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/ ≥ Anthropologiekolleg vom Winter 1791/92
/ Einleitung. ≤
/ Es gab von jeher zwei Arten vom Studieren, wodurch man sich bilde-
te: 1. Schule. Wenn man dies zu seinem Hauptzweck macht, andere an
Menge und Mannigfaltigkeit der Wissenschaften zu übertreffen. Solch
einen Gelehrten nennt man einen Scholastiker. Er hat viele subtile
Distinktionen und einen guten Vorrat an Terminologien auswendig zu
lernen. Er kann seine Gelehrsamkeit höchstens als Schulmann mit Nutzen
anbringen. Der durch die Schule gelehrt wird, ist passiv. 2. Weltkennt-
nis. Wenn man von seinen Wissenschaften einen populären Gebrauch
macht, d. i. nicht der Schule, sondern der Welt damit nützen will und
seinen Vortrag auch der Fassungskraft des Ungelehrten und des Frauen-
zimmers gemäss einrichtet, eine Gabe, die besonders den französischen
Schriftstellern eigen ist. Weltkenntnis macht gescheut und klug, seine
Geschicklichkeit an den Mann zu bringen.
/ Pedanterie ist Anhänglichkeit an das Formale. Wir müssen von unse-
ren auf den Universitäten erworbenen Kenntnissen einen populären Ge-
brauch machen lernen, damit wir im Umgange mit Menschen wissen, wie
wir Menschen bilden und wie wir uns bei ihnen beliebt machen können.
Wir sollen mehr mit der Welt, als mit der Schule, zu tun haben. Wir
müssen also die Welt studieren. Der Mensch muss durch die Welt für die
Welt gebildet werden. "Welt" heisst hier soviel als "der Mensch im
Umgange." "Welt kennen", "Welt haben" heisst "den Menschen in ver-
schiedenen" Ständen und Situationen und Verhältnissen kennen, seine
Manieren, seinen Umgang wissen, sich mit der Welt, mit solchen Men-
schen, die zum Muster dienen, bekannt gemacht haben. Ein Mensch kann
gelehrt sein, aber da er nicht Weltkenntnis hat, so kann er von seiner
Gelehrsamkeit keinen rechten Gebrauch machen. Die Franzosen sagen:
"Der Mensch hat Welt", d. h. er hat Kenntnisse, die nicht bloss in
Spekulationen bestehen, sondern die er wohl an den Mann zu bringen
weiss. Wir bedürfen der Beihilfe der Menschen zur Herrschaft über die
anderen Dinge. Deshalb nennt man $kat$ $exochen$ (vorzugsweise) "Welt-
kenntnis" die Kenntnis des Menschen. Weltkenntnis kann man als Natur-
kenntnis und auch als Menschenkenntnis betrachten und das ist Anthro-
pologie.
/ Man kann die Anthropologie sowie verschiedene andere Wissenschaf-
ten nach einer zwiefachen Methode bearbeiten.
/1. schulmässig (scholastisch), spekulativ, die lediglich theoretisch
ist, insoweit sie uns nur geschickt und gelehrt macht, uns den Men-
schen kennen lehrt, wie er ist. Die Psychologie (Seelenlehre) ist
eine solche spekulative Anthropologie. Sie geht aufs Innere.
/2. populär (pragmatisch), insoweit sie uns klug macht, uns nützlich
ist, um von dem, was man weiss, gute Anwendungen machen zu können.
Der Mensch wird nicht durch Erfahrung klug, sondern nur gewitzigt den
Schaden zu vermeiden. Geschicklichkeit ist nur auf Sachen, Klugheit
aber auf Menschen gerichtet. Wenn wir uns aber einen Einfluss auf
Menschen erwerben können, so haben wir ihn auch auf Sachen. Pragma-
tisch ist jede Lehre, wenn sie die Klugheit befördert. Pragmatische
Geschichte macht den Menschen klüger durch Anwendungen, theoretische
nicht. Pragmatische Anthropologie gibt Maximen an die Hand, wie man
gegen Menschen handeln soll.
/ Alle praktische Lehre ist: 1. technisch, Lehre der Kunst und Ge-
schicklichkeit, oder 2. pragmatisch, Lehre der Klugheit, Menschen zu
meinen Absichten zu gebrauchen. Z. E. ein Uhrmacher, der das letz-
te nicht kann, grob, aber sonst im Technischen geschickt ist, kann
wenig Erwerb haben. Menschen und Maschinen zu regieren, dazu gehört
eine sehr verschiedene Art der Kunst. Junge Theologen müssen sich
bemühen, nicht allein eine vernünftige Wahl in praktischen Lehren zu
treffen, sondern sie auch an den Mann zu bringen suchen.
Wer Menschen gewinnen will, hat grosse Schwierigkeiten zu überwin-
den. Auch ist es schwer, sich selbst und andere zu erforschen. Will
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/man seine eigene Sinnesart ergründen, so muß man sich selbst beob-
achten. Dies kann nur im Fluge, oder hinterher, wenn die meisten Ein-
drücke, Empfindungen usw. erloschen sind, geschehen. Bei Alten sind
die Triebfedern, die sie als Jünglinge regierten, erloschen. Daher
kommen ihnen die in ihrer Jugend getanen unüberlegten Handlungen un-
glaublich vor. Im Zorne oder in der Gelassenheit sich beobachten, wäre
Widerspruch. Man müßte nämlich immer in einem andern Zustande sein.
/ Ein Maler kann einen Menschen schwer nach dem Leben treffen. Denn
der Gedanke: ich lasse mich malen, bringt die Wirkung hervor, daß
man wie auf Draht gezogen ist und seine Gesichtszüge verstimmt. Der
Maler kann nur dann nach dem Leben treffen, wenn die Person, welche er
malt, zerstreut ist.
/ Schwer lernt sich der Mensch selbst kennen. Andere hingegen zu be-
obachten ist beleidigend. Man hat auch überdies genug mit sich selbst
zu tun. Ungern läßt man sich erforschen. Man merkt es auch bald,
verstellt sich, ist selten offen, oft affektiert, verschroben, und
lässt sich immer von der besten Seite sehen. So ist's ungefähr mit
den meisten Ehen beschaffen. Auf Fèten, in Gesellschaften glaubt man
lauter paradiesische Ehen zu sehen. - So sind sie von aussen. - Nicht
selten ganz anders von innen.
/ Der Mensch, der offen ist, kann am besten durch Umgang die Menschen
kennen lernen. Denn sie haben alle den Trieb, sich einander zu gut ent-
decken. Am schwersten aber ist das Charakteristische des Menschen und
der Menschheit kennen zu lernen, nämlich: wodurch sich der einzelne
Mensch von andern Menschen und wodurch sich die Menschheit von andern
Arten unterscheidet, von welchen beiden Fällen der letzte am aller-
schwersten ist. Bei einzelnen Personen gehen Vergleiche an, beim Gan-
zen aber ganz und gar nicht.
/ Es haben zwar verschiedene Männer u. a. Platner, Hume, Tetens uns
Anthropologien geliefert. Allein in allen diesen Schriften wird die
Anthropologie nur als eine theoretische Wissenschaft, als eine Psycho-
logie behandelt, ohne daß ihr Einfluss auf das gemeine Leben be-
stimmt wird. Wir wollen aber diese Wissenschaft pragmatisch vortragen
d. i. sie soll uns lehren, über Menschen zu reflektieren, auf sie einen
Einfluss sich zu erwerben, um sie auf die Art nach unseren Absichten
lenken zu können.
/Anmerkung. Die Ursache, warum bis dahin noch auf keiner Akademie
öffentliche Vorlesungen über die Anthropologie angestellt sind, ist
teils die Meinung, man kenne den Menschen noch nicht genug, teils ein
Zweifel, ob der Mensch je ein Gegenstand der Doktrin werden könnte,
indem er vermöge seiner Freiheit und vielfältigen Launen sich alle
Augenblicke als ein Proteus verwandelt und wenn man glaubt, ihn
schon unter Regeln gebracht zu haben, ihnen gerade entgegenhandeln
kann. Allein ich glaube behaupten zu können, daß diese Schwierigkeit
gehoben werden kann, wenn man dabei nur so verfährt, daß man bloß
die Regeln selbst ausfindig zu machen sucht, nach welchen alle Er-
scheinungen im Umgange eine Einheit bekommen. Die Untersuchung der
Ursache dieser Regeln muss dem spekulativen Kopf überlassen
werden und gehört in die Psychologie.
/ Was nun die Quellen der Anthropologie betrifft, so hält man
1. das Reisen für ein Mittel, die Menschen kennen zu lernen. Allein
man weiß es aus der Erfahrung, daß dieses eher ein Mittel ist,
Länder und Städte, als den Menschen kennen zu lernen. Zwar können
auch Reisen die anthropologischen Kenntnisse erweitern. aber man muss
zuerst lernen über die Menschen zu reflektieren, d. i. sich mit den
Bemerkungen bekanntmachen, die Andere bereits über den Menschen ge-
macht haben, oder schon vorher eine genug zusammenhängende Menschen-
kenntnis haben, damit man mit einem gewissen Plan bei dieser Ver-
schiedenheit der Menschen, die man durchs Reisen zu sehen bekommt,
seine Beobachtungen anstellen kann. Ohne diese Instruktion bleibt man
auch in den entferntesten Ländern nie heimisch.
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/2. Der Umgang mit vielen Ständen und kultivierten Menschen ist die
grösste Quelle der Menschenkenntnis. Er muss populär, d. i. offen sein.
Wie's im Evangelio heisst: klug wie Schlangen, ohne Falsch wie Tauben,
so das Sprichwort: volto sciolto %etc. Durch Offenherzigkeit, ein freies
munteres Wesen kann man nur Menschenkenntnis erlangen. Anders werden
Politiker nie den Sinn des Ministerii erforschen. Sie verraten zwar
nichts, erraten aber auch nichts. Jeder Mensch hat einen Trieb sich
zu öffnen, sein Herz auszuschütten. Wer dies Gefühl nicht hat, muss
entweder ein Tölpel oder ein schlechter Mensch sein. Es ist ein Labsal
für ihn. Kommt man ihm mit Offenherzigkeit zuvor, so traut er und öff-
net sich wieder. Ein feiner Mensch wird beim grössten Unglück im Pha-
raospiel gelassen scheinen - er flucht innerlich. Um ihn zu erfor-
schen, muß man ihn bei einer anderen Gelegenheit in einer solchen
Situation sehen, da er sich nicht zurückzuhalten braucht.
/3. Die Geschichte kann auch als ein Hilfsmittel der Anthropologie an-
gesehen werden. Sie setzt aber schon eine vorläufige Kenntnis der
Anthropologie voraus, wenn man sich ihrer in der Anthropologie mit
Nutzen bedienen will. Denn wenn ich nicht vorher schon weiss, worauf
ich achtzugeben habe, so wird es mich die Erzählung selbst nicht
bemerken lassen.
/4. Das Theater und die Romane gehören auch hierher. Schauspiele,
worinnen die Personen qualifiziert werden, sind gut zur Menschenkennt-
nis. Wenn aber die Romane und Schauspiele übertrieben und überspannt
sind, so taugen sie nichts: wie Grandison, Clarissa. Und die Menschen-
beobachtungen, die uns solche Begriffe beibringen können, sind Kari-
katuren. Man tadelt die "Maximen" des La_Rochefoucauld, weil er immer
nur die schlechte Seite der Menschen schildert. Die Ursache, warum
z. B. Großeltern Enkel mehr als ihre Kinder lieben, gibt er so an:
Weil ihre eigenen Kinder ihnen den Tod wünschen, um von ihnen zu er-
ben, hassen sie dieselben, lieben aber ihre Enkel, weil sie ihren El-
tern, nämlich den verhaßten Kindern ihrer Großeltern, den Tod wün-
schen aus der nämlichen Ursache, die oben angeführt.
/ Der Nutzen der Anthropologie ist augenscheinlich nicht nur im
gemeinen Leben sehr groß, sondern auch vorzüglich in der Moral und
Politik. Denn man muss doch erst das Subjekt kennen, ehe man imstande
ist, es durch Gesetze zu bestimmen. Die Anthropologie ist ferner
Theaterschriftstellern, den Verfassern der Romane, den Biographen usw.
zur Schilderung der Charaktere unentbehrlich, und ein Kanzelredner,
wenn er will ein Spalding werden, muß ein ebenso großer Anthropolog
wie dieser Mann sein.
/ Die Anthropologie wird eingeteilt in
/A. Elementarlehre, soviel als theoretische Anthropologie, Begriff aller
Bemerkungen über sie.
/B. Methodenlehre, soviel als Charakteristik, Gebrauch der Anthropolo-
gie, einen Menschen von dem anderen zu unterscheiden.
Die Elementarlehre besteht aus drei Stücken: 1. Erkenntnisvermögen,
2. Gefühl der Lust und Unlust und 3. Begehrungsvermögen.
/ ≥ A. Elementarlehre.
Erstes Stück: Das Erkenntnisvermögen. ≤
/1. Vom Bewußtsein seiner selbst. - der Gedanke "Ich bin" unterschei-
det den Menschen von den Tieren, und sobald ein Tier diesen Gedanken
fassen könnte, so gehörte es schon unter die Klasse der Menschen.
Dieser Gedanke gibt dem Menschen das Vermögen über alles und macht
ihn zu seinem eigenen Gegenstande der Reflexion. Dieses Ich inter-
essiert den Menschen ganz erstaunlich. Es ist das Zentrum, worauf
sich alle unsere Vorstellungen von Gegenständen ausser uns beziehen.
Es ist der stärkste Gedanke, den der Mensch fassen kann. Man nehme
einen Menschen, der in einer grossen Gesellschaft trotz dem Geräusch,
den sie macht, in tiefen Gedanken begraben sitzt. Die leiseste Nen-
nung seines Namens macht ihn aufmerksam. Sein Name weckt ihn aus den
größten Zerstreuungen. Man kann den Menschen aus dem tiefsten Schlaf
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/leichter wecken, wenn man seinen Namen nennt. Der Mondsüchtige erwacht
am ersten, wenn er bei seinem Namen gerufen wird. Dieses Interesse für
sein ich zeigt sich schon bei den kleinsten Kindern. Da sie aber noch
nicht durch Ich reden können, so reden sie immer in der dritten Person
und nennen ihren eigenen Namen. Z. B. Karl will das haben pp. Denn weil
man das Kind immer bei seinem Namen gerufen hat, so glaubt es, dass
der Name das Unterscheidungszeichen von ihm sei, indem es selbst
über sich zu reflektieren gelernt hat. (Identität des Ichs. Es kann
ein Mann Streiche, die er in Jugendjahren begangen, ganz ablegen,
er kann auch von keinem Richter mehr für Jugendvergehungen gestraft
werden; denn er ist ein ganz anderer Mensch? - Die Meinung, wenn man
sich am Ende bekehrt, so ist alles Verbrochene vergessen oder Ende gut
- alles gut - ist nicht richtig, es gehört mit zur Identität. Am Ende
unseres Lebens wird unser ganzes geführtes Leben haarklein vor uns lie-
gen, und wir danach gerichtet werden.) Wenn man aber sein Ich am mehr-
sten liebt, so heißt dies Selbstsucht oder Egoismus. Dieser ist ver-
schieden.
/1. Der logische Egoismus oder der Egoismus der Urteilskraft, nämlich:
das Urteil anderer, nicht mit dem seinigen vergleichen zu dürfen, und
also ohne Hilfe alle Sachen beurteilen zu können. Dieser wird oft zum
Grundsatz. Es ist aber ein sehr tadelhaftes Prinzip. Die Natur hat uns
den Instinkt gegeben in Gesellschaft zu leben und also auch zu kommu-
nizieren. Wir müssen also die Urteile anderer gebrauchen und sie nicht
für entbehrlich halten.
/2. Der moralische Egoismus, wenn ein Mensch sich nur selbst hochschätzt
/3. Der metaphysische Egoismus, wenn der Mensch denkt: ich bin das ein-
zige existierende Wesen.
/4. Der ästhetische Egoismus, wenn ein Mensch immer sein Ich aufzustel-
len sucht in Rücksicht des Geschmacks.
/ Es gibt noch Egoisten des Wohlwollens gegen sich selbst, und dies
sind alle Menschen. Dieser Egoismus heißt Solipsismus (solus ipse,
allein selbst). Und Egoisten des Wohlgefallens an sich selbst.
Dieser Egoismus heißt Philautie. Wer ihn be-
sitzt, ist ein vollkommener Narr. Je strenger man über sich selbst
wacht, je mehr Fehler findet man an sich und je mehr ist Hoffnung zur
Besserung da. Da nun dieses Ich so sehr interessiert, so ist es kein
Wunder, wenn wir es allenthalben geltend zu machen suchen, nicht alle-
in der Einsamkeit, wo wir uns mit diesem Freunde ganz ungestört be-
schäftigen können, sondern auch im Umgange. Allein weil ein jeder eine
gleiche Bestrebung in sich fühlt, mit seinem Ich hervorzurücken, so
so schränkt sich das Ich vieler Leute in der Gesellschaft wechselsei-
tig ein, und sie werden bescheiden, d. i. ein jeder mässigt die Ansprü-
che, die er seinerseits gern machen möchte. Ja, wenn der Mensch, wie
Helvetius sagt, recht klug und fein sein will, so muss er mit seinen
Ansprüchen gänzlich zurückhalten, um dem Andern desto mehr Gelegenheit
zu geben, die Vorzüge seines Ichs glänzen zu lassen. Denn wer einen
Menschen gewinnen will, der muss ihm immer Gelegenheit geben, dass
er sich auf eine vorteilhafte Seite zeigen kann - welch eine schätzba-
re Maxime für diejenigen, die mit Grossen umgehen! - Man nennt hinge-
gegen einen Menschen ungeschliffen, der immer sein eigenes ich und Inter-
esse zum Thema für die Gesellschaft macht.
/ Doch hört man in manchen Fällen gerne die Menschen von sich selbst
sprechen. Dieses geschieht zuvörderst, wenn jemand viel von seinen
Fehlern vorschwatzt. Denn es schmeichelt unserer Einbildungskraft,
uns von diesen Schwachheiten befreit zu sehen, oder tröstet uns wenig-
stens, wenn wir sie wirklich an uns haben. Montaigne hat "Versuche"
geschrieben, die das Besondere haben, daß sie in einer leichten Schreib-
art sehr viele Materien enthalten, worinnen Reflexionen über tausender-
lei Gegenstände, nicht systematisch abgefasst sind, sondern zerstreut
untereinander liegen. Er ist nicht allein der Lieblingsautor seiner
Nation, sondern auch ein jeder andere liest ihn mit Vergnügen, ob-
gleich er bei allen Gelegenheiten einen starken Egoismus blicken lässt.
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/Die Ursache ist, dieser Schriftsteller redet nicht aus Eitelkeit von
sich, sondern um den Menschen zu studieren. Er will nur das Charak-
teristische von ihm zeigen und stellt sich nur als ein Beispiel dar,
nach dem wir uns selbst per analogiam beurteilen können, und die Frei-
mütigkeit, womit er dieses tut, macht ihn angenehm.
/ Es ist merkwürdig, daß das Ich, um sich bescheidener ausgedrückt
zu haben zu scheinen, unter das Wort Wir versteckt wird. Wenn Könige
sagen: Wir befehlen, so wollen sie damit soviel sagen: Ich und meine
Minister befehlen. Eben dieselbe Beschaffenheit hat es mit dem Wir der
Rezensenten in Rücksicht auf das Publikum, und der Prediger in Anse-
hung der Gemeinde.
/ Es ist auch merkwürdig, daß die mehrsten zivilisierten Nationen
sich des Ausdrucks Du in der Konversation soviel wie möglich enthalten
und sich entweder der dritten Person im Singulari, wie die Polen, oder
der zweiten im Plurali, wie die Franzosen, oder der zweiten und dritten
im Plurali und der dritten im Singulari bedienen, wie die Deutschen.
Es ist noch nicht ausgemacht, welches die Ursache davon sein mag.
/ Das eigentliche Ich im spekulativen Verstande nennen wir unsere
Seele. Im populären Verstande ist der Mensch mit Seele und Körper zu
unterscheiden. Das Wort "Seele" kommt auch im gemeinen Leben vor und be-
deutet das Innere unseres Lebens. Man sagt: der Mensch ist seelenlos,
wenn er keine Empfindung und Teilnehmen für etwas hat. Ein Gedächt-
nis ist seelenlos, das uns nicht belebt. Ein Mensch ist seelen-
vernügt, d. i. innerlich vergnügt. Der Ausdruck: "Es ist eine Seele
von Mensch" ist ein pur deutscher Ausdruck, und soll das unschuldige,
gefällige, beliebte Wesen vom Menschen anzeigen. "Seele in der Feder
und in der Kanone" soll "die inneren Teile derselben" heissen. Bei
der Seele bemerken wir noch den Ausdruck "Gemüt". "Gemüt" scheint die
Summe der Empfindungen auszudrücken, vorzüglich beim Schmerz, wenn man
ihm innigst seine Empfindungen einverleibt. - Wenn man sagt, was dem einen
recht ist, ist dem andern billig, so ist das falsch - es muss dem
andern auch recht sein.
