophischen Kopf express Witz erfodert. Damit er die Sachen von allen Seiten
Betrachten, auf die folgen sehe, %.und diese unter einander vergleichen kann.
In der Mathematic sind die einfachen Begriffe von Punckten, Linien etc.
die leichtesten; in der Philosophie aber die schwersten. auch ist in der Philosophie noth-
wendig, daß die gesunde %Vernunft dem feinen Verstande immer zur Seiten ge-
he %.und ihn contrallire. In der Philosophie geht das concretum vor dem abstra-
cto, in der Mathematic das abstractum vor dem concreto. Und ich kann
mir in der Philosophie nicht eine Sache in abstracto dencken, %sondern ich muß
erst einen fall in concreto annehmen. Wenn man sich in der Philosophie
also einen allgemeinen begrif von der billigckeit machen will, so
muß man sich einen fall in concreto dencken, %.und die Billigckeit davon
abstrahiren. Z.E. ich habe bei einer Sache mehr Arbeit gehabt, als ich vor-
her glaubte, so habe ich zwar mehr verdient, als ich mit dem andern ver-
dungen habe, er darf mir %aber nicht mehr geben, %sondern wird dies nur aus Bil-
ligckeit thun können. Der Mathematicus %aber redet erst %.von einer auf-
gerichteten Linie, %.und applicirt sie hernach auf Berge %.und anhöhen, %.und

/δSeite 102

/kan also die Sache %nicht zuerst in concreto betrachten, %sondern in abstracto. Der Mathe-
maticus sieht nicht auf die Materie einer Sache; der Philosoph %aber, wenn er die Idee
der flüßigckeit abstrahiren will, muß er sich erst mit den Eigenschaften des Wa-
sers oder einer andern flüßigen Materie bekannt machen.

/Was den pöetischen Kopf betrift, so differirt dieser von allen andern ungemein,
denn er ist schöpferisch; %.diejenigen die selbst schaffen, beckümmern sich %nicht viel um Geschöpfe,
die schon da sind. Wenn %aber %.Menschen schaffen, so muß etwas heraus kommen, was mit der
andern Schöpfung gar %nicht stimmt. Ein Pöet muß an die Stelle der Sachen, Schatten
setzen können, denn Schatten kan er schaffen. Man sehe Miltons Reise des En-
gels. Beym Pöet kommt nur die Manier Art %.und Weise der Sachen vor, %nicht %aber die
Sache selbst, %sondern nur Schatten Bilder derselben. Er ahmet die Stimme eines Tu-
gendhaften nach, ohne selbst tugendhaft zu seyn. Er «¿¿¿»scheint wie ein Held, %.und hat %.kein
Hertz; er ist wie jenes Thier, das alles im Walde in Schrecken setzt, weil es sich in
eine Löwen Haut gehüllet hatte, daß man %aber nachher an den langen Ohren
erckannte. Ein Poët besitzt daher keinen eintzigen Character, aber er weiß alle
andre Charactere nachzuahmen %.und anzunehmen. So wie der Siegellack an
sich selbst keine %.sonderliche Gestallt hat, %aber geschickt ist, alle Gestalten anzunehmen,
der Poët muß also Witz %.und Läuftigckeit haben, seine eigne %Denckungs_art umzuschaf-
fen, %.und sich in die Stelle eines andern zu versetzen. Er muß %.aber vor allen
Dingen nur Erscheinungen kennen, %.und wenn er von dem innern des %Menschen re-
det, so muß er doch nur auf die innern Erscheinungen eingeschränckt seyn. Er
muß auch Vergleichungen anstellen können, %.und man will beobachtet haben, daß %.ein
Dichter, welcher recht dichten will, auch die Miene %.desjenigen annehmen soll, deßen
Sprache er redet. Und die Erfahrung lehrt, daß man den Character eines %.Menschen
%nicht vollkommen schildern könne, wenn man %nicht auch seine Miene annimt. Dies sieht
man z.E. in Gesellschaft, wenn Leute etwas von jemanden erzehlen. Man er-
zehlt vom Professor Pietsch, daß er, wenn er einen Helden dichten wollte, sich Reit
Stiefeln angezogen, %.und so beym dichten herumgezogen sey.

/Es giebt ferner mechanische Köpfe. Man bemerckt, daß viele Kinder schon von ih-
rer Jugend an schwitzen p %.und dies zeigt schon daß sie einen mechanischen
Kopf haben. Wenn man immer den Kopf eines jungen %Menschen analysiren
möchte, so konnte man schon voraus a priori bestimmen, was für ein Metier
er künftig ergreifen möchte. Man sollte %aber hierinnen junge Leute %nicht
selbst wählen laßen denn sehr oft will ein Kind, das vielleicht %.einen guten
mechanischen Kopf hat, blos darum ein medicus werden, weil es sol-
che Männer oft in Kutschen fahren sieht, %.oder es will ein Geistlicher wer-
den, weil ihm dieser Stand gefällt wegen dem Pathetischen, weil alle um

/δSeite 103

/ihn stille sind, %.und er allein reden kann; %.oder weil es sieht, wie der %HErr Pfarrer von der
gantzen Stadt geehret wird. Es ist %aber %nichts elenders, als wenn ein %Mensch auf eine solche
Wißenschaft verfällt, wozu er %nicht die geringste Fähigckeit hat. Daher kommts, daß das Ste-
cken Pferd alle <andre> wahre, aus dem Stalle jagt, %.und daß ein %Mensch alles das incultivirt
läßt, wozu er geschickt ist, %.und das bearbeitet, wozu er im höchsten Grade ungeschickt
ist. Die Ursache davon ist diese, weil die %Menschen immer gerne etwas anders seyn mögen,
als sie würcklich sind. Sie dencken, das kan di«e»r doch keiner nehmen, was du schon bist
es ist %aber doch gut, daß du noch suchest, was andres zu werden. So dichten viele Poëten, ohne
daß sie jemand ließt; %.und so «¿¿»klimpert mancher gantze Tage auf dem Clavier %.und
componirt, %.und niemand will ihn hören. Er will %aber doch gern ein Musicus seyn.
Menschen suchen die Veränderung, gleich, als wenn sie Prometheus mit einem groben
Thon beseelet hätte. Hieraus %aber sieht man leicht, wie nöthig %.und %.nützlich das Studium
der Köpfe sey. Und %.obgleich Schulen %.und Examinatoria genug angeordnet sind, so ist
doch dafür noch %nicht gesorgt. Die Departements der Wißenschaften %.und Künste werden
jetzt nur durch einen Zufall gut besetzt. Oft geschieht die Wahl aus Noth %.oder aus Wahn,
%.und daher kommts, daß die %Menschen mehrentheils in der Welt auf einer unrechten
Stelle sitzen. Es würde %aber ein lustiger Plan seyn, wenn man jeden %.Menschen in seine
rechte Stelle setzen wollte, wohin ihn die Natur bestimmt hat. Mancher general wür-
de Tambour werden, mancher Jesuit Ministre, mancher schlechte Jurist ein gu-
ter Holtzauer; mancher, der in Gesellschaften gehet, um sie zum Lachen zu Be-
wegen, %.und viel schnattert, ein %.ehrlicher Gastwirth; %.und mancher der jetzt mit Barbier-
Becken herumläuft, würde geschickter seyn, gute Stücke auf dem Buckel zu tra-
gen. Die %.menschliche Freyheit macht diese Verwirrung, da die %.Menschen sich fremde
Stellen wählen, %.und %nicht aus Neigung, %sondern aus Noth, oft %nicht aus geschicklichkeit, %sondern aus Wahn.
Da aber dieser Plan %nicht zu hoffen ist, so muß man glauben, daß die verkehrte
Versetzung vielleicht die schöne Mannigfaltigckeit der Welt ausmacht. Ob sich
gleich die %Menschen oft so verwirren, daß sie %nicht wieder heraus kommen. Aus die-
sem Allen nun fließ die Idée

/ ≥ Vom Genie. ≤

/Genie bedeutet einen Original_Geist. Das Wort Geist «b»gebraucht man
in vielen Fällen, denn man sagt von einer gesellschaft, gemälde, Rede,
Discour, es ist ohne Geist, d.h. es ist %nichts lebendes dabey. Und man sieht leicht, daß
das Wort Geist das principium des Lebens bedeute. Es ist %.aber gantz was
anders, wenn man sagt: Original_Geist, ist %nicht Geist der Nachahmung.

/ ≥ Vom Gefühl der Lust %.und Unlust. ≤

/Nachdem wir die %.Erkenntniß Kräfte des %Menschen vorgetragen haben, so gehen

/δSeite 104

/wir nun zu %.seinem Gefühl der Lust %.und Unlust, %.und %.seinen gründen der Thatigckeit %über.
Dieses Gefühl von Lust %.und Unlust bestimmt den Werth des %.menschlichen Zustandes. Ehe
wir uns %aber zu den Characteren der %Menschen wenden, müßen wir uns diese
3 Begriffe fest setzen: Es gefällt, es vergnügt, es wird gebilligt. Diese Ausdrü-
cke sind sehr verschieden, %.und oft einander entgegen gesetzt. Was uns in der Erscheinung
%.oder im Geschmack gefällt, das ist schön; was uns in der Empfindung gefällt, %.oder %vergnügt,
das ist angenehm, %.und was uns im %Verstande gefällt, das ist gut %.und wird gebilligt. Was
also vergnügt, ist angenehm, was gefällt, ist schön, %.und was gebilligt wird, ist gut.
Wenn wir Socrates in Ketten %.und den Caesar vom gantzen Rathe begleitet, be-
trachten; so gefällt uns der Zustand des Caesars der Empfindung %.und dem Geschmack
nach. Erwägen wir %aber den Zustand beyder durch den %Verstand, so ziehn wir den Zu-
stand des Socratis dem Zustande des Caesaris vor. Lust %.und Unlust haben also
eine 3fache Beziehung, denn sie beziehn sich

/1. auf unsere Empfindungen, %.und denn nennen wir es Vergnügen oder Schmertz.

/2. auf den Geschmack, %.und denn nennen wir es entweder schön, oder heßlich.

/3. auf die Vernunft, %.und denn nennen wir es entweder gut oder Böse.

/Das %.schmertzliche ist also vom Bösen weit unterschieden; wenn die Tugend so ange«nehm»-
nehm wäre, als sie gebilligt wird, so würde jedermann tugendhaft seyn, denn sie ist
das höchste Gut, %.und alles außer ihr gehört blos zur %Ähnlichkeit, aber leider! ver-
gnügt sie uns an sich selbst nicht, Das wahre Gut aber muß %durch den %Verstand er-
ckannt werden, %.und dies sind die verschiedene arten von der Lust %.und Unlust.
Das gefühl derselben aber ist vom geschmack unterschieden. Es fragt sich nun hier,
worauf «sich» der Unterschied zwischen Lust %.und Unlust beruhe. Weil sich doch zu-
letzt alles aufs Gefühl reflectiren läßt, so wollen wir zuerst das Gefühl
erwägen, %.und das principium des Vergnügens %.und Schmertzens aufsuchen. Wir
finden in Fällen daß das Gefühl des gantzen Lebens alles enthält, was da
belustiget, %.und daß alles, was in uns zusammen stimt, uns unser Leben fühlen zu
laßen, uns Lust verursacht, %.und hingegen alles was unsre Lebens %.Fähigckeit
bindet, in uns Unlust herfürbringt. Wenn uns etwas belustiget, so empfin-
det alsdenn jedes Organ, wenn es nach seinem mechanismo in die größte Thä-
tigckeit kan versetzt werden, sein gantzes Leben; mithin liegt das principi-
um aller Lust %.und Unlust in der Begünstigung %.oder Bindung %.unserer Lebensfähigkei-
ten. So empfindet z.E. Unser auge das größte Vergnügen, wenn es von Ge-
genständen in die möglichst größte activitaet versetzt wird. Wenn aber
der anblick so beschaffen ist, den uns gegenstände Liefern, daß unser Au-
ge gezerret wird, %.und ein Eindruck den andern hebt, oder auch, wenn es

/δSeite 105

/gar %.keine Eindrücke hat, so empfindet es Unlust, im Fall während der Zeit kein
andrer Sinn vergnügt, d.h. in activitaet versetzt wird. So ist es auch mit dem ge-
schmack. Was unsre Geschmacks_drüsen in die größte activitaet setzt, schmeckt uns
am besten. Es scheint, daß diese Geschmacks_drüsen am gaumen, der Zunge und
der Lunge sehr genau zusammen hängen, weil man @%.dasjenige@, was gut schmeckt, auch
gut verdauen kann. Diese Geschmacks_Drüsen sind pyramidalisch, %.und also spitzig.
Wenn nun die Saltztheilgen der Speisen diese ihre Spitzen in Bewegung setzen, so empfin-
det man in Ansehung des geschmacks das höchste principium des Lebens. Eben so ists mit
dem Gehör bewand. Die in gleichen Zeiten aufeinander folgende Eindrücke der Music
bringen in einem Körper, der der Schwanckung fähig ist, zuletzt eine sehr große Schwan-
ckung herfür. Daher ist es %nicht rathsam, daß, wenn Soldaten über Pantons gehen, sie Tritt
halten, weil diese in gleichen Zeiten auf einander folgende Eindrücke der brücke %.endlich %.eine
solche Schwankung geben könnten, daß sie einfiele. Nun ist jeder Ton gleichzeitig, denn da-
durch unterscheidet er sich vom Schall. Und diese gleichzeitigen Töne bringen zuletzt
im Ohr die stärckste Bewegung herfür. Daher verursacht die Zertrennung %.eines Körpers
einem %Menschen viele Schmertzen. Wenn %aber Theile des Körpers gedehnt werden, so ist dies
eine langdauernde Hinderniß des Lebens, %.und alsdenn der größte Schmertz. Alles das,
was uns vergnügt, befördert %nicht nur zugleich unser Leben, %sondern es läßt uns selbiges auch
stärcker fühlen. So finden die mehresten %Menschen an Ausschweifungen %.und Handlungen,
die ihr Leben miniren, ein Vergnügen. Und so scheinen viele %Vergnügen %.schädlich zu seyn;
z.E. der Soff. Wenn ein %Mensch trinckt, so vergrößert er das Gefühl seines Lebens auf
eine 2fache Art. 1. In Ansehung des Geschmacks, 2. In Ansehung der Berauschung.
Die Organa schwellen durch das Trincken vom Blute an. Ein Berauschter ist gleich
munterer %.und empfindet keine Sorgen; %.und so laßen uns alle Rausche außer
dem, daß sie die Geschmacks_drüsen reitzen, auch unsre Thätigckeit fühlen. Da-
her trincken die Türcken opium. Dieses macht zwar stumpf, %aber im Anfange starck,
%.und Hertzhaft. alles hingegen was unsre Sinne bindet, das schmertzt. Aber dinge,
welche %.zugleich den größten Schmertz verursachen, sind %nicht immer die schädlichsten. So sind
z.E. die Zahnschmertzen %.entsetzlich aber es ist noch niemand daran gestorben. Ande-
re sind ohne Schmertz %aber dabey die %.schädlichsten. So kann z.E. die Lunge <fast> gantz verzeh-
ret seyn, %.und der Krancke empfindet - wenn er %nicht etwa hohe Treppen steigt - 
keinen Schmertz. Die Ursache ist, weil die Lunge keine Nerven hat, %.und also auch %nicht em-
pfindsam ist. Uberhaupt macht die Verletzung kleiner glieder größern Schmertz,

/δSeite 106

/als großer. Außer dem %Vergnügen in der Thätigckeit eines eintzigen Sinnes, giebts
noch ein Vergnügen, welches aus den Theilen aller Sinne entsteht, ein %Vergnügen aus
dem Gefühl des gesammten Lebens, Wenn %.innerlich die Kanäle bespeiset sind,
%.und man %nichts zu verlangen hat. Der Lustige Abbé, der nach einer guten Mahl-
zeit müßig das weiche Polster des Canapées drückt, empfindet dies %Vergnügen.
Sein gantzer Zustand besteht aus einer Empfindung der Sinne, wo %nicht einer
für dem andern herfürsticht. Der, welcher sein gantzes Leben fühlt, ist zufrie-
den. Man kann die Sinne aller Empfindung fühlen, ohne darüber zu reflectiren. Es
ist wunderbar, daß die Gesundheit %nicht das gantze Leben fühlen läßt, ja, daß
der Mensch fast nie seine Gesundheit fühlt. Denn wir empfinden %nichts als was da
absticht. Viele junge Leute sind deßhalb unzufrieden, weil sie gesund sind,
denn sie sind in beständiger Unruhe %.und Neigung. Sie haben immer appetit, %.und
werden von vielen Projecten des Vergnügens turbirt. Indeß giebts auch au-
genblicke, darinn man seine Gesundheit fühlt. Z.E. Nach dem Eßen bey der
decoction %.und digestion. Es giebt %Menschen, denen Schmertz %.und Vergnügen nicht
bis an das Gemüth reicht, %.und andre können zufrieden im Stande des Wohlbefin-
dens seyn, obgleich einige Schmertzen ihre Ruhe stören, denn ihr Leben, im gantzen
Betrachtet, gefällt ihnen doch.

/ ≥ Von der Zufriedenheit. ≤

/Wir finden %Menschen, deren Ruhe weder durch die %.Ergötzlichkeiten vermehrt,
noch durch irgend einen %Verlust vermindert wird, ob sie %.gleich auch Schmertzen em-
pfinden %.und stöhnen, weil dies ein Mittel zur Erleichterung der Schmertzen ist,
so wie durchs Schreyen das Blut, welches ein Schrecken nach dem Hertzen zusam-
men führt, wieder dissipirt wird. Wer unter dem Schmertz %nicht stöhnt, der affectirt.
Manche sind auch bey Schmertzen %vergnügt, weil ihnen das Leben noch Wünschens-
werth vorkommt. Wir müßen einen Unterschied machen zwischen dem, was
mißfällt, %.und zwischen dem, was gefällt %.und zwischen dem, was uns zufrieden macht.
Man kan viele Dinge verlangen, %.und dabey doch zufrieden seyn, weil man die-
se Dinge als zur Vergrößerung %.seiner Glückseeligckeit dienliche ansieht.
So kan man sich eine größere Armuth %.seines Lebens wünschen, %.und wenn
man sie %nicht erlangt, sie aufhören zu wünschen. Bey <einem> solchen %Menschen

/δSeite 107

/ist das Leben gleichsam eine schwere Masse, %.und kein Vergnügen macht ihn %sonderlich
lustig, kein Schmertz %.sonderlich betrübt. Wer sie %aber als Bedürfniße zur Befrie-
digung ansieht, der ist bey seinem %Verlangen unzufrieden. Lustigckeit
%.und Traurigckeit ist die modification schwacher Seelen. %.Standhaftigkeit
%aber gefällt, %.und ist wünschenswerth. Ein gesetztes Gemüth bewundert
ein jeder, %.und wenn es doch auch keine %.Annehmlichkeiten hat, so hat es doch
auch keine Traurigckeiten. Jeder wünscht sich lieber ein immer ge-
setztes Gemüth, als eine immerwährende Freude, denn diese ist allzeit unsicher,
%.und es darf sich nur etwas weniges ändern, so ists mit der Lustigckeit aus. Der
gesetzte Mann aber hängt %nicht vom Zustande ab; Er ist zwar nie ein Gegenstand des
Neides, aber auch gewiß kein Gegenstand des Mitleides. Er besitzt sich selbst. Alles,
dasjenige, was %nicht das gefühl des Lebens hindert, trägt etwas zu unserm
Wohlbefinden bey. Der Schmertz ist eine Hinderniß, das Vergnügen des Lebens
zu vermehren, so wie das %Vergnügen eine wahre Vergrößerung des Gefühls des
Lebens ist. Wird die Hinderung des Lebensgefühls weggeräumt, so bin ich zufrie-
den. Die Zufriedenheit aber ist kein positives Vergnügen, der Schmertz hinge-
gen ist eine wahre Hinderniß des gefühls des Lebens, %.und etwas positives. Was mit
der Zufriedenheit zusammen stimmt, erfreuet mich nicht allemal. Wenn man we-
der im geistigen noch im %.körperlichen Leben eine Hinderniß empfindet, so befin-
det man sich wohl oder ist zufrieden. Epicurus behauptete, daß die %.Glückseeligkeit,
welcher der %Mensch theilhaftig werden kann, das fröliche %.und zufriedene Hertz sey,
wenn %.nemlich die Zufriedenheit aus dem %Menschen selbst qvillt. Wir müßen den
Hang zur %.Frölichckeit %.und Zufriedenheit vom Hange zur %.Lustigckeit %.und von der Nei-
gung, alle Vorfälle zum launigten Spaße anzuwenden, unterscheiden. Denn ei-
nige haben ein fröliches Hertz, andere sind lustig, andre haben eine schertzhafte
Laune. Es zeigt sich, daß die dinge der Welt den Zustand des Menschen %nicht noth-
wendiger weise schmertzhaft machen, sondern, daß es bloß darauf ankommt,
wie ein Mensch den Schmertz aufnimmt. Die gantze Zufriedenheit beruht also
nicht auf den Vorfällen %.und Gegenständen, %.sondern auf der Art, wie wir die Dinge
aufnehmen, %.und von welcher Seite wir sie ansehen. Es giebt %Menschen, welche die
Tyranney des Schicksals gleichsam verspotten %.und bey alle dem, was ihnen schmertz-
haft seyn könnte, Ausflucht wißen. Ja selbst beym Sterben weiß sich ein sol-
cher Mensch aufzurichten. Indem er z.E. an die Kürtze des Lebens denckt, %.und daß

/δSeite 108

/er %nicht ein Leben %sondern Jahre zurücklegt. Das große Kunststück, dazu zu ge-
langen, besteht darinn, daß man sowol den schmertzhaften, als vergnügten
Zufällen des Lebens, ihre Wichtigckeit benehme. Der Schmertz wird einen
solchen %Menschen alsdenn nur matt afficiren, %.und der Mangel deßelben wird
ihm so gleichgültig seyn, als seyn Daseyn selbst. Es wird ihn kein Unglück
niederschlagen, %.und er wird immer Ursache finden, vergnügt zu seyn. Wird er
an einem Orte %nicht gelitten, so geht er an einen andern. Er wird dadurch
nicht fühlloß, %sondern er fühlt zwar den Schmertz, %.und alles, was ihm begegnet, %aber
er wird sich niemals %.seiner bemächtigen. Glückliche Gemüths_Art! Ein
Mensch zu seyn, ist %.wircklich keine zu wichtige Sache, denn nur blos das wahre
Wohlverhalten bestimmt den wahren Werth des %Menschen. Daher ist die Recht-
schaffenheit das wichtigste bey ihm. Er muß moralisch gut leben. Denn wohl
leben, %.und lange leben, ist für den %Menschen gar %nichts wichtiges, %.und %.vorzüglich
begünstigt dies nur den Wahn %.und die Eitelckeit. Wir müßen %aber darum
%nicht eine Wichtigckeit daraus machen, weil es andre thun. Vernünfti-
ges Leben, Rechtschaffenheit %.und Tugend sind die Wafen wieder alle Un-
gemächlichckeiten dieses Lebens. Die Kürtze deßelben aber kan uns am
besten in diese gemüths_Art setzen, daß wir zufrieden seyn. Genaue Befol-
gung befolgung deßen, was die Moral vorschreibt, damit mir das Ge-
wißen %nichts vorwerfen kann, das macht mich zufrieden, das macht mich am
Ende ruhig. Was kann ich dafür, daß die dinge in der Welt %nicht nach meinem Wil-
len gehen, meine Zufriedenheit sollen sie mir %nicht rauben, %sondern ich will mich
in sie schicken. Was kann es uns am Ende unsrer Tage helfen, daß wir
gut geschmauset haben %.und in Kutschen gefahren sind? Nur allein im Wohl-
verhalten also liegt die Wichtigckeit dieses Lebens. Habe ich %aber Zeit des
Lebens rechtschaffen %.und tugendhaft gelebet, %.und giebts noch eine andre Welt,
(und es giebt gewiß noch eine) so bin ich auch würdig, daselbst einen
andern Posten zu bekleiden. So denckt %.und handelt der rechtschaffene, zu-
friedene Mann; August, auf einer Schaubühne vorgestellt, fragt seine
Generale: Meint ihr wohl, daß ich die Rolle meines Lebens gut gespielet habe?
Ja antworteten sie, sehr wohl! Nun sagt er, so klatscht %.und zieht den Vorhang

/δSeite 109

/zu! Wenn wir mit dieser zufriedenheit die Lustigckeit %.und Traurigckeit ver-
gleichen, so scheint die Lustigckeit noch einen Vorzug für der Zufriedenheit zu ha-
ben, denn der Lustige besitzet gleichsam den Reichthum, der Zufriedene %aber nur
das nothdürftige. Flüßt aber daraus, wenn jemand mehr besitzt, als seine
Bedürfniße erfodern, daß er auch glücklicher sey? Wenn jemand über die Zufrie-
denheit auch noch die Lustigckeit sucht, so sucht er etwas, das er entbehren kan.
Man kann aber alles Vergnügen so genüßen, daß man dabey alle %.Entbehrlichckeit
spürt. So kan z.E. ein Zufriedener eine Music mit Vergnügen anhören; er macht
sich %aber auch %nichts daraus, wenn sie auch ein gantzes Jahr %nicht hört. Macht man es
in Ansehung aller Dinge so, so hat man schon das wesentliche der Zufriedenheit.
Ein Leben ohne Vergnügen scheint kaum wünschenswerth zu seyn, allein
Vergnügungen tragen zur Glückseeligckeit %nicht allemal etwas bey. Denn die
Glückseeligckeit besteht in der Zufriedenheit der summe aller Neigun-
gen. Wenn man sich alle %Vergnügungen des Lebens %.entbehrlich macht, aller
Glückseeligckeiten deßelben entsagt, so vergrößern alle %Vergnügungen un-
sre Zufriedenheit %nicht, %.und tragen %nichts zur Glückseeligckeit bey. Uberdies
verliehren wir oft auf der einen Seite das, was wir auf der andern
gewinnen. So schafen uns z.E. die Comoedien %Vergnügen, allein, wir ver-
liehren dabey auf der andern Seite, indem wir zu Hause ein gutes Buch
hätten lesen können, %.oder einen guten Freund besuchen. In der Comoedie
frieren wir, %.und hier können wir unsre %.Gemächlichckeit brauchen. Unbillig
aber ists wohl, daß jeder %.Mensch nach Reichthum strebt, weil der Reichthum
eine souveraine Gewalt giebt, über alles, was in der Macht des %Menschen steht.
Der %Mensch sucht %dadurch alle %.seine Neigungen zu befriedigen; je reicher er %aber ist,
desto mehr besitzt er Gewalt, sie zu befriedigen. Ob der alleinige Be-
sitz dieses Geldes %.glücklich macht, ist noch nicht ausgemacht. Zwar ist das Be-
wustseyn, alle Mittel, %.glücklich zu werden, in Händen zu haben, sehr angenehm,
denn der Geld Kasten ist gleichsam ein optischer Kasten, worein der geitzige
Kutschen, prächtige Tafeln %.und alles erblickt; allein die bloße Macht, %.glücklich
zu werden, macht den %Menschen noch %nicht %.glücklich, sondern der Zufall

/δSeite 110

/muß %.wirklich seyn. Reichthum vermehret überdies die Begierde, die wir haben, uns
Vergnügen zu machen, denn man glaubt für Geld alles haben zu können, ja
so gar Gesundheit %.und ein ruhiges Gewißen, Behält der %.Mensch das Geld immer
nur als ein Mittel, seine Neigung zu befriedigen, so ist es Thorheit. wenn
er noch mehr damit zu verdienen sucht, indem er Mittel anwendet, um
neue Mittel zu erlangen, dies ist %aber eine doppelte Kargheit, auf eine
so sonderbare Art sich des Geldes zu bedienen. Solche Leute weiden sich mit der
Imagination. Sie sehen ruhig Leute in die Comoedie fahren, %.und freuen sich,
daß es nur auf sie anckommt, daß sie sich dieses %Vergnügen verschaffen können.
Denn ihr Geldklumpen ist einer zauberischen Macht gleich, die alles herfürbrin-
gen kan, %.und einer Allmacht gleicht. Ob es nun %gleich ein %Vergnügen ist, sich mäch-
tig zu fühlen, ohne %.würcklich zu genüßen, so verschaft diese Macht doch
keinen Zusatz zur glückseeligckeit. Außer dem nutzt sich das %Vergnügen sel-
ber ab, denn es hat kein Mittel, sich zu verneuern. Es giebt %aber doch ei-
nige Vergnügungen, die zu unserm Glück %.wircklich etwas beytragen, aber
auch nur im Anfange. Der %.Mensch kan bey sich %nichts anders zuwege bringen,
als die Zufriedenheit. Die Lustigckeit aber, welche der Grad der %Vergröße-
rung des Lebensgefühls heißt, ist ein positiver Grad des %Vergnügens,
%.und größer, als die zufriedenheit. Das Gemüth %aber ist bey der Lustigckeit
%nicht mehr im gleichgewicht, %.und stimmt %nicht mehr überein. Das Glück des %Menschen be-
steht in der abwesenheit des Schmertzes %.und des Mißvergnügens. Wenn
aber ein Mensch, um bey der Tafel seyn Vergnügen zu vermehren, sich eine
Tafel Music hällt, so ist die frage, ob sie dabey %nicht mehr verliehren als
gewinnen? indem sie keine vernünftige Discurse führen können. Man
überlege nur, ob es %nicht beßer sey, mit einem andern guten Freunde
zusammen zu seyn, der so zufrieden ist, wie ich, oder in einer großen
Gesellschaft zu seyn, wo Music %.und viel Lerm ist. Kommt %aber wohl die Lu-
stigckeit mit der Frölichkeit in Vergleichung? Bey weitem %nicht. Die so ge-
nannte %.Lustigkeit ist zu zerstöhrend %.und räuberisch, sie endigt sich %.endlich mit
Traurigckeit. Sie ist mit einem %.Englischen Windspiele zu vergleichen, welches
man in der Stube hält, %.und welches <auf> Taßen %.und Gläsern herumspringt.
Es ist eine Art von confulsivischer %Bewegung beym %Menschen; da der Ner- 

/δSeite 111

/vensaft gleichsam %über seine Ufer tritt. Daher kommts, daß lustige Leute nach
dieser Bewegung traurig werden, wegen Erschöpfung der Kräfte. Es
giebt auch Leute, die eine schmertzhafte Laune nöthig haben; die Franzo-
sen nennen es humeur, wiewohl humeur %.eigentlich eine üble Laune an-
zeigt. Die %Menschen haben ein Vergnügen, den dingen einen Werth zu
geben nach beschaffenheit des, Gesichts_Punkts, aus dem sie sie ansehen wol-
len. So sieht z.E. jemand einen Aufzug %.oder eine große Ceremonie mit
vieler Ehrerbietigckeit an, dagegen der andre während dem lacht;
Es liegt also die Wichtigckeit einer Sache blos in der Art, wie sie jemand
ansieht, %.und es ist nöthig

/1. daß man die Sache in ihren wahren Lichte besehe,

/2. daß man sie so ansehe, wie es der Beschaffenheit der Seele am heil-
samsten ist.

/Blos Wahn %.und Thorheit haben den Sachen einen falschen Werth gegeben.
Betrachtet man daher die %Menschen auf der falschen Seite, so erscheinen sie uns
bald beneidens- bald mitleidenswerth. betrachtet man sie %aber mit ei-
nem falschen Auge in ihrer wahren gestallt, so erscheinen sie uns alle
in einer Narren Kappe. Die %Menschen hängen der Thorheit aus
Neigung, der Ernsthaftigckeit %.und den wichtigen Geschäfften hingegen aus Zwang
nach, denn Ernsthaftigckeit grentzt immer an Kummer. Ein ruhig zu-
friedener %Mensch findet bey allen Wiederwärtigkeiten etwas, woraus er
einen Schertz machen, %.und sich beruhigen kan. Thomas Morus hatte eine
so %.glückliche Gemüts_Art. Er war Groß Kantzler von England %.und ein recht-
schaffner Mann. Wenn ihm eine Sache wiedrig seyn wollte, so sah er, ob er sie
%nicht zum Spaß brauchen konnte, %aber %nicht zu schaalem Witze. Als er seinen Kopf
schon auf den Block legte, so sagte er zum Hencker: Er sollte ihm %nicht den
Bart abhauen, denn dies stünde %nicht in seinem Urtheil. Und so haben man-
che Menschen von Natur eine so %.glückliche gemüths_disposition, daß sie den dingen die
Wichtigckeit benehmen können. Bey den dingen in der Welt, denen man die
größte Wichtigckeit beylegt, ist %nichts anders, denn ein großer Lärm über

/δSeite 112

/thörichte Absichten. Die Lustigckeit ist ein positiver Grad des Vergnügens; sie ist räuberisch;
indem sie uns andre Vergnügen nimmt, da wir nur dem einen nachhängen, %.und sie
verschwendet die größten Kräfte der Seele; daher man Lustige Leute ohne ir-
gend eine Ursache auf einmahl traurig sieht. Die Traurigckeit ist das Urtheil
%über das Elend des zustandes, %.und kommt von der falschen Schätzung her. Wir finden,
daß wir sie gar %nicht leiden können. Daher entfernen wir uns gerne von traurigen
Leuten, %.und bleiben wir auch bey ihnen, so geschiehts doch nur, um %nicht den Namen
eines kalten oder gar falschen Freundes hören zu wollen. Daher bleiben wir
%nicht ungern in Gesellschaft derjenigen, die Schmertzen erdulden, %.und sie gros-
müthig %.und stoisch ertragen. Aber auch einen lustigen %Menschen ertragen wir nicht
leicht, weil wir ihn %.verächtlich finden, %.theils weil wir sehen, das ein Schmertz, der
ihm zustoßen konnte, ihn eben so trostloß machen werde, %.theils auch, weil wir irdisch
zu werden anfangen %über seine gute Gemüths_Art. Der Schmertz so wohl als die
Freude müßen communicativ seyn, %.und dies geschieht, wenn sie das Mittelmaaß
%nicht überschreiten, %.und in der Empfindung bestehen. In einen solchen Zustand
sich zu versetzen, ist %.möglich, wenn man sich von Jugend auf übt, von angeneh-
men %.und unangenehmen Gegenständen die Gedancken %.sogleich abzuwenden, denn
das Gegentheil verschlimmert %.sogleich den Character. Die Traurigckeit %.und das %Vergnü-
gen bringen %nicht allein gegenwärtige Empfindung herfür, %sondern auch das Voraus-
sehen, daß es künftig %.entweder beßer, %.oder ärger werden kann. Es ist doch etwas
Besonders, daß die alten den Tod, als ein Mittel zur aufmunterung braucht,
daher auch der Beschluß ihrer Grabschriften immer so lautet: Sey vergnügt, %.und
brauche dies Leben, weil du in kurtzem das bist, was dieser %Verstorbene ist.
Die Alten suchten %nicht, wie wir, furcht %.und Schrecken %durch den Tod zu erregen. Auch
ist zu mercken, daß einige von den alten Völckern ihre Todten verbrannten.
Z.E. die Römer, die alte Preussen etc. andere sie einbalsamirten wie die Egypter.
Beyde standen in der Meinung, dem Leichnam %dadurch einen gefallen zu erwei-
sen. Die erstere setzten ihn darin, die Seele von der %Verbindung des Körpers
gantz %.und gar zu trennen, die letztern, die gemeinschaft der Seele mit dem
Körper noch zu unterhalten. Der Geschmack ist von der Empfindung %dadurch unter-
schieden, daß die Empfindung eine Lust über meinen eigenen veränderten Zu-
stand ist; der Geschmack %aber eine Lust in der anschauung ist, die wir von dem
Object haben. In einigen Organen haben wir mehr Erscheinung als Empfindung,

/δSeite 113

/%.und so das gegentheil. Im gefühl hingegen ist gleichviel Erscheinung %.und Empfindung. Eine
gar zu große Empfindung hindert das Urtheil, %.und die aufmercksamckeit aufs
Object. So können wir, wenn wir zE. aus einem finstern Keller auf einmal ins
Licht kommen, %nicht auf die herumliegenden Gegenstände acht haben, %.und sie be-
mercken. Ein Grund der Lust, der in der Erscheinung liegt, heißt das Schöne.
Der Grund der Unlust heißt das heßliche. Eine Lust aus der anschauung ge-
nommen, vergrößert unsre Glückseeligckeit %nicht, im mindesten, %.und ist weiter %nichts,
als das Verhältnis meiner Erkenntniß zum Objecte. Wenn aber die Schönheit un-
ser Wohlbefinden vermehret, so daß wir den gegenstand noch einmal zu se-
hen wünschen, so ist sie schon mit einem Reitze verknüpft.

/ ≥ Bedingungen des Geschmacks. ≤

/Wir mercken hier zuerst an, daß die Schönheit gantz allein unmittelbar ge-
falle, da es hingegen ein mittelbares angenehmes z.E. das Geld, %.und ein unmittel-
bares Gut z.E. die Wissenschaften giebt. - Vergrößern %aber die Wissenschaften
die Vollkommenheit des %Menschen an sich selbst, oder tragen sie nur etwas dazu bey?
Die Schönheit ist %.mehrentheils unnütze, %.und das, was man %.wesentlich schön nen-
net, erhält einen andern Zuwachs. Ob nun eine Person schön %.oder heßlich
sey, sieht man durch die Anschauung: die schlechten Züge %aber werden durch
Geldsätze %nicht schön. Was die Schönheit betrift; wir wollen zuweilen etwas
gantz rein haben, %.und also auch den Geschmack. Das Urtheil %über die anschauung
ist etwas unmittelbares, also auch die Schönheit. Das Vergnügen %über die Erfindung
oder Auflösung mathematischer Beweise ist gantz rein. Und hier findet der %.Mensch
ein Vergnügen, wenn er die Thätigckeit einer gantz besondern Kraft ver-
spürt, da er überdem ein gleiches fühlt, wenn er alle sein Vermögen ver-
mischt, %.und in Thätigckeit versetzt sieht. Wenn etwas im Geschmack gantz allein
gefallen soll; so muß man auf den Nutzen der Sache gar %.keine Rücksicht nehmen.
Daher gefällt uns eine wohlgemachte Dose von Papier mache«r»e weit Be-
ßer, als eine %.köstlich ausgearbeitete silberne Dose, weil aus dieser der
Geitz gleichsam herfürguckt, %.und verkauft %.und zu Gelde gemacht werden kann.