/ Unser Bewußtsein ist zwiefach: 1.) das Bewußtsein unserer selbst,
oder 2.) das Bewußtsein anderer Gegenstände.
/ Die Beobachtung von unserem Ich ist beschwerlicher, weniger unter-
haltend, ermüdender und schädlicher, als die schwerste Beobachtung von
Gegenständen außer uns. Denn je mehr der Mensch auf seinen Zustand
acht hat, desto mehr verschlimmert er ihn. (NB. Je mehr
jemand seiner Krankheit nachdenkt, desto kränker wird er.) Je mehr wir
uns aber mit Gegenständen beschäftigen, desto mehr schonen wir unsere
Seelenkräfte, es mag nun sein, daß wir mechanisch arbeiten oder mit
andern Menschen im Umgange sind. Denn im Umgange haben wir die Urteile
anderer Menschen vor und müssen beschäftigt sein, ihnen Genüge zu
leisten, welches uns von uns selbst abzieht; denn die Langeweile ist
wohl nichts anderes als eine Larve, wo man durch einen Gegenstand von
sich selbst abgezogen wird. Denn wenn der Mensch mit nichts beschäf-
tigt ist, so fällt er auf sich selbst zurück und nagt an sich selbst.
Es gibt Aufpasser auf sich selbst oder Selbstbeobachter. Alle diese
Leute, den braven Lavater nicht ausgenommen, haben die stärksten An-
lagen zur Schwärmerei, denn sie sehen bloß auf den Zustand ihres Gemüts, auf den Wechsel
ihrer Gedanken und Reden, auf jeden Schwung der
Einbildungskraft. Der Weltmann ist immer außer sich und gibt nur auf
Dinge außer sich acht. Sich selbst zum Gegenstande seiner Gedanken
machen, kann zwar nach Intervallen geschehen, muß aber kein habituel-
ler Hang sein, weil er mit Anstrengung verbunden, die erschöpfendste
Bemühung unseres Denkens ist. Wenn wir handeln und arbeiten, so sind
wir außer uns und betrachten uns nicht selbst. Denn die Seele, die
Quelle des Denkens, wird am meisten durch die Aufmerksamkeit auf uns
angegriffen, indem jede Bemerkung über uns selbst noch weit heftiger
affiziert, erfreut oder betrübt. Unsere Lebenskraft aber gewinnt, so-
bald wir die Seele von der Aufmerksamkeit auf uns abrufen, weil die
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/Einbildungskraft nicht so tief eindringt. Wir haben sonst dabei zu-
viel Interesse. Das bringt uns in einen leeren Raum und verursacht
uns Bangigkeit. Die Regel also ist diese: Beim Studieren muss man sich
nur mit dem Gegenstande und bei der Erfahrung nur mit Dingen ausser
uns beschäftigen. Dabei gewinnt das Gemüt Kraft und das Principium
des Lebens verstärkt sich. In moralischen Dingen ist zwar bisweilen
gut, auf sich achtzugeben, aber die Achtsamkeit muß mit Intervallen
geschehen. Eremiten, die sich mit Betrachtung Gottes und ihrer selbst
abgaben, wurden zuerst Heilige und zuletzt Narren. Viele Menschen ha-
ben sich selbst hypochondrisch gemacht dadurch, dass sie auf sich
selbst zu sehr achtgaben. Und Hypochondrische, die immer nur ängstlich
auf ihr Wohlbefinden attendierten, wurden endlich selbst bloß aus
dieser Ursache krank, denn jede Krankheit, von der sie in einem Buch
lasen, glaubten sie selbst zu haben. Finden sich aber Umstände, wo es
nötig ist, auf sich selbst achtzugeben, so müssen wir soviel als mög-
lich suchen, dieser Achtsamkeit nicht nachzuhängen. Es ist aber beson-
ders, daß wie die Gemütskraft durch Beobachtung der Gegenstände ge-
winnt, so wird sie auch schwer durch die Beobachtung seiner selbst.
Es beantwortete Einer einmal die Frage: Wann ist der Mensch gesund?
Wenn der Mensch denkt, er habe keinen Körper und keine Seele.
/ Lavater hat ein Tagebuch geschrieben, wo er Beobachtungen über
sich selbst anstellt. Dieser Mann hat großen Hang zur Schwärmerei.
Er bringt Dinge hervor, die mit der Vernunft gar nicht zusammenhängen
und durch dieses Buch hat er sich wohl den Größten Schaden getan. -
/ Warum gehen die Menschen in Gesellschaft? Man sagt: um sich
ihrer selbst vergessend zu machen. Dies ist aber ein sehr hypochon-
drischer Grund. Nein! Sondern weil es dem Menschen gesund und seiner
Lebenskraft gemäß ist, sich mit Dingen außer sich zu beschäftigen.
Denn je mehr wir uns mit Objekten beschäftigen, desto gesunder sind
wir. Woher kommt's, dass das Essen in Gesellschaft besser schmeckt?
Weil wir die Gedanken von uns selbst entfernen. Und alle Beobachter
auf sich selbst geraten in die größte Hypochondrie. Nach Spielen
(wo man auch ausser sich ist) hat man mehr Appetit. Das Gemüt ist
dann von sich selbst abgezogen. Wenn ein Mensch sich erholen will, so
kann dies geschehen, wenn er garnichts denkt. - In China ist eine Sekte
(Laokium genannt), welche behauptet, das Glück bestehe im Nichts.
Um dieses Nichts hervorzubringen, schliessen sie sich einsam in dunkle
Kammern, wo sie unbeweglich in Nachdenken vertieft sitzen. Sie sagen,
die Seelen wären aus dem Urwesen Gott geflossen und wollen sich auf
diese weise in ihren ursprünglichen Zustand zurücksetzen.
/ Nichts denken heißt überhaupt "nichts absichtlich denken". Eine
wohltätige Zerstreuung ist also die Gedankenlosigkeit.
/ Ferner kann sich der Mensch erholen, wenn er Dinge denkt, die bald
mit andern wechseln und wo einerlei Gegenstand ihn nicht lange be-
schäftigt. Ein Gelehrter kann sich erholen, wenn er ein ander Buch
liest, als er eben gelesen hat, oder geht in Gesellschaft oder bleibt
in Gedankenlosigkeit. Alles dieses sind Erholungen. Dagegen ist es
eine Erschöpfung des Gemüts, wenn der Mensch nur auf sich selbst acht
hat. Es muss dieses auch dem Gemüt außerordentlich schwer werden,
und es ist kaum zu begreifen, wie einer seine Aufmerksamkeit so zu-
sammennehmen kann. Solche Schwärmerei hat gewöhnlich nichts anderes
zum Grunde als andächtige Nichtstuerei. Denn es ist ja auch einerlei,
ob ich meine Zeit mit Aufmerksamkeit auf mich selbst oder mit gleich-
gültigen Dingen zubringe. (Darin liegt vielleicht eine Hauptstärkung
des Schlafes, daß eine völlige Gedankenlosigkeit existiert, indem
Träume, wo eine nicht völlige Gedankenlosigkeit ist, schwächen).
/ Wir können uns selbst genug erkennen. In Ansehung der Art unseres
äußeren Anstandes müssen Andere über uns urteilen, aber unsere Gesin-
nungen, Gebrechen und Fehler müssen wir besser beurteilen können, als
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/Andere. Es ist daher keine gute Forderung von einem Freunde, wenn man
verlangt, dass er unsere Fehler sagen soll. Wenn er uns äußerliche
Fehler sagt - Stimme, Gang, pp. - so ist dies ein Gefallen. Allein
unsere inneren Fehler müssen wir auch von dem besten Freunde nicht ver-
langen, denn ich verlange nicht, dass Andere über mich reflektieren
sollen. Man bedient sich vieler Regeln und Sprichwörter und betrachtet
sie als gute Regeln, die doch auf keine Weise Stich halten. So will
z. B. jemand, daß ein Freund ihm sage, was über ihn von Andern geur-
teilt wird. Das ist aber nicht gut, denn der Mensch würde ruhiger sein
wenn er das Nachteilige nicht wüßte. Der Freund tut ihm also einen
schlechten Dienst, denn erstlich macht er ihm Unruhe und dann erweckt
er bei ihm Qual mit solchen Menschen umzugehen, mit denen er sonst
freundschaftlich umgegangen sein würde. Es gibt Fehler, die in den äu-
ßeren Moden bestehen, die ein Anderer besser beurteilen kann, als wir
selbst. Fehler, die aber den Charakter betreffen, lassen wir uns un-
gern sagen, denn gewöhnlich sind dies Fehler, die tief ins Herz (Tem-
perament) gewurzelt sind, und daher ist es ihnen unangenehm, wenn
Andere sie darauf aufmerksam machen, denn es sind Schwächen der Natur,
die uns nicht bekannt sind, folglich brauchen wir nicht Anderer Kennt-
nis dazu, um sie kennenzulernen. Wir allein müssen uns damit beschäf-
tigen, die Gedanken auf uns selbst zu richten und uns selbst zum Ge-
genstande unserer Gedanken zu machen. Es kann sein, daß einer auf
sich selbst acht hat, um zu spekulieren und den Menschen überhaupt
zu studieren, wie die es tun, welche die Natur des Menschen untersu-
chen. Dieses Beobachten der Triebfedern menschlicher Handlungen ist
ein ruhiges Studium, wo wir mit unseren eigenen Gedanken gleichsam
spielen, um daraus zu sehen, welches Spiel die Natur mit den inneren
Anlagen aller Menschen vornimmt. aber sich selbst auszuspähen und
unablässig bei allen Schritten zu beobachten, ohne dass diese Beob-
achtung im Gebrauch nützlich wird, erschöpft die Seelenstärke und
bringt Verwirrung hervor. Alle Schwärmer in der Religion sind auch
solche Beobachter ihrer selbst. So hält Lavater seine Gedanken in
seinem Tagebuche über sich selbst mehr für Eingebung, also Belehrung
des Verstandes.
/ Es gibt eine Art von Selbstbeobachtung mitten in der Gesellschaft,
die zwei häßliche Fehler veranlaßt, nämlich
/1. Affektation. Die Eitelkeit, wenn man einen vortrefflichen Anstand
zu zeigen bemüht ist.
/2. Das genierte Wesen, wenn man besorgt ist, einen schlechten Anstand
zu zeigen.
/Das air degagé ist ein zerstreutes Wesen, wenn man außer sich gar
nicht acht hat. Die Vollkommenheit des äusseren Anstandes ist also,
wenn der Mensch nicht scheint sich selbst zu beobachten und sich doch
so zeigt, dass er gefällt. Wer die Kunst durch Übung inne hat, bei dem
fällt das Genierte und Affektierte weg, das von einer zu schlechten
oder zu eiteln Achtsamkeit von sich selbst entsprungen ist. Man muß
also häufig solche Gesellschaften besuchen, wo man sich einigen Zwang
antun muss, vorzüglich mit Frauenzimmern, für die wir Hochachtung ha-
ben müssen, besonders dann, wenn sie Klugheit zeigen, und macht den
Anstand zur Gewohnheit, nicht dabei geniert noch auf eine offenherzige
Weise in sich selbst verliebt zu sein, indem man sehr auf die Wahl
der Wörter, der Stimme, der Gebärde und Kleidung sieht. Denn die Men-
schen vergeben es uns nie, wenn sie sehen, daß wir, statt sich mit
ihnen zu beschäftigen, uns mit uns selbst abgeben, denn sie glauben,
daß wir dazu da sind, uns mit ihnen abzugeben. Hier muß man also
leicht die Aufmerksamkeit von sich abziehen, um die Lust der Leichtig-
keit im Umgange zu zeigen. Derjenige, der so spricht, daß er sich
selbst reden hört, tut es nicht allemal aus Eitelkeit, sondern nur,
indem er besorgt ist, daß er nicht vorteilhaft in die Augen fallen
werde. - Man sagt zu den Kindern: schäme dich, sitz gerad, Finger aus
dem Mund pp. Man sollte nur alsdann sagen: schäme dich, wenn es die
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/Unwahrheit spricht. Denn wenn es sich für alles schämen soll, so ver-
liert es das freie Aussehen. (Besser sagen: wie machen's andre? Auch
muß man nicht bei jedem Fehler gleich sagen: wie lässt das? Das bringt
etwas Geniertes hervor, das man sehr gut mit dem Worte "steif" aus-
drückt.)
/ Dem affektierenden und genierten Wesen steht Naivität entgegen.
Diese ist eine Art von ungekünstelter Freiheit, nach der der Mensch
darauf gar nicht aufmerksam gewesen zu sein scheint, wie seine Art
sich auszudrücken, von Andern beurteilt wird - eine Ungezwungenheit,
die eine natürliche Offenherzigkeit zeigt - oder die Äußerung eines
Menschen, insofern er frei und ungebunden und ungeniert Ausdrücke an
den Tag legt. Den Ausdruck "naiv" hat noch niemand so recht erklären
können, und er gehört unter die Ideen, deren Begriff wir zwar haben,
aber nicht auseinandersetzen können. Naiv schreibt ein Mensch, wenn
er vernünftig schreibt, aber so daß es scheint, er habe gar nicht
acht darauf, wie er beurteilt werde, sondern dass er sich selbst ge-
nug tue. Wer noch nicht in Ansehung der Urteile Anderer schüchtern
geworden ist, wie etwa ein unschuldiges junges Mädchen, der sagt et-
was, was ganz richtig ist, aber man merkt gleich, daß sie nicht fürch-
tet, von Anderen beurteilt zu werden, und da fällt es denn naiv aus.
Wenn jemand Naivität braucht, so kann man von ihm sagen: es lässt so,
als wenn die unverdorbene Natur doch noch einmal durch die Kunst her-
vorblickt, oder wenn die Sonne durch ein dunkles Gewölke bricht und
wieder vergeht. Eine solche Naivität hatte die Antwort eines jungen
Mädchens in der Gellertschen Fabel. Es fragte jemand ihren Vater,
wie alt sie wäre. Er sagte: 14 Jahre, "und 7 Wochen" setzte das junge
Mädchen hinzu. Sie liess hierdurch sich merken, daß sie gern einen
Mann haben möchte. - Wir haben aber nicht bloß zu sehen auf die Rich-
tigkeit dessen, was wir sagen, sondern auch wie es von Andern wird
aufgenommen werden, nur muß die Peinlichkeit dieser Sorgfalt nicht
in die Augen fallen. Denn Peinlichkeit und Sorgfalt hingegen mißfällt.
In den Reden der Deutschen können nie grosse Naivitäten herrschen,
weil ihre Sprache so voll Zeremonien im Umgange und Briefwechsel ist,
daß diese nur die Peinlichkeit hereinbringt, dem Range Anderer kei-
nen Abbruch zu tun, und der deutsche Stil kann wenig oder nichts
Naives zum Vorschein bringen, denn in unserer Ängstlichkeit sind wir
nur damit beschäftigt, wie etwas von Andern möchte beurteilt werden. -
Die Naivität ist oft ein Beweis weniger Weltkenntnis, oft einer Frei-
mütigkeit, allemal aber eines Mangels an Peinlichkeit und Zwang. Sie
erregt ein Lachen, aber nicht das spöttische der Affektation, son-
dern ein gefälliges, welches ihr zur Ehre gereicht.
/ 2. Von den dunkeln Vorstellungen.- Eine Vorstellung, deren man
sich bewusst ist, heißt eine klare, und eine, deren man sich nicht
bewußt ist, eine dunkle Vorstellung. Es ist ein großer Streit unter
den Philosophen, ob es dunkle Vorstellungen gebe. Locke und andere
bestreiten das Dasein dunkler Vorstellungen. Sie sagen, sie sind von
der Art, daß wir nicht wissen, daß wir sie haben. Wie können wir
aber behaupten, daß wir dieses wüßten, von Vorstellungen, deren
wir uns nicht bewußt sind. Und es ist auch nicht einmal nötig, daß
wir der Vorstellungen vermittelst der Empfindung bewußt werden,
wenn man durch Schlüsse zum Bewußtsein gelangen kann. So erklären
z. B. die Alten den Schimmer der Milchstrasse als das Licht einer un-
zählbaren Menge Sterne, ob sie gleich die Sterne selbst in Ermange-
lung der Ferngläser nicht sehen konnten. Also lag eine dunkle Vor-
stellung von den Sternen in den alten, und sie bewiesen das durch
einen Schluß, was die Empfindung in den neuern Zeiten bestätigte.
/ Dunkle Vorstellungen existieren also wirklich und machen den größ-
ten Teil der menschlichen Vorstellungen aus, so daß wenn ein Mensch
sich aller dieser wirklichen nur ins einem Gemüt dunkel liegenden
Erkenntnisse auf einmal bewußt werden könnte, die nur bei Gelegen-
heit hervortreten, über den großen Reichtum seiner Kenntnisse
/|P_191
/erstaunen müßte. Allein das Vermögen der Reproduktion dunkler Vor-
stellungen ist einmal so eingeschränkt, daß sie nur einzeln und
bei Gelegenheit an den Tag gebracht werden. - Ein Mensch, der viel ge-
lesen hat, und gebeten wird, etwas zu erzählen, und er antwortet, er
wisse nichts, weil er glaubt, daß alles erschöpft ist, darf nur von
der einen oder der anderen Sache reden hören und gleich wird er dieses
oder jenes zu erzählen wissen. Wenn man nur die vielen Dinge bemerkt,
worauf man ihn bringen kann, daraus er gleich herausrückt in Sprachen,
Geschichten, Wissenschaften pp. und er könnte sich alles dessen be-
wusst sein, so ist das ein vastes Ganzes, daß er selbst darüber er-
staunen würde. (Wäre ihm alles bekannt, was er weiß, so würde er über
sich erstaunen, wie über ein himmlisches Wesen, wie über einen Gott).
/ Wir können uns die Seele als ein Karte vorstellen, deren illumi-
nierte Teile die klaren, einige ausnehmend helle Teile die deutlichen
und die unilluminierten die dunklen Vorstellungen darstellen. Die
letzteren aber nehmen den grössten Platz ein und liegen auch den klaren
Ideen zum Grunde. Darum kann uns auch ein Mikroskop nicht mehr zeigen,
als was wir auch bei dem kleinsten Objekt schon mit bloßen Augen se-
hen können. Denn wir würden das Ganze nicht sehen, wenn wir nicht
auch die Teile, woraus es zusammengesetzt ist, sehen könnten. Allein
das Mikroskop aber illuminiert sie, macht sie zu klaren Vorstellungen.
Denn dieselben Lichtstrahlen, die durch's Glas gehen, gingen vorher
auch durch mein Auge, außer daß sie im Glase vergrößert wurden, ob
sie gleich auch im Auge waren. Alles, was Mikroskope und Teleskope
noch werden entdecken können, ist schon da, aber noch in der dunkeln
Vorstellung des Menschen, nur bloß daß sie die Klarheit der Vorstel-
lungen auseinanderbreitet und das Bewußtsein vergrößert. Es ist
also nicht eine Vergrößerung der Kenntnis, deren man sich bewußt
ist, sondern nur eine Deutlichmachung derselben.
/ Die Menschen werden a) einesteils oft ein Spiel dunkler Vorstellun-
gen. Dunkle Vorstellungen bringen im Menschen eine Effekt hervor,
wo man wohl sein Urteil klar machen und es andern mitteilen kann. Die
Quelle aber des Urteils weiß man selber nicht und sie liegt in den
dunklen Vorstellungen unserer sogenannten Gefühle. (Denn die Mode-
sprache bringt es so mit sich, moralische Gefühle von Sittsamkeit,
Ehre und dergleichen zu haben.) Wie können wir aber Ehre fühlen?
Das sogenannte "point d'honneur" (Gefühl für die Ehre) ist also nichts
weiter, als ein dunkler Grund, der in uns verborgen liegt, und macht,
daß uns die Urteile Anderer interessieren und daß eine Beleidigung
der Ehre nicht einen obrigkeitliche, sondern private Ahndung erfordert
wenn sie befriedigend und anständig sein soll. Hier ist einen dunkle
Vorstellung, daß es Fälle von der Art geben müßte, die nicht vor
den öffentlichen Richterstuhl gehören, vielleicht weil bloße Schimpf-
namen, Mienen, Meinungen keine Realitäten sind, die ich dem Richter
nicht so deutlich beschreiben kann. Hier scheinen wir also zu verlan-
gen, daß sie zur Privatrache gehören sollen, ob die Vernunft es
gleich verwirft. Welchen Grund mag das Gemüt haben, Privatrache zu
verlangen? Eine Ursache möchte vielleicht sein, daß man glaubt,
Menschen müssen ihre Person verteidigen. Doch dieses ist schwer aus-
zumachen und die Aufklärung solcher dunkeln Vorstellungen erfordert
viel Scharfsinn.
/ Von der anderen Seite spielen b) auch die Menschen mit dunkeln Vor-
stellungen. So bemüht man sich sowohl in Schriften als im Umgange
von Sachen, die dem gemeinen Wahn nach dem Menschen zur Schande ge-
reichen, nicht so deutlich zu reden, daß man gar nicht umhin könnte,
sie zu verstehen, sondern man sucht über sie einen Schleier zu ziehen
der sie aber nicht so bedeckt, daß man sie nicht einmal vermuten
sollte. So spricht man e. g. vom Geschlechtsunterschiede und seinen
Angelegenheiten, von Sachen, die die menschliche Ausleerung angehen,
von der Lustseuche usw. gerne nur verblümt und erfindet von Zeit zu
/|P_192
/Zeit neue Wörter, die desto feiner sind, je weiter sie hergeholt wer-
den. - Ferner ist es sehr schwer, unsere dunkeln Vorstellungen aufzu-
klären. Man beklagt e.g. einen jungen verstorbenen Menschen, ohne
sich selbst zu beklagen, da die Vernunft einem gleich sagt, daß der
Tod nicht unter die Übel zu rechnen sei, sondern das Ende aller Übel
ist. Ein toter Mensch kann demnach nicht beklagt werden und doch wei-
nen die Leute, wenn sie in so jungen Blut, wie sie sagen, begraben
sehen. Das macht, unsere dunkeln Vorstellungen gehen mit ins Grab,
und obgleich es unbegründet ist, zu glauben, daß die Einsamkeit dem
Toten im Grabe schaden würde, so können doch unsere dunkeln Vorstellun-
gen nicht ganz davon ablassen. Das Grausen vor dem Tode ist eine Art
von den dunkeln Vorstellungen, denn man glaubt, es könne bei aller
Überlegung der Vernunft nicht erreicht werden, daß die Idee von der
Empfindung nicht noch im Grabe bei ihm bleiben sollte. - Wenn man auf
einem hohen Turme ist, so ist man sehr furchtsam, so daß man es nicht
wagt, am gut befestigten Geländer zu gehen. Hier muß es in der dunkel
Vorstellung so gehen. Indem man länger auf dem Turme bleibt, kommt die
Imagination und stellt einem die möglichen Fälle des Herunterfallens
vor. Nun wiederholt die Vernunft das, aber die Beschäftigung der Ein-
bildungskraft ist nicht gänzlich durch die Vernunft widerlegt, und so
sind wir immer in Furcht und Überlegung derselben. So konnte man sa-
gen, der Schwindel säße in der Vorstellung und nicht in dem Körper. -
/ Die Einfälle entstehen nicht aus zufälligen Ursachen, sondern schei-
nen, da sie gemeiniglich sehr passend sind, nach einer vorausgegange-
nen Überlegung, die aber im Dunkeln geschehen ist, entstanden zu sein.
/ In der Dunkelheit sehen alle Gegenstände größer aus, als sie
wirklich sind. Dieses wissen diejenigen Schriftsteller sehr gut, wel-
che ihre Gedanken in eine geheimnisvolle Dunkelheit (mystisch) ein-
kleiden und sie wie faul Holz im Dunkeln leuchten lassen. Unerfahrene
halten sie auch bloß dieser Dunkelheit wegen für sehr wichtig.
Pythagoras' dunkle Sprüche enthielten viel Weisheit. (Ähnlichkeit mit
der Freimaurerei).
/ Allein so wenig lobenswert die Dunkelheit bei Vernunftwissenschaf-
ten ist, so sehr gefällt sie, wenn sie nur gemäßigt ist, im Umgange
und in Produkten des schönen Geschmacks. -
/ Ein jeder Einfall, wenn er witzig sein soll, erfordert von Anfang
eine leichte Dunkelheit, die aber so beschaffen sein muß, dass sie
sich im Augenblicke von selbst aufklärt, weil es unserer Eitelkeit
gewissermaßen schmeichelt, den Schleier von der Sache gezogen zu ha-
ben.- Ein jeder Gedanke oder Entwurf heißt, wenn er lauter Licht ist
abgeschmackt, ist er aber auch hingegen lauter Schatten, so ist er leer.
So gibt auch ein Maler nur durch Licht und Schatten seinem Gemälde
Lebhaftigkeit.
/3. Von den deutlichen Vorstellungen. - Die Deutlichkeit ist eine Wir-
kung der Unterscheidung und Ordnung. Die Unterscheidung wird zur
Klarheit, und die Ordnung zur Einheit in der Zusammensetzung erfordert.
Kann ich meine Gedanken in Gewißheit und in vollkommener Ordnung
hervorbringen, so ist dies die Deutlichkeit. (Ohne Ordnung können wir
uns nicht deutlich machen. Wirft man einen Haufen Geld auf den Tisch,
so ist's undeutlich. Legt man es in Reihen, so ist's deutlich).
/ Eine gar zu große Anhänglichkeit und Peinlichkeit bei der Ordnung
ohne allen Zweck verrät einen Pedanten, und der Hang zur Deutlich-
keit einen leeren Kopf. Beide sind geschäftige Müßiggänger und sind
nur darauf bedacht, der Sache eine Form und Methode zu geben, aber
auf Kosten des innern Werts. - Unter den Menschen aber herrscht über-
haupt eine gewisse edle Nachlässigkeit, wo man die Regeln der Ordnung
nicht so genau und peinlich beobachtet, und wo man die Freiheit sucht,
um dem Gemüte nicht durch Zwang der Regeln zu tun zu geben. Dieses
trifft man bei den Schriftstellern der Franzosen an. Bei der deut-
schen Nation aber bemerkt man im Gegenteil einen sehr großen Hang
zur Ordnung sowohl in ihren Sitten, Gebräuchen als auch in ihren
/|P_193
/Schriften, und dieser methodische Charakter ist auch schuld, daß wir
bei uns so wenige Genies haben, denn oft werden wir schon in der Schu-
le dazu verdorben, weil uns in derselben gemeinhin der freie Geist
nicht erlaubt ist.
/ Der sogenannte Baraga-Geschmack (Barockgeschmack) ist eine schein-
bare gekünstelte Unordnung, die doch ihre unmerklichen Regeln hat,
und die man nicht nur in der Natur, sondern auch in den Produkten des
Geschmacks sehr gerne sieht. Auch das Frauenzimmer weiß sich einer
solchen gekünstelten Unordnung mit Vorteil zu bedienen.
/ Man nennt oft das Faßliche deutlich und das Unfaßliche undeutlich.
Gemeiniglich ist dies gerade das Gegenteil. Denn wenn man eine Sache
recht deutlich machen will, so wird sie eben dadurch unfaßlich, macht
man sie aber gar zu faßlich, so wird sie dadurch undeutlich. Die po-
puläre Deutlichkeit, wo es scheint, als ob es keine Mühe koste, ist
ein Kunststück. (Deutlichkeit ist, wenn man das, was man von selbst
nicht versteht, einsieht. Nicht immer muss man, wenn man nicht ver-
steht, auf Undeutlichkeit schließen Ein profundum (Tiefgründiges) kann nicht mit
Leichtigkeit vorgetragen werden. Ein Dozent kann leicht sein, aber
nicht deutlich. Die Schwierigkeit einen Vortrag zu verstehen, nennt
man oft mit Unrecht Undeutlichkeit. Man muß sich nicht immer nach dem
Ruf der Undeutlichkeit richten.)
/ Die Deutlichkeit ist das wahre Gegenmittel vor Schwärmerei, wo die
Einbildung ohne alle Gesetze und Regeln, auch ohne Vernunft herumstreift
und wo man statt Vernunftbegriffe Empfindungen setzt. Die Schwärmer
leiden keine definitiones. Ihrer Meinung nach muß der Begriff nicht
durch deutliche Erklärung ins Detail, sondern en gros dargestellt
werden. Sie sehen nicht darauf, was man versteht, sondern was man
fühlt, und die Aufforderung zu deutlichen Begriffen bringt die Schwär-
merei, da sie sich immer hinter dunkle Begriffe versteckt, zum Ver-
stummen.
/4. Von der Vollkommenheit unserer Erkenntnis. - Die Vollkommenheit
unserer Erkenntnis ist
/1.) objektiv und besteht in Wahrheit, Grösse und Deutlichkeit. Man
nennt diese Vollkommenheit auch die logische Vollkommenheit.
/2.) subjektiv, wenn sie auf Leichtigkeit, Lebhaftigkeit und Interesse
beruht. Man nennt sie auch die ästhetische Vollkommenheit.
/3.) die Vollkommenheit der Erkenntnis im Verhältnis untereinander,
durch das Objekt auf das Objekt, besteht in Mannigfaltigkeit, Ordnung
und Einheit. Man nennt diese Vollkommenheit auch die praktische voll-
kommenheit. (Anmerkung. Mikrologie ist eine Beschäftigung mit Er-
kenntnis gründen, die keinen Zweck haben.)
/ Wahrheit ist die Grundvollkommenheit unserer Erkenntnisse, aber
nur für den Verstand, nicht für die Neigung. Wahre Täuschung, Irrtum
und falscher Schein sind für den Menschen angenehm, weil dadurch eine
zeitlang ihre Wünsche aufgehalten werden. Darum sucht man z.B. Romane
weil wahre Begebenheiten zu alltäglich sind. Dichter und Maler würden
nicht ihr Glück machen, wenn sie nur die wirkliche Natur kopierten.
Sie dichten also eine fabelhafte, und es gefällt. Denn von diesen Er-
dichtungen kann man eben nicht sagen, daß sie Unwahrheiten wären,
sondern Wahrheiten in der Idee. - Allein Vernunfterkenntnisse verlieren
allen ihren Wert, wenn ihnen diese große Vollkommenheit - Wahrheit -
fehlt. (Wer immer bloß anfänglich nach dem Nutzen fragt, der wird es
nicht weit bringen. Zuweilen wird der Nutzen von Dingen erst nach
Jahrhunderten bekannt, wie z. B. ehemals erfundene mathematische Figu-
ren, Kegel, Parabel usw. jetzt mit Nutzen auf die Astronomie angewandt
werden.)
/ Die alte Geschichte würde weit schätzbarer sein, wenn die Alten sie
nicht durch Erdichtungen hätten verschönern wollen, obgleich sie die-
ses einesteils auch der Ausfüllung der Lücken wegen, die sie in der
Geschichte fanden, tun mußten. Die neuere Geschichte hat einen weit
/|P_194
/grösseren Fehler, der ein großes Hindernis der Wahrheit ist, nämlich
Parteilichkeit.
/ Der Wahrheit ist Unwissenheit und Irrtum entgegengesetzt.
/1. Unwissenheit ist nur der Mangel an Erkenntnis.
/2. Der Irrtum ist assensus falsae propositioni datus (die einer fal-
schen Behauptung gegebene Zustimmung) und folglich ein positives Hin-
dernis der Wahrheit. Die Irrtümer entstehen nicht aus Unwissenheit,
sondern teils aus der Begierde unserer Erkenntnis eine Größe zu geben,
die über ihren Horizont ist, teils aus dem Interesse.
/ Allein obgleich die Unwissenheit die Wahrheit nicht hindert, so
befördert sie sie ebensowenig, so daß die Menschen nur auf dem Wege
der Irrtümer zur Wahrheit gelangen können, denn durch Irrtum kommt
man zur Erkenntnis. (Nur durch die Gefahr zu irren, gelangt man zur
Wahrheit.) Daher hegt auch ein Gelehrter mehr Irrtümer, als ein Bauer.
/ Einfälle bedeuten eine Vorstellungsart, welche betrachtet wird als
ein Versuch zu urteilen aus einem bloß zufälligen Grunde. Man kommt
oftmals auf Gedanken, zu denen man keinen Vorsatz oder keine Vorbe-
reitung oder Absicht gehabt hat. Sie können nicht verachtet werden,
sondern sie müssen dazu gebraucht werden, daß sie zum Nachdenken und
zu Entdeckungen Anlaß geben.
/ Hardiesse nennen die Franzosen ein auf die Gefahr des Irrtums ge-
wagtes Urteil. Man findet solche Urteile häufig in Buoffons Schriften.
Ein Paradoxon aber ist ein auf die Gefahr des gemeinen Wahns gewagtes
Urteil. Man wagt ein Urteil, das mit dem Verstande durchgedacht, aber
den allgemeinen angenommenen Grundsätzen zuwider ist. Es gab eine Zeit,
wo man das Paradoxon mit dem Heterodoxon in eine Klasse setzte, und
ihnen einen gemeinschaftlichen Platz auf dem Scheiterhaufen anwies.
In den neueren Zeiten sieht man aber gerne Paradoxe Sätze behaupten,
denn sie geben uns in gewisser Art Hoffnung zu neuer Einsicht. Ein
solches paradoxes Urteil ist immer etwas Originelles, es ist auf ein-
mal eine neue Absicht und Anzeige zur näheren Nachforschung. Die para-
doxen Köpfe (deren viele unter den Satirikern sind) sehen alle Dinge
aus einem andern Gesichtspunkte an, und sie selbst sind Andern ein
richtiges Objekt. Das Paradoxe kann nützlicher als das Alltägliche
sein. - Einige Wahrheiten verlieren nie das Paradoxe, z. B. daß die
Erde sich um die sonne drehe, oder daß die Farben nicht den Körpern
adhärierende Eigenschaften sind, sondern aus der verschiedenen Modi-
fikation des Lichts entstehen, sind zwar mathematisch erwiesene Wahr-
heiten, aber doch bei dem allen immer noch auffallend. (Meinungen
können paradox klingen und es doch nicht sein. - Heterodox - Abweichung
von der angenommenen Lehre.)
/Anmerkung. Es wird manchmal die Frage aufgeworfen, ob es zuträglicher
wäre, dem gemeinen Manne gewisse Irrtümer zu benehmen oder ihn dabei
zu lassen. - Ich sage, wir können zwar gewisse Wahrheiten bei uns be-
halten, wenn wir aber schon was sagen müssen, so muß es wahr sein,
wenn man nicht ein vorsätzlicher Betrüger sein will, wenn man auch
sein Verfahren mit dem nichts bedeutenden Worte "Notlüge" rechtferti-
gen wollte.
/ Oft halten wir eine Schrift für objektiv vollkommen, wenn sie wirk-
lich nur ästhetische Vollkommenheit hat. So halten wir oft Leichtig-
keit für Deutlichkeit, weil es uns keine Mühe macht. Interesse halten
wir für Wahrheit, wenn nämlich die Gedanken des Autors mit unsern
Neigungen korrespondieren, und die Lebhaftigkeit läuft oft mit dem
Verstande davon.
/ Die Mannigfaltigkeit ist das Unterhaltendste bei einer Erkenntnis.
Die Ordnung, welche die Erkenntnisse miteinander paart, ist schon pein-
licher, aber desto befriedigender, wenn man sie übersieht. Die
Einheit im Mannigfaltigen ist das Schwerste, aber auch zugleich der
Endzweck aller unserer Erkenntnisse - und gibt den Begriff des Schö-
nen. - Viele Schriften sind in ihren Teilen sehr unterhaltend, im gan-
zen genommen, befriedigen sie aber nicht, z.B. Lessings theatrali-
sche Werke. Die Ursache ist ein Mangel an Einheit und folglich
/|P_195
/auch an Zweck.
/Anmerkung. Sentenzen sind Sprüche voll Sinn. Nonsens, Unsinn, sinn-
leer ist das, wobei man sich nichts denken kann.
/Anmerkung. Wenn es sich nun fragt: wozu nutzt diese oder jene Erkennt-
nis, z.B. die Entomologie (Insectologie)? so sagen wir, daß der Nutzen
einer Erkenntnis immer die letzte Frage sein muß, und daß derjenige
der den Wert einer Erkenntnis nach dem Nutzen schätzt, ein sehr ein-
geschränkter Kopf ist, indem jede Erkenntnis, sie mag auf ein Objekt
gehen, auf welches sie will, an und für sich schon einen Wert hat.
Sie ist schon insoweit nützlich, daß sie den Verstandesgebrauch übt.
Oft kann man auch den Nutzen nicht voraussehen. Er kommt zuweilen
erst nach vielen Jahren. Das Erste aber, was man bei einer Erkenntnis
fragen muß, ist:
/1) ob sie neu ist, das ist: ob sie unsern Verstand erweitert, 2) ob sie
wahr und gründlich ist.
/5.) Von der Sinnlichkeit im Gegensatz mit dem Verstande. -
/Die Sinnlichkeit ist ein Vermögen, uns Anschauung in concreto zu geben,
oder sie ist ein Vorstellungsvermögen, uns etwas in gewissen Fällen
anschaulich zu machen. Alle spekulativen Köpfe klagen sehr über die
Sinnlichkeit als ein großes Hindernis des Gebrauchs des Verstandes.
Der Grund dieser Beschuldigung ist von seiten des Verstandes, weil
er sich nur leidend verhalten muß, indem die Sinne ihm die Data zum
Denken geben, von seiten der Sinnlichkeit aber das Vermögen sich zu
verantworten. Es ist also nötig, daß wir den Sinnen eine kleine Apo-
logie halten.
/ Die Sinne können weder Irrtum noch Verwirrung hervorbringen, sondern
den Verstand. Denn
/ 1. zum Irrtum wird ein Urteil erfordert, die Sinne können aber
nicht urteilen, sie nehmen bloß wahr und der Verstand urteilt.
/ 2. sie verwirren auch nicht, denn sie sind klar in ihren Vor-
stellungen, sie stellen uns jedes Objekt treulich in seiner Mannigfal-
tigkeit vor, dem Verstande aber kommt es zu, die Klarheit der Begriff
zu geben und das Mannigfaltige zu ordnen, tut er dieses nicht gehörig,
so ist es seine Schuld, wenn daraus Verwirrung entsteht. Derjenige
irrt also nur, der urteilt und entscheidet. Besser ist es auf die Ge-
fahr zu irren etwas zu wagen. Sonst erstirbt des Menschen Verstand,
und wenn wir keine Sinne hätten, so könnten wir nicht urteilen und
auch nicht irren.
/Anmerkung. Man kann kein Beispiel vom Ideal eines Tugendhaften finden
sondern mann muß ihn sich in der Imagination vorstellen. (Geist kann
nicht versinnlicht werden. In der Metaphysik läßt sich nicht alles
anschaulich machen. Z.B. Tugend, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit nur
nach Grundsätzen.)
/ Die Sinnlichkeit ist das untere Erkenntnisvermögen, weil sie die
unwillkürlichen Vorstellungen nicht imstande ist zu gebrauchen. Der
Verstand ist das obere Erkenntnisvermögen. Denn der Verstand gibt
Regeln, und alles was Regeln vorschreibt ist immer das Obere. Was hat
nun mehr Wert? Die Sinnlichkeit ist das Substratum des Verstandes
und hat insoweit vor dem Verstande einen Vorrang, daß sie auch ohne
Verstand wenigstens in Anschauung und Empfindung bestehen und also
ohne ihn Vorstellungen haben könnte, der Verstand aber ohne Sinnlich-
keit nicht, er würde garnichts sein, indem er alsdann nichts hätte,
worüber er denken könnte. Denn das Denken ist bloß das Anordnen der
Vorstellungen in abstracto, die wir in concreto haben. (Angenommen,
der Verstand wäre der Fürst, die Sinnlichkeit das Volk. Was könnte
wohl ohne das andere bestehen? Eher kann sich das Volk ohne Fürsten
behelfen. Also könnte Sinnlichkeit ohne Verstand - wir sehen die
Möglichkeit an Tieren - nie Verstand ohne Sinnlichkeit bestehen.)
Für den Verstand sind die Begriffe, für die Sinnlichkeit aber Anschau-
ung.
/|P_196
/ Der Verstand und die Sinnlichkeit müssen sich also wechselseitig
beistehen, wenn eine Erkenntnis vollkommen sein soll, und zwar so,
daß diese Vermögen nach der Verschiedenheit der Objekte auch in einem
verschiedenen Grade angebracht sein müssen. So muß ein Gedicht mehr
sinnliche Anschauung, eine Rede mehr Verstandesvollkommenheit haben.
/ Eine Verstandeserkenntnis, die zu wenig sinnliche Anschauung hat,
heißt trocken. Eine sinnliche Erkenntnis aber, wenn sie zu wenig
Verstandesvollkommenheit enthält, heißt seicht. So heißt auch ein
Mensch, der mehr auf die Verstandesvollkommenheit im Denken Acht hat,
ein abstrakter, derjenige, der mehr auf die sinnliche Anschauung sich
ein lebhafter Kopf.
/ Um alle Vorwürfe von der Sinnlichkeit mit Recht entziehen zu kön-
nen, muß sie kultiviert und diszipliniert werden. (Kultivieren heißt
auf eine edle Weise vergrößern.) Die größte Kultur der Sinnlichkeit
ist Poesie. Disziplinieren heißt, den wilden Gebrauch einschränken.
Diese Disziplin ist sehr notwendig. Wir müssen die Sinnlichkeit immer
in unserer Gewalt haben und verhüten, daß sie nicht ein oberes Ver-
mögen sei. (Reden wie die von Gott, der Moralität u. dgl. muß sich
die Sinnlichkeit nicht einfallen lassen. Sie muß erst kultiviert wer-
den. Wir müssen sie stets in unserer Gewalt haben. Ist man ausgelassen
froh, so hat man schon die Laune nicht mehr in seiner Gewalt.) Der
Verstand macht nur kalte Beobachtungen, die durch die Sinnlichkeit in
Wirksamkeit gebracht werden: Dies Spiel der Gemütskräfte nach seiner
Willkür und Gewalt über sich selbst gebrauchen zu können, ist eine
Hauptvollkommenheit.