/δSeite 114

/Das Porcellan, die %.unköstlichen Garnitaeen Braban der Spitzen pp werden eben aus
Mangel des Nutzens für schön gehalten. Wir halten doch %aber auch ein wohlgearbei-
tetes goldenes Gefäß für schön, weil man sieht, daß man, da doch Geld hierzu %nicht
verwandt zu werden pflegt, gleichsam auf den Nutzen deßelben renoncirt. Der Nutzen
ist ein Gegenstand der reflection, der Geschmack %aber ein Vorwurf der Anschau-
ung. Wir finden auch, daß wir recht stolz darauf thun, uns so fein zu fühlen, wenn
wir im Geschmacke %.und in der anschauung %Vergnügen empfinden. Ja wir haben so gar
von einem Bauren, der sich an statt des Pflugs ein schön Gemählde anschaft,
%.und dann die <her>umstehende Menge vielleicht auslacht, eine große Meinung, ob wir
ihn %gleich für einen schlechten Wirth halten werden. Gefühl %.und Geschmack unter-
scheiden sich %.unendlich. Vergnügen %.und Schertz werden nur vom Sinne begleitet, %.und
%.von alle dem verursacht, was einen Eindruck zuwege bringt. Hingegen ist der Ge-
schmack eine Vorstellung der Sachen, wie sie im Wohlgefallen erscheint, welches
aus %.unsrer eigenen Thätigckeit, Gegeneinanderhaltung %.und Vergleichung entlehnt ist.
Bey einigen Sinnen attendiren wir mehr auf die Vorstellung als auf die Ein-
drücke. So viel ist zwar wahr, daß ich auch die Vorstellung im Geschmack gleich falls
mit einem Gefühl vergleiche, %aber doch nur in Ansehung der Vorstellungen. Es
giebt auch noch eine Art von Vergnügen, einen schönen Gegenstand gesehen
zu haben, für einen, der kein Kenner davon ist, welches %.nemlich aus der Zunei-
gung entsteht, wovon wir vielen, die es %nicht gesehn %.und gehört haben, zu erzählen
wißen. Sonst %.aber gehört zum Geschmack eine Urtheils_Kraft gantz allein;
zum Gefühl %aber als welches Reitz %.und Rührung voraus setzt, nur Sinn. Geschmack ist
ein %.sinnliches Urtheil, %aber %nicht %.eine Urtheils_kraft der Sinne, %.und der Empfindung, %sondern der An-
schauung %.und %Vergleichung durch Anschauung Lust %.oder Unlust zu bekommen. Daher giebts
viele Menschen, die zwar vieles gefühl haben, weil sie Reitzbarckeit besitzen,
%aber %.keinen Geschmack, weil sie an Urtheils_Kraft Mangel leiden. Der Geschmack
muß beständig erlernt werden, dahingegen das Gefühl höchstens %durch Übung
nur verfeinert wird. Ferner richten auch alle Künste, die fürs Gefühl sind,
den Geschmack zu Grunde. Daher scheinen alle dichter, die stürmisch %.und sehr

/δSeite 115

/süß rasen, denselben zu entbehren, weil das Gefühl gantz richtig ist; «¿»eben dies gilt
auch von den Predigten, die da weiter gar keinen Nutzen haben, als der sich auf
einige Augenblicke bezieht, wenn sie %.nemlich das Gefühl rege zu machen suchen,
welches man aber vom moralischen gefühl, da man das Gute %nicht aus Nachah-
mung, %sondern aus Anschauung erckennt, unterscheiden muß. Denn wenn hier der
Prediger mit dem donner %.seiner Beredsamckeit aufhört, so wird man bald ru-
hig, weil das gefühl %nichts beständiges herfürbringt. Überhaupt muß man nur
Thoren %durchs Gefühl bewegen, %.und der größte Schade entsteht daraus, wenn
man sich bey Untersuchungen darauf beruft. Was im Geschmack gefallen
soll, muß allgemein seyn, %.und das Urtheil, welches durch ihn gefället wird, muß
%nicht ein privat, sondern allgemeines Urtheil oder ein allgemeiner Grund
des Wohlgefallens seyn. So speiset %.derjenige mit Geschmack, der sich %nicht blos dem
Appetit accomodirt, %sondern seinen Tisch so besetzt, daß alle %Menschen gerne mit
ihm eßen würden, wie wohl man itzt den Grund eines guten Wirths gantz umge-
kehrt hat, %.und mit diesen Namen, %.und mit diesem Namen einen solchen belegt, der %nicht für sich
selbst, %.und noch weit weniger für andre gut speiset, %.und kurtz, der ein karger
Geitzhals ist. Es erwerben sich daher dieselben, welche beständig alleine
eßen, keinen Geschmack. Es wäre hier werth zu untersuchen, ob auch wohl
bey allen Arten der Empfindungen ein allgemeiner Grund der Überein-
stimmung seyn kann. Daß ein solcher beym Geschmack seyn müße, erhellet daraus,
daß es anders %nicht %.möglich seyn würde, für alle Personen eine schmackhafte Mahlzeit
zuzurichten, %.und sie darauf einzuladen. Indeß kennen wir den Geschmack, der auf
Empfindungen hinaus läuft, nur aus Erfahrungen; %.denjenigen aber, der sich auf anschauung
bezieht, oder den %.idealischen Geschmack a priori. Doch können wir auch zuweilen bey
neuen gerichten errathen, ob es dem Geschmack allgemein gefallen werde, %.oder
nicht. Der Geschmack ist ferner %.gesellschaftlich %.und das principium des Zusam-
menhaltens einer Gesellschaft %.und des allgemeinen Vergnügens. Daher fragt
ein %Mensch in einer tiefen Einöde gar %nicht nach dem Geschmack, %.und es ist zu ver-
muthen, daß derselbe in einer wüsten Insel selbst mit einer %.heßlichen Frau

/δSeite 116

/zufrieden seyn würde, denn der Werth einer schönen Gemalin besteht nur da-
rinn, daß man sie andern vorziehen könne. Der Punkt, daß ein Ding allen gefal-
le, wird %.endlich der stärckste. Wenn daher jemand in der Gesellschaft einen an-
dern einen Spaß erzehlt, worüber er lacht, so sieht man sich um, ob %nicht ein
allgemeines Gelächter entstehe. Das Wohlgefallen kann groß seyn, %.obgleich das Ver-
gnügen selbst sehr wenig beträgt; %.und hierin besteht eben das Edle des Geschmacks,
da wir die Schätzung des Werths an einem Dinge %nicht in Rücksicht eines eintzigen,
%sondern in Verhältniß auf alle vernehmen. In der Einsamckeit auf dem Lande ge-
fällt uns bald ein Garten, bald ein Wald; in der Stadt %aber wirckt es das Ge-
gentheil, weil er %.nemlich das Land in %.kleinem MaaßStabe vorstellt; denn es scheinet
überhaupt, daß der %Mensch allein betrachtet, gar keinen begrif von Schönheiten
haben würde, daher wir ihn auch bey Ungeselligen gar %nicht bemercken.
Wenn man nun aber immer ausspähen muß, allgemein gefällt; so hat ja
der Geschmack keine Regeln, die fest sind? Der geschmack hat immer principia,
die in der Natur der %Menschheit gegründet sind, allein Beobachtungen müßen
uns erst die Regeln vorzeigen, %.und wir können sie nur durch Erfahrung bekom-
men. Wenn %aber jemand dawieder einwenden wollte, daß %.dasjenige, was man
schön nennt, wechselt; so müßen wir sagen, daß dies der modische Geschmack
sey, der aber %nicht den Namen eines Original-Geschmacks verdienet. Wer aus
Mode wählt, weil er sie für das principium des Schönen hält, der wählt
aus Eitelckeit %.und Wahn, %nicht %aber aus Geschmack. Ob nun %.gleich die Einstimmungen,
die man der äußern form giebt, daß sie %.nemlich mit der Form der
mehrsten überein stimmt, eine Art von Schönheit ist, %.und das altväteri-
sche anzeigt, wie man %nichts als gut zu finden, fähig ist, als deßen, was
man schon gewohnt ist, so stimmen dennoch die Regeln %.und die Urtheile des
Schönen gar %nicht mit der Mode überein, %.und Mode %.und Gewohnheit sind dem
Geschmack entgegen. Der Mann von Geschmack richtet sich zwar auch nach
der Mode, aber nach principiis des Geschmacks. Das Frauenzimmer

/δSeite 117

/ist modisch im Urteil, der Mann hingegen urtheilt %.gewöhnlich nach principiis. Ei-
nige Moden verfallen sehr geschwind, andere erhalten sich lange, vielleicht
daher, weil kein andrer Ton angegeben wird. Daher laßen sich viele in roe-
mischer Kleidung mahlen, weil diese beständig bleibt, %.und unsre fast alle
Tage geändert ist, %.und die alten Moden der Enckel Welt %.lächerlich vorkommen.
Manche Moden entstehen daher, weil man jemanden, den vielleicht al-
les gut kleidet, damit prangen sieht, %.und man verwirret wird, worein
%.eigentlich bey ihm die Schönheit zu setzen sey. Der Geschmack zeigt eine Über-
einstimmung, eine %.sinnliche Beurtheilung an, %.und das Sprüchwort: de gustibus non
est disputandum, ist also falsch. Denn disputare heißt soviel, als Beweisen, daß
ein Urteil auch für den andern gültig sey. Und der Satz. Ein jeder hat %.seinen
eignen Geschmack, ist also ein Satz der Unwissenheit, %.und ein gut principi-
um der Ungeselligen. Man streitet %nicht %über den Geschmack, weil %.keiner
dem Urteil des andern, darinn zu folgen verlangt. Wenn nun %aber ein Ge-
schmack %nichts wäre, was allgemein gefiele, so wäre es ein Gefühl. %.Folglich muß
es sich über den wahren Geschmack disputiren laßen. Ein jeder nach %.seinem Ge-
schmack. Also jeder genüße %.sein Vergnügen allein; daraus folgt, daß jeder al-
leinbleiben soll. Wenn jemand gute freunde zu sich bittet, so wird er sich nicht
erst nach eines jeden Geschmack erckundigen, sondern er wird sich nach dem
allgemeinen richten. In den principien des Geschmacks ist zwar vieles
empirisch, %.und bey Gelegenheit der %Erfahrung gesammlet, %aber die Gründe der Beur-
teilung sind %nicht blos aus der %Erfahrung abstrahiret, sondern sie liegen in der
Menschheit, %.und dann, wenn das Urteil des Geschmacks mit dem Urteil des Ver-
standes begleitet ist, so liegen sie gewiß in der Natur unsrer Sinnlichkeit;
daher ist das Urteil des Geschmacks %nicht privat, sondern die Menschen haben allgemeine
Regeln der %.Beurtheilung des Geschmacks. Hieraus sieht man, daß sie niemals
entgegen gesetzt seyn können. Denn da sie von eben dem Objecte gelten, %.oder da die
Gesetze der %.Sinnlichkeit bey allen einerley sind, so würden entgegengesetzte Urtei-
le des Geschmacks eine Contradiction herfürbringen. Eins muß wahr, %das andre falsch

/δSeite 118

/seyn. Urteile des Gefühls hingegen können sich opponirt seyn, weil Empfindungen das subjecti-
ve ausdrücken, nur müßen es %nicht reflexiones seyn, die man für Empfindung hält.
Wenn also dem einen in der Stube zu warm, dem andern zu kalt ist, so sind ihre Urthei-
le zwar wiedersprechend, %aber sie können doch beyde Recht haben. Denn es sind 2erley sub-
jecte, %.und jeder urtheilt so, wie er afficirt wird. Die Luft ist einerley, nur bringt sie
in verschiedenen subjecten %.verschiedene Veränderungen herfür. So hält einer ein
gedichte fürs beste, das dem andern gar %nicht gefällt. Hier kann man wohl sagen; de
gustibus etc. denn man kan dem andern %.seine Empfindungen %nicht abstreiten. Die %Menschen
aber nehmen sehr oft ihre subjective Urtheile für Objective. Einer sagt von %.einer
Person, daß sie %.heßlich sey, dem andern kommt sie %.unleidlich vor, %.und der dritte findet
gar %.keine %.Annehmlichkeiten bey ihr. Diese urtheilen %nicht von der Person, %sondern von ihren Em-
pfindungen, %.und also %nicht objective %sondern subjective, %über die Art, wie sie afficirt werden.
Vom Angenehmen %.und Unangenehmen muß man %nicht streiten, denn dies ist ein Streit
%übers subject. Gut %.und Böse ist %.eine Sache des Objects. Schönheit %.und heßlichkeit gilt
also %.wircklich von den Objecten, %.und es würden @sowohl@ allgemeine Gesetze der Sinn-
lichkeit als des %Verstandes ausgefertigt werden können, d. h. eine Wißenschaft,
für jene eine Aesthetic %.und für diese eine Logic. Eins der Gesetze dieser
Aesthetic heißt: alles, was die sinnliche Anschauung erleichtert %.und erweitert,
erfreut uns nach objectiven Gesetzen, die für alle gelten. Unsere %.sinnlichen
Anschauungen sind %.entweder im Raum, %.nemlich die Figuren %.und Gestallten der din-
ge, oder in der Zeit, %.nemlich das Spiel der Veränderung. Es sind also ge-
wiße allgemeine Regeln der Aesthetic; Reitze %.und Rührung %aber müßen
wir jetzt bey Seite setzen. Die %Vorstellung oder Gestalt oder Figur der dinge sol-
len nach gesetzen der %.Sinnlichkeit gemalt werden. Nun haben alle %Menschen ge-
wiße einstimmige Gesetze, wodurch sie sich die Gegenstände formieren, dies sind
Gesetze %.und %Vorstellungen. Zweyerley gehört nur zur %.sinnlichen Anschauung im Raum, %.nemlich
proportion der Theile %.und ihr Ebenmaaß, %.und ihre Richtigckeit, welche Symetrie
%.und Evrithmie heißt. Eine Ordnung der Dinge in der Zeit, nennt man ein
Spiel; %.und ein Spiel der Gestallten ist ein Wechsel derselben in der Zeit. In ei-
ner guten Music wird auch zweyerley erfodert, %.nemlich der Takt, %oder eine
gleiche %abtheilung der Zeit, denn %aber auch, wenn viele Töne %vereiniget werden,
eine Consonantz %.und proportion der Töne. Es gefält dieses, weil

/δSeite 119

/alles, was unser Leben vergrößert, diese Wirckung bey uns herfürbringt,
welches man allerdings von einer Erleichterung des %.sinnlichen Anschauens sagen
kann, indem die %Menschen ein großes Mannigfaltiges %nicht anders sich vorstellen
können. Also alles, was die %.sinnliche Anschauung erleichtert, gefällt, %.und ist schön; es ist
den subjectiven Gesetzen der %.Sinnlichkeit gemäs«¿», %.und befördert das innere
Leben, indem es die %.Erkenntniß Kräfte in Thätigckeit setzt. Diese Erleichterung ge-
schieht durch Raum %.und Zeit. Symetrie erleichtert die %.Begreiflichkeit, %Verhältniß
der Sinnlichkeit. Bey einem unproportionirt gebauten Hause kann ich mir
das gantze schwer vorstellen, bey einem wohlgebauten %.aber sehe ich gleichheit auf
beyden Seiten, Gleichheit der Theile, %.und dies befördert meine %.sinnliche %Vorstellung.
Eine Erweiterung unsrer %.Erkenntniß %.und %.Mannigfaltigkeit aber wird zum %.sinnlichen wol-
gefallen erfodert. Nun vermehrt %aber die Anschauung das Leben der Thätigkeit,
%.und begünstigt sie, daher muß es mir gefallen; aber eben deßwegen auch
allen; denn diese Regel liegt bey allen zum Grunde. Alle %Menschen haben Be-
dingungen, unter denen sie sich ein großes mannigfaltige %.sinnlich vorstellen.
Musici heißen Spieler; wir können %aber auch Tänzer, Spieler der Gestalten nen-
nen, so wie bey Pantomimen. Beym garten finde ich Schönheit durch begreif-
lichkeit. Ist keine Ordnung darinn, so kan ich mir kein Bild davon machen,
denn ich sehe zuviel auf einmal. Wenn ich einen Garten ansehe, so bin ich
beym ersten Anblick ernsthaft %.und sehe Proportion %.und Symetrie. Er gefällt
mir daher, weil es mir %.gemächlich ist, mir ihn vorzustellen. Es darf etwas %nicht
allen gefallen, deshalb

/1. weil dazu eine Kunst gehört. Ohne daß ich etwas %verstehe, kan ich es %nicht schön finden.

/2. weil wir noch etwas beßeres kennen.

/Wenn wir das Beßere verkennen könten, so würde uns die Sache gefallen; %aber
sie gefällt uns doch auch wircklich, ohne daß wir es wißen. Diese scheinbare
Geringschätzung kommt her von der %Vergleichung der Gegenstände gegen einander,
die man anstellt. Daß aber die Vergleichung eine solche Veränderung herfür-
bringen kann, zeigen die Beobachtungen. v. Bielefeld sagt in seinen Briefen:
Heidigger glaubte, wegen %.seiner Pocken Narben, der heßlichste zu seyn,
%.und man stellte deshalb eine Wette an; der andre zeigte eine Weibs Person
herfür, die %.freilich in Ansehung anderer Weibs Personen schlecht aus sah. Der
erste setzte ihr aber seine Peruqve auf, indem er wohl wußte, daß der anschein
der größern heßlichkeit von der zwischen ihr %.und dem übrigen Frauen
Volcke angestellten %Vergleichung herrühre, %.und zog Frauen Kleider an; darauf

/δSeite 120

/sah <er> weit %.heßlicher, sie %aber leidlicher aus. Denn als Weib gekleidet, verglich man
ihn mit Weibern, sie hingegen in der Peruqve mit Männern, %.und so verlohr
er noch weit mehr %.und sie «¿¿»hingegen gewan mehr. Die alten Weiber sehen
sehen gegen Manns Personen noch hübsch aus, %.und sie verlieren nur %durch die Ver-
gleichung mit hübschen Mädchen. Die schönsten Mans Personen aber in
Frauenzimmerkleider gehüllt, sehen frech %.und unangenehm aus. Daher
giebt man den alten frauen so %.empfindliche Beywörter: zE. Hexe, weil
sie das Unglück haben, mit jungen Mädchen verglichen zu werden, da sie
in Rücksicht auf ihr geschlecht freylich mehr abgenommen haben, %.und ver-
ächtlicher geworden sind, als die Männer gleiches Alters, welche gegen jene
noch immer schön genung aus sehen. Wenn wir die interessirte Neigung
zu dem schönen Geschlecht fahren ließen, so würden sie uns nur %.er-
träglich seyn. Der eine kann etwas heßlich nennen, was der andere gut
nennt«,». Es ist hier was comparatives. Das principium, de gustu non est
disputandum, bleibt also immer dumm, %.und es wird dem %Verstande %dadurch ein
so schönes Feld zur Beurtheilung entzogen. Es ist %aber ein wahrer Be-
weis der Vorsicht, daß sie solche Gründe des Geschmacks in den %Menschen ge-
pflantzt hat, %wodurch der Glückseeligckeit bey dem %Menschen gelegt ist. Da
Proportion, Gleichheit der Eintheilung unsere Anschauung sehr erleichtert,
so stimmt es mit den subjectiven Gesetzen unsrer Sinnlichkeit überein,
%.und dies gilt von allen, was uns die %Vorstellung des Gantzen leicht machet,
%.und die Erweiterung unserer Kenntniße Befördert. Wir müßen %aber einen
Unterschied machen zwischen schönen Gegenständen %.und schönen Vorstel-
lungen von denselben. Denn wir können auch %.von heßlichen Gegenständen
schöne Vorstellungen haben. So kan uns %.eine heßliche %aber schön gemalte Per-
son gefallen. Einige Thiere mißfallen uns, sind sie %aber in Marmor
gut abgebildet, so gefällt uns das Bild wegen der Übereinstimmung %mit
den Gegenständen. ZE. eine Schlange ist in unsern augen heßlich;
allein eine accurate abbildung derselben in Marmor nennen wir schön.
Wir haben auch schöne Vorstellungen von gegenständen, die in sich
gar keine Schönheit haben, wenigstens ziehen wir sie %nicht in %Betrachtung.
ZE. Mathematische figuren; demonstrationes aber, wenn sie kurtz %.und leicht sind,

/δSeite 121

/ist eine Schönheit bey uns. Aber eben ihre Kürtze; ihre Vollständigckeit, ihr %.natürliches
Licht %und Faßlichckeit macht sie schön, %und das wolgefallen an der Erleichte-
rung in den Beweisen macht ihre Schönheit aus. Es ist hier %durch Übereinstimmung mit
den subjectiven Gesetzen des %Verstandes, vermöge welcher ich etwas leicht ein-
sehe. Die logischen Gesetze sind die, die da zeigen, wie man zu richtigen Erkennt-
nißen der Sachen gelangt, es sey %durch Schwierigckeit oder %durch leichtigckeit. Etwas stimmt
also mit den objectiven Gesetzen überein, wenn in der %.Erkenntniß Wahrheit, Über-
zeugung %und Deutlichkeit anzutreffen ist, wenn sie gleich mit %.Schwierigckeiten erlangt
wird. Hingegen mit unsern subjectiven Gesetzen, wenn sie die Thätigckeit un-
sers Verstandes in ein leichtes Spiel setzet. Wenn die Aesthetic eine disciplin wi-
ßenschaft wäre, %.oder wenn aesthetische Gesetze existirten; so würden sie zeigen,
wie man eine demonstration leicht, faßlich, naiv, %und %durch ein %natürliches Licht
klar machen könne. Voltair hatte dies an sich, daß er die schwersten Sachen leicht
zu machen wußte, so daß man sich zuletzt wundert, was bey solchen Sachen
Schwierigckeiten gemacht. Bey aller Schönheit des Geschmacks %aber muß man
dennoch einen Unterschied machen, zwischen dem, was schön %und was hübsch ist;
denn Beym Schönen ist immer Reitz anzutreffen, Beym hübschen %aber nicht. Ein
Frauenzimmer ist venusta, wenn ihre Schönheit mit den Reitzen der Gratien
verbunden ist, pulchra %aber, wenn ihr diese fehlen. So giebts Mädchen, %und andre
dinge, die zwar gute Züge haben, allein von Reitzen entblößt sind; %und wiederum,
welche reitzen ohne schön zu seyn. ZE. die Züge der Sanftmuth, weil diese den
Mangel der Hinderniße in gesellschaft, %und die Züge der %.Munterkeit, weil sie
die Erleichterung des Umganges anzeigen. Die Züge der Sanftmuth stimmen mit den
sanften Empfindungen %und machen Reitz; die Munterkeit stimmt mit der Deli-
catesse der Höflichckeit, %und die %.Leichtigckeit wird im Umgange bald bemerkt.
Bey Frauenzimmern, die Reitze ohne Schönheit haben, kommt der Reitz überhaupt von
der Geschlechter %Neigung her, weil es ein Frauenzimmer ist. Was schon ist, belustigt,
läßt uns %aber kalt. Eine Gesellschaft, sagt man, ist todt, d.h. @siehet\sie hat@ %.keine Reitze. Der
Reitz ist %.entweder %.körperlich oder idealisch. Der %.Körperliche ist grob, der idealische hat %.gemei-
niglich die moralitaet zum Gegenstande. Der Reitz in der Music ist in dem, was
meine affecten in Bewegung setzt. Ein nach allen regeln der Music componirtes
Stück, kann schön seyn, %und gefallen, %und doch %.keine Reitze haben. Es läßt uns ungerührt,
wir approbiren es nur. Oft sind Neben-Umstände, die uns %.eine Sache reitzend
machen; So kan uns eine Sache der Neuigckeit wegen reitzbar vorkommen, weil
wir sie zum erstenmal«e» sehen, da sie neu ist, weil ich sie allein sehe, weil

/δSeite 122

/sie mir, %.oder meinen Verwandten gehört pp Eine ist schön %und hat einen besondern Reitz
für mich, weil ich sie aus meinem Zimmer übersehen kan. Die %Menschen sind dabey
sehr eigen, sie suchen aus den elendesten Dingen Reitze heraus; dieser %aber ist der
%.körperliche Reitz, weil er %durch %.körperliche %Bewegung herfürgebracht wird, %.und heißt
der indirecte Reitz, %.oder Rührungen - Es giebt gewiße Dinge, die sinnlich
angeschauet werden, %.und Ideen verursachen, diese Ideen wircken wieder zu-
rück auf den Leib, bringen Bewegungen im Körper hervor, worauf eine
Empfindung erfolgt, die uns in ihren Folgen gefällt. Von dieser Art ist
das Lachen, Bey we«¿»lchem die Idee eine unerwartete Umkehrung des Vorher-
geschehenen ist, welches sonst gleichgültig ist. woher kommt das %aber, daß uns
dasjenige, was uns Lachen erregt, vergnügt? %und weswegen gefällt uns
das, worüber wir lachen? Dies Vergnügen kommt %nicht von den Sachen her, denn
dies sind meistens schlechte, alberne Dinge. Also %nicht die Schönheit des Gegen-
standes, auch %nicht die Eigenliebe, ist Ursache davon, denn sollte ich mich da-
rüber freuen, daß ich beßer bin, als andere? Die Ursache ist vielmehr
eine unvermuthete Umkehrung der Idée, %.eine %hervorstehung %.einer Sache, die
mich %nicht interessirt. Sonst ist es %.entweder ernsthaft %.oder gleichgültig. Kein
vernünftiger %.Mensch wird %über einen andern lachen, wenn es dem andern
keine Kleinigckeit %.oder interessant ist. Beym Lachen ist eine Art von
Contrast, eine wiederkehr der Idée. Sie unterscheidet sich %dadurch vom
Contrast, daß hier nur Vorstellungen neben einander, dort %aber eine
%.ordentliche Wiederkehr des %Verstandes ist. Wenn z.E. jemand bey einem Schnee
Gestöber ausfährt %.und sich, wenn er %.endlich lange genug gefahren ist, vor %.seinem
Hause erblickt, so lacht man darüber. Monstom erzählt in seinen Reisebeschrei-
bungen, daß, als ein Churlaendischer Edelman von Sach auf befehl des Her-
zogs nach Kamschatka reisen sollte, er niemals dahin gekommen; sondern
als er weit genug gereißt zu seyn glaubte, so sahe er sich vor %.seine eigenen
hausthüre zurückgeführt, ob er gleich 2. Jahre gereißt war. Dies Befrem-
dende unerwartete giebt uns Lachen, die Idéen gerathen in eine tumul-
tuarische %Bewegung, %.und die finstre Nerven des Körpers werden gezwikt.
Dies Zwicken verbreitet sich bis ans Zwergfell, %und %durch diese Empfindung ent-
steht das Lachen. Das Lächerliche %vergnügt %nicht in der Idée, %sondern in der %Bewegung.

/δSeite 123

/Dies Vergnügen %aber bringt bloß eine %.körperliche bewegung zuwege; die Empfindung,
welche in der Idée entspringt, macht das Wohlgefallen des lachens %und seinen
Reitz aus. Man muß in der Geschichte, über die man lacht, Schönheit suchen. Das
durch die Idée in Bewegung gebrachte Zwergfell macht das angenehme, daher mögen
wir <es> auch gerne mit Thränen Bezahlen. Woher kommts, daß wir ein schaudernd
Vergnügen empfinden, %.und das wir das gerne sehen, was wir uns mit beständigem
Grausen vorstellen müßen? Woher erweckt das melancholische %durch die %Be-
klemmung der Brust ein Vergnügen? So stellen wir uns gerne einen %.Menschen vor,
der in einer wüsten Einöde in eine %.abscheuliche Tiefe fällt. Dies kommt daher,
weil in unserm Körper ein feines Gewebe von Nerven ist, zu denen %.keine
motion, kein Mittel durchdringen kan. Auf die nun wircken unsre Ideen, %.und
zwar auf verschiedene Art. Auch kommts daher, weil der Gegenstand uninteressant
ist, %.und uns %nichts angeht. Denn interessirt uns etwas, so ist es Ernst, %.und dann hört alles
Plaisir auf. Das Vergnügen dabey entsteht daher, weil eine ernsthafte Idee, die
wir uns vom Unglück machen können, nachlassen kann, wenn wir wollen. %Durch
unsre Willkühr also können wir unsren Körper in eine %Bewegung bringen, die %.keine
Medicin verschaffen kan. Alles kommt wieder in ein aeqvilibrium wenn wir
uns satt geweint haben, da die nerven vorher subtil erschüttert wurden. Bey
diesen organen des %.menschlichen Körpers, die %durch die verschiedenen Stellungen nicht in
Bewegung gebracht werden können, hat es die Vorsicht so eingerichtet, daß die Ideen
der %Menschen auf die Empfindungen «¿¿»wirken, doch jede auf eine Besondre Art. Einige
Nerven werden zusammen gezogen, andre dilatirt, %.und so wird der gantze Kör-
per durcharbeitet, %.und es ist eine gute reparation des Körpers, die aufs In-
nere geht. Die Vorsicht hat daher sehr weise gesorgt, daß wir %nicht sehen, nicht hö-
ren können, ohne Empfindung dabey zu haben. Einige Personen werden %dadurch gesund,
daß sie sich aergern, nur muß ihnen bey ihrem Poltern %.keiner wiederstehen. Ein Be-
rühmter medicus, der sich besonders mit Meßung des Gewichts des %Menschen abge-
geben, entdeckte, daß er beym Carten Spielen %nicht nur einen großen appe-
tit bekäme, %sondern daß auch eine weit stärckere transpiration vor sich gehe, als
durch starcke motion. Es ist also sehr vortheilhaft, daß wir %nicht sehen, reden etc.
können, ohne daß die Idéen auf unsern Körper wircken. Der Alte Lacht ger-
ne, %.und ist daher gerne in Comoedien; die Jugend, die sonst weit häufiger

/δSeite 124

/lachen mag, ist gerne in Tragoedien. Die Ursache liegt darinn, weil die
Leichtsinnigckeit der Jugend darinnen ein Gegengewicht findet, %durch die Schwer-
muth %.und Beklemmung (der Brust) des Hertzens, welche %aber Bey ihnen nicht haftet,
%sondern nachläßt, wenn das Stück geendigt ist. Bey den Alten hingegen haften die
Eindrücke der Tragoedie länger, %.und sind dauerhafter da im Gegentheil das
Vergnügen Bey ihnen Bald aufhört, %.und Bey der Jugend länger haftet.
Doch muß man auch sagen, daß sowohl Leute, die sehr viel lachen, als die, wel-
che ernsthaft sind, %über einige angelegenheiten keinen Geschmack zeigen.
Das %Vergnügen also, was man an Comoedien %.und Tragoedien hat, liegt nicht in
der Idée, sondern im Magen. Daher rührt es auch, daß einem ein Stück %nicht
tragisch genug ist, %.und für den andern wieder zu viel tragische Auftrit-
te hat. Der wahre Geschmack ist von dem allen unterschieden. Die wahre
Schönheit ist ernsthaft %.und gelaßen; das wahre Schöne besteht %nicht im Lachen;
das Leben gehört zum indirecten Reitze. Das Lachen %.oder die %Neigung alles %.Lächerlich
zu machen, stimmt mit dem gesunden %Verstande sehr wohl überein, %.und giebt
eine weite aussicht an. Etwas im Ernste anzunehmen, ist %.keine Kunst,
%.und zeigt wenig Genie an; die Neigung, alles ins Lachenswerthe zu ziehen
zeigt die heiterckeit des genies nur an, %.und diese, wenn sie sich über alles
verbreitet, ist nur eine Masqve der gesunden Vernunft. Es ist Beßer,
etwas Bey guter Laune zu verrichten, wodurch der %.Mensch bey der Fähig-
keit erhalten wird, %.und daher ist es auch Beßer, das Laster von der %.lä-
cherlichen als von der %.schändlichen Seite zu schildern. Der %Mensch sieht bey einer
ernsthaften %.und gravitaetischen Miene lächerlich aus; %.und je ernsthafter er auf
seinem Stecken_Pferde reitet, desto lächerlicher erscheint er.

/ ≥ Von dem Nutzen der Cultur
des Geschmacks. ≤

/Die Beschäftigungen des Gemüths mit dem Schönen, verfeinern es,
%.und machen es moralischer Eindrücke fähiger. Auch schärft die Cultur des Ge-
schmacks die Urteils_Kraft. Sie verfeinert den gantzen %Menschen, %.und ver-
ursacht, daß er eines %.Idealischen Vergnügens fähig wird. Der genuß der mehre-
sten Dinge, ist ein Verbrauch der Sache, %.und ist also %nicht eine Theilnehmung vieler.
Die Vergnügen des Geschmacks %aber sind edler. Sie sind theilnehmend, %.und
eben darin steckt das Feine. Ein schöner Garten, den ich sehe, kann viele ver-
gnügen. Der Geschmack hat etwas feineres, etwas mit der moralitaet

/δSeite 125

/analogisches. Er vermehrt %nicht mein Wohlbefinden, sondern es laßen sich meine
Vergnügungen nach Geschmack vertheilen. Er richtet alle Vermögen der %Menschen so
ein, daß sie zum Vergnügen anderer beytragen. So kann eine Music von viel 1000.
%Menschen angehört werden. Außer der Verfeinerung macht uns der Geschmack
auch gesellig. Die Verfeinerungen unsers %.sinnlichen Urtheils so gar macht den
%Menschen fähig, %nicht bloß an %.sinnlichen Eindrücken zu hangen, %sondern selbst Schöpfer %.seiner Ver-
gnügungen zu seyn. Alle %.idealischen Vergnügen sind mehr aus der reflexion als
dem Genuß der Sache genommen; Ein Auctor sucht die leichtfertige Art der Ge-
dichte z.E. Lieb %.und Wein mit schönen Farben zu schildern, zu rechtferti-
gen. Er sagt, sie Befördern die Moralitaet, verfeinern den Geschmack, das
%.idealische Vergnügen; %.und verbeßern den %Menschen. Derjenige Mensch ist %.glüklich,
der sich ein idealisch Vergnügen verschaffen kann; %.und ein %Mensch, deßen Ge-
schmack verfeinert ist, ist eo ipso beßer geworden. Hume behauptet gegen
Rousseau, daß die alten rauhen Sitten auch die %Menschen untereinander ungesel-
lig, %.und der Moralitaet unfähig gemacht haben, %.und daß die Verfeinerung des Ge-
schmacks, uns zwar %nicht gantz allein, %aber doch unvermerkt beßere. Das zu sehr
modische im Geschmack verräth einen %Menschen ohne Grundsätze. Ein solcher %.Mensch
denckt %nicht immer für sich selbst, denn er sucht nur der erste zu seyn von Sachen,
von denen er voraus sieht, daß sie allgemein werden können. Der Gebrauch
%.und die Mode %aber im Geschmack sind unterschieden. Kleidet man sich nach
dem allgemeinen, so kleidet man sich nach dem Gebrauche; Ist man
%aber der erste, der sich einer Kleidung Bedient, die hernach allgemein
wird, so kleidet man sich nach der Mode. Die Mode ist also der Anfang
des Gebrauchs. Für einen Vernünftigen %.Menschen aber schickt es sich nicht,
daß er sich in den Grundsätzen nach dem Gebrauch richte, vielweniger,
daß er darinn modisch sey. Bey Dingen, die blos in die Augen fallen, kan
man sich nach den Dingen richten, weil dies die Einförmigkeit unter
den %Menschen stiftet %.und sie verbindet. Aber in Grundsätzen modisch zu
seyn, ist unanständig. Wenn man zE. der Mode immer folgen wollte, %.seine
Frau alleine gehen oder fahren zu lassen. In Franckreich

/δSeite 126

/sahe ein Fremder einen Mann gantz kaltblütig mit %.seiner Frau gehen; Er
fragte einen Franzosen, Lieben sich diese Beyde? der Franzose ant-
wortete, o nein! es ist ja seine Frau. Hier wäre die Mode, daß man
seine Frau gar %nicht lieben müße. In genua schämt sich eine frau mit
ihrem Manne auf der Straße zu gehen, %.und glaubt, daß es sich von selbst
verstehe, daß dieses unanständig sey; denn eine jede Frau hat noch einen
Cavalier servante. Im Geschmack modisch zu seyn, ist gar kein Beweis,
daß man keinen habe. In der Schreibart hat man in Deutschland
verschiedene Moden angenommen. Bald schrieb man gedrungen, bald
weitläuftig; Bald war der Geschmack, die Gedichte mit lauter Juve-
len, Gold, Edelsteinen, Perlen, Donner, Blitz, Stürmen, schwartzen Wolken
aus zu füllen. Bald darauf kam die Mode auf, tändelnd zu schreiben.
Man wollte witzig seyn, %.und es entstand etwas schaales %.und schlechtes. Man
sah, es sollte eine Munterkeit seyn, diese %aber steht %nicht jedem an. Nachher kam
ein gewißes Spiel des Witzes, in Antithesen p auf. Man kann es einer
Schreibart bald ansehen, wenn sie auf einen gewißen Leisten gemacht
ist. Das %.wesentliche der Schreibart muß leichtigckeit seyn, %.und gar %nicht scheinen,
Mühe gekostet zu haben. Soll etwas gut geschrieben seyn, so muß man
dies %nicht einmal Bemercken, außer nachher in den Folgen. - 

/%Verfeinerung des Geschmacks ist von der %Verzärtelung unterschieden. Die
%Empfindung gehört zur %beurtheilung, aber %.empfindlich zu seyn, gegen Vergnügen
ist eine Schwäche. Wer einen verfeinerten Geschmack hat, findet Bald,
wo die Beleidigungen stecken, %aber er kann sie großmüthig ertragen, und
Braucht seine Kenntniße dazu, daß er sich hutet, andere zu beleidigen.
Die verzärtelten %aber sind %.empfindlich %.und nehmen auch die kleinsten
Bewegung übel auf. An einer Manns Person ist das eine Schwäche,
Bey den Frauenzimmer leiden wir sie, wegen ihres Geschlechts.
Wir schä@tz@en sie an Ihnen hoch, %.und ein dreistes Frauenzimmer ist uns
zuwieder, eben so wie ein weibischer Mann. Ein Mann

/δSeite 127

/muß empfindsam %.und %.zärtlich seyn, %nicht %.empfindlich %.und verzärtelt. Ein %.zärtlicher
Liebhaber %.oder Ehemann ist, der in der Wahl der Wörter Behutsam %.und deli-
cat ist, %.und alles, was etwa beleidigen könnte, aufs genauste abhält. Dazu gehört
ein feiner Geschmack, d.h. qvod emollit monet etc. Die Wißenschaften gewöhnen
den Menschen nur zu reflectiren, %.und können auch dadurch ihren Geschmack ver-
feinern. Unser Gefühl in ansehung der Reitze %.und Rührungen ist vom Geschmack
sehr unterschieden, %.und kann zwar mit ihm vergesellschaftet werden, %aber es macht
den Geschmack selbst %nicht aus. Wer immer Reitze %.und Rührungen verlangt, hat %.keinen
Geschmack. In Schriften, Gedichten %.und allen Wercken des Witzes können Rüh-
rungen schön angebracht werden; allein es muß erst das Thema der ge-
genstand schön ausgemalt seyn. Ich muß erst von der Sache selbst ein %.faßliches
Bild haben, %.und die Rührungen werden mir mit untergemengt, %.und dienen
zur Theilnehmung meiner - δLücke Das wesentliche des Geschmacks an
einem Hause ist, daß es regulair nach der Symmetrie gebauet sey. Gold,
Marmor %.und Farben sind Reitze dabey, %.und laßen sich %nicht %.füglich anbringen,
wofern der Geschmack %nicht erst zum Grunde liegt. Reitz %aber ohne Geschmack
ist ein blinder Reitz; Prahlerey %.und Pracht sind dem wahren Geschmack ent-
gegen gesetzt; wenn man zE mit Reichthum pralt. Durch %Verschwendung verliert
der Geschmack viel, wenn er auch %.wircklich dabey zu finden ist, denn er besteht eben
darinn, daß man mit Sparsamckeit %.und wenig Kosten etwas schön habe. So sagt
ein Maler von der Venus eines andern; da du sie %nicht hast beßer malen
können, so mahlst du sie als reich. Er hatte sie %aber mit Juvelen behangen.
Eine Person, mit vielem Reichthum behangen, gefällt %nicht so gut, %aber das
sanfte gefällt, %.und dies ist %nicht kostbar, %sondern simpel %.und geschmackvoll. Die Pracht
bezieht sich auf Ehrgeitz; %.und alles was prächtig %.und gezwungen läßt, will %nicht
gefallen. Brabanter Kanten sind nur wegen der kunst, die man drauf
verwandt, theuer. Wenn die Manshetten herfürkommen, als ob sie %nicht wollten
gesehen seyn, so laßen sie schön. Ein Kleid muß commode zu seyn scheinen,
%nicht, als ob man sich %.ängstlich fürchte, irgend wo damit anzustoßen,
um es %nicht zu Beschädigen. Die jetzigen Zuckerhüttnen Moden der Friseurs
sind offenbar wieder den Geschmack, die Köpfe sehen so spitzig aus, wie der
Wilden <ihre> in america, die die Köpfe ihrer Kinder so spitzig wachsen laßen.