/ Versinnlichen - etwas anschaulich machen - kann man durch Beispiel
Bilder, Allegorien, Symbole, die immer nicht komplett ausdrücken, das
im besonderen zu zeigen, was der Verstand allgemein gedacht hat.
Anmerkung. Die Menschen haben zwar alle Sinnlichkeit, aber ein Mensch
ist sinnlicher, als der andere, weil erstere nicht genug Verstand ha-
ben, über die Sinnlichkeit zu herrschen. (Die Sinnlichkeit ist ein
Instrument des Verstandes. Sie muß nie ihr Spiel mit ihm treiben,
sondern er muß herrschen.) Die Herrschaft der Sinnlichkeit findet
sich ganz bei den Kindern. Bei ihnen ist alles sinnlich. Ihre Bilder-
fibel nach dem Lesen fängt man am liebsten mit ihnen mit Geographie
an, aber nicht mit der Geschichte, denn bei der Geographie ist alles
sinnlich - (indem sich der Raum abbilden läßt, mit der Zeit geht dies
nicht füglich an.)
/ Die Sinnlichkeit ist bei dem weiblichen Geschlecht stärker als
bei dem männlichen, weil sie mehr auf den äußeren Schein sind und
das Frauenzimmer sollte auch ein Mittler der Annehmlichkeit des ge-
sellschaftlichen Lebens sein. Sie sind auch dadurch zu entschuldigen,
daß ihre Gemütsart sorgenfreier und mehr zum Vergnügen geneigt ist,
und es überhaupt ihrem Geschlechte angemessener ist.
(Wer schwere Geschäfte hat, wie das männliche Geschlecht, ist ernst-
haft. Daher hat das weibliche Geschlecht mehr Sinnlichkeit.)
/ Das Übergewicht der Sinnlichkeit findet auch bei dem gemeinen Mann
statt. Er ist gemeinhin abgehalten, den Verstand zu gebrauchen. Je
grösser die Sinnlichkeit, desto kleiner der Verstand.
/ Bei den orientalischen Völkern ist mehr Sinnlichkeit als bei den
Occidentalen, bei denen die Natur in Ansehung der Lebensbedürfnisse
eine Stiefmutter gewesen ist. Sie bringen aber nichts Nachahmungswür-
diges hervor. Regellos ist die Einbildungskraft in warmen Ländern,
gezügelt in kalten.
/ In den älteren Zeiten war mehr die Herrschaft der Sinnlichkeit.
Wem ist nicht bekannt, daß Italien in den älteren Zeiten die größ-
ten Meisterstücke der Malerei, Bildhauerkunst usw. lieferte. Die jetzi-
ge Zeit rückt aber fort im Verstande. - Die Sinnlichkeit ist auch in
der Jugend stärker als im Alter, indem sie eher, als der Verstand,
abnimmt. Die Urteilskraft aber wächst im Alter. Sinnliche Vorstel-
lungen sind Erholungen, weil man sich da bloß dem Eindruck überlässt
/|P_197
/ Wir können endlich überhaupt Virtuosen der Sinnlichkeit und Meister
des Verstandes einander entgegensetzen. Beide aber gewinnen sehr viel
in ihrem Fache, wenn sie sich wechselweise etwas abborgen. - Virtuosen
der Sinnlichkeit üben nur die Sinnlichkeit. Sie sind Künstler der Dar-
stellung. Meister in der Sinnlichkeit sind auch Gesetzgeber. Malern,
Dichtern und Musikern muß man den Namen Virtuosen beilegen; denn sie
zeigen in ihren Produkten, daß sie Regeln der Sinnlichkeit ausüben.
Die Malerei kultiviert die Sinne für sich selbst, und dient zu nichts
als durch ihre Produkte die ganze Stärke der Einbildungskraft zu er-
reichen. Die Dichter suchen Bilder zu finden, um den Verstandesbegrif-
fen immer näher zu kommen. Die Musik lehrt uns nichts, sondern bleibt
bloß in unserer Empfindung durch Harmonie. (Die ersten Produkte der
Philosophie waren in Versen und enthielten Bilder, weil noch nicht
Worte genug waren, die Begriffe anders zu offenbaren. In Absicht auf
Sinnlichkeit in schönen Künsten haben die alten ein Maximum erreicht,
welches man noch nie bei dem Verstande erreicht hat.)
/ Die Geschichte der gesamten menschlichen Erkenntnis ist kurz diese
daß sie von der Sinnlichkeit anfängt und bei dem Verstande stehen
bleibt. Man kann folglich leicht einsehen, welches von diesen beiden
Vermögen bei der Erziehung zuerst exkoliert werden muß.
/6. Von dem positiven und negativen Teil unserer Erkenntnis. -
Das Positive erweitert unsere Erkenntnis und ist deshalb so anreizen
daß bei dieser Erweiterung oft nicht Maß gehalten werden kann und
sich Irrtümer einschleichen. Das Negative hingegen schränkt die Er-
kenntnisse ein, um den Irrtümern zu wehren. Initium sapientiae est
stultitia caruisse. (Eine solche negative Erziehung, die bloß im Ver-
treiben des Übels besteht, empfiehlt Rousseau, auch Sokrates.) Die
Glückseligkeit der Stoiker und Kyniker war negativ - sustine et absti-
ne. (Eine negative Heilmethode ist Diät.) Es gibt Wissenschaften, in
denen das Negative den wichtigsten Teil ausmacht, e.g. wäre es vergeb-
lich in der Religion seine Erkenntnisse zu erweitern zu suchen, aber
eine edlere Beschäftigung ist es, dasjenige, was wir schon als Wahr-
heit daraus wissen, vor Irrtümern zu sichern. (Negativ sind Gesetze,
wenn man's so einrichtet, daß ihrer nur wenig sein dürfen. Der
Mensch muß seinen Begierden Abbruch tun und seine Bedürfnisse ver-
ringern.)
/7. Vom Leichten und Schweren. - Bei jeder Anwendung der Kräfte kann
der Gegenstand leicht oder schwer sein. Leicht ist das, welches, wenn
es geleistet wird, einen großen Überschuß der Kräfte zurückläßt.
Die innere Leichtigkeit ist der Überfluß der Kräfte, die man über
den Grad, der zur Arbeit geraucht wird, besitzt, Z.B. Einem, der
sonst 1 Zentner trägt, wird 1 %.Pfund leicht. Die Leichtigkeit ist uns
angenehm. Sie ermüdet uns nicht in den Geschäften und verstattet uns
nach ihrer Verrichtung gleich darauf mit andern Dingen uns zu be-
schäftigen. Die Abwechslung ist auch jedem beliebt und läßt uns nie
den Mut sinken. Die Äußere Leichtigkeit besteht im Mangel der Hinder-
nisse, wenn den Kräften, die wir haben, nicht äußerlich entgegenge-
wirkt wird.
/ Das Schwere. Mit diesem verwechselt man oft das Beschwerliche.
Beschwerlich ist alles das, was wir nicht mit Lust tun oder von An-
dern tun sehn. Überhaupt ist alles das beschwerlich, wovon man keinen
Nutzen oder Zweck absieht. Z.B. Die Regeln des Zeremoniells und ande-
re unnütze Plackereien im Umgange sowohl in der Religion als im Staate,
Visiten geben und häusliche Konservationen, die mit so vielen
Formalitäten verknüpft sind. (So ward auch ehedem der Pennalismus an
jungen Studenten geübt, um ihnen ihre große Freude ein wenig zu ver-
bittern.) Meine Gebote sind nicht schwer, d. h. nicht beschwerlich -
wie Jesus sagt. (Eine Bekehrung ist wohl schwer, doch aber nicht be-
schwerlich. Es ist keine Vexation dabei.)
/|P_198
/ Schwer ist etwas, wenn ein großer Teil der Seelenkräfte zu dessen
Hervorbringung erfordert wird, z.E. die Auflösung einer algebraischen
Aufgabe. Dieser Gedanke leidet Veränderung. Es kann einem etwas schwer
sein, was dem andern leicht ist.
/ Etwas Leichtes zu tun, bringt keinem Ruhm, weil jeder es tun kann.
Aber etwas tun, was schwer ist, erwirbt einen Ruhm, obgleich es manchmal
nicht den geringsten Wert hat, weil es Geschicklichkeit und Anstrengung
der Kräfte an den Tag legt. (Balancieren, Springen und andere dergleichen
Leibesübungen haben eben keinen wesentlichen Nutzen, zeigen aber doch,
wieweit es der Mensch bringen kann.)
/ Sich etwas als leicht vorstellen, was doch an sich schwer ist, ist ein
Beweis der Seichtigkeit. Denn man beweist dadurch, daß man die wahre
Beschaffenheit der Sache nicht kennt. Nach der gewöhnlichen Erziehungs-
methode sucht man es dem Lehrer leicht und dem Schüler schwer zu ma-
chen. Der neueste Erziehungsplan enthält gerade das Gegenteil von jenem.
Etwas leicht vormalen, ohne es leicht zu machen, ist ein deutlicher Be-
weis von der Seichtigkeit des Lehrers. Etwas leicht machen, was schwer
ist, ist ein Verdienst. Dieses läßt sich nicht bei allen Dingen anbringen.
Alle Maschinen in den Fabriken leisten dieses, indem oft vermittelst
eines Räderwerks ein Mensch das tut, was ohne dieselbe nicht zehn hät-
ten tun können. Weil aber alsdann viele Arbeiter außer Stand gesetzt
werden, sich zu ernähren, so verbietet man nicht ohne Ursache die Ein-
führung solcher Maschinen oft. - Fabrikenmäßig arbeiten, das ist, wenn
einer immer dem andern in die Hand arbeitet. Man hat gedacht, der Mensch
könne fabrikenmäßig kuriert werden. Es könnte Zahnärzte, Augenärzte, Bein-
ärzte, sogar Hühneraugenärzte geben, so daß es ein jeder ins einer Kunst
zur Vollkommenheit bringen könnte. Dieses aber geht nicht an, denn eine
Krankheit betrifft den ganzen Körper des Menschen. (Demnach ist schon
die Teilung in Chirurgi und Medici fabrikenmäßig.)
/ Was schwer ist, davon die Schwierigkeit und Notwendigkeit anzuzeigen,
ist, notwendig, damit der andere, der das Vermögen hat, eine Sache durchzu-
sehen, sich darauf gefaßt machen kann, und dadurch wird's schon leichter.
Denn die Schwierigkeit wovon zeigen heißt nicht "schwermachen", und uns
die Schwierigkeit verhehlen heißt nicht "leichtmachen". Überhaupt muß
man in Wissenschaften, wo der Gegenstand von Wichtigkeit ist, die Schwie-
rigkeiten nicht verhehlen, teils damit dadurch die seichten Köpfe in
etwas verscheucht werden, teils damit im Fortgange sich diese Schwierig-
keiten nicht von sich selbst äußern und das Übel noch ärger würde.
(Schwer ist's, das Schwere zu zeigen.)
/ Wer alles für schwer hält, ist geniert oder peinlich. Wer alles für
leicht hält, ist leichtsinnig oder unbedacht, nämlich auf die Schwierig-
keiten. So geht es auch in Ansehung der Gesinnungen. Diejenigen, die
leichtsinnig sind, sind doch besser zu gebrauchen, als die Peinlichen,
weil erstere mehr Mut haben. - Wem alles schwer scheint, der ist schwer-
fällig. Wem alles leicht läßt, der hat ein air dégagé. Voltaires und
Wielands Verse scheinen, wenn man sie liest, sehr leicht zu sein. Man
sollte denken, man könnte selber so schreiben, und es hätte dem Verfasser
wenig Mühe gekostet, da es doch im Gegenteil die Wirkung einer langwie-
rigen, angestrengten Arbeit ist. Das, was einem Andern schwer ist, macht
einem jeden andern auch Plage. Z.E. wenn man jemanden etwas Schweres tra-
gen sieht, so kommt es einem vor, als ob man selber von der Last gedrückt
wird.
/ Die Menschen fassen nach der Verschiedenheit ihrer Temperamente ihr
Gedanken oder Urteile leicht oder schwer. 1) die Sanguinischen finden
eine Sache beim ersten Anblick leicht, übernehmen die Ausführung hitzig,
lassen aber ebenso bald davon ab. Alles versprechen, nichts halten, ist
bei ihnen etwas Gewöhnliches. 2) Der Melancholische findet alles
schwer, weil er auch die geringste Kleinigkeit als sehr wichtig vorstellt.
3) Der Phlegmatische findet alles beschwerlich, weil er sein Vergnügen
in der Gemächlichkeit sucht.
/|P_199
/ Das Leichtlassende ist eine große Vollkommenheit im Umgange. Die
Menschen scheinen hierin etwas Sympathisches zu haben. Denn wenn wir
sehen, daß es jemandem in der Gesellschaft schwer wird, einen Vortrag
oder Geschäfte auf eine ungezwunge Art zu tun, so ängstigen wir uns
selbst wegen der Verlegenheit eines anderen ab. (Wenn es einem jungen
Kanzelredner anzumerken ist, daß er nicht mehr weiter fort kann, so
ängstigt sich ... die ganze Gemeine mit.)
/ (Der Umgang muß nicht immer ernsthaft und steif sein.)
/ Darum muß auch e.g. das Spielen der Gesellschaft, weil es eigent-
lich eine Sache ohne Zweck sein soll, sehr ungezwungen geschehen, indem
der geringste Schein des Eigennutzes in der Gesellschaft sehr mißfällt
/ (Man muß nicht immer Schwierigkeiten hervorsuchen, wo keine sind.
Es pflegt dies immer zu geschehen, wenn man in Furcht ist. Vorzüglich
kann man sich nicht auf die Richtigkeit eines Schlusses verlassen, den
ein Kriegsrat abgefaßt, welcher in Gefahr sich befindet. Dies war der
Fall, als vor der Schlacht, in der der Herzog von Bevern unglücklich
war, der Kriegsrat den furchtsamen Schluß faßte, der auch mißlang.)
/ Das Schwere erfordert 1.) Anstrengung, d.i. eine große Bemühung in
kurzer Zeit oder eine vorübergehende Bemühung, 2.) Emsigkeit, d.i. ein
geringe, aber anhaltende Bemühung.
/ Die Anstrengung ist ein sicherer Beweis der Faulheit. (Das Sprich-
wort: Der Faule arbeitet sich zu Tode, ist sehr wahr. Denn weil er ger-
ne bald fertig sein will, so ruiniert er seine Kräfte auf einmal.)
Emsigkeit ist besser, als Anstrengung. Sie schwächt nicht, sondern gibt
wegen der beständigen Übung immer mehr Kräfte. Denn eine langsame und
anhaltende Arbeit ist gleichsam eine Erholung. Man sieht dies deutlich
wenn man in Preußen die Arbeit der Eingeborenen und der Salzburger
vergleicht. Will man die Anstrengung vermeiden, so darf man nur die
Zeit verlängern und die Arbeit auf die Art verteilen. Zuweilen erfor-
dern manche Wissenschaften bloße Emsigkeit, e.g. die Metaphysik. 1.)
Sanguinische Leute übernehmen gern eine leichte und kurze Arbeit.
2.) Die cholerischen sind geschäftig und wählen mannigfaltige Arbeit.
3.) Phlegmatische arbeiten zwar stetig und haben gerne eine leichte und
lange Arbeit. 4.) Melancholische wählen eine schwere und lange Arbeit.
/ 8. Gewohnheit und Angewohnheit. - 1.) Gewohnheit kann betrachtet
werden als der Grund einer Leichtigkeit, 2.) Angewohnheit als der
Grund einer Notwendigkeit.
/ Die Gewohnheit erleichtert alles. Denn durch die öftere Ausdehnung
gewisser Handlungen werden wir aller sich dabei befindlichen Urteile
inne. So ist die Geduld eine Gewohnheit, einen gewissen Schmerz zu
ertragen. Allein sie macht nicht nur das Schwere leicht, sondern auch
das Beschwerliche erträglich. Der Branntwein ist für den, der ihn zum
erstenmal trinkt, unerträglich. Wenn man sich aber an ihn gewöhnt, so
wird er zuletzt anreizend.
/ Die Angewohnheit ist eine Gewohnheit, die eine Notwendigkeit her-
vorbringt, etwas zu tun. E.g. jemand trinkt im Anfange nur etwas Brannt-
wein, er gewöhnt ihn sich aber so am Ende an, daß er ohne ihn nicht
leben kann. (So sterben diejenigen, welche sich Opium angewöhnen und
es einmal nicht genießen können.) Das Stammeln oder gewisse Wörter,
die man ohne Bewußtsein immer im Munde führt. Jemand hatte sich ange-
wöhnt, oft zu sagen "sozusagen". Nun wollte er sagen, er sei fromm ge-
wesen und sagte: "Ich bin sozusagen fromm gewesen." Wenn er es aber
nur sozusagen gewesen ist, so ist er gar nicht fromm gewesen. Oder es
hat sich jemand das Schlafen nach dem Essen angewöhnt, so wird's ihm
nachher notwendig, daß er alle Nachmittag schlafen muß. - Alle An-
gewohnheit ist ein Fehler, in dem das Gemüt dadurch dependent wird.
/ Gewohnheiten gehen auch sogar auf Empfindungen, daß man weder das
Angenehme noch das Unangenehme fühlt. Z.E. Das Geräusch auf der Straße
ist jedem, der es nicht gewohnt ist, unangenehm. In der Jugend
muß man sich gewöhnen, alle Beschwerden auszuhalten, um sie gewöhnt
zu sein. Gewohnheit macht auch Krankheit erträglich.
/|P_200
/Das Gute wird durch Gewohnheit alltäglich
und verliert ganz seinen Reiz. Daher betrügt sich der sehr,
wer nur nach Schönheit heiratet. Durch die Angewohnheit wird der
Mensch mechanisch. Es ist einen Krankheit des Gemüts. Georg, ein Mit-
glied von der Akademie in Petersburg erzählt von den Tungusen, daß
sie so gewohnt sind die Wahrheit zu reden, daß sie nie lügen. (Doch
ist diese Ehrlichkeit noch nicht Redlichkeit.) Derjenige ist redlich,
der es aus Grundsätzen und nicht aus Gewohnheit ist. (Denn es gibt auch
eine Ehrlichkeit durch Gewohnheit, welche aber der Verfügung unter-
worfen ist.)
/9. Von der Attention und Abstraktion. - 1. Die Aufmerksamkeit ist eine
Erkenntniskraft zur Klarmachung der Vorstellungen. 2. Die Abstraktion
ist eine Handlung, (wodurch die Aufmerksamkeit vorsätzlich abgewandt
wird), welche die Klarheit der Ideen verhindert. Sie verhält sich zu
jener wie das Negative zum Positiven und ist folglich schwerer als die
Attention, weil wir vermittels ihrer etwas entgegenarbeiten müssen.
/ Die Aufmerksamkeit ist 1.) intentio, wenn ein großer Grad der Auf-
merksamkeit erfordert wird, die Vorstellung klarzumachen und zu erhalten.
2.) protentio, das Vermögen einen lange Zeit eine Vorstellung in sich
klar zu erhalten. 3.) extentio, das Vermögen, wo man die Aufmerksam-
keit auf einmal auf viele Gegenstände wendet.
/ Wenn auch eine Sache unangenehm ist, so richten wir doch unsere
Aufmerksamkeit darauf, welche unwillkürlich geschieht. Z.B. wenn man
ein unangenehmes Geschrei auf der Straße hört und obgleich man
wünscht, daß das Geschrei aufhören möchte, so wartet man doch ob's
nicht wiederkommt. - Wenn jemandem ein Knopf am Rock oder ein Vorder-
zahn fehlt, oder er eine starke Pockengrube oder er ein Pflaster im
Gesicht hat. Hypochondrische Leute sind von solcher Attention sehr
geplagt, die ganz unwillkürlich ist. Z.E. Wenn sie medizinische Bücher
lesen, so attendieren sie auf ihr Gefühl und glauben alle Krankheiten
selber zu haben. Dieser unwillkürlichen Aufmerksamkeit wird negatio
(Gedankenlosigkeit) entgegengesetzt. Sie besteht darin, wenn man keine
Aufmerksamkeit anwendet und nachher nicht weiß, was man gedacht hat.
Man läßt da seine Gedanken herumschwärmen und wendet seine Aufmerksam-
keit auf keine Vorstellung.
/ Die Abstraktion ist eine willkürliche Handlung, wodurch ich meine
Aufmerksamkeit von etwas wegwende, um die Vorstellung davon bei mir
zu verdunkeln. Dies ist sehr schwer und erfordert Anstrengung. Ab-
strahieren ist also, die Aufmerksamkeit von etwas wirklich abwenden
und heißt nicht unterlassen, sondern das Gemüt anspannen, denn beim
Attendieren habe ich bloß eine Vorstellung, die ich zu unterhalten
suche. Die Abstraktion ist wie die Attention willkürlich und unwill-
kürlich. Eine willkürliche Abstraktion heißt Distraktion, denn da
ist man zerstreut und verwendet die Stärke der Aufmerksamkeit auf
andere Gegenstände. Die Abstraktion von gewissen Gegenständen ist
schwerer als Attention. Viele Menschen werden dadurch unglücklich,
weil sie nicht abstrahieren können, und von Widerwärtigkeiten des
Lebens abstrahieren zu können, ist notwendig. Durch die Abstraktion
würde man jeden Reiz zum Bösen vermeiden, und das Sprichwort "Schimpf-
wörter und Pillen muß man nicht kauen" ist sehr lehrreich. (Eben-
falls ist's nicht gut, wenn man das Lächerliche einer Sache nicht ab-
strahieren kann, wie Kindern nach einer lustigen Tischgesellschaft
bei dem Gebete das Lachen ankommt. Sie können sich nicht auf einmal
aus einer lachenden Stellung in eine ernsthafte versetzen.) Am wenig-
sten kann man vom lächerlichen abstrahieren, wenn man den Schein des
Ernstes haben will. Von den Tiryntiern erzählt man, daß sie sich gar
nicht des Lachens haben enthalten können. - Andere Menschen sind wie-
der unglücklich, weil sie zu wenig attendieren; denn z.E. der wenig
attendiert, macht nicht so geschwind sein Glück als der sehr atten-
diert. Die Stoiker forderten zu ihrer Glückseligkeit eine Sache:
Selbstbeherrschung in Ansehung der Attention und Abstraktion. Spekula-
tive Köpfe sind entgegengesetzt den empirischen. Die ersteren können
gut abstrahieren, sie denken nichts in concreto, sondern alles im
allgemeinen. Ein Kopf ist speculativ, wenn er seinen Gedanken nach-
geht. Die letzteren sind solche, die empirisch im Gebrauch ihres
Verstandes sind, und diese können sehr attendieren, ohne aber abstra-
hieren zu können. (Empirische haben den Vorzug, daß sie sich auf
Reisen den Weg merken und ihn so leicht wiederfinden, welches speku-
lative nicht können. Dagegen können spekulative Köpfe in den Fall
kommen, nach einer Erzählung, auf die sie nicht attendiert, eine
dumme Frage zu tun.)
/ Die größte Vollkommenheit des menschlichen Gemüts ist, wenn es
alle seine Vorstellungen in Ansehung ihrer Entstehungsart und Dauer
in seiner Gewalt hat. Wir haben aber leider sowohl eine unwillkürliche
Aufmerksamkeit, als eine unwillkürliche Abstraktion, wie schon erwähnt
ist.
/|P_201
/ I. Was zuerst die Attention und ihr Gegenteil die Distraktion
betrifft, so merken wir also an:
/1.) daß das Lesen der Romane und aller solcher Schriften, die man
nur obenhin liest, distrakt macht, d.i. wir werden außerstand ge-
setzt, wichtigere Schriften mit Attention zu lesen.
/2.) Die unwillkürliche Aufmerksamkeit haftet besonders auf unange-
nehmen Sachen.
/3.) Die Hypochondristen attendieren durch eine Krankheit unwillkürlich
Daher kommt's, daß sie z.E. in der Gesellschaft über eine längst
vergangene Sache bei sich selbst lachen, weil ihre Aufmerksamkeit
darauf lange geheftet bleibt.
/4.) Wir können die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand nur durch Auf-
munterung verlängern, indem sie, wenn sie lange auf einen Gegenstand
geheftet ist, nach und nach eingeschläfert wird.
/ II. Die Abstraktion ist
1.) objektiv, wenn ich von den übrigen Mannigfaltigkeiten an einem
Gegenstande abstrahiere, z.E. der Begriff von einem Tiere überhaupt.
2.) subjektiv, wenn ich von meinem Gemütszustande abstrahiere. Dieses
kann geschehen.
/ a) Wenn ich mich in eine willkürliche Gedankenlosigkeit versetze.
Wer das in seiner Gewalt hat, kann, wenn er nur will, sein Gemüt auf
eine besondere Art aufmuntern und stärken.
/ b) Wenn ich von gewissen Empfindungen abstrahieren kann. Diese
Art von Abstraktion kann auch viel zu unserem Glück beitragen. Wie
mancher würde z.E. eine würdige Frau bekommen und eine glückliche
Ehe führen, wenn er von einem Fehler im Gesichte abstrahieren konnte.
/ Das Vermögen der Abstraktion zu kultivieren ist sehr gut. Es hat
seinen Nutzen durch das ganze menschliche Leben.
/ Das Gegenteil der Abstraktion ist die Dissipation, Zerstreuung.
Man wird zerstreut, wenn man, indem der Andere erzählt, allerhand
excursiones mit seiner Einbildungskraft dabei macht und so von der
Hauptsache dabei abkommt.
/10. Von den Haupt- und adhärierenden Vorstellungen. - In den Vorstel-
lungen sticht immer eine Vorstellung von der andern hervor und heißt
Hauptvorstellung, perceptio primaria vel complexa, zum Unterschied
der Nebenvorstellungen, perceptiones adhaerentes, die sich auf sie
beziehen.
/ In der Malerei heißt die Hauptvorstellung $ergon$ (ergon) und die
Nebenvorstellung $parergon$ (parergon), (z.B. auf einem Kupferstich,
wo der Tod des Generals Wolf vor Quebeck vorgestellt ist, nennt man
Hauptvorstellung den General selbst, wie er durch eine feindliche
Kugel getötet wird. Die übrigen Nebenvorstellungen, Bäume, Felder
blessierte Soldaten, nennt man $parerga$.) Zu den Parerga rechnet
man die Arabesken. (Sie sind $parerga$, die die Welt phantastisch vor-
stellen.)
/ Die Hauptvorstellung ist subjektiv. Die Nebenvorstellung ist ob-
jektiv.
/ Die Nebenvorstellungen sind sehr wichtig zur Entscheidung des ge-
meinen Effekts. Perceptiones adhaerentes sunt vehicula perceptionum
primariarum (die Nebenvorstellungen sind Hilfsmittel wörtlich "Fahrzeuge" der
Hauptvorstellungen
/ Die Hauptvorstellungen müssen immer Nebenvorstellungen haben. Z.E.
ein Prediger, wenn er predigt, hat immer ein Thema. Das Thema ist die
Hauptvorstellung und die andern Vorstellungen sind die Nebenvorstel-
lungen.
/ Es ist aber besonders, dass etwas objektiv oft eine Hauptvorstel-
lung ist, die wir doch subjektiv zu einer Nebenvorstellung machen,
und umgekehrt. Z.E. Wenn ein Prediger, nächst einer schönen Bildung
einen guten Anstand zeigt, so finden wir seine Predigt vortrefflich.
Die Ursache ist, sein Anstand, der eine Nebenvorstellung ist, wird
/|P_202
/bei uns zur Hauptvorstellung, und der Inhalt seiner Predigt, die die
Hauptvorstellung ist, wird Nebenvorstellung. NB. Anständigkeit ist
eine Nebenvorstellung in Ansehung der moralischen Vollkommenheit von
der Ehrlichkeit und Redlichkeit. - Rousseau sagt: ein schlechtes Bild
muß einen goldenen Rahmen haben, weil es schlechter beurteilt werden
würde, wenn der Rahmen nicht vergoldet wäre. Das Bild ist zwar an
sich die Hauptvorstellung, wird aber zur Nebenvorstellung,
weil der goldene Rahmen zur Hauptvorstellung wird. Und daher kommt's
daß ein schlechtes Bild im goldenen Rahmen nicht so wie im schlechten
auffällt, weil im letzten Fall das Bild die Hauptvorstellung bleibt
und seine Fehler leicht erkannt werden.
/ Auch im Umgange werden wir oft auf die Art getäuscht und spre-
chen oft einem Menschen Verstand und Geschicklichkeit zu, die doch
eigentlich seinem kleide zukommt. Die Russen haben ein Sprichwort:
"Man empfängt den Gast nach seinem Kleide und begleitet ihn nach sei-
nem Verstande." (Sprichworte lehren den Volkswitz kennen.) - Kleider
machen Leute. -
/ Alle Zeremonien sind Nebenvorstellungen, auf welche die Aufmerk-
samkeit mehr als auf die Realität bezogen wird. Sie sind notwendig
für Menschen, die wenig aufgeklärt sind, wo aber die Begriffe aufge-
klärt sind, müssen sie wegfallen, weil sie sonst nur die Hauptvor-
stellungen verdunkeln. Wenn heilige Gegenstände Rührung hervorbringen
so ist dieses Andacht, und sofern sie bessern, so ist es Erbauung. die
Rührung heißt nicht das, sobald sie vorbei ist, so ist auch der Vor-
satz vorbei. Aber man muss belehrt oder aus Einsichten gerührt werden.
/ Obgleich ein gänzlicher Mangel von Nebenvorstellungen trocken
macht - die Trockenheit ist oft sehr groß und wirkt stark - so müs-
sen wir uns doch sehr hüten, die Nebenvorstellungen auf Kosten der
Hauptvorstellungen gar zu sehr zu erhöhen. so verliert z.E. ein schö-
nes Gemälde viel, wenn es einen kostbaren Rahmen hat, und ein ange-
sehener Mann verliert nicht weniger, wenn er ein kostbares Kleid an-
hat. Denn der grösste Teil unserer Aufmerksamkeit wird alsdann auf
den Rahmen und auf das Kleid gezogen. (Façon ist das, wodurch sich
Dinge rekommandieren. Aber wo nur Accessoria den Wert geben sollen,
geht bald alle wahre Achtung verloren, oft mehr, als es in Ansehung
des wirklichen Werts sein dürfte.
/ Man tadelt Shakespeare, daß er in seinem Trauerspiel "König Lear"
einen Narren auftreten läßt, weil die Vorstellung vom Hauptgegen-
stande dadurch abgezogen werden könnte. Er verdient aber im mindesten
nicht diesen Tadel, denn sein Stück würde nicht natürlich sein. Denn
die Erfahrung aus dem gemeinen Leben lehrt uns, daß wenn in einem
Hause auch noch so etwas Trauriges sich ereignet, immer etwas Lächer-
liches vorfällt - am leichtesten geschieht das letztere unter dem
Gesinde, das eben nicht einen so großen Anteil an der Trauer, wie
die Familie selbst, nehmen kann.
/ Wenn die Ideen so eingeteilt werden, daß die Hauptvorstellungen
hervorragen und die Nebenvorstellungen kleiner werden, so nennt man
diese Klarheit Bündigkeit. Wenn man alles in einer Vorstellung durch-
sehen kann und nichts Dunkeles darin ist, so nennt man dies Faßlich-
keit.
/Anmerkung. Welche Mittel gehören dazu, um den gang unserer Vorstellun-
gen zu befördern? Sie sind sehr verschieden. Es kann jemand am besten
denken, wenn er an dem Kamin beim Feuer sitzt und die Flame spielen
sieht. Ein Anderer, wenn er am rauschenden Bach sitzt und das Wasser
da so betrachtet. Ein Dritter denkt, wenn er eine grosse und weite
Ebene vor sich sieht. Ein Vierter kann nicht ohne Tabakpfeife denken
und so gibt es verschiedene, wo einer immer etwas anderes hat, das
ihn äußerlich beschäftigen muß. Man kann dies nicht anders als auf
solche Weise erklären. Wenn wir unser Gemüt anstrengen wollen, damit
wir unsern Zweck erreichen, so muß das Gemüt frei und von äußern
/|P_203
/Sachen ungestört sein. dies geschieht, wenn wir mit unsern Sachen be-
schäftigt sind, die aber Zwecke sind. Diese äußeren Sachen verhindern
daß das Gemüt noch andere Eindrücke erhält, und weil das Ganze
keine Aufmerksamkeit zum Zweck hat, so bleibt das Gemüt frei, und man
kann bei der äußerlichen, aber zwecklosen Beschäftigung der Sinne
frei denken.
/11. Von der Überredung und Überzeugung. - Die Überzeugung ist ein
objektiver und die Überredung ein subjektiver Grund des Fürwahrhal-
tens. Wer leicht zu überreden ist, dem kann man auch ebenso leicht
was ausreden. Die Leichtigkeit überredet zu werden, liegt in der Un-
erfahrenheit von der einen und der Überlegenheit von der andern Seite
Manche Leute lassen sich so leicht etwas ausreden, daß sie dieses
tun, wenn sie auch schon vom Gegenteil überzeugt sind.
/ Von den übrigen sinnlichen Erkenntniskräften werden wir in der
Folge handeln. Nun merken wir noch an, daß die Vorstellungen, um
sich zu beleben, oft untereinander eine Gemeinschaft machen, wenn sie
auch in Ansehung des Objekts noch so sehr unterschieden sind. Z.E. wenn
ich am Kaminfeuer bin, so kann ich an Dinge, die mit dem flammenden
Spiel des Feuers keine Ähnlichkeit haben, doch desto lebhafter denken.
Die Ursache ist: unsere Organe werden durch das phantastische Spiel
des Feuers agitiert, doch nicht so stark, daß diese Eindrücke unse-
re Aufmerksamkeit von andern Dingen, an die wir denken, auf sich
ziehen sollten, sondern sie wird in Ansehung anderer Dinge durch die-
se Reizung desto lebhafter.
/12. Von den Sinnen. - Der Sinn ist die Rezeptivität von Vorstellungen
insoweit wir von Gegenständen affiziert werden. Man teilt die Sinne
ein in
/1) die äusseren Sinne oder den Zustand des Körpers, wenn er affiziert
wird.
/2) den innere Sinn oder den Zustand des Gemüts dabei.
/3) Die Organe.
/ Von den äusseren Sinnen. Die äusseren Sinne würde ich einteilen.
/I. In den Vitalsinn oder das Gefühl in sensu latiori, welches ein Sinn
ist, der auf keine besondere Organisation eingeschränkt ist, sondern
sich über das ganze Nervensystem verbreitet. Z.E. Das Gräuseln, der
Schauer affiziert den ganzen Körper, ohne daß ich dabei den Gegen-
stand mittelbar oder unmittelbar empfinde und nur vermittelst der Vor-
stellungen meinem ganzen Nervenbau eine solche Reizung gebe. Die
Empfindung der Wärme und Kälte gehört auch hierher. Auf diesem Sinn
beruht die Beförderung oder Hemmung des Lebensprincipii, d.i. die
Empfindungen der Lust oder Unlust und nicht auf den Gegenständen,
wie wir in der Folge sehen werden.
/II. In den Organsinn. Obgleich wir einen allgemeinen oder Vitalsinn
haben, so sind doch die Nerven in verschiedenen Teilen des Körpers
so ineinandergewebt, daß sie verschiedener Eindrücke fähig sind oder
sie formieren die fünf Organe.
/ Einige von diesen Organen sind mehr objektiv, d.i. ich nehme durch
sie mehr den Gegenstand selbst, als die Eindrücke desselben wahr,
andere mehr subjektiv, wenn ich mehr die Eindrücke, als den Gegen-
stand selbst empfinde. Oder einige Sinne sind mehr Erkenntnis, andere
mehr Gefühl (bloß Genuß).
/ Die objektiven Sinne sind:
/a) das Fühlen, tactus. Das ist sehr leicht vom Gefühl zu unterschei-
den. Denn dieses ist ein Vitalsinn, wo ich mir kein Objekt vorstelle,
sondern nur meine Nerven affiziert werden. Durchs Fühlen soll ich ein
Objekt erkennen. Dieser Sinn ist zwar fast über den ganzen Körper ver-
breitet, vorzüglich aber äußert er sich in den Fingerspitzen. Er
ist der Hauptobjektivsinn und nur vermittelst desselben können wir
/|P_204
/die Gestalt und Masse der Körper wahrnehmen. Denn die Augen stellen
uns die Gegenstände nur wie Flächen vor, weil wir aber durch das
Gefühl schon oft vorher den Begriff von der Substanz der Körper er-
halten haben, so wird es uns auch ganz geläufig, daß wir mit den
Augen die Körper auch in ihrer Dicke zu sehen glauben. Versuche, die
man mit Blindgeborenen angestellt hat, beweisen dieses hinlänglich.
Sie sehen z.E. anfänglich eine Kugel nur wie einen Zirkel und konnten
den Hund von einer Katze nicht eher unterscheiden, als bis sie sie
befühlt hatten.
/ (Ein Blinder konnte in England zum Wegebesserer gemacht werden,
weil er durch Fühlen mit dem Stock sein Amt verwaltete. Blinde kön-
nen die Farben mit den Fingerspitzen unterscheiden. Nach ihrer Aussage
ist weiß und rot im Anfühlen rauh, schwarz, blau und violett glatt.
Der Abgang eines Sinnes wird dadurch ersetzt, daß die andern schär-
fer werden.)
/b) das Gehör. Es ist auch ein objektiver Sinn. Denn ob er mich gleich
nicht von der Gestalt und Masse eines Körpers unterrichtet, z.E. mir
keinen Begriff von der Gestalt eines Posthorns geben kann. so ist
er doch insoweit objektiv, daß er mich von der Gegenwart eines Kör-
pers überzeugt, und dann auch eine Vermittlung des Commercii zwischen
dem Gegenstande und unsern Empfindungen abgibt. Das Hören geschieht
vermittelst der Luft, wozu Organe in unseren Ohren sind, um den
Schall aufzunehmen. Dieser Sinn hat eine große Feinheit. (Z.B. Da die
Russen Danzig belagerten, hörte man die Kanonade bis in Königsberg.
Dies kam daher, weil das Haff dazwischenliegt, welches keine Wellen
hatte, wodurch der Schall hätte aufgehalten werden können.) - Wenn
wir ein Posthorn blasen hören, so können wir nicht unterscheiden, ob
die Post ankommt oder abgeht. Musik macht immer mehr Erschütterung.
Eine Saite, die den tiefsten Ton angibt, hat in 1 Sekunde 50 Bebun-
gen. Die Saite, die den höchsten Ton angibt, hat in 1 Sekunde 5000
Bebungen, und das Gehör kann da gleich empfinden, entweder wie der
Ton wenigere oder mehrere Bebungen hat. Kein Sinn dringt lebhafter
und tiefer. Man erzählt z.E., dass jemand durch Musik seine Würmer
abführte - und es ist wahrscheinlich: die Nerven werden erschüttert,
diese teilen ihre Erschütterung den Eingeweiden mit, und die Würmer,
die keine Erschütterung vertragen können, lassen von selbst los.
Durch das Gehör können wir uns eine Menge Dinge kommunizieren. Ver-
mittelst des Sehens könnte man es nicht tun, etwa nur durch Mienen,
Pantomimen u. dgl. (er ist der geselligste Sinn und gereicht oft
blinden Alten zum Troste.)
/c) Das Gesicht. Es ist auch ein mehr objektiver Sinn - (Wer sehen
lernen will, muß fühlen können. ein Blinder wollte lieber ein Haus
als einen Menschen sehen, weil er sich durchs Gefühl von der Gestalt
des letzteren unterrichten konnte. Dies ging aber in Absicht des Hau-
ses nicht an.) Daher muß man auch Gegenstände, die in die Augen fal-
len sollen, nicht so sehr erheben, daß ich mehr den Eindruck, den
sie auf mich machen, als den Gegenstand selbst empfinde. Z.E. Wenn
man die Spitzen hoher Türme so stark vergoldet, daß man sie nicht
mehr ansehen kann. Das Organ des Gesichts ist ein großes Mittel der
Erkenntnis. Dieses kann unter allen am wenigsten ermüdet werden. Es
hat einen grossen Umfang, denn es sieht viele 1000 Meilen weit, bis
zu den Sternen. Das Sehen ist aus diesem Grunde noch grösser. Die
Sonne wird den 3000. Teil des Sonnenlichts auf den Mond und dieser
wirft den 3000. Teil von dem 3000. Teil des empfangenen Lichts auf die
Erde zurück. Diesen kleinen Grad von Licht kann ein gutes Auge sehen.
/ (Der nächste Fixstern ist der Sirius (Hundsstern). Er ist der hell-
ste. Dergleichen Gruppen von Sonnensystemen, wie z.B. die Milchstrasse
die nur wie ein weisser Strich unseren Augen erscheinen, nennt man
/|P_205
/Nebelsterne. Nach des grossen Herschel Berechnung braucht das Licht
von einem solchen Nebelstern 10_000 Jahre, ehe es auf die Erde kommt.
Wir sehen also nur immer wie der Nebelstern vor 10_000 Jahren ausge-
sehen hat! Da man die außerordentliche Schnelligkeit des Lichts,
welches von der Sonne in 8 Minuten in unsere Augen kommt, kennt, so
kann man sich die entsetzliche Entfernung eines solchen Nebelstern
von der Erde denken.)
/ Wenn der Mond im ersten Viertel ist, und man sich so stellt, daß
das erleuchtete Viertel von irgendeinem Gegenstande z.E. von einem
Schornstein, verdeckt wird, so kann man den übrigen Teil des Mondes
erblicken, welcher nicht erleuchtet ist.
/ Gesicht und Gehör sind von der Beschaffenheit, daß sie die unend-
lichen Grade bemerken können, in die die Augen das Licht und die Ohren
die Bebungen der Luft teilen.
/ Die subjektiven Sinne sind:
/a) Der Geruch,
/b) der Geschmack.
/ Sie sind beide Sinne, durch die der Gegenstand genossen wird.