/δSeite 128

/Beym Geschmack muß etwas legères seyn; Wenn ich an einem Orte zu Gaste bin,
%.und die Frau läuft samt dem Bedienten viel herum, so gefällt es %nicht, die
Speisen mögen noch so gut seyn. Denn das Vergnügen muß man %nicht mühsam
suchen, wohl %aber die %Nahrung. Beym Vergnügen selbst muß alles Beqvem
scheinen, %.und es muß sich alles gleichsam durch eine Zauberkraft von selbst fin-
den, %.und dann gefällt es. Die mode thut viel Beym Geschmack. Ein junger Mensch,
dem alles läßt, bringt %durch die Zauberkunst des Schneiders %.gewöhnlich die
Moden auf. Es ist gantz %.natürlich, daß die Franzosen die Mode erfinden, denn
sie haben für allen Nationen die Leichtigckeit %.und den Anstand sich in alles
Wohl zu schicken. Modisch zu seyn in dem, was nach allgemeinen Regeln
der %.sinlichen %Beurtheilung kan Beurtheilt werden, zeigt einen %Menschen ohne allen Ge-
schmack und Genie an; So werden Vers Arten, Mode Lieder nach Klopfstock.

/Eine allgemeine Regel der Sitten haben wir %nicht nöthig zu suchen, diese ha-
ben wir. In Ansehung des Geschmacks %aber müßen wir etwas festgesetztes,
gewiße Urbilder haben, sonst zerstört die Mode alles. Der griechische %.und
lateinische Geschmack hat sich am reinsten erhalten, %.und dient zum Muster.
Giengen diese Dichter verlohren, so würde der Geschmack großen revo-
lutionen unterworfen seyn. Es muß eine todte Sprache seyn, denn
sonst ändern sich Wörter %.und ausdrücke. Vor 100 Jahren lobte man den Rei-
necke Fuchs, %.und er war auch in den damaligen Besten Versen abgefaßt,
jetzt lacht man darüber. Die Franzosen fürchten den Verfall des Ge-
schmacks sehr, %.und haben auch Ursache, denn alle griechische %.und lateinische Bücher
werden in ihre Sprache übersetzt. Als zuletzt das corpus Juris in ihre
Sprache übersetzt wurde, so sagte jemand, jetzt wird auch %keiner mehr lateinisch
lernen. Die antiqvien der Bau %.und Bildhauerkunst, in der Poesie, Rede-
kunst pp dienen zum Muster. Hörten diese auf, %.oder giengen sie ver-
lohren, so würden die %Menschen auf vielerley andre Empfindungen kommen,
%.und es muß also ein Muster da seyn, wenn etwas bleiben soll. Der
Delicatessen des gewißens Bey dem, was zur Freundschaft gehört, ist
der fähig, der seine %.sinnliche Urtheils_Kraft geschärft, der Geschmack hat.
Der Geschmack bringt den Menschen darauf, was allgemein gefällt,

/δSeite 129

/und praeparirt ihn zum %.gesellschaftlichen Leben. Der %Mensch von Geschmack wählt %nicht was
ihn vergnügt, %sondern was allgemein gefällt. Er sieht die Dinge aus einem %.gemein-
schaftlichen Punckte. Er muß %aber aus %.natürlichen Qvellen, aus innerer Beschaffenheit
des Geschmacks, %nicht aus Mode wählen. Denn das zu sehr modische Nachäffen ver-
räth einen %Menschen ohne Grundsätze.

/Alle Sinnlichkeit bereitet schon dem %Verstande die Sachen vor, so daß die Handlungen
des %Verstandes %dadurch eine gewiße Leichtigckeit Bekommt. Der Geschmack führt
uns %nicht nach allgemeinen Regeln, %sondern durch besondere Zufälle. Die Ver-
nunft ist eine art von Hofmeisterin, mit der man sich %nicht «blos» aus %Neigung,
%sondern blo«s»ß aus Nothwendigkeit Beschäftiget. Der Verstand ist etwas, das %durch die
Länge %.Beschwerlich wird, %.und daher ist uns alles, was die function deßelben mit
mehrerer Leichtigckeit verwaltet, angenehm. Dies %aber thut der Geschmack %.und
stellt uns Fälle in concreto vor. %.Derjenige der die Vernunft mit dem Geschmack
verbindet, bestreichet gleichsam den Rand des Bechers, der voll von %.einer
zwar etwas widrigen, %aber sehr %.nützlichen artzney ist, mit Honig. Allein viele
%Menschen sind wie Kinder, sie lecken den honig vom Rande ab, ohne die artzney
zu berühren. Sie lesen schöne Bücher, um blos für den Geschmack etwas zu
sammlen; als schöne Ausdrücke, historien %.und %.dergleichen, %.und dencken %nicht einmal an
den Endzweck, den der author gehabt. Bey einer jeder Sache bemercken
wir etwas selbständiges Schöne, indeß versteht es sich von selbst, daß die
Sachen, die an sich %nichts selbständiges haben, auch %nichts selbständiges Schone ha-
ben, denn ihr etwaniger Reitz ist %nichts selbständiges Schöne, zE. das Modische.
Jeder %Mensch will gern original seyn, %.und diese Idée befiehlt ihm, eine Mode
zu machen, indem er sich vorstellt, wie viele ihm folgen werden, %.und eine Idée
muß bey jeder Sache zum Grunde liegen. Wir können eine Sache %nicht eher
für schön halten, als bis wir wißen, was es für eine Sache sey, %.und was
da schön seyn soll. Denn eine Sache kann in Verschiedenem Verhältniße
schön %.und auch %nicht schön seyn. So kann man zE. noch %nicht urtheilen, ob ein ge-
maltes Gesichte schön sey, wenn man noch %nicht weis, ob es ein Manns %.oder Weibs-
Gesicht seyn soll, %.und ein gemalter Kopf kann als Mans Person schön, als Frau-
ens Person %aber %.heßlich seyn. Ein Rock, den ich beym Schneider zuschneiden
sehe, kan als Regenrock betrachtet, schön %.und als galla Kleid vielleicht %nicht schön

/δSeite 130

/seyn. Ich muß also wißen, wozu die Sache bestimmt ist, ehe ich urtheile. Man
muß allemal die Idée der Sache zum voraus setzen. Diese Idée ist nach
Kants Meinung von @vielen@ Dingen zusammen genommen, abgeleitet, %.und gleichsam
das Mitlere von allen Excessen %.und Defecten vieler Specierum. Das Muster
der Schönheit liegt also in dem Mitlern der Species. In %Ansehung aller Dinge
ist die Übereinstimmung der %Rührung mit der Idée die wahre Schönheit. Man muß aber
die Materialien der Schönheit von der Schönheit selbst sehr wohl unterscheiden.
Denn die Materialien machen %nicht die Schönheit aus; %sondern die zusammenordnung,
Verbindung %.und die Form. So sind zE. hübsche Farben, die Materialien der
Schönheit, allein diese Schönheit selbst entsteht, wenn diese materialien der
Schönheit zusammengesetzt werden. Hat man erst den Begrif der Sache, so
wird die Schönheit nur als ein accidens Bey einem Dinge angesehen.
was %aber der absicht der Sache wiederstreitet, ist der Schönheit zuwieder, und
kan %nicht lange gefallen, d.h. die Sache, die schön seyn soll, muß mit der Idée
zusammen stimmen. Ein Kleid zE. welches enge ist, gefällt %nicht, denn es wie-
derstreitet der Absicht, da es commode seyn soll. Moden scheinen %.keine dauer-
hafte Schönheit zu haben, weil es viel Mühe gekostet hat, sie einzuführen,
besonders wenn sie viel Peinlichkeit haben. Alle Annehmlichkeiten %.und Rei-
tze aber, die der absicht der dinge wiederstreiten, sind den Selbständi-
gen der Schönheit zuwieder. In einem Gedichte, oder in einer Rede Be-
steht das Selbständige der Schönheit in der %Beziehung der Sinnlichkeit auf gründ-
lichkeit, Wahrheit %.und Reinlichkeit. Die logische Vollkommenheit macht also
das schöne selbständige aus. Die Kenntniß %.und der Wißenschaften giebt
uns den Stof an die Hand, über den wir alle Schönheit verbreiten
können. Der %Verstand macht die Grundlage, %.und die Schönheit wird darüber ver-
breitet. Und wo Schönheit dem %Verstande secundirt, da ist etwas dauer-
haftes. Alles hingegen ist umsonst, ein schöner Geist mit einem leeren
Kopfe werden zu wollen. Wenn man den %.David Hume einen der neuesten
Schriftsteller %.und einen %englischen Zuschauer ließt, so weiß man nicht, ob man
hier die Schönheit %.oder die Gründlichkeit %.und die Einsichten schätzen soll. Nicht ein
eintziger unter den Schriftstellern, die dies Selbständige %nicht gehabt, ist,
in seinem Geschmack bewundert worden. Schönheit %aber kann vom Mei-
ster %nicht erlernt werden, wenn man keine Gründlichkeit %.und %.Erkenntniß %.von Sachen hat.

/δSeite 131

/Denn die Lehre des Geschmacks (Aesthetic) ist keine doctrina, sondern nur %.eine Critic.
Die Critic ist die Unterscheidung des wehrts in einem schon gegebenen subiect.
In welchem man %aber gewiße Producte critisirt, so übt man den Geschmack.
wäre sie %.eine doctrin, so könnte man lernen witzig werden, den eine doctrin
ist eine %Unterweisung, wie man etwas schönes herfürbringen soll. Das Sylben
Maaß %.und das Reimen kann man eben so gut zwar lernen, wie drechseln,
aber dichten, Neuigckeit der Gedancken, lebhafte bilder, Abstehungen machen,
oder Bewunderungen erregen, ist %nicht zum lernen. Indeß hat sie den Nutzen,
daß man durch vielfältige Cultur der Critic anderer sich in Ubung %.und Fertigkeit
setzt, sich selbst zu critisiren, %.und zu beurtheilen, daß sie die Urteils_Kraft schärft,
%.und das Genie indirecte excitiret. Man wird als denn nichts, %.oder wenn man
schreibt, etwas schönes schreiben. Die Critic lehrt uns den Vorrath, den wir
von %.Erkentnißen haben, wohl anbringen. Was da gefällt, ist den aesthetischen
Regeln gemäß; %aber %nicht was nach aesthetischen Regeln abgefaßt ist, gefällt.
Aesthetische Regel ist nur darum recht, weil etwas gefällt, wenn es so ist. Ist
aber ein Fall, der unter einer Regel steht, %nicht nach Geschmack, %.und gefällt
nicht, so ist die Regel falsch, %nicht der Geschmack, denn aesthetische Regeln kön-
nen nicht a priori, sondern aus Beyspielen, d.h. aus Erfahrung Bewiesen
werden; So kann man eine gantze Lehre der Critic abfaßen, zE. Es macht je-
mand ein Gedicht nach allen Regeln, %.und dennoch gefällt es zuweilen nicht. Wem
ist nun da zu glauben, denen aesthetischen Regeln, %.oder denen, welchen es nicht
gefällt? Denen letztern, denn alle aesthetische Regeln sind nur vom Ge-
schmack vieler %Menschen abgezogen. Nichts %aber schadet dem Genie mehr, als die
Nachahmung, wenn man glaubt, daß wenn man die Aesthetic lernt, man dar-
nach zuschneiden dürfe. Dies geschieht leider! in den Schulen, %.und man kan si-
cher behaupten, daß der gantze Mangel an genies zu unsern Zeiten Blos «%.von»
aus den Schulen herrühre, wo man Kindern Regeln zu Briefen, Chryen etc.
vorschreibt, wo man sie %.lateinische Phrases auswendig lernen läßt, welchen Zwank
man spät %.und oft gar %nicht ablegt. Wie sehr %aber möchte ein Römer, der die jetzigen
%.lateinischen Schriften lesen sollte, wenn sie auch in zierlichsten latein abgefaßt wä-
ren, lachen!

/Der Geschmack scheint %nichts wesentliches zu seyn, denn man sieht wohl ein, daß
er von der Vollkommenheit sehr unterschieden ist, indem er uns nur Dinge als voll-
kommen vorstellt, die es nicht sind. Bloße Politesse zeigt eben noch %nicht gute gesin- 

/δSeite 132

/nungen, so wie ein guter Ausdruck noch keinen guten %Verstand anzeigt. Eine Uhr «¿»
kann richtig seyn, ohne viel Schönheit zu haben, %.und Mode Uhren sind schön geputzt, %.und
gehen doch oft unrichtig. Der Geschmack scheint also etwas blos überflüßiges %.und
ein Blendwerck zu seyn, %wodurch sich die %Menschen zu hintergehen, die Dinge angenem
vorzustellen, %.und die üblen Stellen zu verdecken suchen. Die artige Manier, sich
gut auszudrücken, zeigt kein %Verdienst an, sondern es ist gleichsam nur ein
Firniß, womit man alles überzieht, %.und %dadurch verursacht, daß die Dinge gut
erscheinen. Das Wohlgefallen %durch den Verstand ist gantz etwas anders, als %durch Sinn-
lichckeit. Das erste heißt gut, das andere schön. Bey beyden kommt es auf Sinn-
lichkeit an. Sollen %aber alle unsre Urtheile des Verstandes practisch wer-
den, so muß sich der %Verstand zur Sinnlichkeit herablaßen. Denn der %Verstand allein
ist %nicht hinreichend; allein die Sinnlichkeit muß dem %Verstande, %nicht der Verstand
der Sinnlichkeit untergeordnet seyn. So zeigt der Compas nur die Welt Ge-
gend an, %.und giebt %dadurch Anlaß zur %Richtung des Schiffes, %aber er Bewegt das Schif
nicht, dazu gehören %aber Regeln. Und so schreibt der %Verstand auch Regeln vor,
deren %Ausübung %aber nur in so fern %.möglich ist, als sie auf Gegenstände der Sinne
angewandt werden. Es müßen demnach die %.Menschen Geschmack haben, um die
Regeln der Vernunft in %Ausübung bringen zu können, %.vorzüglich in der Sinnlich-
keit. Und in der That ist auch der Geschmack im Umgange %nichts anders, als die
gantze Tugend, angewand auf Kleinigckeiten, oder auf Gegenstände, die
keine große Angelegenheit des %Menschen aus machen. Politeße, Artigckeit
sind tugendhafte Verhalten auf kleine Gegenstände, (oft in hohem Grade)
angewandt. Die Höflichkeit welche man dem Frauenzimmer erweiset %.und die
distinction, mit der man ihm begegnet, ist die %nicht aus grosmuth entsprungen?
Begegneten ihnen die Mans Personen %nicht grosmüthig, wie tief würden sie we-
gen ihrer Schwäche sincken! Und so erwarten alle Personen von der Grosmuth an-
derer %Achtung. Wird %aber hier die Grosmuth %nicht auf etwas unerhebliches ange-
wand? Ein Mann der Politesse besitzt, muß, wenn er Gäste bey sich hat, die
unterste Stelle einnehmen, %.und für sich den letzten Teller bestimmen. Er muß
seine größte Sorgfalt darin bestehen laßen, seine Gäste zu bewirthen,
die Gesellschaft aufzuheitern, wenn es auch auf Seiten seiner mit der grö-
ßten Unbeqvemlichkeit geschehen sollte. Was ist %aber dies anders, als freund-
schaft %.und %Bemühung, anderer Wohl zu befördern? was anders als Politesse, gutar- 

/δSeite 133

/tige %Gesinnung, %.und ist dies nicht Tugend? ob sie gleich nur auf einen Tag, auf einen Umstand
angewandt wird. Auch muß ein Mann in Gesellschaft nichts von sich selbst sprechen, denn
dies zeigt an, daß man sich ein vorzüglicheres Recht für andern anmaßen wolle, %.und
dies sieht man %nicht gerne. Und so gehts mit allen Regeln des Geschmacks im Umgan-
ge. Der Geschmack in %Kleidung %aber, %Anlegung eines Gartens, indem er von den %Menschen
verfeinert wird, %.und einen Eindruck nach seinen kleinsten Theilen abwiegen
lehrt, macht den %Menschen %.zugleich fähig, in ansehung des wichtigen sehr leicht die dishar-
monie zu empfinden. Und auf diese Art ist der Geschmack eine beständige Cultur
oder Tugend, indem er den %Menschen fähig macht, bey wichtigen Dingen aufs pflicht-
mäßige zu sehen, %.und das geringste gegen einander abzuwiegen. Alles sittliche
enthält %.zugleich das Schöne, wenn ein %Mensch etwas spricht, das sich nicht schickt, so
sagt man, er hat keine Conduite. Oft %aber kann man etwas sprechen, das sich
schickt, %.und doch %nicht gefällt. Es ist unser Geschmack gleichsam ein Augenmaß
von allem schicklichen. Es kan %aber ein %Mensch, der unschicklich redet, doch Conduite
%.und Artigckeit besitzen. Ein %Mensch, der %.schicklich spricht, ist wohl erzogen, %.und %.derjenige der
da sieht, was gefällt, hat Geschmack. Schiken %.und geziemen ist der Grund der
Schönheit, %.und dies schreibt der %Verstand vor. Alles Schöne, alle Manieren
haben den Grund in der Moralitaet. Denn was Boßhaft ist, kann nicht schön seyn.
Man kan die Moralitaet in allen handlungen der %Menschen finden. Das Urtheil,
das wir in Gesellschaft von jeder Miene andrer Personen, vom Betragen
der Kinder gegen ihre Eltern fällen, hat jederzeit %.seinen Grund in der Natur
der Moralitaet, ob wir es gleich zur Politesse rechnen. Dies macht, daß die
Moralitaet %nicht ungesellig ist. Die Tugend nimt uns ein, nicht %durch den Gebrauch, %sondern
in so fern sie uns gefällt. Auf diese Weise arbeitet der Geschmack
der Tugend vor, giebt ihr das gefällige, %.und macht, daß sie auch in der Erschei-
nung gefällt. Denn in so fern sie nur durch oder in der Vernunft gefällt,
ist sie ein Geboth; ein Geboth %aber ist dem %Menschen immer verhaßt. Der Geschmack
ist also ein analogon der Vollkommenheit %.und %.seine %Verfeinerung von großer
Wichtigckeit. Er ist in der Anschauung das, was Sinnlichckeit %durch Vernunft ist.
Nun %aber entsteht die Frage, wie wird der Geschmack studirt? Man

/δSeite 134

/muß ihn lernen; der %Mensch ist eine sonderbare Kreatur, daß er alles lernen
muß. Hume behauptet in Ansehung des Rousseau, daß auch Tugend müße
gelernet werden; %.und so auch der Geschmack. Durch Erlernung kan man
ihn nicht erzeugen, sondern %durch ein gewißes natürliches Talent des geschmacks
excoliren. welches ist nun die Art zu einem gesunden %.und richtigen Ge-
schmack zu gelangen? Durch Regeln kann man keinen Geschmack herfür-
bringen, denn er unterwirft sich %.keiner Regel, sondern nur der anschauung,
d.h. dem Beyspiele %.und der Sache selbst, %.und dem unmittelbaren anschauen,
das die Sache in mir herfürbringt, d.h. der Erscheinung selbst. - Allein
es kan mir jemand eine Sache zeigen wollen, mit der %Versicherung, daß es mir
gefallen werde, allein %.eigentlich kan ich nicht sagen, dies soll mir gefallen,
denn der Geschmack gründet sich %nicht auf sollen. Die Regeln mögen sagen, was
sie wollen, so gebieten sie %nicht, sondern critisiren nur. Zu allen andern
kan ich gezwungen werden; %aber daß mir etwas gefallen soll, steht in kei-
nes %Menschen Gewalt. Alle Regeln also, die etwas in %ansehung des Wohlge-
fallens gebieten, sind lächerlich, weil sie sich auf die %Beobachtungen gründen, %.und
von der Menge der Fälle abstrahirt sind. Geschieht es nun, daß jemand
etwas, was nach allen Regeln des Geschmacks eingerichtet ist, doch %nicht ge-
fällt, so kann man nicht sagen, daß der Geschmack dieses %Menschen unrichtig sey,
sondern die Regel ist falsch. Es ist sonderbar genung, daß hier die appellation
vom %Verstande zur Erscheinung gilt, da es doch sonst gerade umgekehrt ist. Lessing
ist ein großer kenner der %.theatralischen Regeln, %.und doch gefallen viele %.seiner Stücke
im Zusammenhange nicht, ohnerachtet die Theile gefallen. Wenn er nun ei-
nem, dem %.seine Gedichte %nicht gefallen, zeigen wollte, daß seine Spiele nach allen
%.theatralischen Regeln eingerichtet wären, so würde er ihm antworten, laßt mich
mit allen euren Regeln zufrieden, genug, es gefällt mir %nicht. Dies
ist ein sicheres Zeichen, daß die Regeln unrichtig sind. Eine jede Regel erfor-
dert eine Besondere Bestimmung. Nun läßt sich %durch solche Regeln leichter an-
zeigen, was da misfällt, d.h. negative, als was gefällt positive, weil der
allgemeine Wiederstreit leichter zu beobachten ist, als der Grund der Ver-
knüpfung. Der einzige Weg, unsern Geschmack zu bilden, ist der, daß

/δSeite 135

/uns viele Gegenstände der Natur vorgelegt werden, %.und daß wir an denselben, das
reitzende, das rührende zu unterscheiden suchen. Der Reitz gehort zum Schö-
nen, die Rührung zum Erhabenen, %.und zu beyden gehört Urtheils_Kraft; zum
Erhabenen gehört kein Geschmack. Alles, was %durch Mannigfaltigckeit die Thä-
tigckeit unsers gemüths in %Bewegung setzt, gehört zum Schönen %.und zum Reiz. Was
aber dem Grade nach die Thätigckeit des Geschmacks befördert, ist erhaben. Das
Erhabene erregt Achtung %.und grentzt an Furcht. Bey allem Erhabenen wird die Seele
ausgedehnt, %.und die Nerven werden gespannt. Das Schöne erregt Liebe, %.und grenzt
an %Verachtung, denn was blos schön ist, erweckt Eckel. Beym Reitz ist man zur Ab-
stechung geneigt, denn alles ist uns zuwieder, was uns lange verweilt. Alles
aber, was den %Menschen reitzt, zwickt ihn, das Schöne %aber reitzt, %.und daher wird der
Mensch durch das beständige drücken %.endlich ermüdet. Überhaupt kan man %.keiner Sache
eher überdrüßig werden, als, wo alles auf Schönheit angelegt ist, daher
auch die süßen Herren, die voll von %.höflichkeit %.und Gefälligckeit sind,
zuletzt %.unerträglich werden. Was das Erhabene betrift, so spannt er die
Nerven aus, %.und schmertzt, wenn es starck angegriffen wird. Ja man kan das
Erhabene bis zum Schrecken %.und zur athemlosigckeit treiben. Alles wunder-
bare ist erhaben, %.und daher angenehm, wenn es in Gesellschaft erzählt
wird. In der Einsamkeit %aber schreckt es. Ja selbst der gestirnte Himmel, wenn
man sich bey deßen Anblick erinnert, daß dieses alles Weltkörper %.und
Sonnen sind, die wieder eine %.ähnliche Menge Weltkörper um sich drehen
laßen, als unsre Sonne, erregt ein Grausen %.und Schrecken in der Einsamckeit,
weil man sich einbildet, daß man als ein kleines Stäubchen in einer solchen
unermeßlichen Menge von Welten %nicht verdient, von dem Allmächtigen
Wesen bemerckt zu werden. Alle diese Bewegungen nun wie das Schöne
%.und Erhabene, laufen zuletzt auf etwas sehr mechanisches heraus. Und
alle diese Thätigckeit Befördert unser Leben im gantzen.

/ ≥ Vom Wohlgefallen %.oder Mißfallen, in Ansehung der
Gegenstände, in so ferne sie als gut %.oder Böse
angesehen werden. ≤

/Nachdem wir geredet haben von dem, was in der Empfindung %.und in der Erscheinung

/δSeite 136

/gefällt; so gehen wir zur 3te Abtheilung, %.und reden von dem, was im Begrif gefält,
oder was gut ist. Die Gründe des Wohlgefallens beym Vergnügenden %.und Schönen
sind subjectiv, beym Guten %.und Bösen aber objectiv. Der Grund von dem, was in
der Erscheinung gefällt, ist zwar zum Theil auch objectiv, %aber nur in %ansehung
der Sinnlichkeit. Was angenehm oder unangenehm ist, versteht ein jeder gra-
de zu. Wenn %aber jemand etwas Beschreibt, zE. der apfel ist mit einer farbichten
Röthe umgeben, die dem Auge gleichsam liebkoset, so redet er von %.einer
Erscheinung. Nun erscheint zwar eine %.und eben die Sache nicht allen auf ei-
nerley Art, aber es ist in jeder Sache doch etwas, was allgemein gefällt
%.oder mißfällt. Und es sind %.folglich alle Beurtheilungen in %ansehung des Wol-
gefallens oder Mißfallens, nach Gesetzen der Sinnlichkeit auch objectiv. %.Folglich
muß mein Urtheil von dem, was schön ist, wenn ich etwas schön zu nen-
nen Recht habe, auch für andre gelten, da es im Gegentheil über die
Aehnlichkeit %nicht für andere gilt. Wenn also zwey über etwas, was
schön ist, streiten, so kan nur einer Recht haben; andre 2 hingegen,
können mit gutem Rechte %über die Aehnlichkeiten streiten. Alle Urtheile
des Geschmacks sind allgemeingültig nach Gesetzen der Sinnlichkeit;
Reitz %.und Rührung sind subjectiv, %.und gehören also fürs Gefühl. Daher kan
ein Urtheil von einem Gedichte, daß es %nicht reitzend sey, %nicht allgemein gelten. Denn
es giebt keine allgemeine Gesetze in der %Empfindung. Und wenn ja einige darinn
übereinkommen, so geschiehts zu fälliger Weise. So weis man vom Zucker
%.und der Süßigckeit überhaupt, daß es allen thieren wohlschmeckt, allein dis rührt
aus uns unbekannten Gründen her. Es giebt %aber auch gewis allgemeine Ge-
setze der Sinnlichkeit, die a priori durch Vernunft vor aller %Anschauung %.und Erfahrung
erkenne; %.und dies ist Raum %.und Zeit. Nur allein die Music ist im Stande, Bey
uns ein Wohlgefallen zu erregen, das aus dem bloßen Spiele der Empfindun-
gen herrührt. Denn das bloße Klopfen der Luft auf die Ohr Trommel kan
uns %nicht so sehr vergnügen, sondern die vielen Bebungen der Luft in ei-
ner bestimmten Zeit, %.und die proportion der auf einander folgenden Töne
erregt bey uns das Vergnügen; denn eine einzige dieser Empfindungen
würde nicht vergnügen, ob zwar ein eintziger Ton schon vergnügt, wel-
ches aber daher kommt, weil schon ein eintziger Ton auch schon ein Spiel

/δSeite 137

/unserer Empfindung verursacht, indem Bekannt ist, daß ein Ton 500. %.und mehrere
Bebungen in der secunde verursacht. Das Verhältniß des Mannigfaltigen
in der Zeit ist das Spiel. In der Zeit gefällt also das Spiel, im Raum %aber die Ge-
stallt, d.h. die qvalitaet in der %Einschränkung des Raumes. Die größe im Raume
gefällt %.eigentlich gar %nicht, sondern sie gehört zur %Rührung. Gefällt sie, so gehörts
zum Erhabenen. Schön bleibt schön, aber Erhaben bleibt nicht erhaben, wenn ich es
gewohnt bin. So sagt man, daß die Nogaischen Tartarn, wenn sie einen von un-
sern officieren sehn, die Hände aus strecken, um %.seine Größe zu meßen, da wir
hingegen gleichgültig dabey sind. werde ich %durch die Größe nicht afficirt, so ist die Sa-
che in %Ansehung meiner, auch %nicht erhaben, %.und mithin gehört die Größe gar %nicht zum obje-
ctiven Urtheil. Die %Menschen können sich also in Absicht des Erhabenen mit Fug wie-
dersprechen, aber in %Ansehung des Schönen nicht, ohne daß einer Unrecht hat, denn
man kann etwas schön nennen, ohne davon gerührt zu werden. Die Urtheile %über
Schönheit sind also gemein für %Menschen, die Urteile %aber über das gute %.und Böse sind
allgemein für alle vernünftige Wesen, sie wägen, wo %.und was sie seyn wollen,
Engel %.und vernünftige Geschöpfe in andern Planeten. Das Schöne hingegen darf
ihnen nicht gefallen, denn sie können andre Gesetze der Sinnlichkeit haben. Das Erha-
bene kan mit zum Gefühl gerechnet werden, das schöne gehört nur für den Ge-
schmack. Einiges ist zwar so erhaben, daß man sicher rechnen kann, es werde für
alle erhaben seyn. ZE. der Ocean, oder die Unermeßlichkeit der Welt Cörper. Al-
lein, es geht hier eben so, wie mit der angeführten Empfindung der Süßigckeit. Es
scheint eine gewiße Gültigckeit zu haben, %.und für den Geschmack zu gehören. Es
kommt aber hier nicht auf die proportion, sondern nur aufs Gefühl an, %.und auf die
Größe des affects. Was wohl gefallen kann, ohne allgemeinen Regeln unterge-
ordnet zu seyn, darf auch %nicht nach allgemeinen gesetzen gefallen. Mithin gehört
alles Urtheil vom Erhabenen zum subjectiven. Ein Engländer sagt: eine lange
Linie, ein mitlerer Umfang, zE. der ocean ist erhaben, eine große Höhe, ein
großer Fels ist noch erhabener, aber eine große Tiefe am allererhaben-
sten. Denn eine große Tiefe nähret uns am Meisten den Schrecken. Ein %französischer
auctor schreibt: daß er niemals den Ausdruck des Erhabenen vergeßen werde,
den er auf dem Berge Aetna empfunden, da er die gantze Insel Sicilien, mit
ihren Städten, Neapel %.und hinter Neapel das adriatische Meer hat übersehen

/δSeite 138

/können. Beym Felsen kommts nicht auf Verhältniß, %sondern auf den
letzten affect an, den ich davon habe. Was %nicht auf Verhältniß geht, kan nicht für
andre zur Regel dienen, %.und was also auf den Eindruck geht, kan %nicht all-
gemeinen Regeln untergeordnet seyn. Denn nur bloß Verhältniße sind einer
Regel fähig. Der Ocean ist erhaben, %aber %nicht mehr für einen Seefahrer, der schon
einmal in Indien gewesen. Das Schöne %aber gefällt jedermann. Man wird
das Schöne zwar gewohnt, %aber es ist uns nie gleichgültig, denn Ordnung, Eben-
Maaß mit Mannigfaltigckeit verbunden, wo mehr %Abstehung der %Vorstellung ist,
erleichtert das Spiel der Sinnlichkeit. %.Obgleich hier allgemeine Regeln sind, so
sind wir doch %nicht so scharfsichtig, daß wir sie alle heraus klauben könnten. Wenn
mir etwas gefällt, %.und ich sehe, daß es andern %nicht gefällt, so halte ich es für %.keine
eigne Beschaffenheit des Objects, %sondern meines Subjects. Man würde gewis
keine %Veränderung vom subject auf uns für wahr halten, wenn andre %nicht überein-
stimmen sollten. Wenn mir etwas in den Ohren klingt, %.und andre sagen, es
wird geläutet, so halte ich meine Empfindungen für wahr.

/ ≥ Bemerkung über der Geschmack. ≤

/Man hat bemerckt, daß es %.denjenigen Menschen, denen es an einer Art von Geschmack
fehlt, an allen arten deßelben fehlt; vorausgesetzt, daß es Leute seyn müßen,
die Umgang %.und also gelegenheit gehabt haben, ihren Geschmack zu cultiviren.
Man sagt, der %Mensch hat einen schlechten Geschmack, %.und dies ist eben soviel, als
er hat keinen, denn Geschmack gefällt an %.und für sich selbst, %.und man versteht da-
runter die Fertigckeit zu wählen, was nothwendig jederman gefällt. Am
Umgange, an der Kleidung p lernt man den Geschmack kennen; Es giebt
%Menschen, die sich aus der Music %nichts machen, %.und an solchen findet man %.gemeiniglich
zugleich, daß sie %nichts von einer schönen Schreibart %.und von Poesien halten, ja
daß sie gegen die Reitze der Natur gantz gefühllos sind. Eben die Singulari-
taet, die jemand in %.seiner %Kleidung %.und in seinem Umgange Beweißt, hat er
auch in andern Sachen. So glaubt Kant, daß man aus eines %Menschen Schreib-
art wol urtheilen könne, wie er auf der Straße geht, ob steif oder flüchtig;
%.und wie er in Gesellschaft sich Bezeigt. Ja ein Auctor will übernehmen, aus
der Wahl der Farben, die ein %Mensch in einer Reihe von Jahren getroffen, zu
schlüßen, was er für eine Gemüthsart habe. Das alte Sprüchwort: Nasci-
tur ex foro p möchte also auch hier eintreffen, denn im Geschmack offenbaren

/δSeite 139

/sich die übrigen Gemüthszüge des %Menschen sehr deutlich. Ob jemand ein aufrichti-
ger, ein Heuchler, stoltz oder eitel sey, kann man schon aus einem Briefe ercken-
nen. Es hat %aber auch bisweilen eine große Geschicklichkeit ohne Geschmack statt. So
giebts Tonkünstler ohne alle Geschmack; diese ersetzen den ihren mangelnden
Geschmack durch die ihnen %.eigenthümliche Kunst. Allein, man vermißt in ihrer Music
doch das Gefällige. Wenn einem etwas %nicht gefallen will, so sagt man, er %versteht es %nicht.
Freylich um zu urteilen, ob eine Sache schön sey, oder %nicht, muß man wißen was
die Sache vorstellen soll. Aber man braucht diesen Ausdruck %.gewöhnlich wenn
jemand eine Sache, welche %.künstlich ist, %nicht zu schätzen weiß, wenn sie %.gleich an sich %nicht schön
ist. Es giebt Leute, welche blos die Kunst bewundern, zE. daß jemand die Ouboit
spielen kan, daß sie den Ton einer Flöte verräth. Allein solche Leute gehören in
die Classe derjenigen denen eine Sache ihrer Seltenheit wegen gefällt. Der Geschmack %aber
am Künstlichen ist wie der Geschmack am Seltenen gar kein Geschmack. Man hat
die so genannten Passing-Drechsler, die alles schön geädert %.und nett drechseln. Wenn
nun jemand eine solche gedrechselte Dose sieht, %.und %nicht weiß, daß es eine Dose ist
noch was für Arbeit sie dem Künstler gekostet habe, so gefällt es ihm auch nicht.
Wenn %aber einem blos darum etwas gefällt, weil er einsieht, was es für Mühe
gekostet, so ist er wohl ein Kunstverständiger hat %aber deßwegen noch kei-
nen Geschmack; denn die Natur des Geschmacks besteht vielmehr in der Leich-
tigckeit. Ein mit erstaunenden Kosten angelegter Garten, %.oder eine prächtige
Tafel, wo lauter Aufwand herrscht, gefällt also %nicht. Denn mit wenig Kosten
etwas so einzurichten, daß es gefällt, dies ist für den Geschmack. Die Pracht
ist also dem Geschmack gantz entgegen, denn Magnificence %.und Geschmack sind
unterschieden, %.obgleich auch Beym Geschmack einigermaßen Magnificence seyn
muß. Als Zeuxis eine von einem andern mit vielen Perlen, Gold %.und Silber
gemalte Venus sah, sagte er: da du sie %nicht hast schön malen können, hast du
sie reich %.und prächtig gemalt. Das Spiel in Gesellschaften zeigt keinen Ge-
schmack, sondern es muß nur zum Noth Mittel der langen Weile vorzu-
beugen, gebraucht werden, %.und alsdenn, wenn die Gesellschaft eine monotonie
bekommt. Das Spiel aber ist in so weit gut, weil bey demselben ein Bestän-
diger wechsel von Leidenschaften statt hat, das Gemüth hat motion;
allein es ruhet sich aus aus. Es befreyet uns in etwas von der Be- 

/δSeite 140

/ständigen höflichkeit, weil ein jeder sein gantzes Recht dabey braucht, dem an-
dern zu schaden sucht, %.und ihm Masqven macht. Es vergnügt deswegen, weil «ich»
durch die Leidenschaften das principium des Lebens auf alle art gezwickt
wird. Santorius sagt: daß man Beym Spiel am Meisten transpirire. Eine
Gesellschaft ist %nicht complet, wenn %.kein Frauenzimmer dabey ist, denn diese muß als
Richterin in der Erscheinung des Schönen angesehen werden. Es sind demnach die
Gesellschaften Schulen des Geschmacks, besonders thut der Umgang einer Manns-
Person mit dem Frauenzimmer sehr viel. Es ist %aber sonderbar, daß der Um-
gang der Frauenzimmer mit Manns Personen für erstere keine Schule
des Geschmacks ist, sondern dies ist ihnen vielmehr der Umgang mit Damen.
Das Frauenzimmer hat das %.männliche Geschlecht in der Gesellschaft nur darum
nöthig, weil ihre Talente vom letzteren aufgefordert werden. Ein Frau-
enzimmer putzt sich %nicht für Manns Personen, denn es weiß, daß es diesen
im Negligée oft Beßer gefällt, als im Putz, sondern es putzt sich blos
für andre Frauenzimmer, deren Musterung durchzugehen, %nichts leichtes
ist.