/ Der Einfluß der Sinne ist:
/1.) mechanisch, d.i. der Einfluß durch Druck und Stoss. Hiezu gehö-
ren die objektiven sinne, nämlich fühlen, Hören, Sehen.
/2.) chemisch, d.i. der Einfluß durch Auflösung. Hieher gehören die
subjektiven Sinne: Geruch und Geschmack.
/ Riechen und Schmecken sind also chemische Sinne. Denn alles, was
wir riechen und schmecken, löst sich erst auf und wir mit den Säften
unseres Körpers vermischt. Man kann oft vom häufigen Geruch beinahe
satt werden. Diese Sinne rühren daher auch unseren Körper am kräftig-
sten unter allen und der Geschmack verschafft uns besonders das mehrste
Vergnügen, so gern auch die Menschen diesem Bekenntnisse auszuweichen
suchen. Denn niemand rechnet sich zur Ehre an, einen guten Appetit
zu haben. Man nennt auch die Sinne grob, teils weil sie durch gröbere
Materie affiziert werden, teils weil sie unsere Erkenntnis nicht
promovieren.
/ Anmerkung. Je weniger die Sinne lehren, desto mehr affizieren sie.
Der Geruch und Geschmack affizieren mehr. Gefühl, Gesicht und Gehör
lehren mehr.
/ Fühlen, Hören und Sehen sind mechanische Sinne. Das Ffühlen nennt
man den gröbsten von den mechanischen Sinnen. In Ansehung der Materie
ist er auch wirklich gröber, als z.E. der Geruch, unendlich feiner
aber, was die Erweiterung unserer Erkenntnisse anbetrifft. Man soll-
te ihn also nicht den gröbsten, sondern den einfachsten Sinn nennen.
Das Gesicht ist in beider Rücksicht ein feiner Sinn. Das Gehör ist
zwar in Ansehung der Materie nicht so fein als das Gesicht, weit wich-
tiger aber in Ansehung der Erweiterung unserer Erkenntnis. Der Sinn
des Gesichts affiziert mehr, als der Sinn des Gehörs. Der Sinn muss
nicht zu sehr subjektiv, sondern mehr objektiv affiziert werden. Wenn
die Organe zu sehr erschüttert werden, so werden wir gedankenlos.
/ Was die Entfernung anbetrifft, in der die Sinne affiziert werden,
so merken wir an: daß je feiner die Materie ist, von der die Sinne
affiziert werden, einen desto größeren Umfang diese Sinne haben.
1) Das Gefühl und 2)der Geschmack werden nur durch unmittelbare Be-
rühre affiziert. 3) der Geruch schon in einer größeren Entfernung,
4) das Gehör in einer noch größeren Weite. 5) Das Gesicht erstreckt
sich auf Weiten, von denen wir beinahe die Grenze nicht wissen.
/ Anmerkung. Die Farben haben eine besondere Analogie mit den Tönen.
Die Abteilung der sieben Töne in einer Oktave und der sieben Farben
in Regenbogen beweisen dieses schon einigermaßen. Ferner, so teilt
das Gesicht den Raum und das Gehör die Zeit in lauter gleiche Teile.
/|P_206
/ Was die Sinne in Ansehung des Wohlbefindens und der Selbsterhal-
tung betrifft. 1) Der Geruch ist in dieser Rücksicht der wichtigste
Sinn. Den Geruch kann man einen Geschmack der Ausdünstungen nennen.
Der Sinn des Geruchs ist von außerordentlicher Feinheit und größer
als der Geschmack. Dem Menschen im civilisierten Zustande scheint er
sehr entbehrlich, ja beschwerlich zu sein, weil sein Nutzen nur nega-
tiv ist, d.i. weil er dem Menschen zur Warnung dient, alle faulenden
Sachen, deren Ausdünstung für den Menschen ein Gift ist, von sich zu
entfernen. Wer nach nichts riecht, riecht gut. Die Menschen bringen
es nicht so weit wie die Raubvögel, die das Aas schon meilenweit
riechen können. Der Geruch kann am mehrsten auf Vitalempfindung wir-
ken. - Die römischen Damen würden nicht sehr reinlich sein, wenn sie
nicht einen feinen Geruch hätten. - Von vielen Dingen wirkt der Geruch
sehr stark, z.E. Tuberosen, Lilien. (Ein Mensch, der so außerordentlich
zart ist, ist nicht glücklich. - Empfindsam sein - heißt Empfindungen
haben, wenn man will. Empfindlich sein - heißt leicht wodurch in Be-
wegung gebracht werden oder zum Schmerz leicht durch Gegenstände affi-
ziert werden.) Dem Menschen im natürlichen Zustande dient der Geruch
zum Spüren. Der Wilde in Nordamerika riecht weiter Feuer als der
Europäer den Rauch sehen kann.
/ Im Orient ist man sehr fürs Räucherwerk - (vermutlich weil sich
die übeln Gerüche in der Wärme leicht ausdehnen.) Harzige Dinge, die
etwas Säure haben, affizieren nicht so sehr die Lunge. In Hindostan
ist das Räuchern von grosser Wichtigkeit, so daß z.E. 2 %.Pfund vom
Paradies- oder Aloeholz 100 Gulden kosten. Der Geruch ist der Sinn
des Wahns. Er allein produziert den Ekel, und wenn wir etwas für
ekelhaft ansehen, so geschieht dies darum, weil wir sowas in Gedan-
ken wirklich riechen oder schmecken. Der Geruch ist einer großen
Verfeinerung fähig. Wilde und Kinder scheinen wenig den Unterschied
des Wohl- und Übelriechens zu empfinden. Ferner ist der Geruch kein
gesellschaftlicher Sinn, und da der Geruch einer Sache unmöglich von
vielen zugleich vertragen werden kann, so muß man sich sehr in acht
nehmen, mit parfümierten Kleidern in Gesellschaft zu gehen, weil es
einer Grobheit ähnlich ist, eine ganze Gesellschaft zu zwingen, ein
Gericht zu genießen, sie mag es wollen oder nicht.
/ Das Gefühl ist in Ansehung des Wohlbefindens nach diesem der wich-
tigste Sinn. solange Kranke ihre Schmerzen fühlen, so ist noch Hoff-
nung zu ihrer Genesung, sobald dieses aber nicht mehr ist, so ist
es mit ihnen gemeiniglich aus. Viele, welche noch eine so starke
Konstitution zu haben glauben, wenn sie selten Schmerzen empfinden,
haben gemeiniglich ein schon abgenutztes Gefühl.
/ Den Geschmack hält man, was das Wohlbefinden anbetrifft, für den
wichtigsten Sinn, vermutlich weil er am mehrsten kostet, unterhalten
zu werden. Er ist eine Art von Prüfung der Natur oder der Nützlich-
keit und Schädlichkeit der Dinge. Er ist gleichsam ein vorhergehendes
Genießen. Er scheint ein notwendiges Organon der Natur zu sein. Denn
man kann durch Vorübung des Geschmacks leicht erinnert werden, was
unserer Natur zuträglich ist, so schmecken diese Sachen besser im
Vorgeschmack, als im Nachschmack. - Einige Dinge werden mehr durch
den Schlund geschmeckt (z.B. Rheinwein). - Es ist sonderbar, daß das,
was uns wohlschmeckt, der Körper eher vertragen kann, als was uns
übel schmeckt. Unsere Zunge scheint folglich die Prüfung zu sein, die
da sogleich bestimmt, ob eine Speise der Konstitution eines Menschen
zuträglich ist oder nicht. Der Geschmack ist ferner ein sehr teilneh-
mender Sinn und lässt sich nirgends so gut als in Gesellschaft befrie-
digen. Darum muß der Wirt auch immer darauf bedacht sein, daß er
solche Gericht vorsetzt, die bei den mehrsten in der Gesellschaft
beliebt sind.
/|P_207
/Anmerkung. Das Tabakrauchen und Tabakschnupfen sind Dinge, deren
man sich nicht zur Befriedigung des Geruchs und Geschmacks, sondern
nur als eines Mittels bedient,die Nerven in einem beständigen Reiz
zu unterhalten und sich vor der Langenweile zu sichern. Darum ver-
langt auch ein rechter Tabakschnauber einen scharfen, aber nicht
wohlriechenden Tabak.
/ Das Gehör ist in Ansehung des Wohlbefindens auch ein sehr wichti-
ger Sinn. Es wäre zu wünschen, daß man sich mehr damit abgeben möch-
te, die Musik bei Kuren zu gebrauchen. Denn die Musik wirkt durch
ihre taktmässige Erschütterung mehr auf den Vitalsinn, als alle Ein-
drücke von Stoßen, zwicken usw. Denn weil bei dem taktmäßigen
Schall ein Ton in gleicher Zeit auf den andern folgt, so wird ihre
Stärke zuletzt so verdoppelt, daß man Beispiele hat, das hangende
Brücken von dem öfteren Herübermarschieren der Soldaten in einem
gleichen Schritt, eher, als von den grössten Lasten, die man vorher
über sie geführt hatte, destruiert wurden.
/Anmerkung. In der Kindheit ist der Sinn des Gehörs weit wichtiger
als im Alter, indem nur ermittelst des Gehörs Kindern Gedanken und
Erkenntnisse beigebracht werden können. Im Alter ist das Gehör dem
Menschen schon entbehrlicher, wenn er nur das Gesicht behält. Welcher
Verlust wäre wohl erträglicher, der des Gehörs oder der des Gesichts.
Ein Greis antwortete einst hierauf, er habe nie einen Tauben glück-
lich gesehen, eher noch einen Blinden. das größte Vergnügen, die
Mitteilung durch Konversation, fehlt dem Tauben ganz. Und das größ-
te Unglück eines Menschen ist, taub geboren zu sein. Es scheint so,
als wenn er alles empfinde, er kann aber nie zu einem rechten Ver-
stand kommen. (Da einst ein taub Geborener durch eine grosse Turm-
glocke hörend wurde, war ihm, als wäre er aus einem Traum erwacht.
Alles kam ihm jetzt anders vor. Er sah nun jede Sache aus einem neu-
en Gesichtspunkte an. Er hatte Zeremonien u. dgl. in der Kirche mit-
gemacht, aber ohne das Mindeste dabei zu denken. Man kann nicht an-
ders denken, als wenn man mit sich selber spricht). Wir sehen also
daraus, daß das Gesicht noch der Sinn ist, der am mehrsten entbehrt
werden kann, wenn nämlich die Frage von den Sinnen in Ansehung des
Wohlbefindens wäre. Denn in Ansehung der Erkenntnis ist es nach dem
Gehör der wichtigste Sinn.
/ Was die Kultur der Sinne betrifft, so kann man sagen, daß eigent-
lich die Sinne selbst nicht so sehr, als die Aufmerksamkeit über
Gegenstände unserer sinnlichen Werkzeuge kultiviert wird. Die Übung
ist eigentlich das Mittel, die Sinne zu stärken. Daher geraten auch
z.E. mikroskopische und teleskopische Beobachtungen selten zum er-
sten Male. Allein die Kultur der Sinnen beruht auch grösstenteils
auf dem Wahn. So muss man sich z.E. zu dem Austernessen anfänglich
sehr zwingen, ehe man den Geschmack so weit kultiviert hat, dass
man an diesen Speisen einen Reiz findet. Ebenso ist es mit dem Ge-
schmack des bereits faulenden Wildbrets beschaffen.
/ Die Sinne sind in Ansehung der Kultur stark oder fein, scharf
oder stumpf.
/ Einige haben von Natur schon schärfere Sinne, andere schärfen
durch die Übung.
/ Reizt man die Sinne aber zu stark, so werden sie stumpf, z.E.
durch den Branntwein und andere starke Getränke, durch die salzigen
Speisen usw. macht man den Geschmack sehr stumpf, so dass einem dar-
nach nur sehr starke Speisen schmecken können. Daher haben die Ota
heiter und andere Wilde einen weit schärferen Geschmack als die
Europäer, indem sie nicht einmal den Wein vertragen.
/ Stark ist ein Sinn, wenn er nur durch starke Eindrücke gerührt
wird. Eine gewisse Art von Fertigkeit der Sinne scheint einem Menschen
/|P_208
/den glücklichsten Zustand zu gewähren, weil doch das Leben hindurch
mehr Schmerz als Vergnügen unsere Sinne bestürmt, und man folglich
bei einem zarten Sinn immer mehr leiden, als sich vergnügen kann.
/ Fein ist ein Sinn, wenn er durch geringe Eindrücke gerührt wird.
Die feinen Sinne sind auch gemeiniglich zärtliche Sinne. Alle Zärt-
lichkeit ist aber eine gewisse Schwachheit. Verzärtelt wird ein Mensch
wenn er nur an ganz schwache Empfindungen gewöhnt wird.
/ Anmerkung. In der frühen Jugend und im späten Alter sind die Sinne sehr stumpf,
z.E. der Geruch bei den Kindern und das Gehör und Gesicht bei den
Alten. Oft aber verändern sich die Sinne nur im Alter, so daß man oft
im Alter besser in der Ferne sehen kann, als in der Jugend, aber
schlechter in der Nähe und umgekehrt.
/ Scharf ist ein Sinn, wenn er zum Wahrnehmen, fein, wenn er zum
Überlegen aufgelegt ist.
/ Es ist uns oft viel daran gelegen, gewisse Empfindungen von der
einen Seite soviel als möglich zu schwächen, von der andern Seite aber
bis zu einem gewissen Grade zu erhöhen.
/ Geschwächt werden die Empfindungen durch den öfteren Eindruck auf
die Sinne. Z.E. diejenigen, die in einer Mühle waren, schlafen am
ruhigsten, wenn sie im vollen Gang ist. Bei einem Prediger, der
eine scherzende aber monotonische Stimme hat, schläft alles ein und
wacht auf,wenn er still hält. Die Empfindungen zu schwächen ist
ein wohltätiges Geschenk der Natur, indem man vermittelst derselben
vieler Unbequemlichkeiten entgeht.
/ Erhöht werden Empfindungen
/a) durch die Neuigkeit. Daher die Schönheit des Morgens. daher die
Lustigkeit der Kinder. Alle Gegenstände sind ihnen neu, und wenn sie
alt werden, so suchen sie sie durch Zerbrechen in ein neuen Zustand
zu versetzen.
/ Dinge erregen Aufmerksamkeit, die an sich nichts Wichtiges haben,
wenn sie nur neu sind. Neuigkeit ist unterschieden von Seltenheit,
wenn die Sache auch alt ist, so erregt sie doch durch den neuen An-
blick Aufmerksamkeit, z.E. Vasen aus den Städten Pompeji und Herku-
laneum, welche durch das 69 Jahre nach Christi Geburt erfolgte Erd-
beben tief in die Erde versenkt wurden. Man fand in einem der dort
vorhandenen unterirdischen Zimmer den Körper eines Frauenzimmers in
sitzender Stellung. Dies machte sehr aufmerksam. Man liess den Kör-
per und alle Sachen in dem Zimmer so liegen, wie man es fand, weil
es doch allerdings interessant ist, eine Stube zu sehen,wie sie
vor mehr als 1700 Jahren ausgesehen. Die Gesundheit nach einer langen
Krankheit ist Neuigkeit. Der Mensch, der frei wird, empfindet aus-
nehmen stark die Neuigkeit. (Erst dann empfindet man das Wohltätige
dieser Güter, wenn man die Bitterkeit ihres Verlustes kennt.) Wenn
man Erwartungen macht, so benimmt man den Dingen die Neuigkeit und
folglich auch den Eindruck, das Vergnügen der Überraschung ... Wenn
man den Inhalt einer Komödie erzählt, so verliert sie viel für den,
der den Inhalt schon weiß. Wenn man jemanden empfehlen will, muss
man solche Vorbegriffe von ihm geben, daß er sie übertreffen kann
und nicht hernach unter ihnen steht.
/b) durch den Kontrast, die Abstechung. Die Annehmlichkeiten des
Lebens sind so beschaffen, daß sie nur durch Unterbrechung entgegen
gesetzter Empfindungen müssen gehemmt werden, wenn sie stark heraus-
brechen sollen. Z.E. Dem Reisenden in der Arabischen Wüste kommt je-
der grüne Platz als ein Paradies vor. - (opposita juxta se posita magis
illucescunt.) Die Chinesen richten ihre Gärten auf diese Art ein. Sie
geben ihnen durch den Kontrast von dornichten, wüsten und blumichten
Gegenden ein reizendes Aussehen.)
/Abstechung oder Kontrast ist verschieden vom Wider-
spruch, der das Widerspiel in einer und derselben Sache ist. Man kann
auch absichtlich kontrastieren. Auf diese Weise hat Blumauer ganz
/|P_209
/unvergleichlich den Virgil travestiert, indem er wichtigen Personen
wie Pöbel, Wäschermädchen aber aus einem hohen Tone reden lässt. Er
weiß dies oft sehr komisch und unerwartet anzubringen. - Alles Ver-
gnügen bekommt nur durch vorhergegangene Arbeit seine Stärke und
dann muß auch alles, was man mit Bestand genießen will, stufenweise
genossen werden. Wenn man viel starken Wein getrunken hat, so schmeckt
alsdann der schwächere wie Wasser. Alle Produkte des Geschmacks bekom-
men, wenn sie auch noch so matt sind, durch einen nachdenklichen
Schluss einen Wert. Eine Gesellschaft, die mit gar zu starker Lustig-
keit anfängt, geht gemeiniglich sehr mißvergnügt auseinander. so vor-
teilhaft aber die Abstechung in diesen Fällen ist, so nachteilig ist
sie doch oft auch.Z.E. wenn man ein Amt antritt, in welchem der Vor-
gänger ein Mann von vorzüglichen Verdiensten gewesen ist, so wird man
den Leuten anfänglich schwerlich gefallen, weil sie einen nach dem
Antecessor messen.
/ c) Durch den Wechsel. Hierdurch wird den Sinnen grosser Einfluss
auf die Aufmerksamkeit. Worin kein Wechsel ist (Monotonie), darauf
wendet man keine Aufmerksamkeit. Die Monotonie würde den Menschen
unempfindlich machen. Ein Land, wo lauter Kunst (wie z.B.
Holland), gefällt nicht so sehr. Man will es wohl gern ansehen, aber
man will nicht darin leben. Der Wechsel der Kunst und der Natur macht
die Eindrücke lebhaft. Ruhe wird angenehm zwischen der Arbeit und
nicht, wenn die Ruhe erst nach der Arbeit geschieht, weil sie ihm
langweilig sein würde. Die Amtsarbeiten, welcher man möchte gern über
hoben sein, machen eine Annehmlichkeit aus, durch die Aussicht, daß
sie bald wieder aufhören werden. Es ist von Capua bis nach Neapel ein
gerade Allee von einer Meile. Als jemand in diese spazieren gehen
wollte, kehrte er zurück, nach einem kurz zurückgelegten Wege, da er
das Einförmige nicht ertragen konnte. Für den Wandersmann ist es eine
große Unannehmlichkeit, wenn er schon den langen Weg, den er zurück-
legen soll, immer vor seinen Augen sieht. Er muß unterwegs immer
auf Abwechslung stossen, die seine Aufmerksamkeit fesselt und dadurch
seine Wanderung angenehm macht.
/ d) durch Steigerung. Man muss es immer so einrichten, daß sie
Annehmlichkeit steige und man sie nicht bloß genießt. - Selbst
sich vieles versagen, weil der Prospekt des Genusses jetzt angenehm
ist, um die Annehmlichkeit in der Folge zu vergrößern. Selbst wenn
man auch nachher nicht die Sache genießt, so verliert man nichts
in Ansehung unserer angenehmen Empfindung. Denn die Aussicht einer
Möglichkeit eines solchen Genusses ist mehr wert, als der Genuß
selbst. Der Geizige genießt alles in der Einbildung. Sieht er seinen
Nachbar in einer Kutsche in Gesellschaft fahren, so sieht er alles
dieses auch in seinem Geldkasten, indem er denkt, daß er es auch
so und wohl noch besser haben könne, und dieses auch noch vor sich
hat. Daß, wenn sein Nachbar das Vergnügen schon genossen und Geld
darauf verwandt hat, er es noch immer haben kann. Er weiß, daß er
alles haben kann. Dies ist der Grund, der ihm Kraft gibt, sich vie-
les zu versagen.
/ Von der Betäubung der Empfindungen. - 1. Ein Mensch ist nicht
bei sich selbst, wenn er nicht imstande ist, seinen Empfindungen zu
gebieten. 2. Er ist seiner nicht mächtig, wenn die Affekte ihn aus-
serstand setzen, etwas zu tun oder sich zu fassen. 3. Er ist perplex
oder verblüfft, wenn er von einer Empfindung so überrascht wird, daß
er alle anderen Empfindungen nicht in seiner Gewalt hat. (Das letzter
ist ein pommerscher Ausdruck.) Ein Italiener würde sagen: er hat die
tramontana verloren, "tramontana" heisst Nordwind. Wenn jemand in
Gesellschaft kommt, so fängt er gemeiniglich vom Wetter an, wenn er
aber die Gesellschaft größer findet, als er sich vorgestellt hat.
/|P_210
/oder es sind Frauenzimmer an die Stelle gekommen,so wird er ver-
wirrt und er hat tramontana (Besonnenheit zum Diskurs) verloren.
(Es wäre gewiß sehr lächerlich, beim Eintritt in eine fremdes Zimmer
gleich zu sagen: die Russen und Türken haben Frieden geschlossen.)
/ Die Empfindungen werden geschwächt: 1. durch den Schlaf, welcher
ein natürlicher Zustand der Schwächung der Empfindungen ist. Wie es
komme, daß bei dem Schlafe einige Empfindungen geschwächt werden,
andere Funktionen des Körpers aber demungeachtet noch vor sich gehen
ist völlig unbekannt. (Hoffnung und Schlaf sind die Balsame des Le-
bens.)
/ 2. Durch den Trunk. Er ist ein unnatürlicher, aber willkürlicher
Zustand der Schwächung der Empfindungen, ein Mittel, sich in eine
gewisse Belebung zu versetzen ... die Menschen sind aufmerksam, dem
andern keine Überlegenheit zu verschaffen. Sie wird ihnen zwar zur
Last, sie können sie aber nicht abzulegen wagen. ein gewisses Miß-
trauen wird die Menschen zurückhalten - dies läßt sich aber doch
nicht tun, solange die Vernunft da ist. Vernunft muß durch den
Trunk betäubt werden, und der, der sich mäßigt ist der Aufpasser
der andern. Der Trunk ist ein Mittel, die Geselligkeit zu befördern.
Die Rolle des Menschen ist eine sehr künstliche Rolle. Er zeigt sich
vor seinesgleichen niemals ohne Maske. Nur der Trunk befreit ihn eine
zeitlang von diesem Zwange, indem er gesprächig und offenherzig
macht. Daher leidet man bei einem Trinkgelage keinen nüchternen Men-
schen, weil dieser ein begründetes Mißtrauen erregt, daß er ent-
weder von der Offenherzigkeit der Anwesenden profitieren will oder
selbst vieles zu verbergen hat. - Jemand ergibt sich dem Trunk wegen
Sorgen. Die Sorgen aber kommen immer doppelt wieder, nämlich die
alte Sorge und dazu die neue Sorge, daß man Geld dafür aus-
gegeben hat. Durch Mut und feste Entschließung muß man suchen, zu
widerstehen. Denn eine Angewohnheit und gänzliche Ergebung in den
Trunk würde die Folge sein. Derjenige, der nicht offenherzig ist,
wird sich vor dem Trunk hüten. Männer, die an sich viel Triebfedern
zur Tätigkeit haben, lieben gewöhnlich den Trunk. Z.E. Basedow war
ein großer Liebhaber von Malaga. Alle nördlichen Völker trinken
gerne um sich zu beleben. Tacitus sagt von den alten Deutschen: Sie
faßten ihre Anschläge beim Trunke, damit ihnen nicht Nachdruck,
nicht Mut fehlen möchte und überlegten und führten sie aus in Nüch-
ternheit, damit sie nicht ohne Verstand wären. Alten Leuten läßt der
Rausch besser, weil sie dadurch belebt werden. Die Jugend bedarf sei-
ner nicht, da sie so schon genug Feuer hat. Der Trunk kann allein
dadurch entschuldigt werden, insofern er die Geselligkeit fördert.
Wenn man sich aber abstumpft und in träumerische Glückseligkeit sich
zu versetzen glaubt, so befördert er die Ungeselligkeit und ist tadel-
haft, ja die größte Niederträchtigkeit. Branntweinrausch stumpft
sehr ab und macht unempfindlich und ungesellig. Branntwein wird
zuletzt zum Instinkt, so daß man nicht essen kann, ehe vorher seine
Neigung befriedigt zu haben. Die Branntweinsäufer halten sich für
sehr klug, aber sie behalten ihre Weisheit im stillen.
/ Der Rausch ist nur für die Mannspersonen. Das Frauenzimmer hat
nicht so sehr nötig verschwiegen und zurückhaltend zu sein, indem
die Geheimnisse desselben von der Art sind, daß die Entdeckung der-
selben keinen sonderlichen Einfluß auf ihre Wohlfahrt haben könnte.
Da sie also nicht in dem Zwang sind, in dem sich die Mannspersonen
befinden, so bedürfen sie auch nicht des Trunkes als eines Mittels,
sich von diesem Zwange zu entledigen, und daher ist es schändlich,
wenn ein Frauenzimmer sich betrinkt. - Ein Frauenzimmer und ein
Geistlicher betrinkt sich selten (in London findet es sich wohl häu-
figer). Diese beiden Stände sind nicht aus Mäßigkeit, sondern aus
/|P_211
/Zwang verbunden nüchtern zu sein, das Frauenzimmer in Rücksicht der
Keuschheit und der Geistliche in Rücksicht der Untadelhaftigkeit
seines Wandels. Ein besoffenes Weib ist den Menschen ein so äußerst
seltsames Tier, daß die Jungen scharenweise hinterherlaufen. Man
behauptet von jeder erfundenen Sache, daß sie dem menschlichen Ge-
schlecht mehr Nutzen als Schaden bringe. Dies ließe sich aber in
Absicht auf Branntwein wohl schwerlich beweisen. Sein Schade ist
außerordentlich. In Danzig gibt es viele Sorten von Branntwein, eine
immer stärker wie die andere. Wer einmal bis zum stärksten gelangt
ist, kann nur noch eine kurze Zeit leben. Man kann allenfalls den Tag
seines Todes bestimmen. Das Schlimmste hierbei ist, daß diejenigen,
welche sich den Branntwein angewöhnt, ihn unmöglich lassen können,
weil ihr Magen ohne ihn schon gar nicht mehr verdauen kann. Der
Branntwein ist wirklich Ursache von der Entvölkerung der Staaten und
schadet sehr ohne etwas zu nützen. - Die jungen Leute haben nicht
viel Interessantes zu erzählen. Sie dürfen sich also auch nicht einem
Rausch überlassen. Der Alte aber kann sich wohl des Genusses der
Getränke in einer Gesellschaft bedienen, um sich von seiner Arbeit
zu erholen und Andern mitzuteilen. - Beim Rausch ist das Temperament
verschieden. Dem Zornigen ist der Trunk Gibt. Nach Verschiedenheit
der Getränke ist der Rausch verschieden und es ist vergeblich, wenn
man die Neigungen eines Menschen beim Trunke versuchen wollte. Denn
der Trunk macht einen zu einem ganz andern Menschen und tut ver-
schiedene Wirkungen. Manche werden sehr freundschaftlich und lieb-
reich, manchen werden zärtlich oder verliebt, einige traurig oder
zänkisch, andere Polterer und Händelmacher, einige weinen über lasse,
andere singen und beten mit vieler Rührung usw. (Von Friedrich Wil-
helm I. erzählt man, daß er im Trunke wohltätig war, daß ihn aber
dieses, wenn er wieder nüchtern wurde, gereuete). Cato, virtus ejus
incaluit mero.- Wenn ein Makassarer Tabak raucht, der mit Opium
befeuchtet ist und eine ganze Pfeife ausraucht, so wird er wütend,
läuft auf die Straße und mordet, was ihm vorkommt. Man nennt einen
solchen Menschen Muckler. Es ist eine harte Strafe, auf dies Ver-
gehen gesetzt. Derjenige, der einen solchen Menschen fangen kann,
erhält eine Prämie und jener wird mit den empfindlichsten Martern zu
Tode gebracht.
/ 3. Durch Ohnmacht oder Tod. Der Tod ist ein unnatürlicher unwill-
kürlicher Zustand der Schwächung der Empfindungen. Man muß nicht
denken, daß ein kurz Verstorbener gar nichts mehr denke und empfin-
de. Tissot führt verschiedene Beispiel von Leuten an, welche in
aller Augen für tot gehalten wurden, und auf dem Brette zu sich ge-
kommen, erzählten, daß sie alles gehört, was um sie vorgegangen
wäre und sich sehr bestrebt hätten, den Leuten die Meinung zu beneh-
men, daß sie tot wären, aber nicht imstande gewesen wären, auch nur
ein Glied zu rühren. -
/ Vom sinnlichen Schein. - Die Irrtümer, die man den Sinnen zur
Last legt, sind entweder Betrug oder Illusion.
/1. Der Betrug ist ein Schein, der einen Irrtum hervorbringt, sobald
man es aber weiß, daß es Schein ist, in dem Augenblick vergeht.
Z.E. ein geschminktes Frauenzimmer. Alle Taschenspielerkünste sind
von der Art.
/2. Alle Illusion ist ein Schein, welcher bleibt, wenn man auch weiß,
daß es ein Schein ist. Z.E. alle optischen Blendwerke, Täuschung
der Sinne besteht oft darin, daß man ein wahres Bild auf eine Ursa-
che deutet, die die Ursache nicht ist. - fallacia causae non causae.
Z.E. der berühmte Kerstein anatomierte eines Abends in seiner Stube
ein Pferd, wie er etwas müde war, so setzte er sich hin und glaubte
sich gegenüber wie in einem Spiegel zu sehen. Die Ursache hiervon
/|P_212
/war der Dampf von dem Pferde, der beim Lichtschein durch die kalte
Abendluft noch verdickt ward. - Ein Engländer hatte in Jamaika einen
Negersklaven zum Gärtner, der ihm alle Morgen Blumen bringen mußte.
Eines Morgens mußte er durch eine Stube gehen, wo ein Spiegel war,
als er nun eine Person im Spiegel sah, so lief er zurück und als ihn
sein Herr fragte, warum er ihm nicht Blumen gebracht hätte, antwor-
tete er, er hätte gedacht, daß es nicht wäre nötig gewesen, weil er
einen andern Gärtner mit Blumen zu ihm gehen gesehen hätte. - (Wiegleb,
Natürliche Magie empfohlen.) - Man kann mit einem Hahn ein Blendwerk
machen, wenn man ihn mit dem Schnabel auf den Tisch drückt und vorne
einen Strich mit Kreide macht. Der Hahn glaubt alsdann, sein Schnabel
wäre am Tisch festgemacht und wagt es nicht, sich zu bewegen. - Die
optischen Illusionen sind die angenehmsten, Bewunderung scheint der
Grund der Illusion zu sein. Das schöne Geschlecht verläßt sich sehr
auf Illusion, sonst würde es nicht so viel Zeit auf den Putz verwen-
den. - Die Neigung verursacht oft starke Illusionen, die man höchstens
nur wieder durch Illusionen vertreiben kann. Ein Liebender, der seine
Geliebte in den Armen eines Andern fand, glaubte seinen eigenen Augen
nicht und ließ sich wieder zu rechte bringen, da ihm seine Geliebte
vorwarf, daß er mehr dem, was er sehe, als ihren Worten glaubte. -
Alle Höflichkeiten im Umgange sind Illusionen von wechselseitiger
Achtung und Liebe, von denen wir wissen, daß sie nichts bedeuten, sie
aber so gerne sehen, daß diese Scheine endlich wirklich einen Grad
von Wahrheit bekommen und uns dahin bringen, daß wir andern Leuten
mit eben der Achtung begegnen. Dergleichen Illusionen haben also einen
großen Nutzen. Der Anstand ist der äußere Schein, der Achtung ein-
flösst. Die Politesse ist ein Schein, der Liebe einflößt. Wenn man
immer sich dienstfertig zu sein bemüht, wenn man alle Unannehmlich-
keiten immer übernehmen will, so gefällt es außerordentlich, obgleich
es nur der Schein ist, wir ahmen den Schein der Tugend nach, weil wir
keinem ins Herz sehen können, so wissen wir doch nicht, ob er wirk-
lich die Gefühle der Tugend habe. Alle Unanständigkeit würde ausflie-
ßen. Wenn wir alle unsere Fehler zeigten, so würden wir nie uns be-
mühen, uns zu bessern. Alle Menschen sind Schauspieler. Z.E. Wenn die
Frau unwillig wird über die ankommende Gesellschaft, so wetteifert
hernach der Mann mit ihr in Höflichkeiten, als wenn die Gesellschaft
sehr angenehm wäre. Der Schein ist also nicht aus dem Menschen zu
verbannen. - Die Neigungen gehören mehr zur Sinnlichkeit. Wir stellen
uns die Sache viel schöner vor, als sie ist. Z.E. der Liebhaber
schreibt seiner Schönen die vortrefflichsten Eigenschaften zu. - Man
kann einen Schmerz lindern durch einen Gegenschmerz. Z.E. ein Kauf-
mann verliert seinen einzigen Sohn und zu gleicher Zeit hört er
auch, daß sein Schiff und seine Assekuranzen in Gefahr sind. - Allent
halben ist also Schein. Der Mensch bedeckt die tadelnswerte Seite
und liebenswürdige Seite deckt er auf. Es ist aber doch besser, daß
wir Scheidemünze, als daß wir gar nichts haben, womit wir Verkehr
treiben können. Es gibt eine Art Leute, die alles, was der Schein
sagt, verwerfen. Diese sind darin schlimm, weil dadurch feindselige
Gesinnungen entstehen, mit einem Worte - Misanthropie. Anthropophobus
ist der, der alle Menschen fürchtet, ist aber kein Menschenfeind,
sondern glaubt nur, keine Redlichkeit unter ihnen zu finden. Der
Schein dient dazu, daß die Triebfeder zum Guten angespannt wird.
/ Die innere Illusion, vermöge welcher wir durch ein vorteilhaftes
Urteil über uns selbst täuschen, heißt der Wahn. Es gibt unzählige
Arten von Wahn, z.E. einen religiösen Wahn, wenn man durch äußere,
religiöse Handlungen, die man tut, ebenso eine Zufriedenheit empfing-
et, als ob man religiös nach Prinzipien wäre. Der moralische Wahn
ist ein Hauptzug in dem Charakter der sogenannten gutherzigen Leute,
/|P_213
/welche glauben, daß die die ganze Welt glücklich machen würden, wenn
das grosse Los, auf ihrer Seite wäre, es bleibt aber auch bloß bei
dem Wunsche. Ferner Reue ohne den Vorsatz, auch das Übel zu ersetzen,
ist auch ein Wahn, denn man vermengt den Schmerz über die Folgen des
Übels mit der Tat selbst.
/ Die Illusion des inneren Sinnes bringt etwas hervor, welches zum
Wahnsinn könnte gezählt werden. Denn da es ausgemacht ist, daß die
Gedanken einen ebenso großen Einfluß auf das Wohl- oder Übelbefin-
den des Körpers haben, als Eindrücke von fremden Ursachen, so läßt
sich leicht begreifen, daß ein angestrengtes lebhaftes Denken da
Nervensystem so affizieren kann, daß man endlich gewisse Eindrücke
auf dasselbe für Wirkungen fremder Einflüsse hält - Alle Schwärmer
hatten die Erscheinungen, die sie wirklich zu sehen glauben, anfäng-
lich nur in ihrem Kopf, ehe sich die Sinne bequemten, mit ihren Gedan-
ken gemeinschaftliche Sache zu machen. Daher glaube ich, daß man
viele von diesen Leuten eher durch eine Purganz als durch Argumente
und Scheiterhaufen zurechtbringen könnte.
/ 13. Von der Einbildungskraft und Phantasie. - (Sie ist das zweite
Stück der Sinnlichkeit). Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, eine
Anschauung ins uns hervorzubringen,deren Gegenstand nicht da ist.
Dieses Vermögen ist von einem großen Umfange. Es überschreitet in
Ansehung der Form die ganze Natur, doch so, daß es den Stoff aus
derselben hernimmt. So kann sich, z.E. ein Mensch keine neue Farbe
einbilden, als die er gesehen hat, und ein Blindgeborener kann sich
die Farbe nicht vorstellen.Wir können durch die Einbildung folglich
nicht schaffen, sondern nur umbilden. Er die Anschauungen deren Gegen-
stände nicht gegenwärtig sind, für Gegenstände nimmt, ist ein
Träumer. Der, welcher einen Gegenstand zu sehen glaubt, der gar kein
Gegenstand der Sinne sein kann, und wovon auch nicht einmal die
Analogie zu finden ist, ist ein Schwärmer.
/ Die Einbildungskraft ist zwiefach:
/1. reproduktiv, d.i. das Vermögen, die Bilder, die den Sinnen schon
gegenwärtig gewesen sind, zu reproduzieren. Sie ist nur nachbildend
und liegt der Nachahmung und dem Gedächtnisse zum Grunde.
/2. produktiv, wenn sie neue Bilder hervorbringt, die wir mit inneren
Sinnen noch nicht gefaßt haben. Sie ist schöpferisch und das Haupt
des Genies, von dem der Nachahmungsgeist am weitesten entfernt ist.
Diese ist wiederum a) willkürlich, wenn der Mensch die actus seiner
Imagination nach Belieben exerzieren kann, d.i. Bilder erregen und
auslöschen kann.
/ b) unwillkürlich oder Phantasie. Bei der willkürlichen Imagination
spielen wir mit den Bildern, bei der Phantasie spielen die Bilder mit
uns.
/ Die Imagination des Blinden ist weit stärker, als der Andern. Sie
zu haben, ist oft sehr nützlich, z.E. beim Rechnung. Vorzüglich wird
sie durch abstraktive Ideen und Zerstreuung geschwächt. - Empfindung
kann man nie andern mitteilen, sondern den Begriff. Den Begriff kann
man sehr leicht, aber nicht den Eindruck begreifen. - Die produktive
Einbildungskraft will doch nicht allemal gelingen in Ansehung der
Form. Z.E. Man kann keine Figur für die Menschen im Monde sich aus-
denken, als nur die menschliche Figur. In der Dichtkunst wird im
höchsten Grad die produktive Einbildungskraft versucht.
/ Phantasie ist das produktive Vermögen der Einbildungskraft ohne
Leitung des Verstandes, die willkürliche Bilder zu schaffen vermag.
Phantasien in der Musik, wo man seine Einbildungskraft laufen läßt
und keine Regeln annimmt. Unsere Phantasie spielt gewissermaßen mit
uns. Die Phantasie kann beschäftigt werden durch ein Spiel, z.E. durch
das Rieseln des Baches beim Angeln usw.
/ Wir können zwar willkürlicherweise die Einbildungskraft auf einen
/|P_214
/Gegenstand lenken. Sobald aber das geschehen ist, so folgen sich die
Bilder von selbst nach dem Gesetze der Assoziation. Die Assoziation
beruht 1) auf Verwandtschaft, d.i. Ähnlichkeit der Verhältnisse. Z.E.
Eitelkeit und Tod, 2) auf der Nachbarschaft, d.i. Einheit des Orts
und der Zeit. Z.E. Niemand wird die Schule vorbeigehen, ohne an die
Begebenheiten seiner Schuljahre zu denken.
/ Unser Gemüt hat nun das Vermögen verwandte oder benachbarete Sachen
zu verknüpfen, wenn auch die Ähnlichkeit noch so weit hergeholt ist.
Man bemerkt in Gesellschaft diese Abweichung vom Haupt-
discours durch die mindeste Ähnlichkeit, und ein Mensch verschafft
sich in einer Gesellschaft unvermerkt ein Ansehen, wenn er die excur-
siones immer auf den Hauptdiscours zu lenken weiß. Die Kenntnis der
Assoziation der Ideen hat einen großen Einfluß auf den Umgang. Es
ist daher eine große Klugheit, nicht von solchen Dingen zu reden,
die vermöge der Assoziation bei den Andern unangenehme Vorstellungen
erregen. können. Die Franzosen haben ein Sprichwort: man muß in dem
Hause eines Gehängten nicht von Stricken reden. - Alle nördlichen Völ-
ker haben wegen der trockenen Kälte, die ihre Nerven sehr empfindlich
macht, eine sehr unwillkürliche Phantasie. Das leichteste Bild wird
in ihrer Einbildungskraft erstaunend grotesk. Die Bergschotten haben
manchmal bei wachendem Mute Erscheinungen, welche sie das zweite Ge-
sicht nennen, und vermöge desselben sehen sie zuweilen Dinge, welche
ihre Einbildungskraft nur auf eine entfernte Art affiziert haben, z.
E. ein langes Leichengefolge. - Pallas erzählt, daß da er einem Samo-
jeden einen schwarzen Handschuh angezogen, dieser im Augenblick wie
rasend wurde, und nachdem man ihm denselben abgezogen hatte, bekannte
daß es ihm vorgekommen wäre, seine Hand wäre in eine Bärentatze ver-
wandelt worden. - Man nennt einen Phantasten denjenigen, dessen Vor-
stellungskräfte zwar nach den Gesetzen der Imagination, aber nicht
nach den Gesetzen der Vernunft ihre Richtung nehmen. Demungeachtet
haben wir doch das Spiel der Phantasie sehr gerne, wenn es nur nicht
zu stark ist. Die Ursache ist: die Sinne werden auf eine so leichte
Art affiziert, daß dabei der Lauf der Gedanken nicht nur in seinem
Gleise bleibt, sondern auch lebhafter fortgeht. Das Kaminfeuer und
das Tabakrauchen scheinen ihren Reiz dem phantastischen Spiel der
Flamme und des Rauchs zu verdanken zu haben. Daher kommt es auch,
daß wenn man im Finstern raucht alle Augenblicke meint, daß die
Pfeife ausgegangen ist. - Einige Leute werden zerstreut, wenn sie
nicht gewisse Eindrücke, an die sie sich gewöhnt haben, empfinden.