/ ≥ Vom Geschmack verschiedener Nationen. ≤

/Wenn wir den Geschmack bey den Völckern betrachten, so finden wir in
Europa eine Nation, die etwas %.eigenthümliches in Rücksicht aller Natio-
nen hat, dies ist die Franzoesische. Wir wollen hier ihren Werth %nicht untersu-
chen, weil die Urtheile verschieden ausfallen würden. Diese Nation
scheint sich schon seit Caesars Zeiten «h»im Geschmack hervor gethan zu haben,
im alten Griechenlande <%aber> findet man noch mehr als Geschmack. Es herrscht
bey der frantzoesischen Nation eine gewiße Frölichckeit, %.und eine %.glückliche Art
von Leichtsinn, vermöge deßen sie die wichtigsten Dinge en bagatelle tra-
ctiren, %.und zuweilen Kleinigckeiten sehr erheben kan. Daher komt es,
daß es ein sicheres Kennzeichen bey ihnen ist, wenn eine Sache in großem Ansehen
steht, daß sie ihrem Untergange nahe ist, %.und im Gegentheil eine Sache, die gantz
herunter gekommen zu seyn scheint, eben deßhalb ein Schicksal zu erwar-
ten hat, das sie wieder empor hebt. Und in der That gehört auch für den
Geschmack ein beständiger Wechsel. Ein sehr muntrer Geist macht diese Na

/δSeite 141

/tion zum wahren Muster des Geschmacks, welches sie auch wohl %nicht dürfte aufhören
zu seyn, wenn %nicht eine besondre Regierungs_Art dies bewirckte. Die alten griechen
hatten noch etwas außer dem Geschmacke, dem man %aber keinen Namen geben
kan, weil bey ihnen nicht nur die Leichtigckeit, sondern eine Art von Proportion
%.und ein wahres Wohlgefallen nach Gesetzen der Sinnlichkeit statt hatte. Die
Franzosen haben eine durchgängig gute %Erziehung; so daß eine Tochter eines Hand-
werckers eben die conduite hat, als eine Printzeßin, %.und dies erstreckt sich auch selbst
aufs %.männliche Geschlecht. Bey uns hingegen ist hierinn eine erstaunende Gradati-
on, %.und doch findet man oft auf der obersten «¿¿»Sproße plumpe Leute. %.Dasjenige
was an den Franzosen nur allein zu tadeln ist, ist der unbändige Leichtsinn der
Jugend. Sie haben die sittsamsten Ohren, %.und doch sind sie nicht sittsam. Indeß
besitzen sie doch %.keine wahre höflichkeit, %.und die Deutschen sind %.eigentlich viel höflicher
als sie. In der Gesellschaft des Frauenzimmers binden sie sich an keine Rein-
lichkeit im Ausdrucke %.und in der Aufführung. Sie besitzen wegen des Bewust-
seyns, daß sie sich in alle Gestalten schicken können, Hardiesse %.und %.keine höflichkeit.
Wenn sie aber zu Jahren kommen, so haben sie eine besondre Annehmlichkeit, die
sie bis ins späte alter behalten. Gegen Fremde ist man in Frankreich
sehr %.höflich aber man bittet sie nie zu Gaste, da hingegen die Gastfreyheit in
Deutschland im %.wircklichen Sinne herrscht. Die Deutschen werden in Ansehung des
Geschmacks nie Original werden, sondern immer Nach«folg»ahmer bleiben. Hingegen
haben sie in Ansehung des Methodischen vieles vor andern voraus, %.und der Geist
der disposition, der Ordnung, Genauigckeit ist ihnen gantz eigen. Ihre Schriften
sind wie ein %.menschlicher Körper, dem die haut abgezogen, wo zwar viel Zusammen-
stimmung in den Muskeln %.und Nerven herrscht, der aber doch nie in solcher Gestallt ge-
fällt. Der Geschmack ist noch von der Reinlichkeit unterschieden, obwohl ersterer
ohne den letztern %nicht bestehen kan. Daher finden wir Nationen, wo zwar Ge-
schmack herrscht, %aber keine Reinlichkeit, welches man von Italien zu
verstehen pflegt. Es ist daselbst ein recht Hoher Geschmack, %aber der Rein-
lichkeit befleißiget man sich %nicht sonderlich; So wie auch in verschiede-
nen Gegenden Franckreichs (S. brittisches musaeum 2 theil). Die
Unreinlichkeit, wenn sie ja bey dem Geschmack ist, muß %nicht in die Augen
fallen, denn der Geschmack geht blos auf das in die Augen fallende.

/δSeite 142

/Die Holländer sind die reinlichsten %.und haben %.keinen Geschmack. Der Geschmack
unterscheidet sich vom Vergnügen in der Empfindung, denn der appetit
wählt das, was ihm gefällt. Die Reinlichkeit %.und besonders die Zierlichkeit
hat nur unter mehrern %Menschen statt, wo einer des andern Musterung pas-
siren. Von einem %.Menschen aber, der gnug isolirt auf einer wüsten Insel lebte,
wäre es lächerlich, wenn er sich erst die Haare kräuseln wollte, ehe er aus der
wüsten Insel heraustritt. Dies zeigt %aber offenbar, daß der Geschmack sich nur aufs
äusere der Menschen beziehe. Was die %.Englische Nation betrift, so zeigt sie ihren
Verrichtungen viel Sentiment an. Man hat %.aber im Deutschen kein gut wort, das
dem Sinne deßelben genau anpaßte. Wollte man es %durch innere %Empfindung
übersetzen, so zeigt Sentiment mehr an, denn es drückt eine gewiße Vollkom-
menheit aus, die für die Vernunft gilt. Sentiment muß gleichsam das Au-
genmaas seyn, über alles, was vollkommen %.und gut ist, %.und nach der Vernunft
wohl gefällt; so wie Geschmack das Augenmaas ist von dem, was in der Er-
scheinung gefällt. Man sagt von einem %.Menschen, er sey sehr vernünftig, wenn
er durch eine %.willkührliche Anwendung der Vernunft den Werth %.und Unwerth
der Dinge unterscheiden kan. Wenn aber %Menschen die %nicht studirt haben, gantz
inpraemeditirte Vernunft in ihren Reden äußern, so gefällt solches noch
mehr. Wenn zE. jemand einem andern aus der Noth geholfen, %.und letzterer
ihm hernach das Geld wiedergeben will, wovon er aber fest vorge-
nommen hatte, es %nicht wiederzunehmen, %.und sagt: ich hatte schon, da ich ihnen das
Geld gab, im Sinne, es Ihnen zu schencken, %.und ich muß also das Versprechen, das
ich mir selbst gethan habe, halten p Dies kommt daher, weil die Sentiments-
Urtheile über intellectuelle Sachen so gefället werden, als wie die Urthei-
le durchs Gefühl. Die Sentiment ist auch noch so beschaffen, daß %.derjenige der es hat,
auch eine Art von Gefühl der %.Erkenntniß des Guten %.und Bösen Beweiset. Die %.Menschen
sind oft gleichgültig gegen das, was gut %.oder Böse ist; So schätzt der Laster-
hafte die Tugend, %aber sie vergnügt ihn %nicht. Ein %Menschen Freund kan für seine
Person einem andern gantz gleichgültig seyn, obwohl objective die %Menschen
Freundlichckeit an ihm geschätzt wird, aber alsdenn hat der andre kein Ge-
fühl %.und kein Sentiment. Es giebt viele Lehrer, die die Tugend unabläßig
lehren, %aber selbst gegen sie gleichgültig sind. Sie sind den Wegweisern %.ähnlich

/δSeite 143

/die zwar immer den Weg weisen, %aber nie sich selbst von der Stelle Bewegen.
Der Grund hiervon ist schwer einzusehen; «¿¿¿»indeß ist soviel gewiß, daß es keine große
geistige Regung seyn kann, weil es eine contradictio in adjecto wäre, sich
bey einem %Menschen eine geistige Regung zu dencken, denn alles Wohlgefallen
beym %Menschen kommt vom Körper her. Die Ursache also ist, weil kein Gefühl
die Urteile der reinen Vernunft %über das, was gut %.und Böse ist, begleitet,
wie das %aber zugeht, daß die %Billigung %.und Mißbilligung des Bösen mit Gefühl
begleitet wird, mag vielleicht daher kommen, daß wir uns in die Person des
guten %Menschen setzen, %.und alsdenn die %billigung des guten auf uns appliciren.
Epicur behauptet schon, daß alles Vergnügen des %Menschen körperlich sey. - 

/Ein Mann, der %.moralisches Gefühl hat, hat Sentiment. Die Engländer haben %.ei-
gentlich gar keinen Geschmack, %aber ein $analogon$ des Geschmacks und
Sentiments. Man bewundert billig die Richtigckeit %.und Vollkommenheit in
den Arbeiten der Engländer, welche die Gegenstände der Sinne betreffen.
Bey einem Gegenstande %aber ist die bonitas %.und pulchritudo so nahe verwand,
daß man sie kaum unterscheiden kan. Die Engländer gehn immer auf die bonitaet,
auf die Vollkommenheit %.und auf das Zweckmässige der %.sinnlichen Gegenstände. Der
Richtigckeit halben, der man sich in England befleißigt, läßt die %.französische %Re-
gierung auch alle ihre astronomische Instrumente daselbst verfertigen,
%.und diese erstreckt sich auch auf grobe Arbeiten; allein sie haben nicht so
viel Geschmack, ob wir %.gleich alle unsre Sachen verfuschen. Indeß ist auch
%nicht zu leugnen, daß %.dasjenige was richtig ist, auch gewißer maaßen schön sey,
weil die Vollckommenheit %.und Schönheit starck aneinander grentzen. Was die
Schriften anbetrift, so ist die Hauptabsicht der Franzosen die %Verschönerung der-
selben. Sie suchen nicht Gründlichkeit, %.und Einsicht, %sondern frapanten Witz, so, daß
sie außer der Mathematic %.und experimental Philosophie auch sogar in der Metaphysic
ihren Witz spielen laßen. Sie gehen in ihrem Tändeln so weit, daß ietzt schon al-
le gründlichkeit bey ihnen wegfällt, %.und daß man außer Mathematic %.und Physic
%nichts aus ihren Schriften lernen kan, die blos zum Vergnügen, %nicht zum Un-
terricht sind. Die Engländer zeigen in ihren Schriften ein $analogon$ des Ge-
schmacks, %.und eine Art von Sentiment %.und Genie. Das Genie liefert Stof %.und Ma-
terialien zur %.Erkenntniß das sowohl in Verhältniß der Sinnlichkeit, als der Vernunft
gefallen soll. Der Geschmack ist davon unterschieden, denn er ordnet die Ma-
terialien so, daß sie in der %Erscheinung gefallen. Es ist hier ohngefehr

/δSeite 144

/so, wie mit einer Tafel, wo alles %.mögliche Eßen darauf ist, wo %aber einer
Suppe, der andre den braten ißt; %.und mit einer andern, wo alles in %Ordnung
hingesetzt ist, so daß sich die Seele %.sogleich das Bild davon entwerfen kan.
Bey der letztern herrscht Geschmack, bey der erstern nicht. Aber selbst solche
Schriften, die witzig seyn sollen, haben nicht sowol Geschmack als Empfindungen.
Man konnte das Sentiment der Englander den hohen Geschmack nennen; denn die
größten Autores der %.Engländer selbst Young, Pope, Addisson haben etwas Frappantes
%.und hohes in ihren Schriften, aber nichts gefallendes, keinen Geschmack. Hume
selbst, einer ihrer größten auctoren gesteht eben dies von %.seiner Nation, was wir
angeführt haben. Beym Geschmack kommts %nicht darauf an, ob die Sache was werth
sey. Voltaire hat sehr viel Geschmack, %aber %.kein %Mensch wird von ihm was lernen.
Aus dem Geschmack einer Nation kan man leicht auf ihren National-Cha-
racter schlüßen. Ist jener prächtig, so zeigt er den Stoltz an, wie zE. bey den
Spaniern. In Italien findet man den sogenannten edlen Geschmack,
der auf %Empfindung geht. In der Malerey, Baukunst, Musick p zeigt er sich
Besonders. Ihre jetzigen Besten Maler, als Raphael, %.Michel Angelo zeigen
in der Malerey einen recht hohen Geschmack, %.und haben die Empfindungen
%.unnachahmlich ausgedrückt. Und so auch in der Music %.und Bildhauerkunst.
Ohnerachtet des %.vorzüglichen Geschmacks, der bey den Franzosen herrscht, ver-
mißt man doch die %Empfindung, Besonders in ihrer Music. Dies gilt auch von
ihrem Umgange mit dem Frauenzimmer. Sie sind ungemein artig, %aber da-
Bey ohne %Empfindung. Man findet viel Complimente, Galanterien, Coqvetterien, p
aber %nichts für die Empfindung. Dies zeigen auch ihre Gebäude. Selbst an Ver-
sailles ihrem Meisterstücke findet man viel prächtiges %aber %nichts Frap-
pantes; dagegen frappiren in England die großen Parks sehr, worinn
sie den Geschmack der Chineser angenommen haben. Auch sind die %.Englischen Gär-
ten die Besten; worin sie eben den Chinesern nachahmen. Daß wir in un-
sern Gärten %nichts unterhaltendes haben, kommt daher, weil wir die Sorge
dafür einfältigen Leuten überlaßen. Ein gewißer Auctor hat %.von
den Chinesischen Gärten geschrieben, %.und man findet auch in der Bibel
der schönen Wißenschaften Nachricht davon. In Asien ist keine Nation,

/δSeite 145

/die Geschmack hat, außer der Persischen. Die Perser sind die Franzosen von Asien.
wo %aber das Tartarische Blut hingekommen, da hat es die Nation grob %.und ohne
Geschmack gemacht. Die Türcken sind weit von allen feinen Empfindungen ent-
fernt. Sie tanzen %nicht, nur ihre Frauen. - Ihre Music ist bis zum Melan-
cholischen schwerfällig %.und traurig. Sie lieben lauter Gauckelspiele, %.und haben
gar keinen Geschmack. Sie thun %nichts als Taback rauchen %.und Coffee trincken. Und
wenn sie verstohlner Weise Wein trincken, so schweifen sie sehr aus. Dahinge-
gen besitzen die Perser einen weit feinern Geschmack. Sie sind gute Dichter,
Besonders in Fabeln. Sie sind witzig, scharfsinnig, satyrisch %.und gegen die
Religion so leichtsinnig, wie die Franzosen. Ihre Verse sollen gut klingen,
wenn man sie auch %nicht versteht. Doch %aber sind sie %nicht so gravitaetisch in ihrem Um-
gange, wie die Türcken. Die Perser trincken in ihren Moscheen auch Coffee,
%.und plaudern, sagen auch zuweilen zu ihrem Prediger: Ja, ja, du hast gantzt recht!
Da hingegen die Türcken von gantz %.unglaublicher Ernsthaftigckeit sind. wir finden
«a»im @Haknon@ eine Passage, wo ein Türck erzählt, daß ein Franzose mit dem
Teufel auf dem wege zusammen kommen, worauf sie Gesellschaft gemacht,
%.und die %Bedingung unter sich eingegangen wären, daß einer den andern wech-
selsweise so lange auf den Achseln tragen sollte, als der getragene
würde singen können. Darauf soll sich der Franzose zuerst aufgesetzt, %.und
seinen Triller gesungen haben; worauf der Türcke gesagt, %.derjenige der sich mit
mit dem Franzosen in Singen einließe, wäre übel dran. China scheint
einen privat Geschmack zu haben, der nur alsdenn gefällt, wenn man
sich eine Zeitlang da aufgehalten hat. Man bemerckt dies an ihren
Gebäuden, die alle nur von einer Etage sind, %aber doch beqvem gebaut.
Unter «allen»den alten Nationen verdienen die Griechen in %ansehung ihrer Senti-
ments %.oder des edleren Geschmacks den Vorzug. Die Indianer von Indostan schei-
nen die ersten zu seyn, Welche die Künste %.und Wißenschaften aus der rohen
Natur hervorgezogen. Die Griechen haben alles, was zum Geschmack gehört, zur
Vollkommenheit gebracht. Die Griechen trugen die Music zuerst wie %.eine Theorie vor,
Pythagoras machte den Anfang, %.und entwarf canones musices; Nach ihm Aristoxen
von Tarent. Die Roemer, die ihre Schüler waren, brachten es nie so weit, am

/δSeite 146

/wenigsten in den Wercken des Geschmacks. Die Griechen trafen beynahe in der
Bildhauer Kunst, die sie nur aus Egypten bekamen, die Idée, die zum Grun-
de liegt. %aber es ist wahr, daß die mystische Religion viel zur Vollkommenheit
derselben beygetragen hat, so wie überhaupt eine Bilderreiche Religion, die am
%.sinlichen klebt, zur %beförderung der Künste viele Vorteile hat. Sie hatten viele Götter,
oft auch viele Urbilder, einen donner Gott, einen Bachus (der aber in einer sehr
schönen Gestallt dargestellt wurde, %.und nicht wie heut zu tage) eine Bellona,
Minerva, Juno, Venus p Wie verschieden sind %nicht deren Character, die alles ide-
alisch mußten vorgestellet «¿¿»und ausgedrückt werden. Sie hatten 3. Welt-
Alter angenommen, %.nemlich I. die Zeit des Saturni, das das goldene Zeitalter
war. II. die Zeit des Jupiters, da Wuth %.und %.Gewaltthätigkeit im Schwange gieng,
%.und III. die Zeit des Bachus, da hieß es, würden die %Menschen %.frölich %.und guter Dinge
seyn. Ihre Bellona stellte die kriegerische Wuth, Minerva die kriegerische
Klugheit vor; den Mars malten sie mit %.königlichem Ansehn %.und reitzend, %.und %nichts
übertraf die Schönheit der Venus. Kurtz alle Statüen zeigten von ihrem
feinen Geschmack %.und vom %Verstande der Mahler, die aus so vielen Bildern,
die ihnen die Phantasie vormalte, %.diejenigen Stücke zu wählen wußten, die mit
der Idée des %Menschen so vollkommen übereinstimmten. Daß man es heut
zu Tage mit der Malerey etwas weiter gebracht hat davon ist die Er-
findung der Perspective %.und der Oel Farben, von welchen die Griechen
%nichts wußten, die Ursache. Man hat gewiße alte Gebäude, als die Norid-
sen in England, %.und %.andere mehr, von denen man sagt, daß sie im Gothischen Ge-
schmack gebauet wären. Man findet viel Edles in dieser Bau Art, %.und es
ist daher wohl %nicht einer so rauhen Nation zuzuschreiben. Daher auch eini-
ge die Mohren für deren Verfertiger halten. Man sagt, die Barbaren
hätten den Geschmack verwüstet, allein, es war schon vorher zu Grunde
gegangen. Der %.Orientalische Geschmack ist von gantz anderer art, %.und man muß
ihm in keinem Stücke nachahmen, auch %nicht im Schreiben. Die vielen Bilder in
ihrer Sprache zeigen ihre Unwißenheit an; Auch ist die %.Englische Schreibart von dieser
Beschaffenheit, %.und eben so bilderreich. Ein Bild, das einen Begrif anschauend

/δSeite 147

/macht, ist %.vortreflicher, als eine richtige Vergleichung. «¿¿¿»Das Bild %aber muß als %.eine
Folge der Idée angesehen werden. Die %Vernunft braucht die Sinnlichkeit, so
wie große Herren ihre Bedienten. Allein die Morgenländer setzen die Sinn-
lichkeit an die Stelle der %Vernunft. Je weniger einer Begriffe hat, desto mehr
braucht er Bilder %.und Aehnlichckeiten. Je länger eine Nation im rohen Zustande
ist, desto Bilderreicher ist sie, denn sie lernt %nicht abstrahiren. Daher kommts, daß
die Wilden in lauter Bildern reden. Sie sind wie Leute, die viel mit den Hän-
den fechten, %aber mit dem Munde %nicht sehr zurechte kommen können.

/ ≥ Noch etwas von der vernünftigen
Urtheils_Kraft. ≤

/Diese Beurtheilet, ob etwas vollkommen oder nicht, gut oder böse ist. Das Ur-
theil dieser vernünftigen Urtheils_Kraft muß für alle gelten. Daher
man auch vom Guten %.und Bösen Maximen d.i. principia der Beurtheilung a pri-
ori geben kan. Um %aber zu Bestimmen, was schön %.oder %.heßlich ist, müßen wir viele Er-
fahrung haben, d.h. wir müßen es a posteriori herleiten; Wir können %.dasjenige
was unsre Sinnlichkeit in ein Spiel bringt, <nur> durch %Erfahrung. Es ist etwas vollkom-
men, %.entweder in Beziehung auf einen andern Zweck, oder für sich selbst. Jenes
macht die mittelbare bonitaet, %.oder die %.Nützlichkeit; dieses die unmittelbare bo-
nitaet aus.

/Es ist die Tugend im gantzen betrachtet, immer nützlicher, als das Laster. Denn
ich bin versichert, daß wenn ein jeder %Mensch 100. Jahre lebte, alle Schelme zu-
letzt an den Galgen kommen, %.und alle tugendhaften zuletzt zu Ehren kommen wür-
den. Da nun %aber ihre Lebens_Zeit kürtzer ist, so kommen sie %nicht an den rechten Man,
der den tugendhaften zu belohnen %.und den Lasterhaften zu bestrafen suchen
möchte. Außer der %.Nützlichkeit hat die Tugend einen innern Werth oder eine un-
mittelbare bonitaet, %.und ist achtungswerth. Die Dinge außer dem %Menschen sind mit-
telbar gut; das gute, das wir beurtheilen sollen, kan gut seyn, %.entweder nach
logischen Regeln, d.i. wahr, oder nach practischen Regeln, d.i. brauchbar,
es dient zur Vollckommenheit. Weil unsere %Vernunft desto weniger wirckt, ob wir
uns %.gleich ihre Thätigkeit nicht bewußt seyn; so kommt es, daß wir bisweilen %durch
Vernunft urtheilen, wo wir %durch Sinnlichkeit geurtheilt zu haben glauben, %.und es
anzuschauen gedenken. Dies nennt man sentiment. Wir haben also auch ein sen-
timent der gesunden Vernunft, welches man an Voltaire am meisten Be-
wundern muß. Das Sentiment in Ansehung des guten das, was der gustus in

/δSeite 148

/%Ansehung des Schönen ist. Bey Dichtern fordert man ein Urteil, was neben der
Sinnlichkeit ist. Die Franzosen haben %nicht so viel sentiment als die Engländer. Das
Sentiment gehört mit zur vollkommenheit des Geschmacks.

/ ≥ Vom Begehrungs_Vermögen. ≤

/Der %Mensch befindet sich zuweilen in einem Zustande, wo er sich %.keiner %Empfindung
bewußt ist, zuweilen %aber ist er so unruhig, daß er beständig wünscht, %.und doch %.keinen
Gegenstand %.seiner Mühe hat. Einige %Menschen sind capable den gantzen Tag am
Fenster zu stehen, die Leute vorbey passiren sehn, %.und eine Pfeiffe Taback
zu rauchen, %.und welche fast ihr gantzes Leben so hinbringen, ohne sich des Le-
bens bewußt zu seyn. Diese Leute glauben recht %.ordentlich zu leben, %.und wi-
ßen %nicht daß das Leben gar %nicht darinn besteht, daß man seinem Körper die nö-
thigen %Nahrungs_Mittel reichet. Dagegen giebts andere Character, (die beson-
ders den Reichen eigen sind) diese sind voller Sehnsucht, unruhig %.und voll Ver-
druß, ohne zu wißen, was sie Begehren. Sie sind voller Grillen. Dennoch
ist der Zustand der erstern diese %.glückliche Gedanckenlosigckeit beßer als der
letztern. Diesen Zustand der üblen Laune nennen die Franzosen vapeurs
beym Frauenzimmer. Einige %Menschen sind so beschaffen, daß sie an Einform
migckeit, andre an Wechsel, oder an Genuß sich gewöhnen. Ein Mensch %aber, der
sich an eine beständige %Abwechslung des Vergnügens %.oder an eine unermü-
dete Geschäftigckeit gewöhnt hat, %.und auf einmal in die Einsamkeit kommt, den
qvält nicht allein die lange Weile, sondern auch Beständige Wünsche ohne
Gegenstand. Der %Mensch kann sich an alles gewöhnen, doch hat er %aber auch einen
Hang zur Einförmigckeit %.oder auch zur %Abwechselung. Daher auch einige, wenn sie
zu Hause sind, %.und nicht %abwechselung haben, unruhig sind. Es zeigt %aber schon eine
Krankheit an, wenn der %Mensch etwas wünscht, %.und es fällt ihm %nicht ein, wor-
nach er sich sehnt. Dies ist der grillichte zustand, der sehr %.gefährlich ist. Die
desperatischen Selbstmorde sind Würkungen dieses sehnsuchtsvollen
Zustandes gewesen. Es haben sich oft %Menschen das Leben genommen, weil
ihre Fähigckeit zu genüßen, ohnerachtet alles Vermögens, sich den Genuß
verschaffen zu können, stumpf geworden. Daher sagt ein gewißer Autor.
Die Engländer hängen sich auf, bloß um sich die Zeit zu vertreiben.

/δSeite 149

/wenn der König von Persien eine große Praemie auf die Erfindung eines Vergnü-
gens setzt, so ist es gewiß ein zeichen eines Unglücks. Ein Lord in England
erschoß sich, %.und man fand auf dem Tische ein Billet, worinn stand: alle
Tage schmausen, spielen, in Kutschen fahren, Maitressen carassiren pp ist
dieselbe %abwechselung in der Welt; man muß in eine andre Welt gehen, %.und
%Abwechselung suchen. Gewiß, man hätte ihm diese %Abwechslung nicht verdacht, wenn
er nur zurück gekommen wäre. Wenn die Fähigckeit zu genüßen matt wird,
woher bey manchen Leuten die Zeit zwischen der Mittag %.und AbendMahlzeit
verlohren geht, so ist diese Kranckheit %nicht anders zu heilen, als %durch Geschäfte,
wenn man sie auch durch zwang thut. wird dies %nicht gebraucht, so verliert
der %Mensch %.endlich allen Geschmack am Vergnügen. Das Lesen füllt den Raum
auf keine Weise aus, wenn man %nicht eine Absicht dabey hat. Ein jeder %Mensch
hat die Absicht etwas zu lernen, um ein Amt zu bekommen, hernach eine
Frau zu nehmen, %.und sich dann in Ruhe zu begeben. Die Faulheit ist also die letzte
Absicht, die ein %Mensch intendirt. %.Derjenige, der sich selbst arbeit auflegt, %.und soviel ar-
beitet, als ihm beliebt, der arbeitet gar nicht. Sondern dis heißt nur occupa-
tio in otio. Es muß demnach ein jeder %Mensch zur arbeit gezwungen seyn, %.und
%.folglich muß seine %Bemühung eine %.Beschwerliche seyn, %.und auf eine solche folgt
Ruhe des Gemüts. Daher geht ein Kaufmann am Posttage, wenn er Vormit-
tage gearbeitet hat, gern Nachmittags in lustige Gesellschaften, weil er
alsdenn am vergnügtesten ist. Und so bringt jeder %Mensch, der den Vormittag
gut angewandt hat, den Nachmittag gut %.und vergnügt zu. Ein %Mensch mag stu-
diren, wie er will, er kann doch %nicht vergnügt seyn, wenn er %nicht eine Zweck-
mäßige Arbeit hat. Denn da wir durch die Arbeit unsre Gefäße von Ner-
ven Säfte ausleeren, so werden selbige bey unsrer Ruhe wieder gefüllt,
welches eben das Vergnügen herfürbringt. Ein %.Mensch der gar %.keinen Herrn mehr
hat, hat schon einen großen Mangel. Man wünsche sich also nie in die Muße
%.und Ruhe, wofern man sich %nicht voraus eine gezwungne Arbeit besorgt
hat, denn sonst fällt man in den verzehrenden Zustand der grillen %.und Sehn-
sucht. Der launichte zustand, von dem wir eben geredet, ist voll Sehnsucht.
Es giebt nun %aber mäßige Begierden %.und Wünsche, %.und auch thätige Begierden.

/δSeite 150

/Letztere gehn auf das, was in einer Macht ist zu erlangen. Nichts %aber ist
für den %Menschen unanständiger, als sich mit müßigen Begierden zu Beschäf-
tigen. Diese werden gereitzt 1) durch ein vorgemaltes %.Idealisches Glück, wel-
ches bey den Romanen geschieht, die das Gemüth zu leeren Wünschen dispo-
niren. Mit einer solchen %.idealischen Welt kan man sich nur kurtze Zeit ver-
gnügen. 2) Die %Beschäftigung mit einem wahren Ideal; dies geschieht von
denenjenigen, die von %nichts als Tugend %.und %.Vollkommenheit reden %.und schreiben, %aber nie-
mals bemerckt haben, wie groß der Grund der Tugend sey, deßen ein
%Mensch fähig. Hierinn hat Gellert gefehlt, denn er blähet das Hertz gleichsam
mit %.Moralischem Winde auf, %.und redet von %nichts als wohlgezogenheit, %Menschenliebe,
Mitleiden, %.und von einer aufsteigenden Thräne bey %Erblickung %.eines Nothleiden-
den, aber er bemerckt %nicht, ob seine %Forderung auch dem %.menschlichen Vermögen
angemeßen ist. Man setze nun einen solchen %Menschen in die Welt, der
von diesem allen unterrichtet ist, %.und man wird zwar finden, daß er %.einen
solchen Character bewundert, allein haesitirt, wenn er zur %ausübung kommt.
Solche %Menschen sagen %gemeiniglich: o! wenn ich viel Geld hätte, wie gerne
wollte ich es mit dem armen theilen! Kommen sie %aber zu %Vermögen,
so heißt es: Es wird mir niemand verargen, daß ich %.gemächlich leben will,
ich muß Kutsche, Pferde p kaufen, %.und denn bleibt für die armen %nichts übrig.
Erlangt er weitläuftige Güter, so denckt sich der Reiche in den Grafen
Stand erhoben zu seyn, %.und hier fordert es %.freylich die Ordnung, daß man
anständig leben muß, %.und wo will denn für arme etwas übrig bleiben!
O die Harthertzigen Reichen! Gellert flößt also nur %Bewunderung solcher
mitleidigen Charactere ein, %nicht %aber wahre %Menschenliebe. Im Hamburger
Magazin findet man eine schöne Anecdote dieser Art. Sie wird von 2.
Vertrauten erzählt, die sich von der niedrigsten bis zur höchsten Stuffe
empor geschwungen, %.und dennoch in allen ihren Lebens_Umständen geklagt
hätten, daß sie nicht mit genugsamen Lebens_Mitteln versehen wären.
Um also eine completè Beqvemlichkeit zu bewircken, nahmen sie als
Räthe zur betrügerey %.und Raubsucht ihre Zuflucht, die sie auch %.wircklich

/δSeite 151

/zufrieden stellte. Allein man schlage nur verbotne %.und gesetzwiedrige
wege ein, so wird die Verrätherey nicht ferne seyn. Ihr ausgang zeigte
es, sie wurden entdeckt, %.und mußten den Rest ihrer Jahre im Zuchthause zubrin-
gen. Hier zeigte es sich, daß sie gnug zu leben hatten. Die Menschen werden
durch ihre müßige Begierden oft hintergangen, zE. in %ansehung der %.Frömmigckeit
%.und halten sich oft %durch Wahn bethört für %.wircklich gute %Menschen. Da der %Mensch über-
zeugt ist, daß ein Gott sey, %.und daß es sich geziehme, ihn zu ehren %.und «zu» fürchten
zu können, so wünscht er dies recht %.inniglich, ja er äußert es wohl mit Worten, die
dem Anscheine nach aus einem guten Hertzen fließen, %.und nun bildet er sich
ein, «¿¿»er fürchte schon Gott, geht an seine anderweitige Geschäfte, %.und glaubt
nun schon genung gethan zu haben. Aber der beste Probier-Stein hievon ist,
daß man auf sein Leben sehe, %.und dies wird uns seinen Seelen Zustand
bald sichtbar machen; denn %.gemeiniglich sind solche Leute %nicht zu Hause, wenn es
auf gehorsam gegen Gott, %Beobachtung %.seiner Gesetze %.und darauf ankommt, daß er seinem
Neben %Menschen diene. Dieser Unterschied zwischen thätigen %.und müßigen Begierden
ist sehr wichtig. Denn man hat %.gemeiniglich schon eine große Meinung von sich,
wenn man auch nur bloße Wünsche nach etwas Gutem nährt, %.und hällt gute
Wünsche schon für guten Willen, da doch gute Wünsche nur ein Verlangen
nach gutem Willen sind. Auch bringt das Warten schon viele leere Wün-
sche herfür. Es ist daher beßer, standhaft, zufrieden %.und hart zu seyn, als ein
gar zu weichliches Hertz zu haben. Ich verlange %nicht, daß andre Leute Mitleid mit
mir haben sollen, sondern ich werde mein Unglück %.und Elend schon allein zu
tragen suchen. Will mir jemand seine Affection zeigen, %.und mir helfen,
so nehme ichs freudig an. Kan er also, so muß er helfen, ohne zu weinen;
kann er aber nicht, so trift hier die Meinung der Stoiker ein. Sey nicht ein Spiel
der %Empfindung anderer, sondern suche deinem Freunde zu helfen. Gehts %nicht
an, so kehre dich um, %.und sey hart. %Menschen, die müßige Begierden nähren,
sind %.gemeiniglich %.verdrüßlich; sie wünschen, %.und %nichts ist ihren Wünschen ge-
mäs. Da nun %aber in der Welt %nicht alles unsern Wünschen entspricht, so ists
am besten, daß man seinen Willen nach dem Laufe der Dinge richte %.und
zu stimmen suche. Denn volentem fata ducunt, nolentem trahunt. Der Lauf der
Dinge wird %durch unsern Willen %nicht gehemmt, er reißt uns mit, wenn wir uns ihm
gleich wiedersetzen. Ein hartnäckiges Wollen aber zerreißt das Hertz mit

/δSeite 152

/leeren Begierden, %.und dies sind eben die heftigsten, weil wir unser Unver-
mögen fühlen. Denn wir sind nie mehr auf gebracht, als über einen %Menschen,
dem wir %nicht schaden können, weil wir zu unvermögend dazu sind, %.und dennoch
wollen. Die desideria der alten bedeuten eine wunderbare Sehnsucht nach
Dingen, die schon geschehen. Nos omnes cepit desiderium defuncti. Ein
%Mensch kann begehren %.und doch zufrieden seyn, wenn er seine Begierden nur für
%.entbehrlich hällt.

/Wir können unsere Begierden in %.sinnliche oder niedere, %.und in intellectuelle oder obe-
re eintheilen. Die %.sinnlichen entspringen aus der %Vorstellung des angenehmen %.und
Schönen. Sie sind %.unwillkührlich, %.und heißen Triebe. Die intellectuellen entstehen
aus der %Vorstellung des guten %.und Bösen. Die %.sinnlichen entspringen also aus der Art,
wie man afficirt wird.

/Hang ist keine %.würckliche Begierde, sondern ein Grund, warum eine %.sinnliche
Begierde beym %Menschen entstehen kan, %.und woraus eine %Neigung bey ihm entspringt.
Die Begierde nach einem Gegenstande den wir kennen, heißt %Neigung; nach ei-
nem unbekannten Gegenstande heißt instinct. Der Mensch hat einen Hang zu
etwas, wo er noch keine %Neigung hat. So haben alle Wilden einen Hang zur Trun-
ckenheit, %.und das %.weibliche Geschlecht einen Hang zu herrschen, ob es %.gleich nie daran
dencken darf, %.obgleich keine %Neigung da ist. Man versetze sie aber in andre Umstän-
de, lehre sie starcke Geträncke kennen, so wird der Hang zur %Neigung. Bey Kin-
dern ist oft der Hang zum Bösen, wenn sie auch noch keine %Neigung dazu kennen.
Und solche Kinder kan man daher unschuldig nennen, in %Ansehung des Facti,
%aber %nicht des Characters. Diesen Hang rechnet man mit zum Temperament.
Man kan ihn %aber bey frühen Jahren zurück halten, %.und auf Gegenstände
lencken. Instinct ist also der Grund der Begierde, die der Kenntniß des
Gegenstandes voran geht. So hungert ein %Mensch, wenn er %.gleich nie eßen ge-
sehen hat. Und eben diese Bewandnis hat es mit der Geschlechter Neigung.
Die %Neigung ist ein dauerhafter Antrieb in %Ansehung eines Gegenstandes, den
man kennt. Ein Antrieb ist also keine %Neigung, sondern, %dadurch, daß man diesem An-
triebe oft folgt, bekommt man erst einen habitus, %.und so entsteht eine Neigung.

/δSeite 153

/Daß %Menschen instinct haben, ist %nicht ihre Schuld, %aber wegen der Neigungen haben sie sich
selbst anzuklagen, da man doch nach Grundsätzen handeln sollte. Alle Neigungen
setzen mich in Sclaverei, %.und ich habe immer die Hände voll zu thun, um meinen Nei-
gungen zu wiederstehn. Triebe werden %nicht zur %Neigung außer %durch Nachsicht und
Mangel des %Verstandes. Sie sind aber deshalb nicht zu verwerfen, %sondern gleichsam ein
Winck der Natur, wodurch sie uns zu etwas einladet. Auch zum Guten muß man
%Neigung haben, man muß %aber den Urteilen des %Verstandes, %nicht den Neigungen folgen.
Einige Menschen faßen geschwinde zu etwas %Neigung, %aber sie verliert sich auch bald, denn
ein Baum der lange stehen soll, muß lange wachsen. %.Derjenige dem kein Ding ei-
nen Trieb verursacht, heißt unempfindlich. Man sagt dies besonders von den
Indianern, in Nord America, %.und von den Negern. Es ist %aber gut, daß der %Mensch em-
pfindsam ist, denn alles Ladet ihn zum Gebrauch der Dinge, die um ihn liegen; aber er
muß der %Vernunft folgen, %.und diese Triebe %nicht zu Neigungen werden laßen, sondern
sie, wie Feinde unsrer Freyheit fliehen, %.und an %.keiner Sache mit Neigungen kleben.
Die Menschen trauen sich in %Ansehung der Grundsätze wenig zu, daher wünschen sie sich
Neigungen. Wenn man %aber auch einen %.Menschen hochschätzt, der nach Grundsätzen handelt;
so ist man doch wenig mit ihm zufrieden, wenn er nie aus %Neigung handelt.
Wie würde sich zE. eine Frau gebehrden, wenn sie wüßte, daß der mann ihr bloß da-
rum Beywohne, um den Stand der Ehe zu erfüllen, %nicht %aber aus Neigung?
Indeß bestätigt doch die %Erfahrung, daß %.diejenigen Ehen, da jemand bloß einer regel-
mäßigen Wirthschaft wegen geheurathet, weit dauerhafter sind, als alle
enthusiastischen. Denn solche enthusiastische Flammen, sind allemal Vorbothen
einer unglücklichen Ehe gewesen. Ein Mann hingegen, der Wirthschaftlichkeit
wegen heurathet, erzeigt %.seiner Frau die gebührende %Achtung, %.und %durch die Länge
der Zeit findet sich auch Neigung. Indeß wünscht man immer die %Neigung, weil
man die Thierheit beym %Menschen für stärcker hält, als das Intellectuelle.

/Wir können die Begierden eintheilen in Hang, Trieb, %Neigung, Affect %.und Leiden-
schaft. Der Hang ist eine receptiuitaet einer %Neigung, %.und es fehlt ihm nichts
zur Neigung zu werden, als gelegenheit. Jedes Geschlecht hat einen Hang zum
andern; man sagt %aber unrecht: der %Mensch hat eine %Neigung zum Bösen; denn er hat

/δSeite 154

/nur Hang dazu, %.und wenn ihm wäre vorgebeugt worden, so könnte die %Neigung abgehal-
ten werden. Dies heißt soviel: Setzen wir den %Menschen in manche Umstände, so
können alle Tugenden, sie mögen so groß seyn, als sie wollen, gestürtzt,
%.und die größten Laster erweckt werden. Wie wenig Ursache hat also ein %Mensch
sich über andere zu erheben; denn daß einer zum Galgen geführt wird, %.und der
andere die höchste Ehren Stuffe erreicht, kommt vielleicht blos von der Erziehung
her, indem der erste Gelegenheit gehabt hat, seinen Hang zum Bösen in %Ausübung
zu bringen, da er hingegen beym letztern erstickt worden ist, oder auch an-
ders gelenckt, denn der erste Hang des %Menschen ist jederzeit thierisch. Der Hang
ist eine hypothetische Möglichkeit zur Begierde, denn man hat zu derselben
noch keine Empfindungen. Der Trieb (stimulus) ist der Grund des Ur-
sprungs einer %.sinnlichen Begierde, %.und durch den Trieb wird der %Mensch zur Begier-
de gereitzt, %aber man begehret noch nichts. Die Gründe von den Trieben sind al-
so subjectiv. Die Triebe aber sind beym %Menschen wegen Mangel der %Vernunft
sehr oft nöthig, %aber die Natur giebt uns Triebe, wo die %Vernunft vielleicht zu
schwach ist, den Menschen zu überreden. wenn wir zE. bey der Geschlechter Neigung
nicht Triebe hätten, wie wenig würde die Welt bevölkert seyn? Alle Triebe
zusammen genommen machen das Fleisch, die %Bewegungs_Gründe der Vernunft
%aber den Geist aus. Diese streiten oft mit einander. Da nun %aber alle Triebe
blind sind (denn sie urtheilen nicht) so müßen sie von der %Vernunft im
Zaum gehalten werden. Die Natur gab uns Triebe zur Fortpflantzung
unsers Geschlechts, %.und eben so den Eltern für das wohl ihrer Kinder zu
sorgen; %aber %nicht umgekehrt, die Kinder haben Triebe für ihre Eltern.
Denn dies sind nur Triebe der Danckbarckeit %.oder der reflexion der
Kinder. Eben so ist es auch bey den Thieren. Gros Eltern lieben ihre
Enkel noch weit mehr, als ihre rechte Kinder. Die Ursache, die Helvetius
davon anführet, ist etwas hart. Er sagt: sie lieben deshalb mehr,
weil sie Feinde ihrer Feinde wären, weil sie %.nemlich eben so

/δSeite 155

/auf den Tod ihrer Eltern warten, als die rechten Kinder auf den
Tod ihrer Groß Eltern - Der %Mensch sympathisirt %.sein Leben mit andern.
Fällt der eine, so fühlt es der andre auch; hebt der eine etwas schweres,
so stöhnt der andre mit. Neigung ist ein habitus der Begierde, eine Begierde zu
etwas, in so fern dies eine Bedürfniß aus macht. Ein Bedürfnis %aber ist ein Ver-
langen nach etwas, deßen Abwesenheit uns unzufrieden macht. Wenn man %aber
etwas in der Form des Entbehrlichen Begehret, so ist dis keine %Neigung, denn %durch %.eine
%Neigung wird man gefeßelt. Und es ist daher rathsam, daß kein %Mensch, am weni-
gsten ein Philosoph sich %durch %Neigung an eine Sache hänge, %sondern blos durch bewegungs_Gründe.
Es kann %.eigentlich keine %Neigung auf etwas Gutes gehen, %.obgleich unsere %Neigung auf et-
was gerichtet seyn kan, was auch gut ist, denn sie ist doch nie auf die bonitaet gerich-
tet. Die %Vernunft allein enthält die gründe, %wodurch wir zu etwas guten Bewogen
werden. Zum Guten müßen wir vernünftige Maximen haben, %aber es ist auch
oft %.zuträglich daß wir uns das Gute in einem %.sinnlich vortheilhaften Lichte vorstel-
len, %.und zugleich die %Neigung excitiren, weil wir %nicht blos Vernunft, sondern auch
%Neigungen haben, die befriedigt werden wollen. Es kan %aber der %Mensch %nicht nur ohne,
sondern auch wieder die %Neigung handeln, ja der %Mensch reflectirt zuweilen %darüber,
%.und wünscht «¿¿» andre zu haben. Sie sind also kein Grund des %.menschlichen Be-
gehrungs_Vermögens, ob sie es wohl an thierischen sind. Eine Frau %aber würde mit
ihrem Manne %nicht zufrieden seyn, der sie aus Pflicht lieben %.und ehren wollte, %.und
der, wie man sagt, ohne affection ist. Sie verlangt eine blinde Neigung. Denn
wenn er %durch Vernunft urteilt, so bemerckt er %.zugleich ihre Fehler %.und Unvoll-
kommenheiten, %.und ist zu scharfsichtig. Und eben daher ist er %nicht so gut zu regieren,
wie einer, der %durch die %Neigung blind ist. Ein Kind sollte man so gewöhnen, daß
es weder zum Frühstück eßen, noch zum frühen Schlafengehen, noch auch zu
sonst etwas Neigung hätte, sondern blos %.natürlichen Trieb, damit es im Alter gar
nicht durch Neigungen regiert würde, denn sie unterjochen den %Menschen, %.und schrencken
die Macht der vernünftigen %Bewegungs_Gründe ein. Und in der That macht %nicht
der Mangel der Sachen, sondern die %Neigung zu Dingen, deren man %nicht habhaft wer-
den kan, den %Menschen unzufrieden. Die Neigung, gantz von %Erkenntniß entblößt, ist

/δSeite 156

/appetitus brutalis, %.und es ist daher %.wunderlich, daß einige Moralisten Neigungen zum
Guten annehmen. Eine jede Begierde, die so groß ist, daß sie uns unvermögend macht,
die summe aller Neigungen zu befriedigen, ist ein affect; denn Beym Wohlbefin-
den kommt es darauf an, daß man einen Gegenstand mit der summe aller Nei-
gungen vergleiche. Beym affect %aber folgt man blos einer Neigung. Ein %Mensch kan
lieben ohne verliebt zu seyn, %.und diese Liebe, ob sie %.gleich kaltblütig zu s«ch»eyn schei-
net, ist %.gemeiniglich die dauerhafteste, denn sie erlaubt dem %Menschen Uberlegungen
anzustellen, ob nemlich ihre Befriedigung mit der Summe aller Neigungen über-
einstimmt d.h. ob die Person, die meine %Neigung zum Vorwurf hat, Geld habe, aus
guter Famielie abstamme, ob sie eine gute Wirthin, eine vernünftige Mut-
ter, gefällig herrschsüchtig pp seyn werde. Schon in dem Begriffe eines Ver-
liebten liegt die Thorheit deßelben. Es giebt auch eine Rachbegierde %.von der Art,
da der %Mensch auch Zeit zur %Überlegung hat, ob es auch in %.seiner Gewalt stehe, den andern
seinen Zorn empfinden zu laßen, oder ob er auch selbst Gefahr laufe, unterzu-
liegen %.und seinem Feinde Gelegenheit gebe, zu triumphiren. In so ferne %.aber
liegt schon die Thorheit eines Verliebten in terminis, daß er eben dadurch %.seine
Vorteile %nicht achtet, %.und sie gerne verliert, wenn er nur %.seine Schöne heurathen kan,
%.und daß er alle ungereimten Befehle %.seiner Geliebten, blos um ihr zu gefallen,
ausübt. Und eben %dadurch zeigt er, daß er ein Thor sey %.und blind. Denn blind %.und
im affect seyn ist einerley. Der affect heißt im Deutschen Leidenschaften,
weil %.ein solcher %.Mensch leidet, daß er hingerißen wird. Der affect wieder-
streitet der Klugheit; %Neigung %aber der Weißheit. Wir können hier eine schö-
ne gradation mercken.

/1. Eine jede %Neigung wiederstreitet der Sittlichkeit.

/2. Der affect wiederstreitet %nicht nur der %.Sittlichkeit %.und Klugheit, sondern
auch δLücke Und dies zu beweisen, mercke
man:

/I. Die Moralitaet besteht darin, daß man bey allen Vorschriften der Sinn
lichkeit seine %.Handlungen doch nach Bewegungs_Gründen der Vernunft dirigire. Wer
nun %aber aus %Neigung handelt, giebt %nicht den Bewegungs_Gründen der Vernunft, son-
dern der %.Sinnlichkeit Gehör. Und da wir zu allen %.sittlichen %.Handlungen %durch Be- 

/δSeite 157

/wegungs_Gründe angespornt werden, so sind wir um desto mehr gebunden, je
sinnlicher wir sind. Die Griechen verordneten deshalb daß ihre Areopagiten im fin-
stern urtheilen mußten, weil einmal eine <verurtheilte> schöne Witwe, %durch Abnehmung ihres Schley-
ers Recht erhielt. Nur allein die Neigungen machen arm; sie sind gleichsam
viele Mäuler, die alle gefüllt seyn wollen. Sie sind Schreyhälse, die dem %.Menschen
keine Ruhe laßen. Daher ist der %Mensch, der größte Thor, der sich mit Neigungen
Beladet. Ueberhaupt ist es %nicht gut, %.und weise, sich Bedürfniße nothwendig zu ma-
chen, ehe man auf Mittel gesonnen, sie zu befriedigen.

/II. Die Fähigckeit, die besten Mittel zur Glückseeligckeit zu wählen, ist die Klug-
heit. Die Glückseeligckeit besteht in der %Befriedigung aller %Neigungen. Um sie
also wählen zu können, muß man frey seyn. Der Klugheit ist %aber alles zuwieder,
was nur Blind macht. Der affect macht blind, %.und also ist er der Klugheit zuwie-
der.

/III. Der blinde affect ist %.diejenige Stärcke des %.sinnlichen Triebes, daß er den %Verstand hindert,
selbst auf die %Befriedigung des einigen Triebes, der ihn blind macht, zu dencken.
Und so kan der starcke Trieb selbst %.sein eignes «Z»Theil %nicht erreichen. So weiß
man, daß ein heftiger Zorn stumpf wird, %.und %.derjenige %.und derjenige der da recht zürnet,
weis selbst %nicht, was er dem Beleidiger für %.empfindliche Worte sagen soll. Der
affect scheint überhaupt uns in den Zustand der stupiditaet zu versetzen; der
blinde affect verstumt. So ists mit einem heftigen Verliebten, der weis %nichts
zu sagen, %wodurch er sich insinuiren könnte. Dagegen ist %.derjenige am gesprächigsten,
der am wenigsten empfindet. Auch ist der Ehrgeitz von der Art, welcher wah-
re Vortheile für den Titel dahin giebt, da doch die %Hochachtung für ihn %nicht im gering-
sten wächst. Da nun %aber die %.Geschicklichkeit in der Kunst besteht, Mittel zu allen
%.möglichen Endzwecken ausfündig zu machen, %.und ein solcher %Mensch, der in einen
blinden affect geräth, %nicht einmal ein Mittel zu einem eintzigen Zwecke,
ausfündig zu machen weis. So wiederstreitet der blinde affect dem
Geschmacke %.oder der Sinnlichkeit. Einige %.englische Schrifsteller machen einen
Unterschied zwischen affect %.und Passion. Sie sagen: Der affect sey «nur» eine so
starcke Regung des Gefühls, daß man sich der summe aller Regungen bewußt
seyn könnte. Passion aber sey eine so starcke Begierde, daß man sich der Summe
aller Begierden %nicht bewußt seyn kan. Dieser Unterschied scheint richtig zu seyn,
denn der affect ist ein Gefühl, das uns unfähig macht, die summe aller Gefühle zu

/δSeite 158

/Rathe zu ziehn. - Alle Bandenlose Lustigckeit macht uns unfähig, auf andre
Qvellen des %Vergnügens zu dencken, %.und vergnügt weniger, als das lustige. Ein
dauerhaft %Vergnügen des %Menschen, besteht %nicht darinn, daß man es %durch alle organa
empfinde. Das Gemüth muß zu allen %Vergnügen offen stehn. Wir finden daher, daß
die Befriedigung einer Neigung immer Unruhe %.und Verdrießlichkeit nach sich ziehe,
weil alle Organa gleichsam in Thätigckeit versetzt worden sind. Jede %Neigung,
die sehr vergnügt, wird erschöpft, da hingegen die Mäßigckeit die Sinne für %Ver-
gnügen anderer Art offen hält. Das gefühlvolle Gemüth mit Ruhe vercknüpft
ist der größten Vergnügungen fähig. Nichts ist absurder als eine Tafel Music,
denn man hat weit feinere Arten des Vergnügens Bey der Tafel. Die Music
füllt nur den leeren Raum der Gedanckenlosigckeit aus, %.und kan etwas zur
%Verdauung beytragen.

/Die Leidenschaft ist der Zustand der Begierden, der uns unfähig macht, auf an-
dre Acht zu haben, %.und verursacht, daß wir die Gegenstände nicht nach den Sinnen
aller Begierden wählen können. Der %Mensch opfert dabey allemal etwas von
seinem Zustande auf, bey der Paßion aber, oder einer heftigen Begierde opfert
er etwas von %.seiner Thätigckeit auf. Man nennt einen solchen %Menschen einen Sclaven,
weil er den Leidenschaften dient. Einige Leidenschaften sind so Beschaffen, daß
sie einander billigt, weil man mit derselben sympathisirt. Oft gerathen
%.aber %Menschen darum in keinen affect, weil sie stupide %.und ohne Empfindung sind.
Besonders pflegt man mit dem Zorn zu sympathisiren, den eine %Beleidigung ver-
ursacht, weil die %Beleidigung eine allgemeine Sache ist. Wenn %aber jemand bestoh-
len wird, so findet dies %nicht so leicht statt, weil der Dieb öfters der Person nichts
thun will, wenn er nur Geld beckomt. Ist %aber jemand Beleidigt, so denkt
man mit dem Chremes im Terentz: homo sum, et nihil humani a me alienum esse
puto. Brutus, der den Caesar ermordet hatte, sah den todten Körper vor
der Thüre des Sulla liegen, %.und fragte, ist denn %.keiner der dies räche? Man ant-
wortete, Nein! %.und er sagte: So reichet mir den Degen! Er konnte die %Be-
leidigung des Volckes %nicht ertragen. - 

/Wir Billigen auch Leidenschaften

/1.) Wenn sie uns vortheilhaft sind, und

/2.) Weil kein genugsamer Ernst da zu seyn scheint, wo %.keine Leidenschaft ist.

/δSeite 159

/Freylich ist der Affect wohl der Beste Beweis vom Ernste; allein darum zeigt
der Mangel des affects noch %nicht den mangel des Ernstes an. Vielleicht ist der über-
legte Ernst von längerer Dauer. Es ist nicht gut, wenn man sein glücke auf einmal
zu hoch treibt, so daß man es %nicht mehr steigern kan. Denn hat uns einmal eine
Sache recht starck gerührt, so mißfällt uns hernach die mitlere %Rührung. So thut
man einem keinen Gefallen, wenn man ihn mit den größten Lobsprüchen
überhäuft; denn verdient er sie %nicht gantz complet, so mißfällt er schon, weil man
ihn schon für einen rechtschaffenen %.und geschickten Mann gehalten. All unser
Wohlgefallen, wenn es in abnahme geräth, zeigt uns schon der sich herannahende
Verdruß, daher müßen wir es nie zur abnahme kommen laßen. Haben wir
nun unsere Empfindsamckeit auf einmal zu hoch gespannt, so können wir sie
%nicht lange aushalten. Kommts aber zum abnehmen, so ist Eckel, Verdruß %und Kum-
mer da, weil wir die höchste %Empfindung zum Maas-Stabe annehmen. Wie gut
wäre es also, wenn man %.sein leben so einrichtete, daß man %.seinen Zustand steigern
kan, denn dies ist das eintzige Mittel zur glückseeligckeit. Oft glaubt ein
%Mensch betrogen zu seyn, %.und betrügt sich selbst. Wenn jemand in %.seiner frühesten Ju-
gend aus seinem Vaterlande reiset, %.und in seinem Alter wiederkommt, so glaubt er
%.gemeiniglich daß sich während der Zeit alles verändert habe. Allein er hat sich selbst
verändert, denn wie kan er jetzt das %Vergnügen empfinden, welches er damals em-
pfand, da er Ball spielte. Ein Verliebter glaubt in %.seiner Trunckenheit, daß sei-
ne Geliebte der schönste Gegenstand auf der Welt sey. Genüßt er sie, und
die Funcken, die er fieng, brechen in Flammen aus, %.und verlodern endlich, so
glaubt er, wenn er sie hernach minder reitzend findet, betrogen zu seyn,
da er sich doch selbst betrogen hat. Beym Heyrathen ist der Mann doch %.mehrentheils
besorgter als die Frau. Der Grund davon ist: die Frau gewinnt %dadurch ih-
re Freyheit der Mann %aber verliert etwas davon. Der fromme Heilige affect
ist unter allen der ärgste. Denn je erhabner der Endzweck ist, um den man
eifert, desto größer ist der Zorn, denn der Zorn bekomt hier eine art von Be-
schonigung. Daß %aber die Natur Leidenschaften in uns gelegt hat, kommt daher, %.weil
sie allemal den sichersten Weg wählt, zu ihrem Zweck zu kommen. Der si-
cherste Weg %aber ist allemal die Rührung der Sinnlichkeit. Man %aber die Leiden- 

/δSeite 160

/schaften dadurch %nicht rechtfertigen, denn wir haben Vernunft, daß wir sie im Zaume
halten können. Die Natur hat uns nur provisorie den affect gegeben, weil man oft
nur zu spät zum Gebrauch %.seiner Vernunft kömmt. Sie sind also einem %Hofmeister
gleich, der %aber einem Kinde nur so lange gehalten wird, bis es zur %Überlegung kommt,
%.und durch die Vernunft geleitet werden kan. Beßer %aber könnte die Natur ihre
Haupt Zwecke, zE. die %Erhaltung des Lebens, %.und die Fortpflanzung der Art nicht der
Vernunft, diesem für die %Menschen so unzuverläßigen Führer, anvertrauen.
Denn die Natur hatte die absicht, %.gleich in der zarten Kindheit den %Menschen zu seinen
Zwecken zu führen. Dis %aber konnte %durch die erste angehende Vernunft %nicht so gut ge-
schehen, als durch Keine <zu> affecten. So ist zE. der Zorn eine %Vertheidigungs_Neigung.
Wird %aber die %Neigung reif, so muß der %Mensch den Affecten weiter kein Gehör
geben, als nur in so fern, daß er sich von ihnen an die Zwecke des Lebens er-
innern läßt. Es ist %aber doch sonderbar, daß beym Affect der Theil der Bedürf-
niße %.wircklich die Summe aller Bedürfniße überwiegt. Alle Neigungen können
zu Affecten werden, %aber die Neigung selbst, wenn sie %.gleich <sehr> starck ist, behält doch
noch immer eine Klarheit, die im Affect vermißt wird. Es giebt thätige Affe-
cten, die mit der Unternehmung der Handlungen verbunden sind, %.und den mü-
ßigen entgegen gesetzt werden. Man sollte dencken, die Chineser %.und andere Ostin-
dische Nationen hätten keine affecten, weil sie sehr zurück halten. Denn
wenn ein Europaeer zE. Seide von ihnen kauft, %.und sie den Untertheil des
Faßes mit etwas anderm angefüllt, %.und die Seide draufgestopft haben,
welches der Europaeer entdeckt; so fällt ein jeder auf die %Vermuthung, daß der
gantze Zorn des Käufers darüber entbrenne, %.und in die wüthensten Aus-
drücke ausbrechen werde; Aber was erwartet man vom Chineser für eine
Antwort darauf? Er sagt: Nun, warum seyd ihr böse, euer Nädler sagte,
daß ihr die Seide nicht besehen würdet. %.Obgleich die Chineser hierinn

/δSeite 161

/die Europaeer zu übertreffen scheinen, so haben sie doch eben dieselben affecten.
Allein aus Furcht, %.und damit sie sich mit mehren %Uberlegungen aus der Sache ziehen kön-
nen, sind sie sehr zurückhaltend.

/Wir können alle Neigungen aus 2. Gesichtspunckten betrachten:

/1.) Insofern sie die allgemeine Bedingung aller Neigungen sind; welches man
die %Neigung in abstracto nennen könnte.

/2.) In so fern die Objecte der Neigungen eingetheilt sind.

/Die allgemeine Bedingung aller Neigungen ist Freyheit %.und Vermögen. Die Frey-
heit bedeutet aber der Zustand, worinn man %.seinen Neigungen gemäs leben kan;
daher haben die Menschen %.eine erstaunende %Neigung zur Freyheit, blos darum,
weil sie die eintzige %Bedingung ist, unter der wir unsre %Neigung befriedigen
können. %.Lächerlich ists daher, wenn ein Guthsherr seine ErbUnterthanen nach %.seiner
weise behandelt, %.und sie nach %.seiner Idée von %.glückseeligckeit zu leben zwingt, dabey
%aber zur Raison angiebt; solche Leute wüßten %nicht was ihnen diene. Dieser Zu-
stand ist für die ErbUnterthanen der %.schrecklichste. Denn man ist nur dann %.glücklich,
wenn man %.seinen Neigungen gemas leben kan. Indeß ist die Freyheit nur die
negative Bedingung, unter welcher der Mensch %.seine Neigungen befriedigen kan.
Es muß zu dieser Freyheit noch das Vermögen kommen; denn man laße
einen ErbUnterthanen laufen, %.und gebe ihm die Freyheit, wenn er kein Geld,
kein Ansehn, %.keine Fürsprache hat; so wird ihn zwar %nichts an der Befriedigung sei-
ner Neigungen hindern, allein er wird sie doch %nicht befriedigen können.
Das Vermögen ist die Kraft, %wodurch man etwas, welches unsrer Willkühr
gemäß ist, zu Stande bringen kan. Zum Vermögen gehören 3. Stücke:

/1.) Ansehen,

/2.) natürliche Kräfte, Talent, %.und Geschicklichkeit.

/3.) Geld, welches das Vermögen genannt wird, weil es das Mittel
ist, %wodurch man sich alles verschafen kan, was nur %.menschlichen Bemühungen %.möglich
ist. Ja wer Geld hat, kan sich verstand anschaffen. Denn ein guter Vorrath
von Büchern ist die Ergötzung des Verstandes. Man hat bemerckt, daß die Stärcke,
andre zu überwältigen, mit ein Gegenstand der %.menschlichen Neigungen sey.

/δSeite 162

/Bey allen rohen Nationen ist die Tapferkeit die größte tugend. Unter den
Gesitteten Nationen sind die Disputationes unter den Gelehrten eingeführt, die
in der That ein wahres Hahngefechte abgeben. Bielfeld erzählt in %.seinen Brie-
fen eine lustige Geschichte: Ein Bescheidener Mann fällte auf einem Coffee Haus
ein Urteil %über eine Sache, Ein andrer wiedersetzte sich ihm, %.und bemühet sich
eine Stunde lang, ihn %durch tausenderley Gründe zu wiederlegen,so daß ersterer
gantz stille schweigen mußte. Darauf wand er sich an einen Engländer,
der in einem Winkel saß, %.und %.seine Pfeife Taback ruhig rauchte, und fragte
ihn, ob er jenen %nicht gut abgefertiget hätte? Der Engländer antwortete: O ja
recht gut! wenn ich mit Philistern streiten sollte, so würde ich mir euren Kinn-
backen aus bitten. - Zum Vermögen kan man auch Dreystigckeit rechnen,
denn sie macht den %Menschen fähig, etwas zu unternehmen, was ein andrer
unterlaßen muß. Diese %.Dreystigckeit kann man %nicht erlernen, der Mangel da-
von schrenckt unser Vermögen ein, %.und macht uns schwach. Dreuste %Menschen haben
%.gemeiniglich keinen Muth, sondern wie Homer sagt; das Gesicht eines hundes
%und das hertz eines hirsches. Leute, die schon %durch ihr Gesicht %.dreustigckeit anzei-
gen, sind %unleidlich, wenn es %aber keine dreustigckeit verräth, %.und der %Mensch hat
sie doch, so kan sie vorteilhaft seyn. Das Vermögen, sich %.glücklich zu machen,
ist ein unmittelbarer Gegenstand unsrer Neigung. - Geschicklichkeiten
sind nur Fähigckeiten, einen vorgelegten Zweck auszuführen, %.und diese
%.Geschicklichkeiten werden oft höher geschätzt als alle Endzwecke. So
ist die Tapferckeit ein Mittel, den %Menschen sicher zu machen, allein sie ge-
fällt uns auch unmittelbar. Auch die Ehre vermehrt unser Vermögen,
weil wir %dadurch mit vielen %Menschen bekannt werden, %.und unser %.zeitliches Glük
hängt %.mehrentheils von der Gunst und dem Ansehn unter %Menschen ab. Son-
derbar ist es, daß sich der Geitzige ungemein hitzig bezeigt, Mittel zu er- 

/δSeite 163

/werben, in Ansehung der Zwecke %aber ist er gantz gleichgültig, denn er sucht nur Geld zu-
sammen zu scharren, wenn es auch mit Unrecht geschehen sollte, auf die Anwen-
dung deßelben %aber denkt er gar %nicht. Die %.Erklärung von der Möglichkeit dieser Ungereimt-
heit liegt darinne: daß blos das Vermögen schon ein %.idealisches Vermögen aus macht;
denn ausgegebenes Geld hat nur einen einzigen Nutzen, der in der gekauften
Sache liegt, vielleicht auch darinn, weil man sich gewöhnt hat, sich keinen Genuß
zu verschafen, um nur desto mehr sammlen zu können. Das Geld %aber hat %.einen allge-
meinen Gebrauch. Allein diese Allgemeinheit muß man so betrachten, daß
man sich für das Geld zwar alles schaffen kan, %aber %nicht alles zusammen, sondern
eins von allen. Und %durch diese Allgemeinheit bekommt das liegende Geld einen
Vorzug für dem Ausgegebenen. Man könnte zu der allgemeinen %Neigung auch die
Neigung zur gemächlichkeit rechnen. Die größte Ungemächlichkeit ist wohl der
Zwanck %.und die Befehlshaberschaft eines Menschen, besonders, wenn dieser Befehlshaber
der Natur «nach»Gaben nach, unter uns steht, so daß wir ihn im Hertzen verachten,
und ihm doch gehorsam seyn müßen. Man kann %aber frey %.und doch %.ungemächlich leben,
wie zE. die Wilden. Denn die Freyheit versüßt alles, %und alle finden in
der Unabhängigkeit die Ersetzung alles ihres Ungemachs. Indeß haben sie doch
alle einen einigen Hang zur gemächlichkeit. gemächlichkeit begleitet fast al-
le Begierden, %.und schwere dinge werden uns deshalb unangenehm, weil sie
der gemächlichkeit wiederstreiten. Indeß giebt es doch Personen, die
ein desto größeres Vergnügen empfinden, je größere Schwierigckei-
ten sie zu überwinden haben. Man kan %aber gewiß glauben, daß solche Leu-
te wieder in andern Sachen ihre gemächlichkeit suchen. Wercke der Kunst
misfallen uns bisweilen deshalb, weil sie zu viel Schwierigckeit«en» und
%.Peinlichkeit verursachen, eben so wie eine Rede, wo man merckt, daß die
Ausdrücke mit großer Mühe hergeholt sind.

/δSeite 164

/ ≥ Von den verschiedenen Objecten unserer
Neigungen %.und Leidenschaften. ≤

/Unser Auctor theilt die Leidenschaften nach unserer Empfindsamkeit, in
Schmertz %.und Vergnügen. Es giebt %aber %.eigentlich nur angenehme und unangenehme
Affecten, %aber %nicht Leidenschaften, weil jene Gefühle, diese %aber Leidenschaften
sind. Beym affect wird unser Zustand afficirt, und wir sind Passive, woher
auch affect %.seinen Namen. Es giebt also %nicht angenehme %.und unangenehme Leiden-
schaften, denn dies sind heftige Begierden, wobey wir thätig sind, und also weder
angenehm noch unangenehm afficirt werden. Ein jeder angenehmer Affect
ist Freude, %.und jeder unangenehme Traurigckeit. Ein jeder %aber, der ruhig ist,
ist in keinem Affect, auch der nicht, der frölich ist, denn die Frölichkeit ist blos
das Vermögen alle Vorfälle unsers Lebens aus dem GesichtsPunckte zu
Betrachten, der uns auf irgend eine Art an dem unangenehmen Vorfalle
Vergnügen verschaft. So war Epicur der Philosoph deines frölichen Gemüths,
%nicht %aber ein Philosoph der Wollust, denn die alten haben nur aus Versehen das Wort
Voluptas, %durch Wollust übersetzt. Man sieht dies auch daraus, daß er seine Gäste
in einem Garten, den er ihnen als den Ort des Vergnügens anpries, mit
$pocheulés$, oder einer Art schleihten Grütze aufnahm. Es muß %aber jede
%.Annehmlichkeit bis zum Grade des Affects steigen, um Freude zu heißen. - 
Nicht jeder Schmertz ist Traurigckeit, wenn man ihn bis zum Gemüth drin-
gen läßt, %.und alle Philosophie zweckt dahin ab, daß der Mensch %.kein Vergnügen,
keinen Schmertz bis zu %.seiner Seelen eindringen laße, außer den Schmertz,
wegen %Übertretung %.seiner Pflichten. Und da es der %Mensch %.wircklich so weit brin-
gen kan, so sehen wir daraus, daß uns die natur %nicht so gemacht hat, daß

/δSeite 165

/wir dem affect der Traurigckeit %nicht unterworfen seyn sollen, %aber eben so wenig
sollen wir uns das Vergnügen bis in die Seele dringen laßen. Der qvalitaet
nach gehören alle Affecte entweder zur Freude %.oder zur Traurigckeit, dem gra-
de %aber nach sind sie <sehr> unterschieden, ob es %.gleich zum Affect gehört, daß eine %Neigung
so hoch steige, daß sie alles Gleichgewicht der Summe aller übrigen Neigungen auf-
hebe, d.h. alle andere verdunckele oder vertilge. Man verachtet %.gemeiniglich
alle Menschen, die im Affect sind, %aber doch hält man einige den Menschen zu gut z.E.
den edlen Zorn, da jemand für die Rechte der %Menschheit zürnt, %oder wenn etwa
ein unschuldig Armer unterdrückt wird. Ein jeder Affect ist eine degradati-
on der %Menschheit, weil der %Mensch %nicht mehr %.sein eigner Herr ist, %.und die obere Will-
kühr %nicht mehr disponirt, sondern vielmehr die Thorheit praevalirt, %.und der
%Mensch %nicht mehr nach %Überlegung über seinen gantzen Zustand disponirt. Eine
ausgelaßene Freude ist kindisch, außer wenn sie aus der bonitaet oder
dem Glück der gantzen %Menschheit entspringt. Alle Thiere sind der angenehmen
Empfindung fähig, %aber %nicht der Freude darüber, denn letzteres entspringt aus der
%Vergleichung des jetzigen Zustandes mit dem Vorigen, welche %aber ein Thier an-
zustellen %nicht vermögend ist. - Daß alle %Menschen nach ihrer Thorheit %durch et-
was vergnügt %oder ergötzt werden, %.und daß sie Schmertz empfinden, kan ihnen
%nicht verdacht werden. Daß sie %aber über etwas %.außerordentlich freudig %.und betrübt
werden, steht ihnen %nicht an. In allen Begierden kan man sich etwas continu-
irtes vorstellen, %.und diese continuirliche Begierde nennt man Sucht.
So giebts eine herrschsucht, Habsucht, Ehrsucht pp Diese Sucht, welche vom Affect deshalb
unterschieden ist, weil sie continuirlich ist, macht, daß der Mensch auf den ge-
ringsten Grad des Vergnügens erpicht ist. Ein Geldgieriger ist %nicht allemal hab- 

/δSeite 166

/süchtig, denn ein habsüchtiger laßt auch %nicht den allergeringsten Vorteil aus den händen,
%durch den er %.sein Geld vermehren kan. Und ein Ehrsüchtiger läßt sich auch vom Nar-
ren gerne loben. Der Affect gehört zum gefühl, die Leidenschaft zur Begier-
de. Man muß %aber die Empfindsamkeit sehr wohl vom Gefühl unterscheiden.
Die Empfindsamckeit ist auch zu unterscheiden von der Reitzbarckeit, die man
bey den Affecten verspürt, %.und eben in dem baldigen Ursprunge %.einer begier-
de entsteht. Die Empfindsamckeit ist eine Feinheit in der Untersuchung, ver-
möge welcher jemand leicht bemercken kan, was gefällt %.oder mißfällt.
Sie dient also zum Urteilen, %.und steht dem %.Menschen gut an. Das gefühl %aber entsteht,
wenn diese Empfindsamckeit in eine Begierde versetzt wird, %.und denn schickt sie
sich für keinen Mann. Es kan jemand ein zartes Gefühl oder Delicatesse
zE. bey der Ehre haben, d.h. er kan bey dem geringsten Umstande beleidigt
werden; dies Gefühl %aber ist unerlaubt, hingegen ist eine zarte %Empfindung er-
laubt. Das zarte Gefühl ist eine %Verwandelung der Empfindsamckeit in ei-
ner Begierde. Der Mann %aber muß %nicht verzärtelt oder weibisch seyn. - 
Das Frauenzimmer hält sehr viel auf Vorzüge, %.und ist in Ansehung des Ranges %.und
der Ehre sehr delicat. Die Frau verlangt jederzeit, daß der Mann die
Ungemächlichckeiten über sich nehmen soll. Die Ursache ist, weil sie ein
starckes Gefühl haben, %.und weil sie verzärtelt sind. Sehr reitzbar seyn, ist
eine große Schwäche, %aber die Empfindsamkeit %.oder die Zärtlichkeit in der %Un-
tersuchung ist gut. Wer viel Empfindsamkeit hat, wird in einer Gesellschaft
bey einem Schertze, der %.persönnlich gemacht wird, doch immer so sprechen, daß
er keinen, besonders kein Frauenzimmer beleidige, denn man muß wi-
ßen, daß ein Frauenzimmer sich am allerleichtesten in Ansehung der ihr gebüh-
renden %achtung beleidigt findet. Die Ursache ist, weil alle %Menschen in %ansehung

/δSeite 167

/des Punkts, der ihnen streitig gemacht werden könnte, am alleraufmerksam-
sten sind. Ist ein Ausdruck zweydeutig, so bleibt man desto leichter bey ihm ste-
hen, weil man glaubt, daß man beleidigt ist. So gehts dem Frauenzimmer,
denn der Grund der achtung ist gewis zweydeutig genung, indem sie doch selten
soviel %achtung verdienen, als eine Mans Person; %.und eben deßwegen sind sie in
diesem Punckte so sehr delicat. Man kan also allgemein anmercken, daß
man auf einem Punkte, über welchem noch gestritten wird, ungemein sehr
hält, %.und auf einen Vorzug desto mehr erpicht sey, je zweydeutiger er ist.
Daher %.gräfliche damen über die übrigen adelichen viel weniger vergeben,
als in Ansehung der Bürgerlichen. Die Frauenzimmer habe %.keine %.eigentliche Vorzüge,
weder %durch Gelehrsamckeit, noch durch Staats Maximen etc. %.und keine rechte Ver-
dienste, gegen welche man Hochachtung haben sollte; daher sind sie so sehr eifer-
süchtig auf ihre Ehre. - Die %.zärtliche liebe besteht %nicht in der größe des Affect@y@,
sondern in der Feinheit der Beurtheilung alles deßen, was einem anderen im
mindesten unangenehm seyn könnte. Also ist die Zärtlichkeit sehr weit von
der %Verzärtelung unterschieden. Denn man kan %.zärtlich lieben, %.und eben deshalb die
größten Ungemächlichkeiten übernehmen. - Es können bey einander
einander starcke affecten herrschen, %aber sie sind darum noch %nicht heftig, denn
die Heftigckeit besteht %nicht im Grade des affects, sondern in deßen %Uberraschung.
%Menschen, die feige sind, haben %.gemeiniglich große Leidenschaften, %aber sie sind
deshalb %nicht auffahrend, heftig %.und ungestüm, sie laßen sie auch deshalb %nicht
aus brechen, weil sie ihr Unvermögen satisfaciren können. Beym Zorne
sowohl als beym haß liegt ein Unwille gegen einen andern zum Grunde;
sie unterscheiden sich %aber %dadurch, daß der haß dauernd der Zorn %aber nicht dauernd
ist, sondern heftig. wahre Leidenschaften %aber entspringen nur aus dem Verhält-
nis gegen Sachen, ausgenommen, wenn man die th«ö»ierichte in der Liebe des %.Menschen betrachtet.

/~δRand_167_Z_26-27

/thierichte ~

/δSeite 168

/Denn hier hat der %Mensch gleichsam einen appetit zur Sache, %.und er sieht den %Menschen
vom andern Geschlechte blos als eine Sache an, die man brauchen kan. Diese
Liebe enthält auch %.keinen Affect des Wohlwollens, sondern ein %Mensch macht sich %nichts daraus,
den andern %Menschen, wornach er, als einer Sache appetit hat %durch den gebrauch
unglücklich zu machen. In regula %aber scheint es doch, als wenn es gegen Sachen von
%.keiner wichtigckeit wäre, sondern daß diß nur insoweit einigen Werth habe, als er
auf den %.Menschen eine %Beziehung hat. Nun können wir in %Ansehung des %.Menschen
folgendes mercken:

/I. Der Zustand anderer %Menschen ist bey uns ein Grund der sympatie, %.und diese ist
ein großer Grund der Regemachung unserer affecten. So heitert zE der lusti-
ge Gesellschafter, der ins Zimmer tritt, die gantze Gesellschaft auf.

/II. Alle Neigungen gehn %.entweder auf %.Menschen %.oder auf Sachen. Letztere %aber sind blos Mit-
tel, unser Verhältnis gegen die erstern zu erhöhen. Denn die Sachen scheinen
an %und für sich selbst keine Wichtigckeit für uns zu haben, %sondern sie nur dem
%Menschen %.und dem Zustande derselben zu widmen. Die Urteile des %.Menschen sind blos
die Ursache unsrer Neigungen. So ist die Ehrliebe die %Neigung bey andern in gu-
tem Rufe, %.oder in guter Meinung zu stehn. %.Eigentlich %aber ist sie keine Meinung, %sondern
nur eine Art von Billigung. Sie ist die vorzüglichste %Neigung %.und liegt bey al-
len affecten, wenigstens indirecte, unmittelbar zum Grunde, ausgenommen
bey der thierischen Liebe nicht, wo bloß eine %Neigung auf den Genuß der Person, als
einer Sache geht. Mit der Ehrliebe hängen alle Neigungen zusammen. Man ist %nicht mit sei-
nem angenehmen Zustande zufrieden, sondern wir wollen noch in der Neigung
andrer, in %Ansehung unsrer Person, %.und Zustandes eine vorteilhafte Stelle. Es
laßt sich die Ehrliebe nicht nur mit Tugend vergleichen, %sondern auch vereinigen.
Daher nimt man die Redensarten: Es ist ein Mann von Ehre, %.oder ein tugend-
hafter Man in einerley %bedeutung. Unter der Ehrliebe versteht man den Abscheu
ein würdiger gegenstand der %Verachtung zu seyn. Von dieser Ehrliebe ist die Ehr-
begierde weit unterschieden. Ein Ehrliebender flieht oft die gesellschaft, da-
mit er nur verhindere, daß er sich keine Verachtung zuziehe. Der Ehr- 

/δSeite 169

/begierige %aber sucht die Gesellschaft, %.und bemüht sich auch aus den geringsten Klei-
nigckeiten seine Ehre zu vergrößern. Die Ehrbegierde wird %.endlich zur Ehrsucht,
wenn man die Ehre zum Hauptgegenstande %.seiner Neigungen macht, %.und zum Ehrgeitz,
wenn man auf die geringsten Kleinigckeiten bey der Ehre sieht. Ehrbegierde
%.und Ehrgeitz sind Leidenschaften, die erhöht werden können. Es liegt in der Ehrbegier-
de das Ungereimte, daß man eben durch die große bestrebung nach Ehre ein
Gegenstand der Verachtung wird.

/III. Die Menschen haben einen gewißen Hang zu Gemeinheit, da wir die Dinge bloß
nach dem Maaße schätzen, als sie von andern geschätzt %.oder gebilligt wird, da ei-
ner will, daß das, was ihm gefällt, auch andern gefallen soll. Die Vorsicht hat hie-
durch unsre Neigung von dem Interesse des gantzen abhängig machen wollen; kei-
ner verbirgt die Wißenschaft, denn er sucht den Werth derselben im allgemei-
nen Beyfall, %.und gefallen, %.und die wißenschaften vergnügen uns blos also we-
gen dieses Hanges.

/IV. Es gibt ferner eine gewaltige Rechts Liebe, sowohl in %Ansehung der Sachen als auch
der Personen, %.und im letzten Falle ist sie am heftigsten, d.h. wir haben einen Affect
an dem Moralischen, oder an den Urtheilen %über Recht %.und Unrecht. Wir gerathen oft
in einen Affect, %nicht weil wir %durch das fatum eines andern großen Schaden erlitten,
sondern weil uns %dadurch Unrecht geschehen. Es wird %durch das Unrecht %.entweder das Recht
an der Sache, %oder das Recht, so der Person anhängt, beleidigt. Letzteres bringt den
Affect zuwege, %.und wird mit der größten %Empfindung aufgenommen. Gewiße affecten
bekommen ihren Namen %nicht vom Object, %sondern von der art, wie sie entspringen. So
sind Zorn, %Erbitterung und Haß %nicht dem objecte nach, %sondern nur dem Grade nach von einan-
der unterschieden. Daher man einen %Menschen, der leicht zürnt, %aber auch leicht besänftigt
wird, eher duldet, als einen, der langsam zum Zorn beweget wird, deßen haß %aber
Langwieriger ist. Wir lieben, %.und billigen %aber keinen Zorn um deswillen, weil er
ohne %Überlegung geschieht, %aber gleich vergeht. Und es ist ein jähzorniger %.Mensch, der durch die
geringste Kleinigckeit in Harnisch gebracht wird, darum %.unleidlich, weil dies ein ha-
bitueller Zustand ist, denn %.obgleich ein solcher %Mensch wegen kurtz vorher angethaner %Beleidigung
abbittet, so ist man doch keinen Augenblick sicher, daß er %nicht wieder Grobheiten sagt.

/δSeite 170

/Diese Irritabilitaet des Zorns nennt man auch Empfindlichkeit, %.und das ist höchst %.ver-
werflich. Die Ursache davon %aber liegt %.mehrentheils in der %Erziehung, %.und %Menschen sind heftig
%.und auffahrend, weil sie in der Jugend keinen Wiederstand gefunden haben. Fast
alle geographi führen von den Cre«aten»<olen>, welches Leute sind, die in America
von Europaeischen Eltern gebohren sind, an, daß sie ungestüm, stoltz auffahrend pp
seyn sollen. Indeß sagt ein neuer auctor von ihnen, daß sie die Besten Leute
wären, %.und vielen %Verstand hätten. Die Ursache ihres Ungestüms ist, weil sie von Jugend
auf mit einer menge von Neger Sclaven umgeben sind, die wie Pudelhunde ab-
gerichtet sind, %.und schon für das bloße Geschrey der Kinder ohne Untersuchung abgeprü-
gelt werden. Wenn bey uns die jungen Herren so erzogen werden, so können sie eben-
fals solche Creolen werden. Der %Mensch aber ist ein Thier, das disciplin nöthig hat.

/ ≥ Von den Temperamenten der Menschen. ≤

/Wenn man alles zusammen nimmt, %wodurch sich der %Mensch unterscheidet, so kann man ihn
in einer 4fachen Rücksicht betrachten.

/1.) Nach seinem Körper und Complexion.

/2.) nach der %Verbindung der Seele mit dem Körper, oder nach dem Temperamente.

/3.) nach seinen Gemüths_Kräften, oder Naturell.

/4.) nach dem Besondern Gebrauche dieser %.seiner Gemüths_Kräfte, %.oder nach seinem
Character.

/Was die Complexion betrift, so geht sie auf die Beschafenheit des Körpers, daher man
sagt: der %Mensch ist von einer trocknen, feuchten pp complexion. Dieser Unterschied kommt
blos von der Lage %.und Spannung der Fasern her. Allein diese Materie gehört gantz zur
Medicin. Die Gemüthsbeschafenheit, in so fern sie sich auf die Complexion bezieht, heißt
das Temperament. Unter dem Gemüthe %versteht man %nicht das %Vermögen der Seele, %sondern
nur die Kraft, sich dieses Vermögens zu bedienen, %und also die Beschafenheit der
Neigungen %.und der Affecten, die aus %.seiner Complexion fließen. Man zählt %.gemeiniglich
4. Temperamente; Wir wollen um mehrerer Deutlichkeit willen die Gemüts-
Beschaffenheit bey herrschenden Neigungen auf eine 2 fache Weise unterscheiden.
Zuerst wollen wir die Temperamente auf 2 Gattungen reduciren, %.und hernach je-
der %Gattung 2 Temperamente zuordnen. Der Unterschied zwischen Gefühl %.und Be-
gierde ist oben schon «¿¿»festgesetzet worden. Hieraus %aber folgern wir, daß %Menschen

/δSeite 171

/zuweilen gleiche Empfindungen haben, %.und doch in %Ansehung ihrer Begierden ganz unter-
schieden seyn können. Die

/1. %Gattung der Temperamente ist vom Gefühl hergenommen, %.und zu dieser Gattung
rechnen wir das sangvinische %.und melancholische Temperament. Ein %Mensch, der
nur das Gefühl der %.Annehmlichkeit sucht, hat ein sangvinisches; dem %aber alle ge-
genstände Furcht und Bangigckeit verursachen, hat ein melancholisches Tempera-
ment. Man sieht leicht, daß sehr viel auf den Zustand %.und der Beschaffenheit der %.Menschen
wie ihnen die Welt vorkommt, ankomme, %.und daß sie sehr viel %durch die Seite thun können,
von welcher sie die Dinge der Welt betrachten. Der %Mensch kann nicht verhindern, daß
ihn etwas schmertze, %.oder vergnüge, %aber Freude %.und %.Traurigckeit stehn in %.seiner Gewalt %.und
disposition. Wer ein sangvinisch Temperament hat, ist %.gemeiniglich leichtsinnig; der
melancholische hingegen sehr hartnäckig in %.seinen Vorsätzen %.und eigensinnig der Person
nach. Ein sangvinischer vergißt %.sein Versprechen leicht, so wie eine ihm angetha-
ne beleidigung. Das Melancholische Temperament enthält qvellen der %.dauerhaf-
tigckeit %.Schwierigckeit %.und Verbindlichkeit zu übernehmen, %.und das Übernommene Bestän-
dig zu Befolgen, daher ist die Freundschaft, die mit einem melancholischen tem-
perament verbunden ist, viel dauerhafter %und réeller, als beym sangvinischen, denn
beym letztern vergeht die Freundschaft sehr leicht. Allein die Melancholie
hat wieder das Übel an sich, daß ein derselben ergebener %Mensch, gantz unlencksam bey
seinem haß %.und Willen ist, daher ist haß, Feindschaft, Unwille gegen andre schwer
bey ihm zu vertilgen. Wir sehn %aber doch %nicht ein, daß die Charactere, die etwas %Achtungs-
würdiges an sich haben, jederzeit eine Ingredientz von Melancholie haben müßen,
denn eine jede Gattung, die sich der %Mensch erwirbt, beruht starck auf einem Zusatze
von Melancholie. So sieht ein patriotisch gesinntes gemüth diese Welt %nicht als ei-
nen Schauplatz des Spiels, %sondern vielmehr als einen Ort an, der zu ernsthaften,
großen %.und wichtigen Vorsätzen bestimmt ist. Ein Sangvinischer %Mensch, der in der Welt
nichts für wichtig ansieht, hat die beste Situation, da es hingegen ein melancholi-
scher %nicht so beqvem hat. Da %aber das melancholische Temperament jede Freundschaft
dauerhafter macht, so fodert man, daß selbst in der Geschlechter Liebe eine me-
lancholische Zärtlichkeit seyn müße, indem diese von einer weit größeren
Delicatesse zu seyn scheinet, als eine Lustigckeit im Leben. Wenn wir hier den

/δSeite 172

/Unterschied zwischen einem «¿¿»melancholischen %.und sangvinischen %Menschen aus de«s»r com-
plexion herleiten wollen, so würden wir uns zu tief in die Medicin wagen,
wo es uns an gnugsamen Kenntnißen fehlen möchte. So viel ist indeß gewiß,
daß das Gefühl des gesammten Lebens eine disposition zu allem %Vergnügen sey, daß
dies Gefühl %aber <auf> die Spannung der Adern %.und Fasern ein verdautes blut %.und eine
schlechte Spannung des Nerven Systems ein großes hindernis ist, %das leben zu fühlen.
Die verschiedenheit dieser Temperamente beruht %.eigentlich darauf: daß bey
dem einen die Eindrücke länger haften, als bey dem andern; Und aus die-
ser %Verschiedenheit des bluts %.und Spannung der Nerven entsteht die Lust %.und Unlust.
Die

/II. %Gattung der Temperamente hat %.eine %beziehung auf die Thätigckeit der Begierden.
Zu dieser Gattung rechnet man das cholerische und phlegmatische Temperament.
Von dieser %.Eintheilung kann man behaupten, daß sie in der Natur der Sachen ihren Ur-
sprung habe. Man trift beym Colericus eine völlige gesundheit aller Sinne %.und ei-
ne receptivitaet zu allen Empfindungen an. - Das Cholerische kan man
das Temperament der %.Thätigckeit nennen, %.und das phlegmatische der %.Unthätigckeit.
Im Cholerischen ist eine große Triebfeder der Thatigckeit. Man fühlt %.sein eignes
Leben %dadurch, daß man in sich selbst die receptivitaet zu allen Eindrücken findet.
Bey einem solchen %.Menschen sind die Fasern zur geschicklichkeit gespannt, %.und er muß
also immer etwas zu thun haben. Er geht daher immer gewißen Zwecken nach, %.und
überwindet gerne Schwierigckeiten, denn er läuft nicht des Vergnügens wegen
der Arbeit nach, sondern um etwas zu thun zu haben. Eine Folge aus dem Tempe-
ramente der %.Thätigckeit ist die Ehrbegierde, denn der Antrieb, der der %Empfindung
am wenigsten nahe komt, erfodert die größte Thätigckeit. Nun %aber ist die Eh-
re ein solcher Antrieb, der der %Empfindung am wenigsten nahe kommt, %.und also
muß der %Mensch, der %durch die Ehre bewegt wird, die größte Thätigckeit haben. Überdies
paßt auch das Cholerische Temperament der Thätigckeit immer mehr auf <die> Ehre, als
auch auf andre Triebe, weil man in %Ansehung andrer Zwecke es %nicht so sehr in sei- 

/δSeite 173

/ner Gewalt hat, ihn zu erreichen, als bey der Ehre. Die Ehrbegierde ist daher der
Reitz, %wodurch cholerische %Menschen angetrieben werden, denn der Ehrgeitzige kann,
so zu sagen, seine Endzwecke allenthalben ausstecken.

/Ein Phlegmaticus <emp>findet bey aller Arbeit eine Ungemächlichkeit, %.und die an-
strengung %.seiner Kräfte erweckt bey ihm den größten Wiederwillen. Daß ein
solches phlegma öfters eine Ursache habe, die im Körper steckt %.und die Fähigckeiten
deßelben bindet, bezeugen viele Thiere, die %.garkeine Lust haben, ihre Kräfte an-
zustrengen, z.E. das Faul Thier. Ein Phlegmaticus genüßt, wenn er %nichts thun darf,
sich selbst. Im gelinden Sinne bedeutet Phlegma den Mangel, %.und fast das Ge-
gentheil der Reitzbarckeit. Die Reitzbarckeit %.aber besteht darin, daß jemand leicht zu
etwas bewogen werden kan. Das Phlegma dient dazu, daß es die Übereilung
im Entschlüßen %.und die Entwickelung der Triebe so lange aufhält, daß die Vernunft
erst Zeit gewinnt, erst über die Sache zu reflectiren, denn eine große %.Reitzbarkeit
macht %.gemeiniglich, daß uns ein Unternehmen gereuet. Wir dürfen nur et-
was auf die Personen, von denen man phlegma, oder cholera fordert, sehen.
So verlangt man von einem General, daß er phlegma habe, damit er zeit gewin-
ne, lange über seinen Entwürfen zu deliberiren, ehe er sie zur aus %führung
kommen läßt. Vom gemeinen Soldaten %aber fordert man cholera, daß er, ohne
nach der Ursache zu fragen, gleich zuhaue, wenn es ihm befohlen wird. Einem
Man steht jederzeit ein phlegma gut an, %.obgleich nicht ein phlegmatisches Tempe-
rament, weil es dann %nicht mehr in %.seiner Gewalt steht, wie lange er den Entschluß
einer Sache will anstehen laßen. Hingegen ist kein Lobspruch fürs Frauen-
zimmer, wenn es phlegmatisch ist, denn man will, daß sie alle cholerisch seyn
sollen. Bey Seeleuten findet sich %.gemeiniglich durch die lange Seefahrten ein
Phlegma ein, ihr Temperament mag auch beschafen seyn, wie es will. Die Ursa-
che ist, weil sie auf ihrem Schiffe niemals weiter gehen können, als die Schifs-
länge ist, %.theils weil sie sich in Absicht ihrer Speisen %.und ihres Umganges an eine
große Einförmigckeit gewöhnen müßen, %.theils auch, weil sie alle Entschlüße

/δSeite 174

/%.und Ordres, die sie geben, «¿¿»zuvor wohl überlegen müßen. Das Seefahren ist für
einen Cholericus eine rechte Schule. Die Braminen in Indostan erzählen
in ihrer Theogonie oder Theologie, daß der Gott Brame, der die %Menschen er-
schaffen, die 4 Temperamente so ausgetheilt hätte: Er habe %.nemlich die Soldaten
cholerisch, die Braminen (geistliche) melancholisch, den handwercker sangvi-
nisch, und den Kaufman phlegmatisch erschafen. Wenn man die function
dieser Leute bemerkt, so wird man finden, daß die temperamente %.fürtreflich
ausgetheilt sind. Sonst drückt man %durch das Wort Cholera blos den zorn aus,
weil der zorn %nichts anders ist, als das Bewustseyn einer großen Thätigckeit.
Auch ist mit der Cholera %.gemeiniglich die polypragmosis vereinigt. weil ein
Cholericus %.seine hand gerne in alles mischt. Die Cholera steht also einem geistlichen
am wenigsten an. Überhaupt können wir sagen: jemehr die %Menschen anlaß
haben, große Leidenschaften zu entwickeln, desto mehrere Bedürfniße ent-
springen, weil sie alles für wichtig ansehen. Hingegen sind %.diejenigen am lustig-
sten, welchen es leicht wird, ihre %Nahrung zu finden. Beym Soldaten trifts gleich-
fals ein; weil er zornig seyn muß; dieses %aber entspringt aus dem Bewußt-
seyn des Vermögens. Beym Kaufmann ist es am besten ausgetheilt. Er muß
beständig phlegma haben, wenn er sich %nicht durch die Neuigkeit der Sachen will
bewegen laßen, sie über ihren werth zu bezahlen. Er muß %nicht hitzig auffahren,
wenn er betrogen wird, sondern bedenken, daß er wohl ins künftige bey gele-
genheit 3 fach wieder bekommen kan. Die Franzosen sind unter allen am
meisten sangvinisch. Diese Nation hat die qvellen aller Freuden in sich selbst.
Und %.obgleich der gemeine Mann nirgends mehr unterdrückt, als in Frankreich,
so sind sie doch beständig lustig %.und heiter. Die Nordischen Völcker sind in %ansehung
des Vergnügens gantz passiv. Sie können %nicht anders vergnügt seyn, als bis
sie sich berauschen. Die Franzosen haben auch %.gesellschaftliche Leidenschaften.

/δSeite 175

/Unsre Vorfahren suchten ihr größtes Vergnügen in Eßen und Trincken. Die Frö-
lichkeit %aber, welche im bloßen Genuß besteht, erschöpft %.würklich unsre Kräfte,
%.und ist nicht dauerhaft. Bey der Thätigckeit empfindet man sein leben am mei-
sten. Der Geschmack des Wirthes besteht und bezeigt sich darin, daß er %.seine Gäste so
placire, daß einer den andern vergnügen %.und unterhalten kan. Der eine hat
hofkenntniß, der andre Bücher Kenntniß, der 3te versteht die Landwirthschaft etc:
Nun kommt es nur darauf an, daß diese Köpfe gut geordnet sind, denn hier hat
jeder Gelegenheit seine Talente zu zeigen, %.und dem besitzer ein Vergnügen
zu machen. Es giebt Personen, die besonders aufgelegt zu seyn scheinen, den
discurs rege zu machen, %.und den allgemeinen Anteil zu mercken, der einem
Gegenstande zufallen könnte, %.und die Gesellschaft, so im discours lustig gewor-
den ist, wieder dazu aufzuwecken. Man muß %aber erforschen können, was für
eine Materie das gespräch wohl in %Bewegung setzen kan. Der Effect einer sol-
chen Gesellschaft ist wie Santorius, der in Ansehung des %.menschlichen Körpers alles
nach Maas %.und Gewicht bestimmt anmerckt, eine gute transpiration. wenn man
aus einer solchen gesellschaft nach Hause geht, so ist man gleichsam wie
neu geboren, und ein Medicus sollte hierauf genaue Rücksicht nehmen. Ein
Sangvineus empfindet ein Verlangen nach etwas neuem, hingegen beschwert
ihn die Einerleyheit, wenn einerley organe auf eine %.und eben dieselbe Art be-
schweret werden. Er ist modisch, und kann die Dinge nach belieben verwandeln,
auch einem schlechten Spiele eine gute %Wendung geben. Daß %aber die Einerleyheit
beschwere, %.und der Wechsel erleichtere, sehn wir an der %.französischen Nation. Die Ein-
förmigckeit in der %Kleidung zeigt wohl etwas erhabenes an, %aber sie muntert %nicht
auf. Der Sangvineus geht in %.seiner Unzufriedenheit %über das Einerley so weit,
daß er oft das Gute mit dem schlechten verwechselt. Wenn man zum Objecte
des Sangvineus die Wollust rechnet, so muß man dies %.von der Epicurischen
verstehn. Der Melancholicus hat die qvelle der Unannehmlichkeit %.und des Miß-
vergnügens %.oder der Traurigckeit in sich. In der art der art der Empfindungen
ist zwischen einem melancholischen und Sangvinischen kein Unterscheid, %aber wohl

/δSeite 176

/in ansehung der aufnahme der Empfindungen. Die Traurigckeit entspringt aus
der reflexion %über schmertzhafte Eindrücke; denn ein melancholicus sieht immer auf
die schlechten Folgen zum voraus, ein sangvineus sieht auf dieselben gar %nicht.
Der Melancholicus sieht alles für wichtiger an, als es ist, da hingegen der san-
gvineus die Epicurische Wohllust %.oder ein fröliches hertz hat zum Object. Der Melan-
cholicus soll nach bemerckung einiger autoren den Geitz %.und die %.Ungeselligckeit
zum Object haben. Allein es giebt geitzige %Menschen, die gar nicht melancholisch
%.sind, und melancholische, die gar %nicht geitzig sind. Sie sind viel mehr zum theil gros-
müthig; hingegen sind viele von den sangvineis geitzig, welches man beson-
ders an den Franzosen sieht. Denn diese sind zwar gegen den Fremden %.höflich
%aber zu Gaste bitten sie ihn %nicht. Hingegen sind die Deutschen, die vom %.sangvin<e>schen
Temperament weit entfernt sind, weit gastfreyer. @Vasuel@ in der Reise-
Beschreibung von Corsica erzehlt von einem Officier, das er sich mit Vergnügen
der Gastfreyheit in Deutschland erinnert habe. Ein Melancholischer ist der
Natur nach standhaft %und zur Rache, %aber %nicht zum Zorn geneigt. Die Melancho-
lie verfällt %.gemeiniglich auf ernsthafte Dinge. In Religions_Sachen sind die
Melancholici Schwärmer; die Engländer sind mehr melancholisch als sangvi-
nisch, und ihr Witz hat immer etwas tiefes. Ihre Arbeiten haben %.eine gewiße Ge-
nauigkeit %.und Dauerhaftigckeit, %.und ihre Schriften sind %nicht wie die %.frantzösischen pa-
pillons, die umher fliegen, %aber bald verschwinden, %.und in abnahme gerathen. Ein
melancholicus hat gemeinhin Misantropische Vorstellungen, er sieht die %Menschen be-
ständig als feinde an, %.und ist daher mißtrauisch. Das Schicksal der %Menschen stellt
er sich als traurig vor, %.und wird %dadurch öfters erhaben, weil er allein Dinge,
die richtig sind, zu übernehmen im Stande ist, %.und daher trägt er viel zum be-
sten des %.menschlichen Geschlechts bey. Indeßen ist %.derjenige doch glücklicher, der allen
Dingen ihre Scheinbare %.Wichtigckeit zu benehmen weiß, denn für den %.Menschen ist auch %.wircklich
nichts wichtiges in der Welt. Wir müßen um unserer bedürfniße willen zwar
etwas besorgt seyn, %aber die bedürfniße müßen sich nie in Sorgen %verwandeln.

/δSeite 177

/Das physische vom Temperament ist schwer zu determiniren, %.und %.diejenigen irren, die
es von der Beschafenheit des bluts herleiten. Denn %.obgleich Melancholie soviel heißt,
als schwartze Galle, so findet man doch, daß ein Melancholischer nie mit Galle
vermischtes blut habe. Und obwohl das lustige %.Temperament ein dünnes blut
voraus setzt, so findet man doch auch melancholische %.und schwermüthige, «¿¿»welche ein
dünnes blut haben. Das physicalische des Temperaments ist uns überhaupt
sehr unbekannt, indeß kann der Unterschied eher von den ersten als flüßigen
theilen herrühren, weil diese vermittelst jener bewegt werden. %.Diejenigen wel-
che die Temperamente nach den Neigungen eintheilen, irren gleichfals. Denn
die %Menschen können gleiche Neigungen %.und doch verschiedene Temperamente
haben, %.und sie differiren blos in der art, wie sie ihren Neigungen nachhän-
gen. So schreibt man zE. den Geitz dem Melancholischen Temperament zu,
wir haben angemerckt, daß Melancholici %nicht nur %nicht geitzig, sondern grosmüthig;
Sangvinei hingegen bisweilen geitzig sind. Bey einem phlegmatischen findet
man %nicht viel thätige begierde, %.und selbst die Zwecke zielen auf %.gemächlichkeit ab.
In Ansehung des affects der Temperamente in Religions_Sachen ist der Melancho-
li@cy@ ein Schwärmer, der Sangvineus ein Freygeist, der phlegmati@cy@ aber-
gläubisch, und der Cholericus orthodox. Die Ursache davon ist; der Melancholi-
cus sieht alles für wichtig an, behandelt alles ernsthaft, die größte %.Ernst-
haftigckeit %aber nähert sich der Schwermuth; bey dieser Schwermuth verfällt
er in eine heilige %.und vermeßene Kühnheit. - Das ist eben die Schwermuth, %.und
dieses, wo er sich Gott mit den aller devotesten doch allerzuversichtlichsten Wor-
ten nähern will, artet fast in Blasphemie aus, wo er sich oft solcher aus-
drücke bedient, die eine ganz ungeziemende Vertraulichckeit mit Gott an-
zeigen. Der Sangvineus ist der Freygeisterey ergeben; die Religion scheint ihm
mode zu sey; %.und weil er gar zu ungeduldig ist, sich an Regeln zu binden, so
giebts auch eine %.moralische freygeisterey. Diese finden wir bey den Franzosen;
denn bey ihnen ist überhaupt der gebrauch, alles, was die %Menschen mit vielen

/δSeite 178

/Ernst behandeln %.lächerlich zu machen, und hingegen Kleinigckeiten eine an-
scheinende Wichtigckeit zu geben. Sie behandeln alles mit einem gewißen
Leichtsinn, %.und daher findet man bey ihnen viel conversation ohne Freundschaft, %aber
doch auch ohne Falschheit. Ihre Sache ist, sich an %nichts zu hängen, %.und doch glauben sie,
ihre Frauenzimmer seyn zur Freundschaft sehr aufgelegt. Die Engländer haben
an den Franzosen bemerckt, daß in %ansehung der conduite zwischen dem vornehmsten
%.und geringsten %nicht der mindeste Unterschied bey ihnen sey, %.und daß des handwer-
ckers Tochter eben so %.manirlich zu reden wiße, als eine Prinzeßin. In England
hingegen ist wieder die Kenntniß der Wißenschaften bis auf den geringsten
Mann verbreitet, %.und die Zeitungen daselbst sind so eingerichtet, daß sie vom
geringsten Manne mit Nutzen können gelesen werden. Das cholerische Tem-
perament ist in Religions_Sachen orthodox. Ob man %.gleich keine Nation nen-
nen kan, die cholerisch wäre, so muß man doch vom cholerischen anmercken,
daß er die Triebfeder zur %.Thätigckeit hat. Er muß immer beschäftiget seyn, %.und
steigt daher gern zu Aemtern, wo er viel zu reden %.und zu ordnen hat. Er ist
%.zugleich polypragmatisch, %.und mengt sich gern in alle händel. Er weiß sich ein ansehn
zu geben, als ob er andächtig %.und verständig wäre, ob er %.gleich weder andacht noch Ver-
stand hat. Da er nun gerne beschäftigt ist, so befolgt er auch gerne die Regeln
der Religion stricte, um andere zur genauen Observantz derselben anzuhal-
ten. Daher er auch Ketzer macht, wo keine sind. - Der Phlegmaticus ist aber-
gläubisch, der aberglaube besteht in einer gewißen Indulgentz, %.und entsteht aus
der Unthätigckeit, die man beym phlegmatischen findet. Denn weil er selbst nicht
generne denckt, so hört er gerne Wunderdinge erzehlen, denen er bald glauben
beymißt. Die Vernunft incommodirt ihn, %.und er muß ihr gleichsam Ferien geben,
um %.seinen Neigungen nachhängen zu können. - Die Temperamente äußern sich
in Ansehung der Schreibart. Der Melancholische %.und tiefsinnige holt %.seine ausdrucke aus
dem innersten der Wißenschaften her. Der sangvinische wählt das gefallende in
der Erscheinung, die Nettigckeit, %.und überhaupt das Schöne; daher sind auch die sangvi

/δSeite 179

/nischen Nationen Meiste im Geschmack. Bey den Deutschen findet das Methodi-
sche in der Schreibart statt, daher haben ihre Schriften das Schulmäßige an sich,
und dies ist ihrem Phlegma angemeßen. Die Ordnung %aber so bey ihnen herrscht,
kommt von der Cholera her, denn die Cholerischen Nationen sind %.gemeiniglich sehr %.ordentlich.
Das Wort Phlegma bedeutet sonst das Waßer, das man zu einem Geträncke hin-
zugießt, um %.seine Stärcke zu dämpfen. Hier %aber bedeutet das phlegmatische Tem-
perament nur den Mangel der Lebhaftigckeit. Die %.Nördlichen Nationen überhaupt
sind mit vielem phlegma afficirt, daher sie auch in ihrem Anstande eine gewiße
Sittsamckeit haben. Eben deßhalb wird auch ein deutscher Acteur nie die Vollkommen-
heit des Frantzosen erreichen, denn dieser wird schon als Acteur gebohren. Man
hat bemerckt, daß die Engländer ein Lustspiel weit beßer vorstellen, als ein Trau-
erspiel, und die Franzosen wieder das Trauerspiel beßer, ohnerachtet der Englän-
der in %Verfertigung der Trauerspiele, %.und der Franzose in Lustspielen Meister ist. Die
Ursache ist, wie wir oben angemerckt haben: Ein %Mensch, der eine Person, die diesen
oder jenem affect ergeben ist, recht vorstellen will, muß selbst %nicht afficirt
seyn. Denn ist er es, so wird er blos reden wollen, %aber wenig Worte finden, %.und der
Bediente sieht also, daß sein herr zornig ist, %.aber er hörts %nicht. Wer die Rol-
le eines Verliebten spielen will, muß %nicht selbst verliebt seyn, denn ist er es,
so wird er sich zwar %.zärtlich %.und demüthig stellen, allein er wird dabey verstummen,
roth werden, %.und sich wohl gar pöbelhaft auführen. Da nun die Engländer so
wenig lustig sind, wo nicht zu besorgen ist, daß sie bei der %Vorstellung eines Lust-
spiels in affect der Lustigckeit gerathen werden, so haben sie Zeit genung, sich die
Person eines Lustigen bey der Action recht vorzustellen, %.und also gut nachzuah-
men. Hingegen sind auch die Franzosen soweit von der Traurigckeit entfernt,
daß sie bey einem Trauerspiele gewiß %nicht in affect gerathen werden, %.und daher
sind sie Meister in %Aufführung der Trauerspiele.

/Man pflegt die Temperamente auch zusammenzusetzen. Nach unser %Eintheilung der-
selben %aber in Temperamente der Empfindsamckeit %.und begierde ist nur eine 4fa-
che zusammensetzung %.möglich. Denn die sich entgegengesetzte Temperamente können
in keinem %.Menschen vereiniget werden. Die 4fachen Zusammensetzungen sind:

/δSeite 180

/I. Das Melancholisch-Cholerische Temperament. Dies bringt allerley Hirngespinste
große %.und blendende %.handlungen hervor. Es ist der %.Englischen Nation eigen, %.und hat zu vielen re-
volutionen %.und Schwärmereyen Anlaß gegeben.

/II. Das Sangvinisch-Phlegmatische, dies ist %.keiner Sache so sehr als dem Wohlleben er-
geben. Ein solcher %Mensch ist wie eine MilchSuppe, die sich mit allem verträgt. Er thut
nichts Böses, %aber auch nichts Gutes, denn beydes incommodirt ihn. Er ist im Stande
den gantzen Tag vor dem Fenster zu stehen, %.und die Leute vorbey gehen zu sehen. Er
Er hängt zwar auch dem %Vergnügen nach, nur muß es %nicht zu lebhaft seyn.

/III. Das Sangvinisch-Cholerische Temperament. Ein %Mensch, der dieses hat, ist ein
sehr %.nützliches Mitglied im gemeinen Wesen. Er ist arbeitsam, benimmt allen Dingen
die Wichtigckeit, %.und betrübt sich %über nichts; sondern sucht in allem Vergnügen.

/IV. Das phlegmatisch-melancholische. Und %.endlich wenn man auch das sangvinische
mit dem melancholischen vermischt, so scheint es zwar ein Wiederspruch zu
seyn, allein es will nur soviel sagen, daß sie gemäßigt seyn, %.und alle Tempe-
ramente sehr an einander grentzen können. - Was den Punct der Ehre betrift,
so verdient dies nach verschiedenheit der Länder %.und Temperamente verschiede-
ne bemerkungen. In Franckreich hält man es für die größte Ehre am
Hofe gewesen zu seyn, %.und in England macht man sich nichts daraus. Ein Franzose
will in einer Gesellschaft für %nichts lieber, als für einen Mann von gutem
Tone angesehen werden. Ein jedes Temperament kan eine Ehre besitzen.
Zuletzt ist noch zu mercken, daß man %nicht jede starcke Neigung %.gleich zum Temperamen-
te rechne, den zE. die Ernsthaftigckeit grentzt an die Melancholie, sie ist aber
%nicht immer Melancholie.

/ ≥ Vom Naturell. ≤

/Man versteht darunter die fähigckeiten %und %Vermögen des Menschen, die ihn zu
einem %.oder dem andern Stück geschickt machen. So sagt man, der %Mensch hat ein
gelehriges Naturell, wenn er fähigckeit, gelehrt zu werden, %.oder auch begierde zum
Lernen hat. Ferner, der %Mensch hat ein sanftes %.oder ein ungestümes Naturell, denn
es besteht in den gemüths_Kräften. Ein rohes Naturell ist das, das in Wie- 

/δSeite 181

/dersprüche aus bricht. was das Naturell in ansehung des %Vermögens betrift, so sagt man:
der %Mensch hat ein Naturell zur Poësie, Geschichte pp Von manchen, zE. den Rußen, sagt
man, daß sie gar %.kein Naturell hätten, ob sie %.gleich gelehrig wären. Sie ahmen gerne %.und
mit vieler Genauigckeit nach, allein es fehlt ihnen an den ersten Grundbegriffen
%.und principien, daher sie nie werden lehren können. Denn man lehrt nie gut, wenn man
so lehrt, als man selbst ist gelehrt worden. Sie besitzen kein Genie, %.und ziehn da-
her beständig auswärtige Gelehrte ins Land, denn ein Gelehrter muß immer Genie haben.
Die Fähigckeiten in %ansehung des Kopfs, heißen Talente. Die %Vermögen deßelben in
absicht des %Verstandes %.und Gedächtnißes, heißen Genie. - Zum Genie wird erfordert:

/1) ein gewißer eigenthümlicher Geist,

/2) ein eigentlicher Geist. Das Wort Geist wird hier in dem %Verstande ge-
nommen, worinn es zE. von einer Unterredung %.oder einem Buche genommen wird. Wenn
man sagt«,»: es ist ohne Geist, wenn zwar %.gründlich aber alltägige Sachen ohne Geist vor-
getragen sind. Nun bedeutet das Wort Geist %.eigentlich das principium des Lebens.
Geist in einem Buche nennt man eine Ingredientz, wodurch das gemüth gleichsam
einen Stoß bekommt %.und belebt wird, %.oder alles, was unsre gemüths_Kräfte durch gro-
ße Aussichten, Abstechung, Neuigckeit pp erregen kan. Daher muß ein jedes bon mot et-
was unerwartetes %.und überraschendes %.oder einen Geist enthalten. Das Genie ist
ein Geist, aus dem der Ursprung der Gedancken herzuleiten ist, %.und erfordert einen
%.eigenthümlichen Geist, welcher den Geiste der Nachahmung entgegen gesetzt ist. Solche
Genies sind selten. Und ob man %.gleich in einigen Wißenschaften zE. in der Ma-
thematic fortkommt ohne Genie, weil man hier nur nachahmen darf; so sind die
erstern doch vorzuziehen. Das Genie findet man %.vornehmlich bey den Frantzosen,
Engländern %.und Italienern; doch ist das wahre %.und %.eigentliche Genie nur bey den Englän-
dern, weil sowohl bey ihnen als auch den Italienern die Freyheit %.und %Regierung viel
beyträgt, wo es %.keiner für nothwendig hält, sich dem hofe, den Vornehmen %.oder einem
andern zu accommodiren. Denn wo schon der hof allzugewaltig ist, %.und sich alles
nach einerley Muster bildet, da muß zuletzt alles einerley farbe enthalten.
Bey den Deutschen findet man %.mehrerentheils den Geist der Nachahmung sowol

/δSeite 182

/sowohl in großen als kleinen Sachen, woran aber unsre Schriftsteller viel Ursache
haben. Es besitzt zwar jeder etwas eigenthümliches, allein die gegenwärtigen Schul-
anstalten, wo alles zum Nachahmen genöthigt wird, verhindern die Entwicklun-
gen des Genies. Es ist in keinem Lande der Schulzwang größer als in Deutschland;
in England treibt man die Kinder %nicht %.sonderlich zum lernen an, allein bey jeder Ge-
legenheit weißt man sie an etwas zu profitiren. Die Laune gehört zum %.eigenthümlichen
des Naturells, %.und das Genie zum %.Eigenthümlichen der Talente. Der Unterscheid zwischen
dem Naturell %.und Genie ist, daß wir leidend (passive) sind in %ansehung des Naturells, und
thätig in Ansehung des Genies.

/ ≥ Vom Character. ≤

/Der Character bezieht sich auf die Complexion des Körpers, %.und besteht in dem %.ei-
genthümlichen der obern Kräfte des %.menschlichen gemüths. In jedem %Menschen liegen zwar
große Zurüstungen %.und Triebfedern zu allerhand Thätigckeiten, allein es liegt auch
noch ein ander principium in ihm sich aller dieser Triebfedern %.und fähigckeiten zu
bedienen, Empfindungen aufzufordern %.und zu hemmen. Die Beschafenheit dieser o-
bern Kraft macht den Character aus. Es kommt also bey bestimmung der %.menschlichen Cha-
racter nicht auf ihre Triebe, begierde %.und Fähigckeiten %.oder Talente an, %sondern blos auf
die Art, wie er dieselben modificirt %.und gebraucht; wir fragen also darnach, wie der
%Mensch %.seine Kräfte %.und Vermögen gebraucht; zu was für einem Endzwecke er sie anwende.
Um also den Character des %Menschen bestimmen zu können, muß man die in seine
Natur gelegte Zwecke kennen, %.und alle wißen, welche %.seine %.sämmtliche %.Handlungen dirigiren. Al-
le Charactere der %Menschen sind %.moralisch, denn die Moral ist eben die Wißenschaft von
allen obern Zwecken, die %durch die Natur des Willens festgesetzet werden, %.und welche
die objectiven Gesetze des Willens vorschreiben, %.und nach welchen wir alle unsere
Vermögen richten %.und anstrengen. Der Character ist eine gewiße subjective Regel des
Oberbegehrungs_Vermögens, die objectiven Regeln enthält die Moral. Und also macht das
%.Eigenthümliche des Oberbegehrungs_Vermögens den %.menschlichen Character aus. Jeder Wille
aber, oder das obere Vermögen ist besonders geartet, %.und hat %.seine subjectiven Gesetze,
welche eben den Character constituiren. - Die Charactere sind schwer zu be- 

/δSeite 183

/stimmen. So betrachtet mancher Mensch alles aus dem Gesichts_Punkte der Ehre; Ein an-
derer hat %.einen liebreichen Character, deßen gantzes begehrungs_Vermögen %aber aufs
Wohlthun hinausläuft. Da oft viele Zwecke in der Natur des %.Menschen liegen, so ist %.sein Chara-
cter oft ungemein verwickelt. Alsdenn aber muß man die hauptzwecke absondern,
%.und daraus %.seinen Character bestimmen. In den Jugend Jahren ist er noch nicht kennbar, %.und
selbst ein Mensch von 16-17. Jahren kann %.seinen Character noch %nicht kennen lernen, weil sich
vielleicht noch keine Fälle ereignet haben, wo sich %.sein Character hätte äußen können.
Dann %aber bildet sich %.sein Character aus. Man sagt: der %Mensch hat %.seinen Character verbeßert
%.oder verschlimmert, allein es ist falsch. Denn man kann zwar den hang, den man zu et-
was hat, mindern %.oder lencken, allein einen beßern Character kann man %nicht be-
kommen. Wer einen bösen Charackter hat, wird niemals einen guten beckommen,
weil der wahre Keim fehlt, der zu dem Ende in unsre Natur gelegt seyn müßte.

/ ≥ Von der Physionomie. ≤

/Die %Menschen haben eine erstaunende begierde, jemanden kennen zu lernen, von
dem sie eine %Beschreibung gehört haben. Wäre es auch der Boßhafteste %Mensch, so wünscht
man ihn doch zu sehen, als wüßte man schon zum Voraus, daß in den Augen eines sol-
chen boshaften das Bösartige hertz zu lesen wäre, %.und daß man bey einem solchen
lernen könnte, andre zu fliehn, die mit ihm einerley %Gesichtsbildung haben. Uberhaupt
wollen sie dem %Menschen das %.außerordentliche %.gleich an den Augen ansehn, %.und ehe sie ihn
sonst kennen lernen, zum Voraus wißen, was er thun wird. Woher kommt %aber die-
se starcke %Neigung, mit %.seinen Augen die Gesinnungen des Menschen ausspähen zu wollen?
Die Natur hat dem %Menschen in sein äußeres viel gelegt, wovon man nach %.na-
türlichen Gesetzen aufs innere schlüßen kan. Daher lehrt die %Erfahrung, daß jedermann
einem fremden starr unter die Augen sieht, %.und ihn von unten bis oben betrachtet, um
ihn kennen zu lernen, daher mögen wir auch gerne einen Delinqventen, der
zum Richtplatz geführt wird, in die augen sehn, %gleich als ob wir bemercken könnten,
was in denselben vorgeht. Kurtz, wir wollen einen %Menschen, der wichtig ist, zum
voraus kennen lernen, %.und trauen %.seinem %.künstlichen Betragen weit weniger, als %.seinen Ge-
sichtszügen, wir hören weniger auf %.seine Worte, als wir ihm in die Augen sehn.

/δSeite 184

/Wir sehen also, daß die Natur dem %Menschen diesen Instinct schon gegeben, um mehr
seinem Gesicht als %.seiner Rede zu trauen. Der Aus spruch: loqvere, ut te videam, zielt
nur darauf, daß wir aus den Reden eines Menschen %.seine Talente kennen lernen. Was
%aber %.seine Gesinnungen, die aus dem Temperament entspringen, %.und %.seinen Gemüts_Cha-
racter betrift, so trauen wir hierin mehr unserm Auge als %.seinen Reden. Die Natur
führt uns also schon darauf, auf %.seine Gestallt %Achtung zu haben. (geben.) Es hat %aber mit der
Physionomie %.oder den Mitteln aus dem Anblick, die gesinnungen des andern ken-
nen zu lernen, %.eine solche bewandniß, daß man es hierin nie zu sichern Regeln
bringen kan. Ja die %Vorsehung scheinet selbst verhindert zu haben, daß dies nie zu
einer Kunst geworden. Denn ließen sich allgemeine Regeln davon geben, so
würden sich die %Menschen oft haßen, ehe sie sich <noch> beleidigt hätten. Und da er doch
fast jeder %Mensch etwas hat, was mißfällt, so würde das zutrauen unter ihnen
bald wegfallen. Die Einigckeit würde aufhören, %.und die %.menschliche Gesellschaft wür-
de getrennet werden. Indeß hat die Vorsicht doch %.wircklich eine gewiße Masqve in die Zü-
ge des %Menschen gelegt, damit man sich für solchen Leuten in Acht nehmen könne, al-
lein das Urteil darüber ist immer ungewis. Wir wollen %aber doch so viel hier da-
von sagen, als sich mit Gr@u\ü@nde sagen läßt. Unter die Physionomie rechnet man
nicht nur den gantzen bau des Körpers, sondern auch %.seine gantze Manier, den
Geschmack in Kleidung, %.und überhaupt dasjenige was wir mit den äußern Sinnen an
den %Menschen bemercken können. Zuerst wollen wir von der Physionomie in so
fern reden, in so fern man den gegenwärtigen Zustand des %.Menschen beobachtet. Ein
Mann kann sich sehr vergnügt stellen, %.und dennoch erkennt man an %.seinen Augen die Trau-
rigckeit. Oft stellt man sich frey, %.und in %.seinen Augen ließt man doch eine Ver-
legenheit. Einige %Menschen grinseln nur, wenn der andre was zu lachen machen
will, %.und den Ton davon angiebt. Man kann %aber denen, die so lächeln, an ihren star-
ren Augen ansehen, daß es %nicht ihr Ernst ist. Cholerici sind dieser %Verstellung am
fähigsten, denn sie sind ohnedem sehr thätig, ihre fasern starck gespannt, %.und daher
kommt ihre besondre agilitaet, vermittelst welcher sie ihre Muskeln alle am mehr- 

/δSeite 185

/sten in ihrer Gewalt haben. Sie gehn ordinair steif, ihre Sprache klingt etwas hoch
über die brust %.und den Kopf tragen sie grade, da hingegen der sangvinische allerley
Stellungen annimmt. Der Cholericus kan den Ton eines Lobredners annehmen,
%.und jemanden große %Achtung bezeigen, allein es ist alles verstellt. Er hat %.einen guten
Anstand, aber er ist gekünstelt. Seine Muskeln sind immer in %.seiner gewalt, daher er auch,
wenn er unwillig ist, gar nicht %.seine Miene verzerret. Die fasern haben bey ihm eine
große Spannung %.und daher geräth er leicht in Zorn. Es giebt einige gesichter, die gar
%nichts bedeuten %.und anzeigen, woraus man den Zustand der Seele errathen könnte; wie
z.E. die phlegmatici in %ansehung der Rührungen. Von andern kann man %nicht urtheilen, ob
sie vergnügt %.oder traurig sind; wie dies %.hauptsächlich bey den Cholericis statt findet. Nimmt
man auch die Mienen an, die die gesinnungen verbergen sollen, so kommt man doch %nicht
%.sonderlich zurechte. Wenn man zE. lachen will, blos jemanden zu gefallen, so ist dies nur
ein Grausen, wo die Mienen zwar verzogen werden, die Augen %aber starr blei-
ben, %.und dies sieht %.heßlich aus. Uberhaupt ist alsdenn die wahre gemüthsbeschaffenheit am
leichtesten zu erkennen, wenn er sich vergnügt stellt, da ers doch nicht ist. So auch
wenn sich jemand %.freundschaftlich stellt, so kann ers doch nicht so machen, daß es ein
forschendes auge %nicht mercken sollte. Ein cholericus ist an %.seinem fast beständig steifen
Gange, der Sangvineus %aber an %.seiner unruhigen %Stellung zu erkennen. - Auf diese weise
kan man einem ohngefehr aus dem Gesichte lesen, ob er %.verdrießlich muthwillig,
zornig pp ist. Am öftersten beurtheilet man den Gesunden %.und Krancken, den
Vergnügten %.und mißvergnügten aus der farbe des gesichts, an der %.Helligckeit
der Augen. Dies gehört %.vorzüglich vor die Aertzte. Wenn das weiße des auges tro-
cken ist (welches besonders bey einer großen Hitze zu geschen pflegt) %.und die
Farben des Regenbogens in demselben wohl determinirt %.und «un»scharf abgeschnitten
sind, so pflegt der Mensch wohl disponirt zu seyn. Flüßen %aber die farben am Rande
%.mercklich zusammen, oder es vermischt sich dieser Rand mit dem Weißen, so ist es
ein Zeichen der Krankheit %.oder Traurigckeit. Sind die Augenl«e»ider starck geöf-
net, so ist man gesund, wo nicht, so ist man krank. Sind die farben im Regenbogen
heller, wie sonst, z.E. blauer, schwärtzer, so ist man gesund, sind sie dunkler, so ist man

/δSeite 186

/kranck %.oder traurig. Wenn man aber auch den gegenwärtigen Zustand des %Menschen aus
dem Äußern beurtheilen kan, so differirt dieser Zustand doch, von dem habitu
in der Gemütsart; denn ein %Mensch, der jetzt vergnügt ist; kan sonst immer schwer-
müthig seyn. Man kan auch aus dem Anblicke die Complexion des %.Menschen beobachten.
Diese %aber ist die beschaffenheit %.seiner Natur %.oder %Einrichtung, zE. ob ein %Mensch gesund, stark,
kranck, schwach pp ist. Hierauf pflegen besonders die Manns Personen, wenn sie
heyrathen wollen, bey ihrer künftigen Frau zu regardiren. ZE. die von phlegmati-
scher Complexion wird sich gerne aufwarten laßen. Auch sieht darauf ein Herr,
der Sclaven kauft, %.oder bedienten annimt. Man solte ebenfals bey anwerbung
der Soldaten auf ihre Complexion sehen, wenn man %nicht bey Umständen eine so
große Anzahl braucht, ob sie zE. strenge Lebensart, rauhe %Witterung ertragen können,
auch aufs Naturell, wozu sie fähig sind, %.und was sie zu thun vermögend seyn werden. Oft
haben aber Leute, die sehr mager sind, die stärckste Complexion; denn es kommt hier nur auf
die Stärcke der Elasticitaet der Fasern %.und Muskeln an; besonders wenn die Mus-
keln im gesichte starck sind. Man kan auch aus dem äußern «de»eines Menschen das Naturell
bemercken. Die Talente will man wenigstens ausspähen können, denn man sagt: zE.
der %Mensch sieht %nicht verständig aus, %.oder diesem %Menschen sieht man den Witz an, er sieht fein
aus, man sieht ihm das poßirliche an. etc. Allein man kan sich hier erstaunend irren,
besonders wenn man ihm die Talente des Muths ansehen, %.und sie aus der %.blödigckeit Sanft-
muth %.und dem edlen der Mienen schlüßen will. Es geht hier, wie Homerus sagt: Mancher
hat das gesicht eines Hundes %.und das Hertz eines Haasens; denn wenn solche Leute, die blö-
de scheinen mit ihrer blödigckeit %.und Sanftmuth %nicht durchkönnen; wenn der Vorsatz %nicht
anders in Ausübung gebracht werden kan. Man weiß aber wohl, daß ein %Mensch, der
den schwächsten Cörper hat, dennoch Muth haben kan, %.und daß %nicht allemal Stärcke des Cör-
pers %zum Muth gehöre. Denn was braucht er %einen starcken Körper, wenn er auf sein
Leben resigniren kan. Einem solchen %Menschen aber sieht man den Muth nicht an,
dagegen sich eine ungestüme Tapferckeit starck in der Miene äußert, %.und auch
sehr bald in eine feigheit verwandelt wird, da im Gegentheil ein Muth von

/δSeite 187

/der ersten Art dauerhaft ist. Man glaubt einem Menschen den edlen Stoltz ansehen zu
können, allein man irret darinn. Denn man kan ihm wohl den Stoltz ansehen, aber %nicht
den edlen, denn dieser ist bescheiden, %.und äußert sich nicht im mindesten; äußert er
sich aber, so ist er %nicht mehr edel. Wir bemercken, wenn zE. ein Bauer von einem Kayser
%.oder Könige reden hört, er sich dieselben als Leute vorstellt, die nicht %durch die Thüre
durchkommen können, %.und bey deren Anblick man %.gleich auf die Knie sincken möchte. Sollten
sie sie aber zu sehen bekommen, %.und wohl gar %.gebrechliche Cörper an ihnen mercken, so
würden sie sich nicht überreden können, einen König %.oder gar einen Kayser in ihnen
zu erkennen, indeßen geht es uns doch auch so. Wenn wir einen Autor, der viel schönes
geschrieben, gelesen, %.und %.seine Kenntniße %.und Gedancken bewundert haben, %.endlich %aber sein
Kupferstich zu sehen beckommen, so kommt es uns selbst %.unglaublich vor, daß diese kleine «%und»
hypochondrische %.und schwache Figur solche guten gedancken sollte gehabt haben. Überhaupt
schadet die Anwesenheit sehr, weil man sich in der Einbildung eine sehr vorteilhafte %Bildung
formirt. Dieß beweißt, daß man aus den Gesichtszügen %nicht auf die Talente des %Menschen
schlüßen könne. Die Natur hat gewollt, daß sich alle %.Menschen für solche ansehen sollen, die eine
gesunde Vernunft besitzen; was %aber weit übers Mittel_Maas geht, pflegt die Natur zu mar-
qviren. So kan man einem Ertzdummen %Menschen seine dummheit, %.und einem sehr großen
Gelehrten %.seinen Verstand leicht ansehn. Alle unsre affecten bringen Mienen hervor, %.und
umgekehrt, wenn man die Miene deßen, der im affect ist, oft nachmacht, so geräth man
in affect. Uberhaupt ist die Physionomie eine Geschicklichkeit, die keine Regeln hat. Man kan
sie %durch den Umgang, %Menschen Kenntniß %.und %Erfahrung lernen; keines weges %aber als %.eine bloße
Chimaere ansehn. Die Pantomimen Sprache übertrift wohl die Wörter Sprache. Sie ist
die allgemeinste; denn im Gesichte liegt überhaupt die gantze Prägung des Körpers, auf
den doch doch die Seele einen Einfluß hat. Es wird also die gesichts_Bildung der Bescha-
fenheit des Gemüts mehrentheils conform seyn. Wer zu einem affect eine %Neigung hat, der
wird auch seine Miene darnach bilden. Wenn wir einen belauschen wollen, der völlig
ruhig ist, der an %nichts denckt, was etwa %.sein Gemüth in %Bewegung setzen kan, so liegen die
Muskeln des gesichts schon in der Lage, die %.seinen Haupt_Neigungen gemäs ist. Es ist %aber
kein eintziger %Mensch ohne Mienen, %.und wenn man diese auslegen kan, so weiß man die

/δSeite 188

/Denckungs_Art des %Menschen. So hat einer eine spöttische, höhnische, der andere eine neidi-
sche, bittere pp Miene, %.und die behalten sie, wenn sie auch in Ruhe sind. Ja man kan einem
so gar %.seine Grobheit an den Mienen ansehn, %.und einen solchen %.Menschen sieht man nicht lange gern
an, weil man immer besorgt ist, von ihm beleidigt zu werden, wenigstens in %ansehung %.seiner
Eitelckeit. Der %Mensch ist %aber zu der einen %Neigung aus dem Affect mehr, als zu der andern
aufgelegt, %.und hiernach richten sich seine Mienen. Sie liegen %aber im %.menschlichen gesichte schon
lange praeparirt, so wie der Hang. Man könnte sich davon immer mehr belehren, wenn
man sich mit verschiedenen, die man ausholen wollte, in ein tiefes Gespräch einließe;
allein, dies ist nicht allemal rathsam, denn man beleidigt beständig einen, wenn man sich
in eine gar zu genau Critic über ihn einläßt, %.und übereilt sich auch in Schlüßen. Ge-
wiße Gesichter haben gar keine Mienen, aus denen man etwas abnehmen könnte,
%.und auch keine Fähigckeit, Mienen anzunehmen. Aber selbst die Unbiegsamckeit ist
wieder eine Miene, %.und zeigt an, daß der %Mensch gar %.keinen Character hat. Andre hinge-
gen haben viele Mienen, können auch Mienen annehmen, %.und dies hällt man für ein Zei-
chen des Witzes. Wenn sich das Spiel dieser nachgeahmten Pantomimen nur in Schran-
cken hällt, %.und in keine carricatur %.oder Grimaßen ausartet, die %.seine eigene Person %.lä-
cherlich machen, so macht es beliebt. Solche Leute können sich auch %.gemeiniglich in allerley
Gestallten schicken, %.und haben, so zu sagen, %nichts beständiges an sich. Hiezu können auch die-
jenige gerechnet werden, die einen pöetischen Instinct %.oder Kitzel empfinden, ob sie
%.gleich %.keine Talente dazu haben, %.und die der Apollo gleichsam reitet. Solche Leute können
alle Charactere nachahmen, ob sie %.gleich keinen %.eigenthümlichen haben. Von unserm Poeten
Pietsch erzehlt man, daß er, als <er> den Printz Eugen habe vorstellen wollen, mit großen
Reuter Stiefeln in %.einer Art von Wuth herumgegangen sey, %.und in einer solchen Miene
von Wuth sich niedergesetzt habe, so daß ihn diese Miene auf gute %.und angemeßene Ge-
dancken %.und Ausdrücke gebracht habe; denn eine solche paßende Miene ruft alles her-
bey. - Da nun ein %Mensch sehr heftige %.und viele Neigungen haben kan, so werden
sich solche auch in %.seinen Mienen ausdrücken. Wenn man also aus dem gantzen Zu-
schnitt des Gesichts %.und dem Portrait %.diejenigen so besonders herfürstechen %.und die Haupt_Nei-
gungen bemercken will, so muß man den Character des %Menschen so spalten
können, wie Neuton die Farben des Lichts %durchs Prisma. Bey einem jeden %Menschen
%aber, der von Natur zu einem Character gestimmt ist, findet man auch in dem Zu- 

/δSeite 189

/schnitt %.seines gesichts das Portrait. Die Mischung der Mienen kann unschuldig aus sehen, %.und alle
%Menschen sehen als denn gleich aus; allein bey dem einen sticht dies, bey einem andern
etwas anders herfür. Im gesicht ist das gepräge des %Menschen, %.und die Miene äußert
also den Character. Das hertz unterscheidet sich vom Temperamente, %.und die gestallten
von den Mienen. Wenn man gleiche Gestallten annimmt, so kann doch das eine Gesicht
%.ländlich, das andere städtisch aussehen, %.und dieser Unterschied findet gewiß unter %Menschen
statt. Es geht auch gantz %.natürlich zu, diejenigen, die auf dem Lande sind, sind der Luft
mehr ausgesetzt; die Landluft %aber bringt lange nicht so, wie die Stadtluft, die Deli-
catesse %.und das Feuer in den Muskeln des gesichts herfür. Die Ursache ist, weil man
auf dem Lande beständig in die Weite sieht, da man hingegen in der Stadt gewohnt ist,
nur in einen engen bezirck zu sehen, %wodurch die Augen eine gantz andre %Bewegung be-
kommen. Die Stadtleute haben immer etwas sanfteres in ihren Zügen, als die Land-
Leute. Der Grund davon ist, weil die Landleute %nicht immer, wie die städtischen mit
Vornehmern zu thun haben, als sie selbst sind. Denn sie haben nur mit niedrigen zu thun,
wobey sie sich eine gebieterische Miene angewöhnen. Ob also %.gleich die Proportion des
Gesichts eine %.und eben die seyn kan, so ist doch bey den Ländlichen %nicht eine solche Bieg-
samckeit der Mienen. So bemerckt man an den Fleischhauern etwas trotziges %.und
Kühnes, weil sie ihr Vieh vom Lande zu holen haben, %.und beym Ein %.oder Verkauf oft ein
Gezäncke aus stehen müßen, wo sie es mit den schlechtesten Leuten zu thun haben,
denen sie vorpochen %.und lärmen müßen. Überdis hat <auch> ihr Handwerck schon etwas
mannhaftes %.und rauhes an sich. Ein Schneider hingegen hat etwas biegsames %.und ge-
schmeidiges in %.seinem Gesicht. Wenn der %.Geistliche eine heilige hitze affectirt, so kan man
ihm das beate %.und selbstzufriedene ansehen an %.seinem Gesicht. Sie wollen in ihrem Gesichte
etwas verhimmeltes zeigen, wenn sie bl@a\o@ß aussehn. Sie glauben die wahre Religi-
on zu haben, %.und wer kann auch vergnügter seyn, als der, welcher die wahre Religion hat.
Vor Alters praetendirte man eine %.vorzügliche Traurigckeit, da doch die, so Religion
haben, die größte Ursache haben, vergnügt zu seyn, weil jeder wünscht, mit ihnen
etwas zu thun zu haben. Oft verursacht auch schon die Geburt %.und das Herkommen,
daß ein Mensch eine besondre Miene hat. (zE. die Mienen %.und das auge eines großen
Monarchen - welche Erhabenheit in demselben) %.vorzüglich beym %.weiblichen Geschlecht.

/δSeite 190

/Sie haben etwas trotziges in ihren Augen, weil sie jeden starr ansehen, ohne etwas übles
von ihm zu vermuthen. Wir wenden %aber %.gemeiniglich die augen von einem «ab» <weg>, der uns
starr ansieht, weil wir beständig befürchten, wir möchten handel mit ihm bekommen.
Mancher große Herr hat schon eine Miene, die jeden zurücke hällt. Aber man sieht auch
oft einen großen Mann, %.und sagt: er hat ein gemeines Gesicht, %.und es ist auch wahr,
so wie jedes einen Grund hat, was allgemein beurtheilt wird, ob es %.gleich schwer ist,
den Grund ausfündig zu machen. Die Raison von obigem Urteile ist; die Manieren
mancher %Menschen schlagen in platte ein, %.und dies liegt schon in ihrem Naturell. Sind
diese Züge %nicht recht starck exprimirt, so ändert sie die %Erziehung in andre, allein die
vorigen mischen sich doch mit ein. Manche, sieht vornehm aus, %.und ist es nicht.

/Der Character des %Menschen läßt sich schwer aus den Gesichtszügen bestimmen, weil
man hier nicht nur die Temperamente, sondern auch das hertz untersuchen muß, welches vom
Temperament gantz unterschieden ist. Der Character %aber betrift blos das hertz, %.und
der Ausdruck gilt also nicht vom Temperamente, nicht von der Gestallt, noch auch von den
Talenten. Es ist also eine große Feinigckeit, denselben aufzusuchen, %.und die Art der Ge-
sinnungen erforschen zu können, %.und doch sieht man in einer gesellschaft am meisten
darauf. Wenn man indeß in einer ist, wo man %nicht alle kennt, so sucht man nur, so viel
%.möglich ist, mit den Augen das hertz der %.Menschen auszuspähen, damit man sich einen wählen
kan, mit dem man sich unterhalte. Man adressirt sich als denn %.gemeiniglich an einen,
dem man etwas gefälliges %.und guthertziges ansieht, %.und der Talente verräth. Das
allerbeste %aber, was sich in einem Character des %Menschen äußert, ist die guthertzigckeit,
nach welcher man %nicht gerne thut, was einem mißfällt, %.und leicht %über einen Ausdruck er-
röthen macht. Außer dieser verlangt man von seinem Gesellschafter auch Offen-
hertzigckeit %.und Freymütigckeit, denn %dadurch nähern sich die %.Menschen am meisten, %.und faßen ein
gegenseitiges Zutrauen zu sich, indem man keinen für böse ansieht. Er muß %aber
nächstdem Talente besitzen, damit man wiße, ob er verschwiegen sey, wenn man
ihm etwas anvertrauen will. Was die Bücher betrift, die von der Exegesis der Mie-
nen handeln, so können zwar darinnen viele wichtige bemerkungen seyn, allein es
läßt sich doch nichts mit gewisheit sagen. Eine Bemerckung anzuführen: so

/δSeite 191

/hat sie ihre völlige gewisheit, daß es zuweilen Augen giebt, die gantz unruhig sind, %.und daß
man sicher behaupten kan, daß ein %Mensch, der sonst nichts schilt, es aber bey Erzehlung
einer Sache thut, er gewis lüge. Das Roht %.und blas werden ist 2deutig, %.und geschieht zu
weilen aus entgegen gesetzten Ursachen. Der eine wird roth, weil er sich des Ver-
gehens, deßen man ihn beschuldiget, bewußt ist; der andre wird deßwegen roth,
wenn er %.öffentlich reden soll, weil dies einen Ehren Punkt betrift. Wenn sich ein %Mensch
so in %.seiner Gewalt hat, daß er sich %durch %nichts stören läßt, %.und sich an eine gewiße fermeté gewöhnt
hat, die ihn weder scheu noch blaß werden läßt, so hat er ein großes geschenck der Natur,
nur muß er ein so %.vortrefliches geschenck nicht mißbrauchen. Artet aber diese fermeté
in eine dummdreustigckeit aus, so ist sie unausstehlich. Man ist %.gemeiniglich sehr furcht-
sam, wenn man in einer Gesellschaft %.öffentlich reden soll. Indeß gefällt auch die Blö-
digckeit sehr oft, %.und Cicero stellte sich bey %.seinen Reden sehr oft blöde, ob er es %.gleich nicht war.
Denn die Zuhörer haben alsdenn, wenn der Redner nur nicht stecken bleibt, eine gewiße
Nachsicht gegen den, der aus Respect gegen sie blöde ist. Auch empfiehlet sich die %.Blö-
digckeit deshalb, weil sie unter Mitleid rege macht. Uberhaupt ist eine furcht-
sam angefangene %.und dreust geendigte Rede sehr einnehmend. Wer mit Vorsatz blöde
thut, handelt ungrosmüthig - Der %Mensch kan gebildet werden

/I. Nach seinem Temperamente. Dies geschieht durch die disciplin, denn der %Mensch ist ein
Thier, das disciplin nöthig hat. Wer ohne disciplin aufwächst, ist einem wilden Thiere
nicht %.unähnlich. Hierinn hat Rousseau wohl gefehlt, daß er glaubt, daß die disciplin schon
aus der Natur des %.Menschen fließe, %.und daß die %.Menschen «¿¿¿» also von selbst gut %.oder böse würden.

/II. Nach %.seiner Complexion, so daß er in %Ansehung %.seines Körpers alles ertragen lernt, %.und dies
geschieht %durch die %Erziehung.

/III. Nach %.seinem Naturell. Dies geschieht %durch die Information. Allein solche Informa-
tionen haben wir selten, wo das Kind nicht nur <in> Wißenschaften unterrichtet,
%sondern auch, wo %.sein Naturell ausfündig gemacht wird; %.und wenn man in demselben einen
Keim des Genies findet, solcher ausgebildet wird. Indeß kann ihm doch %dadurch Geschik-
lichkeit beygebracht werden.

/IV. Nach dem Character, %.und dies geschieht nur %durch beyspiele. Denn dadurch, daß man ihm aus

/δSeite 192

/der Moral sagt, was rechtschaffen, gut %.und tugendhaft heiße, lernt ein %.Mensch wohl gelehrt
reden von allem, allein nur beyspiele können ins hertz dringen. - Unsere
Eltern bilden nicht einmal die Complexion des Kindes. Sie pflegen %.und vertän-
deln es, %.und wißen nicht, daß sie das Kind eben %dadurch %.unglücklich machen; Bey bildung
des Temperaments wird dem jungen Herrn der Wille gelaßen, damit er %nicht vor
Aergerniß krank werde. Die Information %.und Bildung des Naturells könnte noch das
eintzige seyn, wofür sie sorgen, ob man sich %.gleich auch %nicht viel darum bekümmert. Man
bringt dem Lehrlinge alle Wißenschaften bey, %.und geht sie alle durch, ohne zu unter-
suchen, wozu er insbesondere Neigung %und fähigckeit hat. Man wählt auch eine solche Me-
thode, wobey sich das Genie entwickeln kan, die Beyspiele, welche man den Kindern
zur Bildung ihres Characters giebt, sind oft sehr schlecht. - Einige %Menschen sind sehr
aufgelegt, auch die schwächsten Empfindungen %.und Veränderungen wahr zu nehmen,
die in ihrem Gemüte vorgehen; andre hingegen sind gar %nicht geschickt dazu, %.und auch %nicht ver-
mögend, andre zu beobachten. Wenn nun erstere die %Verbindungen der Mienen, die sich in
diesem %.oder jenem Falle äußern, mercken, %.und solche bey andern auch wahrnehmen,
so können sie oft mit vieler Zuversicht die Gemüths_art des einen %.und andern erra-
then, %.und auf diese Art in der Physionomie weit kommen. Je mehr sich ein %.Mensch verfei-
nert, desto redender wird %.seine Miene. Je kleiner der Umgang mit artigen %Menschen
ist, desto weniger Ausdrücke hat die Miene. Und an einem, der %.seine Zeit in der Ein-
samkeit mit Handwerck, aber in einem gedanckenlosen Zustande zugebracht hat,
kann man fast %nichts mercken. Diese physionomische Kenntniß kan %.keiner dem andern mit-
theilen, weil er ihm das Seine in der %Erziehung nicht geben kan. Manches Gesicht er-
wecket zutrauen, %.ein andres Mißtrauen, jedoch können dies einige doch nicht bemerken,
Es wollen zwar einige bey %Errathung des Characters den gantzen Bau des Körpers
%.und nicht allein die Mienen in Anschlag bringen, %aber man kan aus dem Bau nur
die Complexion, %.und einen theil des aus der Complexion flüßenden Tempera-
ments errathen. Was aber den Character %.oder das hertz %.und die gesinnungen des %Menschen
betrift, so können solche nur allein aus dem gesichte gelesen werden. Indeß

/δSeite 193

/will man doch bemerckt haben, daß große Leute sanfter sind, als kleine, welches auch
von allen thieren gelten soll. Der Grund, weil bey einem jeden Thier die Bewe-
gungs_Kraft der Muskeln %.und die Spannung der fasern nach proportion ihrer zu-
nehmenden Größe abnimmt, wie solches Galilaeus mathematisch bewiesen hat.
Man kan den %.Menschen auch ferner beurteilen aus %.seinem gantzen äußern betragen, aus
der Art der %Kleidung, aus der wahl der gesellschafter, aus %.seinen Lieblings_Zerstreuungen.
Aus der %Kleidung kan man schon mercken, wie ein %Mensch %.äußerlich in die augen fallen
will; denn die %Kleidung %.und der Ausputz können als solche Dinge angesehn werden, wo-
durch man %.seine aufnahme praepariren will. %.Derjenige der sich in hellen Farben mit gold klei-
det, %.und %nicht blos die Ehre, die %.seinem Stande zukommt, %dadurch erhalten will, wünscht schon auf eine
%.vorzügliche art empfangen zu werden %.und etwas distingvirtes vorzustellen. Denn man
sieht es ihm schon an, daß in %.seiner art zu denken, nicht das wahre Mittelmaaß angetrofen wird.
%.Derjenige der weiße Wäsche auf %.seinem Körper trägt, die er aber wenig sehen läßt, will für
einen %.ordentlichen %.Menschen gehalten werden. Man kan also die Richtigckeit des Geschmacks
eines %Menschen schon an der Kleidung erkennen, nur muß man viele %.seiner Kleider, die er sich
gewält hat, sehen. Bey dem, der das harte in den farben liebt, kan man kein Mittel-
maaß der %Abstehung in %.seiner Denckungs_Art, %.und hingegen viel wiedersprechende Ei-
genschaften in %.seinem Character vermuten. %.Endlich will man sogar am Gange das tem-
perament des %Menschen errathen. Ein %.Cholericus geht %.gemeiniglich steif, %.und das hupfende
im Gange zeigt auch das flatterhafte im Denken an.

/ ≥ Vom Character der Völcker. ≤

/Hume %.und viele andere haben völlig läugnen wollen, daß es National-Charactere
gebe, aus der Ursache, weil uns oft etwas gantz gleich zu seyn scheint, wobey wir doch,
wenn unsre Kenntniße davon erweitert sind, viele Unterschiede bemercken; So kan
man in der Ferne ein paar %Menschen für brüder ansehn, weil sie sich sehr %.ähnlich
zu seyn scheinen; allein je näher man ihnen kommt, desto mehr Unterscheidungs_Zeichen
merckt man an ihnen. Wir verstehn %aber unter dem National-Character %nicht daß %.ein
jeder von dem Volcke eben denselben Character haben müße, %sondern ob bey einem Volke
ein %.vorzüglich abstechender Character gefunden werde. wenn wir %aber wißen, daß
%durch den Character die Gesinnungen unsers Gemüts verstanden werden, wobey
vieles aufs Temperament ankommt, denn so kann ein %Mensch jähe zornig seyn, weil

/δSeite 194

/er sich thätig fühlt; daß ferner das Temperament zum theil aus der Complexion her-
kommt, %.und diese nach Verschiedenheit der %blutmischung der Bildung der mechanischen Thei-
le des Körpers %.und der Reitzbarkeit der Nerven unter verschiedenen Klimaten auch
sehr verschieden seyn kan, so ist es wol %nicht zu leugnen, daß es einen National_Character
gebe. Denn %.obgleich die Charactere nur das hertz %.und die gesinnungen angehen, so kommen doch
die Keime davon immer auf die Complexion an. Lind, ein Engländer in %.seinem Bu-
che von den Kranckheiten der Europaeer %.und andern Theilen der Welt, behauptet, daß
eine corrumpirende Luft gantz besondre Wirkungen habe. Er führt zE. an, daß es unter
den Negers, die sehr häufig gekauft %.und nach den Americanischen Plantagen gebracht
werden, einige sehr witzige, %.und einige sehr dumme, gantz stupide %Menschen gebe, nachdem
sie %.entweder auf den Bergen, %.oder in den niedern Gegenden gebohren %.oder erzogen worden.
Der Charackter der Americaner ist eine große %.Unempfindlichkeit %.und die daher ent-
springende Gleichgültigkeit, so, daß selbst die Createn, die daselbst von Europaeischen
Eltern gebohren werden, an dieser Beschafenheit Theil nehmen. Diese Leute affici-
ret nichts, %.und sie werden weder %durch Versprechungen noch %durch Drohungen gerührt, ja
sie sind selbst in Ansehung der geschlechter %Neigung kaltblütig. %.Diejenige Nation, welche am
meisten in tiefen Gedancken sitzen kan, sind die Indianer. Sie thun %.entweder gar
%nichts, oder legen sich auf Würfel %.und Glücks- %.oder Wage-Spiele, besonders in der Ju-
gend, welches an sich schon ein %.Melancholisches Spiel ist. Bey zunehmenden Jahren können
sie wol %.etliche Stunden hintereinander an einer Angel sitzen, wenn %.gleich %.kein fisch da ist,
der anbeißt. Die Negers in Africa hingegen haben einen gantz entgegengesetzten
Character. Sie haben eine starcke %.Empfindlichckeit, %.und ein lebhaftes Naturell, ob
es gleich mit America fast in einem Climate liegt. Dabey %.aber sind sie läppisch,
denn %.obgleich ihre fasern reitzbar sind, so fehlt ihnen doch eine gewiße %.Festigckeit
in denselben. Daher fehlt es ihnen an Standhaftigckeit, %.und sie sind zu allem un-
geschickt wozu %Verstand erfodert wird. Sie sind wie Affen, %.und sehr geneigt
zum Tantzen, so daß sie an dem eintzigen Tage, den sie von ihren arbeiten frey
haben, übermäßig viel tantzen. Sie plaudern gantze Nächte hindurch, wenn sie
auch den gantzen Tag gearbeitet haben, %.und schlafen wenig. Der Character

/δSeite 195

/der Ost Indianer ist behutsam %.und zurückhaltend. Sie sehen alle, wie Philosophen aus,
wenn sie ein Europaeer anfährt, so besänftigen sie ihn, %.und entfernen sich gerne,
um %nicht Streit zu haben. Die Ursache ist die Feinheit ihrer Fasern, da sie sehr leicht
aus aller %Faßung gebracht werden. Die Europaeer sind %.gemeinschaftlich zum Un-
gestüm aufgelegt; die Türcken %.und Tartern, welche ein Volck ausmachen, man
rechnet aber hieher nicht die Nogager %.und Bedziaker; denn ob sie %.gleich die %.nemliche Religion
haben, so sind sie doch nicht von derselben Race - . (Der National_Character ist
also keine bloße Chimaere, denn so wie Kalmickesches %.und Nogaisches Gesicht %.gleich in die au-
gen fällt, so leicht bemerckt man auch, von welcher Nation jemand ist, wenn man
den National_Character kennt.) haben in ihrem Aussehn schon einen gewißen Stoltz.
Sie sind trotzig %.und unterdrückend, welches sie jederzeit gewesen sind %.und auch blei-
ben werden, ob die Völcker %.gleich gantz verschiedene %Nahrungs_Mittel haben. Ein französisch
Gesicht kann man in Hogarts Kupferstichen gleich erkennen, wenn er es %.gleich selbst
verschwiege. Von den Preußen kan man wegen ihrer großen %Vermischung mit andern
Völckern, die sich auch selbst seit kurtzer Zeit hier aufhalten, nichts gewißes fest
setzen; indeß will man ihnen doch durchgehens Falschheit beymeßen, wie auch
%zurückhaltung. Und dies kan auch wohl seyn, da die %Zurückhaltung sich %.gemeiniglich da ein-
findet, wo die Famielien nicht gantz ausgebreitet, gantz verschieden, %.und sich ein-
ander fremde sind. Dazu kommt noch dis, daß die %Regierung an einem auswärtigen
Orte geführet wird, woraus eine %Zurückhaltung %.und ein Neid in der Provintz gegen die,
welche ihr vorgezogen wird, entsteht. Von den Czerenissen, welches heiden sind,
die an den Grentzen des Gebirges, welches Rusland vom Viasowschen Gouver-
nement absondert, wohnen, hat man versichert, daß sie alles Fremde unterschei-
den können, sie mögen gekleidet seyn, wie sie wollen.

/ ≥ Vom Character der Geschlechter. ≤

/Bey dem %.weiblichen Geschlecht unter den %Menschen, welches die größte Schwäche bey sich führt,
in deßen Organisation die wenigste dauerhaftigckeit %.und die mindeste Stärcke ist,
kan man sicher die mehreste Kunst voraus setzen, so wie bey kleinen Maschinen
zwar nicht die dauerhaftigckeit der großen, jedoch aber mehr Kunst angetroffen wird.
Und es ist weit künstlicher, kleine Maschinen so einzurichten, daß sie große in

/δSeite 196

/Bewegung setzen, als wenn große, kleine in %Bewegung setzen sollen. So muß auch
der %.natürliche Character eines Weibes, die den Mann bewegen soll, eine angelegte
Kunst seyn. Es ist aber bestimmt den Mann zu regieren, %.und es muß also auch künstlich
eingerichtet seyn. Mithin besitzt das %.weibliche geschlecht mehr Kunst, die den übrigen
Mangel ersetzt. Dies sind die allgemeinen betrachtungen, die uns zu dem Bewei-
se vorbereiten, daß vom %.weiblichen Geschlecht alles %durch die Kunst, %.und unter einem gewißen
Scheine ausgerichtet werden müße. Es gehört zur %Vereinigung 2er Personen %.von ver-
schiedenem Geschlecht, %nicht nur Einstimmung, Einerleyheit, gleichheit %.und Aehnlichkeit, (denn wenn
dies wäre, so könnte zwar eine Person an der andern einen Wohlgefallen haben, sie
könnten aber doch einander entbehren,) sondern es wird auch eine Unentbehrlichkeit bey
dieser Vereinigung erfordert. Sie können sich %aber nur %.unentbehrlich seyn, wenn der einen
Person %.dasjenige fehlt, was die andre besitzt, so daß eines wechselseitig des andern Be-
dürfniße ersetzen kan. Auf diese Art kann man sich eine dauerhafte %Vereinigung
gedencken, %.und die Natur hat auch für die Unentbehrlichkeit zwischen beyden geschlech-
tern gesorgt, indem sie dem %.weiblichen Geschlecht versagt, was sie dem männlichen
gegeben hat, %.und %.vice %.versa. Dies bezieht sich aber nicht allein auf ihren Körper, %sondern es muß auch
in der Freundschaft statt finden. Wenn die Männer die Weiber critisiren (es muß
%aber nur blos Schertz seyn) so hören die Weiber diese Satyren über ihr Geschlecht gerne,
denn dies sind eben die Faden, womit sie sie hernach verwickeln, %.und sie selbst unter
sich glauben ein Recht zu haben, über ihre Schwäche zu spotten. Der Mann ist hier einer
Fliege nicht %.unähnlich, deren Erlösung, wenn sie einmal ins gewebe kommt, %.und noch so
viel flattert, dennoch vergebens ist. %.Männliche Eigenschaften stehen einer Frau eben so
wenig an, als %.weibliche den Männern. Schreck %.und furchtsamckeit steht dem %.weiblichen geschlecht
so gut an, als sie bey Männern übel laßen. Daher affectirt das %.weibliche geschlecht oft %.eine
solche Schwäche, denn sie steht ihr wohl an, %.und hat eine große Wirckung auf den Man. Es
affectirt oft eine gewiße %.Verächtlichkeit, Eckel, furchtsamckeit etc. blos um die Gros-
muth beym Manne rege zu machen, %.und sie thun es, so zu sagen, den Männern zu ge-
fallen, indem sie ihnen Gelegenheit geben, ihre Stärcke %.und Grosmuth zu zeigen %.und sie
zu schätzen. In der %.Männlichen Seele hingegen liegt gleichsam schon ein beruf der Natur,
das weib zu schätzen. Und es ist, so zu sagen, dem diplom der %Menschheit zuwieder, das
weib mit harten worten, viel weniger mit Schlägen anzugreifen, %.und es wird daher

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/einem Manne %.unmöglich mit dem %.weiblichen Geschlecht rauh zu verfahren; dies ist Besonders
bey verfeinerten Personen, wo überhaupt die Fähigkeiten am mehrsten entwickelt sind,
am besten zu bemercken. Ihre affections-Schwäche fordert also die Grosmuth der Män-
ner auf; Solches sehn wir von allen z.E. wenn Frau %.und Mann an ein Waßer kommen, wel-
ches sie nothwendig durchwaten müßen, wenn hier auch der Mann eben so dünne Schuh %.und Strümpfe
angezogen hat, als die Frau, so hilfft es ihm doch %nichts, %und er muß die Frau auf den arm neh-
men %.und durchtragen. Daß der Man die Beschwerde über sich zu nehmen verbunden sey,
weis das Frauenzimmer so gewiß, daß bey ihnen dem Manne eine Beschwerde zu verursa-
chen soviel heißt, als ihm Gelegenheit dadurch geben, seinem ihm von der Natur aufgelegten
Amte genung zu thun, Überhaupt scheint es eine Gewogenheit gegen die Manns Personen
zu seyn, wenn ihnen das Frauenzimmer etwas aufträgt. Die äußern Dinge sind den Männern
wegen ihrer Stärcke unterworfen, da hingegen die Frau gemacht ist, sie zu dirigiren. Den Män-
nern sind die Sachen, %.und die Männer selbst den Frauen unterthan, d.h. sie regieren die Männer
durch ihre Neigungen, %.und dies ist auch das eintzige Mittel, %wodurch sie sich die Sachen unterwürfig
machen. Sie haben es also beqvemer als die Männer, denn sie dürfen sich nicht einmal selbst
incommodiren. Das weib muß %nicht die Natur dirigiren, sondern die Natur muß den Mann,
%.und hie wiederum der Wille des Mannes dem Willen der Frau unterworfen seyn.
Das heißt %.aber nicht soviel, daß die Frau den Mann beherrschen muß, sondern die Sa-
chen gehören alle zum departement des Mannes. Wenn also eine Sache im hause fehlt, so
muß der Mann für die herbeyschaffung derselben sorgen, allein er muß doch hierin
die Frau um Rath fragen, %.und ihrem Willen gemäs handeln. Am Ende ist also die Frau
mächtiger als der Mann. Ein bewundernswürdiges Kunststück der Natur bemerken
wir an der Einrichtung, daß sie den Mann physicalisch stärcker als das Weib gebildet, ihn %aber
practisch schwächer gemacht in Ansehung der Neigungen; denn es ist gewis, daß die Neigung
der Männer gegen die Weiber die gegenseitige weit übertreffe, %.und dis ist eben, was die
Männer schwach macht. Wir finden es sehr unanständig, wenn ein Ehemann %.seine Frau schlägt,
%.oder ihr auch nur gewiße %.beschwerlichkeiten auflegt. Aus dieser Neigung, die das weib
immer auf eine besondre Art unterhällt, entspringt das blinde zutrauen des Man-
nes gegen %.seine Frau, %.und die leichtgläubigckeit in Ansehung deßen, was ihm die Frau sagt.
Der Mann zeigt %aber eine Besondere Schwäche darinn, daß er ihr alle Geheimniße ent-
deckt, Ja die Frau glaubt, daß es eine Schuldigckeit des Mannes sey, ihr alles gradezu zu
glauben. Pope erzählt vom Januarius %.und Maga, daß als ersterer diese im

/δSeite 198

/Ehebruch ertappte, %.und %.seinen Verdruß äußerte, sie zu ihm gesagt haben soll: ach Verrather!
Du liebst mich nicht mehr, denn du glaubst dem mehr, was du siehst, als was ich dir sage.
Das Frauenzimmer entdeckt dem Manne ihre Geheimniße nicht, sondern verschweigt die
ihrigen sorgfältig, ohnerachtet sie Fremde %nicht bey sich behalten können. Ein andres Mit-
tel, welches den Mann schwächer macht, %.und die Schwäche des Frauenzimmers ersetzt, sind
ihre Thränen, die ihnen immer zu Gebote stehn, %.und eine mächtige %Wirckung auf die Männer haben.
Sie werden nicht so bald roth, %.und die Unschuldvolle Miene, die sie anzunehmen wißen, nebst
den paßenden exclamationen bey ihrer %Vertheidigung vereinigt sich in ihnen, den Mann zu
unterwerfen, ihn zu entwafnen, %.und %.seine grosmuth zu erregen. Die Natur hat ihnen
ferner zu ihrer %Vertheidigung eine besondere Beredsamkeit gegeben, die eine eigne
Anmuth hat. Sie haben eine besondere Fertigckeit, sich sehr leicht von allen Din-
gen eine superficielle %.und leichte Kenntniß zu verschaffen, %.und eine Leichtigckeit, von
%.demjenigen sehr gut zu reden, was sie nur halb wißen, mit einer %.natürlichen %.Geschicklichkeit.
Sie vertheidigen sich mit vieler Lebhaftigckeit, %.und ihre Beredsamckeit dient ihnen
nicht blos, die Männer zu zerstreuen, sondern sie verschaft ihnen auch Vortheile. Wenn
ein handwercker aufs Rathhauß gehen soll, um die streitige Sache mit %.seinem Nachbar
auszumachen, so schickt er seine frau, weil er mit der Sprache nicht so gut fort kann.
Denn wo es auf Gezänck ankommt, übertrift wohl %nichts das %.weibliche Geschlecht, wenn sie auch
einige Stunden über Kleinigckeiten gesprochen hätten, so glauben sie doch noch %nicht al-
les gesagt zu haben, denn sie plaudern überaus viel. Daher sagt ein gewißer Auctor:
Es sey gut, daß die Frauenzimmer viel sprächen, denn wie würden sonst die kleinen Kin-
der reden lernen, wenn ihnen nicht jemand immer vorschwatzte. Ihre %.Gesprächigckeit
dient ihnen also zu einem doppelten Endzweck, um sich vertheidigen zu können, %.und
um den Mann von ernsten Geschäften ausruhen zu laßen. In Ansehung der Neigun-
gen ist das %.weibliche Geschlecht %nicht so schwach, als das %.männliche. Die %.weibliche Neigung ist all-
gemeiner %.und indifferenter gegen einzelne Männer, %.und hängt sich %nicht so leicht an eine
eintzige Person. Bey den Männern ists umgekehrt; Ihre Neigung hängt sich an
einen eintzigen gegenstand, wenn sie darauf verfallen, %.und hierinn ist das Weib stär-
ker %.und der Mann schwächer. Die Natur mußte das Weib hierinn auch stärcker machen,

/δSeite 199

/denn sonst wäre sie, da sie physicalilisch schwächer ist, als der Mann, eine völlige Sclavin
deßelben. Das Frauenzimmer ist in der Wahl %.und beurtheilung der Männer %nicht so fein, als die-
se in der Wahl der frauen. Sie hat hierinn einen etwas derben Geschmack, %.und kan den einen
Mann leicht vergeßen %.und den andern lieben, da hingegen die Männer besonders in ihrer
Jugend, ehe sie zu reifer Überlegung kommen, wohl ihr gantzes Vermögen aufopfern, um
blos einer Person, die ihnen gefällt, habhaft zu werden. Die Ursache ist viel-
leicht diese: weil die Männer %nicht so schön gebauet sind, als die Frauenzimmer, weni-
gstens fehlen ihnen die feinen Gesichtszüge, die man beym Frauenzimmer bemerckt.
Die Natur mußte ihnen daher einen derben %.und minder zarten Geschmack geben, in
der Wahl der Männer; denn da sie alle %nicht recht schön sind, so würden sie keinen lie-
ben können. Hingegen mußte die Natur den Männern hierin einen verfeinerten
Geschmack geben, damit sie %nicht umsonst die feinen Gesichtszüge am Frauenzimmer
verschwendt hätte. Die Natur hat auch das Frauenzimmer %nicht bestimmt, Männer zu
wählen, sondern sich wählen zu laßen, %.und eben deßhalb muß auch ihre %Neigung allge-
mein, %.und nicht auf einen Mann gehaftet seyn, %.und %nicht äußern, daß sie eine Neigung
zu der Manns Person hat. Sie stellen sich auch %.gemeiniglich so, als ob sie nur deshalb
den Mann nähmen, weil er sie durchaus haben will, %.und es schon %nicht anders seyn kan,
%.und nehmen die Miene an, als ob sie die Männer %.und ihre Kareßen höchstens nur
dulden könnten. Außerten eine Neigung gegen die Manns Person, so würden
sie sie schwach machen, denn jeder, der einer %Neigung nachhängt, wird schwach. Nun aber
hat die Natur gewollt, daß das Frauenzimmer in Absicht dieser Neigung stärcker
seyn soll, als der Mann, %.und ihm eine Stärcke mitgetheilt, gleich gültige Mienen an-
zunehmen, ob es %.gleich oft für begierde brennt, einen Mann zu heyrathen. Uberdies ge-
schieht es oft, daß ein Frauenzimmer den es sich wünscht, nicht bekommt. Wäre nun sein
Geschmack %nicht indifferent, so wäre es %unglücklich. Und daher hat ihm die Natur eine
allgemeine %Neigung gegeben, die sich aufs gantze Männer Geschlecht bezieht. In

/δSeite 200

/regula kan das weib alle Männer dulden wenn sie auch excessiv %.heßlich sind. Das frauen-
zimmer soll auch, wenn es %gleich verheyrathet ist, %nicht aufhoren zu gefallen, %.und deshalb läßt
ihm auch die Natur die reitzenden Gesichtszüge noch im Ehestande. Daher sind alle Frau-
enzimmer Coqvette, welches man ihnen auch %nicht übel nehmen kan, wenn es nur die Gren-
tzen der Bescheidenheit %nicht überschreitet. Denn sie sollen %.continuirlich gefallen, weil
es leicht geschehen kann, daß ihnen der Mann stirbt, %.und sie qvelle des Unterhallts an %.und für
sich haben, %.und doch eines Beschützers Bedürfen. Auch bemerkt man, daß ein Frauen-
zimmer sich nicht sehr über den Verlust des Mannes gräme; sondern bald einem andern
zu gefallen sucht. Aus diesem allen leuchtet die weise %Vorsehung der Natur für die %Er-
haltung der Art herfür. Es ist %aber diese philosophische %Betrachtung %über den Geschlechter Charak-
ter sowol in %Ansehung unsrer künftigen Führung, als auch bey Erziehung der Kinder %.nützlich.
Hume in einer %seiner philosophischen Untersuchungen führt an, daß ein Frauenzimmer
alle Satyren eher vergeben könne, als die auf den Ehestand. Vielleicht, weil es weiß,
daß der Mann alle Beschwerden des Ehestandes mit Recht auf ihre Rechnung bringen
könne. Die wahre Ursache scheint diese zu seyn: weil der Werth des Frauenzim-
mers in der That nur darauf beruht, daß es die eintzige Bedingung ist, unter der
das %.männliche Geschlecht in einer ehelichen Verbindung nur erben kan. Ihr Werth besteht
also in der %Vereinigung mit den Männern, daß sich die Männer nothwendig in den Ehe-
stand einlaßen müßen, %.und sie nur durch das %.männliche Geschlecht leben sollen, da dies
hingegen für sich selbst lebt. Außer diesem würde das frauenzimmer das elen-
deste Geschöpf seyn, %.und bloß dem Appetite der Männer zu Gebothe stehen müßen.
Die Weiber beckommen aber %durch den Ehestand die %HErrschaft über die Dinge, %.und der
Mann verliehrt bey dieser Verbindung einen Theil %.seiner freyheit, die Frau wird
frey %durch die Ehe, indem ihr als einer vertheidigten Person vieles frey stehet,
was ihr im ehelosen Stande unanständig war. Die Freyheit ohne Vermögen ist
auch von keinem Nutzen; %durch die Verbindlichkeit aber bekommt sie die Macht, die-
ses Vermögen zu äußern. Wir finden auch, daß alle Frauenzimmer, sie mögen

/δSeite 201

/noch so viel Geld haben, dennoch heyrathen, %.und die Männer um desto eher. Das Vermögen des Frau-
enzimmers wird %durch den Mann %nachdrücklich. Was das hauswesen betrift, so muß man die
Regierung oder Verwaltung wohl von der herrschaft unterscheiden. Die HErrschaft im hause führt
der Mann, die Regierung die Frau. Der Mann sieht aufs Gantze im hause, %.und schaft das nöthi-
ge herbey; die Frau %aber sieht darauf, daß %.dasjenige was schon im hause ist, zum vergnügen-
den %.und angenehmen Genuße verwandt %.und gebraucht werde. Indeß findet man %nicht sel-
ten, daß die HErrschaft auf Seiten der Frau ist. Hier kan man sich eine allgemeine Re-
gel mercken: Ein junger Mann ist immer Herr über eine alte Frau, %.und das Gegentheil.
Es zeigt sich hier ein guter Prospect, in %Ansehung der Ursache dieser Regel %.und %Erfahrung.
Wir wißen %.nemlich daß %.derjenige jederzeit, der %nicht zahlen kann, %.höflich ist. Man kann daher
bey einem Kaufman 2 Leute sehr leicht unterscheiden, wer von ihnen die War-
ren bezahlt, %.und wer sie auf Credit nimmt, denn letzterer ist immer submiss. Eben so gehts
auch mit den Ehen; %.und es ist kein wunder, wenn als denn die Frau die Herrschaft hat, wenn
der Mann %nicht zahlen kan. Hieraus sieht man, daß die vorhergehende Jugend des Mannes
das Mittel der Herrschaft im hause sey. %.Derjenige also, der inskünftige %nicht ein Sclave %.seiner
Frau seyn, %sondern eine Gesellschafterin %.und nicht eine Gebieterin an ihr haben will, muß
in %.seiner Jugend alle Ausschweifungen verhüten. Ob dies %.gleich kleine Beobachtungen
sind, so flüßen sie doch ins gantze Leben ein. Führt %aber die Frau wieder die Natur
die HErrschaft im Hause, so geht alles verkehrt zu. Denn wenn «%Verstand» die Frau %.gleich einen
großen %Verstand hat, so ist er doch von einer gantz andern Beschaffenheit, als der %.männliche.
Ein Frauenzimmer ist immer geschickter, Mittel zu einer Absicht zu erfinden,
der Mann aber besitzt mehr gesunde Vernunft zu %Erwählung eines Zwecks. Die Wei-
ber sind erfinderischer, %aber nicht so gut in der %Ausführung. Es ist %aber in der That
die größte Unehre für einen Mann, wenn er von den Einfällen %.seiner frau abhängen
soll. Daß das Frauenzimmer dies auch wohl weiß, daß es sich die Herrschaft anmaße,
wenn es in die Rechte des Mannes greift, sieht man daraus, weil die Frau, wenn
sie den Mann ins Verderben gestürtzt hat, sagt: Du bist Mann, Du hättest dies wißen
sollen, was bin ich Schuld?

/δSeite 202

/Der Haupt_Endzweck des Frauenzimmers ist der Glantz, womit sie andre ihres Geschlechts
zu verdunckeln sucht. Sie sind daher geneigt, im innern, was nicht jeder sieht, zu
kargen. So eßen sie zE. schlecht, %.und speisen auch den Man schlecht ab; allein er hat
dafür den Vorteil, daß alles desto prächtiger seyn wird, wenn er ein Fête giebt.
Uberhaupt ist das Frauenzimmer mässiger als das %.männliche Geschlecht, %aber nur für
sich zu Hause; Bey %.äuserlicher Façon der %.Glückseeligckeit hingegen sparen sie nichts, denn
ihre gantze %Bemühung geht nur dahin, daß sie gut in die Augen fallen, %.und diesen Instinct
hat ihnen die Natur deshalb gegeben, weil sie gewält werden sollen. Sonderbar ists,
daß sich das Frauenzimmer niemals für Manns Personen, %sondern für andre frauenzim-
mer putzt. Es betrift dis einen Ehren Punckt, in %ansehung andrer Frauenzimmer, %.und
ist schwer zu erklären. Indeß scheint dies die wahre Ursache davon zu seyn, weil
sie unter einander in einer beständigen Jalousie %.und einem immerwährenden Kriege
leben, besonders, wenn sie schön sind; Eine sucht als denn die andre zu übertreffen,
%.und dann ist es erst recht was für sie, wenn sie einen Vorzug für andern bekom-
men. Es hat daher auch kein Frauenzimmer an der andern eine wahre Vertraute,
denn sie sind sich einander Nebenbuhlerinnen. Sie trauen einander nie, %.und keine
gesteht der andern ihre Leidenschaften %.und Triebe, wie man es bey Männern häufig
sieht. Sie sind beständig delicater auf den Titel %.und den Vorzug, als die Manns Per-
sonen, denen der Werth der Titel das Wohlgefallen der Frauen ist. Eine %.adelige
Frau wird auf ihren Adel weit mehr stoltz thun, als ihr Gemahl, ob er %.gleich nur
von den Männern geehret wird. Die Ursache ist diese: Je 2deutiger der Unterschied
zwischen 2 Ständen ist, desto verpichter ist jeder auf Vorzüge. Die Grafen werden
immer vertrauter mit einem %.Bürgerlichen als mit einem Edelmann umgehen, weil
sie glauben, daß es sich dieser eher könnte einfallen laßen, sich mit ihnen zu ver-
gleichen, als jener. Der Unterschied des Standes beym Frauenzimmer ist sehr
klein, weil ihr Stand in Ansehung der Erbfolge von kleiner Wirckung ist. Die Mans-
Personen betrachten sie nach ihrem unmittelbaren Werthe, %.und daher verdient
auch ein schönes artiges Frauenzimmer eher eine Prinzeßin zu werden,

/δSeite 203

/wenn sie auch vom niedrigen Stande ist, als eine von vornehmen Stande, die sonst %aber
keine Verdienste hat. Ein vernünftiger Mann wird auch %nicht auf den Rang des
Frauenzimmers sehn, den er ihr %durch die %Vermälung selbst geben kan. Uberdis schickt
sich auch das Frauenzimmer beßer in alle Stände, als der Mann. Ist sie %aber aus einem
gar zu niedrigen Stande, so verräth sie %durch ihre gar zu große Höflichkeit ihre niedri-
ge Geburt. Indeßen kann ein wohlerzogenes armes Mädchen immer einen Vornehmen
heyrathen. Da also das frauenzimmer dem Range nach wenig unterschieden ist, so ist
ihre Jalousie unter einander desto stärcker. Aber hier auch hat die Natur ihre Absicht
gehabt, weil sie gewollt, daß jedes Frauenzimmer ihrem Manne allein anhangen soll.
Wäre diese Jalousie nicht unter ihnen, so würden sie sich vereinigen, %.und die HErr-
schaft der Männer über sie wäre schwer. Wir bemercken, daß das Frauenzimmer
kärger ist, als die Männer, daher nehmen sie gerne Geschenke an, wenn sie auch
noch so reich sind, weil sie durch Geschenke niemals obligirt werden. Der Mann
hingegen wird durch sie zu etwas verbunden. Wenn die Sparsamckeit des Frau-
enzimmers nur %nicht aus schweift, so ist sie sehr %.nützlich da sie selbst %nichts verdienen.
Das Geld, wofür sie sich Bänder p kaufen, ist ihnen gleichsam ans hertz gewach-
sen, %.und sie geben es auch nur für den Putz aus. Dem Manne hingegen steht die Frey-
gebigkeit gut an, ab man %.gleich heut zu Tage %.denjenigen einen guten Wirth nennt, der
karg ist. Diesen Namen %aber kann man nur dem geben, der andre gut auf-
nimmt. Und wer ist alsdenn wohl weniger ein guter Wirth, als ein Karger, der
sich selbst %nicht einmal gut aufnimmt? Es ist eine gantz plebeye %.und plumpe art,
dadurch reich zu werden, daß man es %.seinem Munde entzieht. Es %aber so zu machen,
daß man ohne großen aufwand doch gut lebt, %.und andre auf eben die Art gut
aufnimmt, heißt gut wirthschaften. Alles Frauenzimmer inclinirt zum Geitze,
%.und wenn es je etwas giebt, so ist es etwas, das ihnen %.entweder gar nichts kostet,
oder das sie %nicht brauchen können. Auch hier muß muß man die %.vortrefliche
Einrichtung der Natur bewundern, welche gewollt hat, daß %.derjenige Theil des

/δSeite 204

/%.menschlichen Geschlechts, der nichts erwirbt, auch %nicht freygebig seyn soll; denn es wäre ja
%.lächerlich auf Rechnung %.eines andern freygebig zu seyn. Es ist so gut, daß der Mann
freygebig %.und die Frau karg ist, daß oft blos dadurch in Aufnahme kommt. - Es giebt
eine doppelte Art zu wirthschaften, %.nemlich: Viel ausgeben, wenn man viel er-
wirbt, %.und wenig ausgeben, wenn man wenig einnimmt; %.oder daß man faul ist, %und daß
man spart; das letzte ist eine plumpe Art, Vermögen zu erwerben. Dem
Manne steht es gut an, wenn er das Wohlleben liebt; für die Frau %aber schickt es sich
beßer, das zusammen zu halten, was erworben wird. Das Frauenzimmer ist zum
Verwahren mehr geneigt; daher sie auch weit mehr Kästchen, Schachteln und
Schlüßel p haben, weil ihnen die Ordnung im Hause anvertrauet wird. Man
sieht auch, daß das Frauenzimmer dem Putz, der Reinlichkeit ergeben ist; Es giebt
%aber hierinn einen modischen %.und einen %.persöhnlichen Geschmack. Der %.persöhnliche Geschmak
der %.Reinlichkeit ist dem Manne eigen. Er sieht nicht viel darauf, ob es im Hause
%.reinlich ist, wenn er nur auf %.seinem Leibe rein ist, daher auch der Mann weit eher
ein weißes hemde anzieht, als die frau. Das frauenzimmer hat dem modischen Ge-
schmack. Es sorgt nur dafür, daß %.äußerlich an ihrem Leibe %.und im Hause alles rein
sey, was in die augen fällt, allein um das, was %.keiner sieht, kümmert sie sich
wenig. Uberhaupt geht beym Frauenzimmer alles auf den äußern Schein,
der Man %aber sieht mehr auf Soliditaet %.und den wahren besitz der Sache. Beyde,
der Mann %.und das Weib besitzen eine Ehrliebe %.und eine Begierde; aber alle Eigenschaf-
ten, die sie gemein haben, sind doch gantz unterschieden. Denn der Mann sieht da-
rauf, was man von ihm denkt, die Frau %aber was man von ihr sagt. Wenn das
Frauenzimmer nur versichert ist, daß man das, was man von ihr weiß, nur %nicht
sagen darf, so sind sie schon unschuldig %.und kehren sich wenig daran, was man
von ihnen denkt. Dis aber macht eine große Verschiedenheit des Ehren-
Punckts zwischen Mann %.und frau aus, wie mag es kommen, daß das Frauenzim- 

/δSeite 205

/mer die Schmeicheleyen der Männer nach den Worten aufnehmen kan, %.und was ist die
Ursache dieses %.unaufhorlichen Tributs, den ihnen die Männer erlegen müßen, da
doch Schmeicheley sonst ein Laster ist? Dis ist die Ursache: der Mann giebt sich selbst
den Werth, der Werth des Frauenzimmers %aber hängt von der %Neigung der Manns Per-
sonen gegen sie ab, %.und von dem, was sie sagen. Hätte aber das %.männliche Geschlecht
keine %Neigung gegen die Frauenzimmer, so wäre es die niedrigste Kreatur in
der Welt. Es ist also eine Schuldigkeit des Mannes, %.seine Neigungen durch Schmei-
cheleyen zu äußern, %.und %dadurch den Werth des Frauenzimmers zu bestimmen. Das
Frauenzimmer weis auch gut, daß die Schmeicheleyen ein Tribut sind, %.und sie sind
sogar stoltz darauf. Die Männer billigen auch diesen Stoltz so sehr, daß ohne den-
selben beynahe ihre Neigung wegfallen würde. Wegen dem Werthe der
Männer also, den sie schon von der Natur bekommen haben, müßen sie diesen
Tribut an das %.weibliche Geschlecht bezahlen. Der Mann will beherrscht seyn,
%.und dis ist eine Art von Convention. Denn da die Natur ihn zum Herrn ge-
macht, so hat sie ihm %.zugleich die starcke %Neigung gegeben, welcher zufolge er
der frau unterworfen seyn soll. Wenn man nun %aber einem schönen Frau-
enzimmer recht hoch getriebene Schmeicheleyen vorsagt (worüber man in
Geheim lachen möchte) ists %.möglich; daß sie von ihr im Ernste aufgenommen wer-
den? Man sollte glauben, sie nehme sie eben so wenig im Ernste auf, als
die Complimente im gemeinen Leben. Aber nein! das Frauenzimmer
glaubt sie gewis, wenn ihnen der Spiegel gleich das Gegentheil zeigt.
Denn weil man doch keine Regel von dem hübschen Aussehn geben kan, so
glauben sie, daß sie vielleicht in den Augen %.desjenigen, der ihnen schmeichelt,
%.wircklich hübsch sind, %.und gleichsam eine Zauberkraft gegen ihn besitzen;
%.und sie haben auch Grund dazu; weil die Neigungen der Männer %nicht können

/δSeite 206

/unter Regeln gebracht werden, %.und dem einen %.dasjenige schön ist, was der andere %.heßlich
findet; %.und mithin denkt sie, dies können wohl eben die Manns Personen seyn, die
sie zu bezaubern im Stande ist. Und diese Schmeicheleyen, nebst den Geschencken
sind die beyden Versuchungen, wodurch das Frauenzimmer so leicht verführt werden
kann, denn, indem es die Schmeicheleyen glaubt, so denkt es, daß es Schade wäre, ei-
nen solchen Mann fahren zu laßen, in deßen Augen sie eine solche Göttin ist, %.und
dann ist es gefangen.

/Endlich bemerckt man noch, daß das Frauenzimmer die Verdienste %nicht nach dem
innern Werthe schätze, sondern nach dem Verhaltniße, welches die Verdienste
auf sie selbst haben. Sie wollen %nicht selber die Verdienste haben, %sondern einen Mann,
der sie besitzt. Wenn sie zE. die Freygebigkeit eines Mannes rühmen hören,
so dencken sie, was hilfts, wenn er dir doch etwas gäbe! Wenn ein Frauen-
zimmer %.und ein Mann ein %.und eben den Roman lesen, worinn etwa ein gros-
müthiger Mann geschildert, so wird der Mann dabey dencken, wärest du doch
auch so gros müthig; die Frau %aber wünscht dabey, einen solchen Mann zu haben.
Dieses %aber zeigt an, daß sie selbst keine Verdienste besitzen wollen, son-
dern zufrieden sind, wenn sie von eines andern Verdiensten profi-
tiren können. Diese verschiedene Schätzung der Verdienste aber macht
eine große Verschiedenheit in Ansehung der Moralitaet der Handlungen.
Es ist aber dieser große Zwiespalt der Natur bey den Geschlechtern
sehr merckwürdig %.und wichtig, %.und die Kenntnis davon hat im Umgange
und in der Erziehung einen Beträchtlichen Einfluß.

/ ≥ Finit %den 13. Febr. 1780 ≤

/δSeite 207

/ ≥ Verzeichnis der Abtheilungen der Antropologie. ≤

/ %.Pagina

/ 1. Prolegomena - - - - - - - - - - 0.

/ 2. Vorstellungen - - - - - - - - - - 5.

/ 3. Von den dunckeln %.und verworrenen Vorstellungen - - - 7.

/ 4. Von den @2@ Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis - - 8.

/ 5. Von den Perceptionibus concomitantibus et sociis - - - 9.

/ 6. Von den sinnreichen Ausdrücken - - - - - - 9.

/ 7. Von der betrachtung der Negativen %.und positiven %Erkenntniß - 11.

/ 8. Von der Schwierigckeit %.und Leichtigckeit - - - - 13.

/ 9. Von der Attention %.und Abstraction - - - - - - 13.

/10. Von den gehäuften Vorstellungen - - - - - - 15.

/11. Von der Überredung %.und Uberzeugung - - - - - - 16.

/12. Von den Sinnen - - - - - - - - - - 17.

/13. Von den Sinnen %.und sinnlichen Organen - - - - - 19.

/14. Vom Gebrauch der Sinne - - - - - - - - 21.

/15. Vom betrug der Sinne - - - - - - - - 23.

/16. Von den Vorstellungen, nach dem Verhältniße,

/ was sie unter einander haben - - - - - 24.

/17. Von der Schwächung der Vorstellungen durch die Zeit - - - 27.

/18. Von den unterschiedenen Umständen der Menschen - - - 28.

/19. Von der Trunckenheit - - - - - - - - 29.

/20. Vom Schlaf - - - - - - - - - - 30.

/21. Phaenomena des Schlafs - - - - - - - - 30.

/22. Ursachen des Schlafs - - - - - - - - 31.

/23. Von den %.sinnlichen Vorstellungen - - - - - - 34.

/24. Phantasie - - - - - - - - - - 36.

/25. Von dem Vermögen über alle diese Bildungs_Vermö- 

/ gen zu disponiren %.oder Ähnlichkeit %.und Unterschied zu

/ Bemercken - - - - 42

/δSeite 208

/26. Vom Gedächtniß - - - - - - - - - 45

/27. Handlungen beym Gedächtniße %.und deßen Grade - - - - 46.

/28. Das Dichtungs_Vermögen - - - - - - - - 52

/29. Vom Ideal - - - - - - - - - - 55

/30. Von der Träumerey %.oder dem Zustande des %.unwill- 

/ %.kührlichen Dichtens - - - - 58

/31. Vom Schlafwanderer - - - - - - - - - 59.

/32. Von der Erstarrung - - - - - - - - - 61.

/33. Vom Phantast oder vom krancken Zustande der Seele - - - 61.

/34. Von dem Enthusiasmus - - - - - - - - 62

/35. Die Stöhrung - - - - - - - - - 63.

/36. Von der Vorhersehung - - - - - - - - 66.

/37. Von der Praesagition - - - - - - - - 67.

/38. Von den Zeichen, deren sich der %Mensch bedienet - - - 69.

/39. Vom Witze, Scharfsinnigckeit %.und Urtheils_Kraft - - - 72.

/40. Vom Lachen - - - - - - - - - - 78.

/41. Von den obern Erkenntniß Kräften der %.Menschen Seele - - 84.

/42. Vom gesunden Verstande - - - - - - - - 93.

/43. Von der gesunden Vernunft - - - - - - - 96.

/44. Von den Gemüths_Fähigckeiten - - - - - - - 99.

/45. Vom Genie - - - - - - - - - - 103.

/46. Von der Zufriedenheit - - - - - - - - 106.

/47. Bedingungen des Geschmacks - - - - - - - 113.

/48. Von dem Nutzen der Cultur des Geschmacks - - - - 124.

/49. Vom Wohlgefallen %.und Mißfallen in Ansehung der

/ Gegenstände, in so ferne sie als gut %.oder Böse

/ angesehen werden - - - - - 135.

/50. Bemerckung über den Geschmack - - - - - - 138.

/51. Vom Geschmack verschiedener Nationen - - - - - 140.

/52. Noch etwas von der vernünftigen Urtheils- 

/ Kraft - - - 147.

/δSeite 209

/53. Vom Begehrungs_Vermögen - - - - - - - 148.

/54. Von den verschiedenen Objecten unserer Neigungen

/ %.und Leidenschaften - - - - - - 164.

/55. Von den Temperamenten der Menschen - - - - - 170.

/56. Vom Naturell - - - - - - - - - - 180.

/57. Vom Character - - - - - - - - - - 182.

/58. Von der Physionomie - - - - - - - - 183.

/59. Vom Character der Völcker - - - - - - - 193.

/60. Vom Character der Geschlechter - - - - - - 195.

/δEnde