Z.E. Ein Advokat in Paris hatte sich gewöhnt, wenn er vor den Schran-
ken redete, einen Bindfaden um den Finger auf- und abzuwickeln. Sein
Gegenpart bemerkte dieses, praktizierte ihm den Bindfaden weg
und gewann den Prozeß.
/ Das ist eine große Beschwerlichkeit des menschlichen Lebens, daß
uns die Phantasie den vergangenen Zustand sehr reizend darzustellen
weiß, und uns aus der Ursache mißvergnügt in Ansehung des gegenwärti-
gen und zukünftigen macht. Wenn wir an unsere Jugendjahre zurückden-
ken, so malt uns die Phantasie dieselben, wie ein arkadischer Dichter
welcher nur das Angenehme des Schäferlebens malt und alles Unangenehme
wegläßt.
/ Difficilis, querulus, laudator temporis acti
/ Se puero, castigator, censorque minorum.
/ Die Nostalgie der Schweizer kann man aus eben dieser Quelle ablei-
ten.
/ Die Phantasie wird durch die Parteilichkeit sehr bestimmt. Die
mehresten, welche einen Missetäter nach dem Richtplatz führen sehen,
glauben in den durch die Todesangst verzerrten Mienen die Bosheit
selbst zu lesen. Überhaupt jeder Mensch glaubt das zu sehen, wovon
sein Kopf voll ist. Der Schwärmer findet alles in der Bibel, was Andere
nie finden würden.
/|P_215
/Bei den meisten Lügnern ist der Hang zum Lügen unwillkürlich. Ihre
Imagination nimmt im Reden sehr leicht eine ganz andere Wendung und
verflechten sie sich einmal in ganz andere Vorstellungen, so produ-
ziert eine Lüge die andere.
/ Die Einbildungskraft wirkt auf Nachahmung durch Sympathie, z.E.
Schluchzen, Gähnen, Niesen. Wenn jemand etwas lebhaft erzählt, so ahmen
die Zuhörer, ohne es zu wissen, seine Mienen nach. Verheiratete Perso-
nen, die sich wechselseitig lieben, bekommen endlich eine große Ähn-
lichkeit der Gesichtszüge. Konvulsivische Bewegungen verursachen bei
den Zuschauern ähnliche Konvulsionen. Z.B. Zimmermann führt an:
Boerhave wurde in ein Waisenhaus gerufen, wo alle Knaben Konvulsionen
hatten, und er sah bald, daß es Einbildung war. Er ließ eine Kohl-
pfanne hereinbringen, machte einige Versuche über die sie bestürzt
und aufmerksam wurden, und sie wurden geheilt.
/ Mancher Krampf ist nur habituell. Denn wenn der Mensch seine
Imagination auf etwas Anderes richten kann, so vergeht er von selbst.
Körperliche Übel werden oft nicht empfunden, wenn man nur die Gedanke
davon abwendet.
/ Leidenschaft täuscht uns vermittelst Imagination. Denn es gibt Fäl-
le, wo die Imagination die Leidenschaften mehr vergrößert, als die
Gegenwart und der Eindruck der Sache selbst. Daher ist die Entfernung
von einem geliebten Gegenstande kein bewährtes Mittel wider die Leibe
Denn die Imagination malt uns nur das Schöne an einem Gegenstande und
läßt die Fehler weg, die wir bei Anwesenheit der Person bemerken müs-
sen.
/ Wenn die Phanatasie in Ansehung ihrer Kultur fehlerhaft ist, so
heißt sie
/1) zügellos (effrenis), wenn es nicht in unserer Macht steht, sie zu
überwältigen. Mit einem heftigen Temperamente ist eine zügellose Phan-
tasie immer verbunden. So wiederholt ein jähzorniger Mensch einen vor-
gefallenen Streit, wenn er allein ist in Gedanken und verdirbt da-
durch seinen Charakter sehr durch Groll und Haß. Zügellos ist auch
die Phantasie des Dichters, wenn er Karikaturen zeichnet.
/2) regellose (perversa) ist die Phantasie, wenn sie den regeln des Ver-
standes zuwider ihren Lauf nimmt. Sie ist ärger als die zügellose Phan-
tasie. Denn die zügellose schwärmt, d.i. der Verstand gibt zwar den
Riß, aber die Imagination führt es zu lebhaft aus. Die regellose Phan-
tasie aber fesselt, indem sie dem Verstande ganz seine Funktion be-
nimmt. sie ist das größte Unglück des Menschen. Aus ihr kommt Aber-
witz, Wahnsinn u.d.m.
/ In Neapel ist der reiche Prinz von Palagonien - er mag noch leben,
vid. Brydones Reisen (Campagnes) durch Neapel und Sizilien - der um
sein Palais in einer Villa außerordentlich viel Statuen hat erbauen
lassen. sie sind über alle Beschreibung toll und zügellos phantastisch
(Z.E. ein Gott mit einem Hundekopf usw.)
/ Der Verstand muß der Phantasie folgen können. Er bedient sich ih-
rer zur Anschauung) - Ariost ist vielleicht der Dichter, der die
reichste Phantasie hatte.
/ Im Orient ist mehr Phantasie und weniger Verstandesgebrauch, im
Okzident umgekehrt. der letztere hat also den Vorzug. Die Türken lei-
den keine Bilder, nicht bloß aus Religionsgrundsätzen, sondern vor-
nehmlich wegen ihrer zarten Phantasie, welche durch die Bilder so leb-
haft gerührt wird, daß sie ein Grausen dabei empfinden. - Auch die
Italiener haben viel Phantasie.
/ Des Abends spielt mehr die Phantasie, des Morgens der Verstand. -
des Abends hat die Phantasie einen ziemlichen Hang zum Schwärmen. Es
ist aber sehr schädlich. Denn mit den Hirngespinsten, welche sie baut,
sind doch immer Affekte verbunden. z.E. Hoffnung, süsse Ruhe, usw.
/|P_216
/welche die Nerven sehr stark abnutzen.In der Gesellschaft wird die
Phantasie ziemlich im Gleise gehalten. Daher muß man, wenn man aus
der Gesellschaft kommt, entweder sich etwas zu tun machen oder schla-
fen gehen, wenn sie nicht schwärmen soll. Der Kopf scheint des Morgen
zu Geschäften bestimmt zu sein; denn anstrengende Arbeiten sind besser
des Morgens als Abends vorzunehmen, weil nicht die Phantasie, nicht
jene schöpferische Geschäftigkeit, sondern mehr Verstand des Morgens
ist. Hypochondrische Leute mögen gerne lang aufbleiben und spät in den
Tag schlafen, und man kann versichert sein, daß sie bald gesund wer-
den würde, wenn sie zur gehörigen Zeit schlafen gehen und aufstehen
möchten. Daß die Phantasie des Abends auch wirklich stärker ist,
zeigt die Bemerkung, daß man sich des Abends vor Gespenstern fürchtet
und des Morgens nicht. Daher sind auch die Gespenstergeschichten, die
abends ein angenehmes Grausen erwecken, morgens so unangenehm, als
äße man früh Sauerkraut. (Des Morgens muß man nicht Gedichte lesen,
sondern arbeiten.)
/ Die Phantasie ist ein vortreffliches Instrument, wenn der Verstand
sich ihrer bedient, um Ideen durch Beispiele in Anschauung zu bringen.
Eine Phantasie hat Orginalität wenn in ihren Bildern Neuheit oder
auch Regelmässigkeit herrscht. - Originalität, welche selbst zur Regel
dienen kann, heißt Genie. - Die Originalität ist im gemeinen leben
sehr gewöhnlich, weil sie von der allgemeinen Regel abweicht. Die
Orginalität ist sehr angenehm, weil da wenige Regeln entdeckt werden.
Wenn man sagt, der Mensch hat wenig Phantasie, so ist das eben kein
Vorwurf. Der Mensch kann vielleicht glücklicher sein, als der, der
mehr Phantasie hat. Zu einem Künstler aber wird er nicht taugen.
/ Durch die Phantasie werden viele Laster bestärkt, z.E. die Rach-
gier. Vieler anderer Folgen ist sie der Grund. Sie ist die Mutter
der schönen Künste. Sie ist unser Genius, aber auch unser Dämon. Sie
ist die Quelle der entzückendsten Vergnügungen, aber auch der unan-
genehmsten Empfindungen. Die Vorstellungen der Phantasie sind die
größten Triebfedern zu allen guten Handlungen, z.E. um Ehre zu er-
langen. Die Phantasie ist auch eine Verkürzung der Einsamkeit. Dies
ist Wohltat für die Menschen. Denn hierdurch werden sie oft vor der
Langenweile geschützt. Ein nicht leerer Kopf hat immer Stoff, sich in
der Einsamkeit zu beschäftigen.
/ Alle Ausschweifungen, die sich auf die Geschlechterneigung bezie-
hen, beruhen mehr auf der Phantasie, als auf der Realität. Bei dem
Menschen im wilden Zustande findet man, daß diese Laster nicht so
im Schwange sind, wie in den zivilisierten Ländern. Die Ursache ist:
die Phantasie hat bei der einfachen Kleidung der Wilden wenig Gele-
genheit zu spielen und sich Reize einzubilden, die nicht da sind.
/ Auf der Einbildung beruhen viele Krankheiten und auch die Kur der
Krankheiten. Oft wird ein Kranker noch kränker, wenn man den Arzt zu
ihm holen läßt, oft aber heilt auch die blaße Gegenwart des Arztes.
/ Unser Glück liegt mehr in der Einbildung als in der Realität. Die
Welt wird durch Einbildungen regiert. Z.E. Ein Marktschreier pries
seine Medizin öffentlich aus, und da ein Arzt vorüberging, rief er
ihm zu: "Nicht wahr, Herr Doktor, mundus vult decipi." "Seht ihr,"
sagt er zum Volk, "selbst der Arzt billigt meine Medizin," als der
Arzt ihm antwortete", er habe Recht. - Die Einbildung macht bei dem
Menschen das mehreste aus darin, worin sie den größten Wert des Le-
bens setzen. Z.E. der Geiz hat seine Ursache in dem Genuß der Reich-
tümer in der Phantasie, und ein Geiziger hat den Vorzug, daß er
mehrere und mannigfaltigere Vergnügungen in der Einbildung genießen
kann, als der Verschwender, wenn er sie wirklich genießt. - Die Ein-
bildung der bürgerlichen Freiheit ist die angenehmste. Aber es ist
auch nichts als Einbildung. In England, der Schweiz, sind die Leute
/|P_217
/nichts weniger als frei. Die Einbildung der Freiheit bleibt aber, ob
sie gleich unter einer so strengen Regierung stehen, wie in irgend
einem souveränen Staate - sie veredelt sie auch in der Tat. Sie den-
ken einen eigenen Wert zu fühlen, glauben an allen Geschäften des
Staats Anteil zu nehmen. Daher ist das Sprichwort: mundus regitur
opinionibus, eine gute Regel für kluge Regenten. - Selbst im gemeinen
Leben kann man als Nothilfe die eingewurzelten Meinungen eines Men-
schen zu seinem eigenen Vorteile, um ihn zu bessern, gebrauchen.
/ Die Phantasie erstreckt sich bis zum Grabe. So z.E. glaubt man,
wenn man gestorben ist, würde man wissen, wie man im Grabe liege.
Daher wählen sich viele beim leben schon ja kein dunkles Gewölbe,
sondern wie bei uns auf dem Haberberge will man begraben sein. Der
Enthusiast ist der, der in der Phantasie dem Grade nach die Schranken
überschreitet. Ein Enthusiasmus ist ein Hang zum guten Zwecke mit
Affekt verbunden. Mit dem leitet der bürgerliche Staat, oft selbst
wahre Religion.
/14. Von dem Witz und der Urteilskraft. - Das Vermögen zu vergleichen
ist zweifach:
/1. das Vermögen, Ähnlichkeiten der Dinge wahrzunehmen. heißt Witz.
/2. das Vermögen, von Ähnlichkeiten die Verschiedenheiten zu
erkennen, heißt Verstand, allenfalls Scharfsinn, Beurteilungsvermögen
Urteilskraft, das judicium discretivum.
/ Der Witz ist ein positives Vermögen in Ansehung unserer Erkenntnis.
Denn er erweitert den Umfang derselben dadurch, daß er viele Dinge
auch nur durch eine entfernte Ähnlichkeit verknüpft. Die Urteilskraft
aber ist negativ, indem sie die Dinge genau unterscheidet und dadurch
die Irrtümer abhält, die die Illusion des Witzes veranlaßte. Es ist
daher schwer auszumitteln, welches von diesen beiden Vermögen den Vor-
zug verdiene. Doch ist im Umgange Witz beliebter, als Urteilskraft,
weil der Witz, unser Gemüt durch Neuheit oder durch die Aussicht der
Mannigfaltigkeit der Erkenntnis belebt, die Urteilskraft aber alle
Erwartung hierzu benimmt, indem sie die Lebhaftigkeit durch die Behut-
samkeit einschränkt. Durch den Witz erlangen wir differentiam genera-
lem, durch die Urteilskraft differentiam specificam. Der Witz findet
immer Übereinstimmung, die Urteilskraft Unterschied. Z.E. hält der
Witz Hoffart und Hochmut für einerlei. Die Urteilskraft findet bei
beiden einen Unterschied. Der Hochmütige verlangt, daß man ihn hoch-
schätze, er mag es also gern mit Niederträchtigen zu tun haben. Die
Hoffart äußert sich in einer Anmaßung von Standesvorzügen. Dieser
Unterschied ist durch die Urteilskraft entdeckt. Witz und Urteilskraft
zeigen beide Scharfsinn. Jener darum, daß er in Sachen, die sehr ver-
schieden sind, Ähnlichkeit findet, diese, daß sie Unterschied in
ganz ähnlichen Dingen findet. Scharfsinn zeigt den Grad der Aufmerksam-
keit die kleinsten Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten hervorzubrin-
gen. Scharfsinn ist das Vermögen des subtilen Gebrauchs unserer Kennt-
nisse. Man kann daher Witz vom Scharfsinn nicht unterscheiden, weil
sowohl Witz als Urteilskraft scharfsinnig sein können. Der Witz ist
aufgeweckt und beliebt. Die Urteilskraft bedachtsam und hochgeachtete.
Witz stellt alles leicht vor, wo man nach einer Regel vieles ein-
richten kann. Die Urteilskraft findet Schwierigkeit.
/ Witz ist ein Talent der Jugend, Urteilskraft des Alters. Witz kann
man nicht lernen. Urteilskraft aber nimmt nur mit den Jahren zu durch
die Übung. Eine Verstandeserkenntnis, wo mehr der Witz hervorleuchtet
heißt sinnreich, sie sucht immer alles nach einer allgemeinen Regel
zu fassen. Wenn aber die Urteilskraft mehr hervorsticht, scharfsinnig,
denn Scharfsinn macht Einschränkungen. In beiden Fällen aber muß Ver-
stand zum Grunde liegen. Sonst fastelt der Witz und die Urteilskraft
grübelt.
/|P_218
/Witz für sich allein ist der Quell der Einfälle, Urteilskraft der
Einsicht, oder Witz geht nur auf die Brühe, Urteilskraft auf die Nah-
rung. Von Einfällen fangen wir an, das judicium discretivum muß nach-
her kommen. Z.E. man sagt, die Franzosen sind höflich und ihre Wirts-
leute grob. Die Engländer sind grob, ihre Wirtsleute aber höflich.
Dies kommt daher, weil die Wirtshäuser nahebei sind. Man kann sich ein
anderes wählen, wenn man in einem grob behandelt wird. In Frankreich
sind aber nicht soviel Wirtshäuser. Man muß sich also schon mehr ge-
fallen lassen. Das Allgemeine einer Regel hat immer etwas Ergötzendes
bei sich. (Man kann sich einer allgemeinen Regel gleichsam wie eines
Hauptschlüssels - passepartout - bedienen.) Die Regeln, die die Ver-
nunft gibt, müssen Allgemeinheit haben. bei den Franzosen sind die
Einfälle in Schriften sehr beliebt, bei den Deutschen aber in gewisse
Art contrebande, weil sie ihnen nicht die Einkleidung geben können,
wie die Franzosen. Alle bonmots müssen sich erst durch Neuigkeit em-
pfehlen, ehe sie das Ansehen einer Sentenz und eines Sprichworts erhal-
ten. Bonmot ist ein Ausdruck des Witzes, der zur allgemeinen Regel
dienen kann, eine Regel insofern sie mit Geschmack ausgedrückt ist.
Es soll sozusagen Verstand im vehiculo des Witzes sein. Bons Mots
beruhen auf Einfällen. - Abt Triblet hat ein ganzes Buch voll witzi-
ger Einfälle herausgegeben. - Die bons mots sprechen, sind beliebt. Die
Jagd der bons mots in Schriften und im Umgange ist das Ekelhafteste,
was man sich denken kann, indem sie den Verstand gewissermaßen auf
die Tortur legt, wenn sie ihn unterhält, ohne ihm einige Hoffnung zum
neuen Erwerbe zu lassen. Es ist auch keine Angewöhnung zur Gründlich-
keit. Es gibt viel solcher witzigen Schriften. Z.E. Goldonis oder
Lessings theatralische Stücke, wo man während der Vorstellung zwar
sehr unterhalten wird, aber zuletzt mißvergnügt werden muß, wenn
man sieht, daß man in der Erwartung, das Stück müßte beim Schlusse
einen Zweck haben, betrogen wird. Denn unser Verstand ist sehr eigen-
nützig.
/ Derjenige, der mit dem Witze spielt und Profession davon macht,
und nichts zurückläßt, was hätte belehrend sein können, heißt ein
Witzling und ein solcher Mensch ist ekelhaft. Wer aber mit der Ur-
teilskraft spielt, heißt ein Klügling und dieser ist verhasst. Denn
niemand läßt sich gern Urteilskraft absprechen. Ein Klügling aber
gibt sich das Ansehen, daß er allen Menschen nur nicht sich, die Ur-
teilskraft abspricht. Dieser will scharfsinnig, gründlich, jener will
aufgeweckt sein. Der erste ist erträglicher als der letzte. Denn er
macht nicht Erwartungen, nötigt uns nicht unseren Kopf anzustrengen -
und am Ende ist dahinter Grübelei, die auf Mikrologie ausgeht. Wenn
aber ein junger Mensch Klügling sein will, so ist dies gar nicht aus-
zustehen, weil die Reife der Urteilskraft, die man nur erst im Alter
haben kann, mit seiner Jugend einen besonderen Kontrast macht. Witz
kann man noch eher bei jungen Leuten als Klügeln ertragen. - Zum Witz
kann man noch die Höflichkeit und den Anstand rechnen. Wenn diese so
sind, daß man nicht auf Dauerhaftigkeit gesehen hat, so heißt das
Mode. Witz bringt also Mode hervor, und Urteilskraft bestimmt sie zum
Gebrauch. Mode ist eine Regel auf eine gewisse Zeit - eine Zeitsitte.
Ein Volk, bei dem man eine große Abwechslung der Moden bemerkt, kann
man sicher für witzig halten. Wenn eine Nation aber mehr auf alte
Gebräuche hält, so besitzt sie mehr Urteilskraft, z.E. die Spanier.
/ Der Witzige ist hardi in seinem Urteil. Welcher aber Urteilskraft
besitzt, bedenklich und unschlüssig. Schriften, in welchen hardiesses
des Urteils hervorleuchten, sind nicht dauerhaft, z.E. Buffon. (Man
hat ihn deswegen gelobt, aber mit Unrecht. Denn es ist kein Verdienst
soviel gewagte, oft falsche Urteile zu fällen. Anders war die hardies-
se eines Galilei, der dennoch bloß darum im 70. Jahr ins Gefängnis kam.
/|P_219
/Man muß behutsam sein, ohne doch in den Fehler der zu großen Be-
denklichkeit zu verfallen.) Jede Hypothese ist eine gewagte Meinung.
/ Der Witz ist populär, die Urteilskraft scholastisch. Die franzö-
sischen Schriftsteller beziehen in ihren Schriften alles auf
den geselligen Geschmack, die Deutschen mehr auf den Gebrauch der
Schulen.
/ Wenn ein Mensch redet wie ein Buch, so redet er schlecht, oder wenn
er schreibt wie man spricht, so schreibt er schlecht. Der erstere
kann wohl recht exquisit sprechen, es ist aber nur Zwang, Affektation.
/ Schaler Witz ist der, wo nichts für den Verstand ist, sondern bloß
die Einbildungskraft mit ihren Bildern spielt - der nur auf der Ober-
fläche scheint. Diesem Schalwitz entspricht grublerische Urteilskraft
- diese enthält nichts für die Vernunft. Schaler Witz ist ekelhaft,
wie grüblerische Urteilskraft lästig ist. Man hat hiervon verächtlich
zeigende Wörter: Laffe und Geck. Ersterer will immer urteilen, letzte-
rer denkt als ein Alter alles nach. Kästner sagt: ein Deutscher, der
nach Frankreich reiset und alles anstaunt, ist eine Laffe, fat, und ein
Deutscher, der von Frankreich kommt und Weisheit gesammelt zu haben
glaubt, ein Geck, sot, fou. - Witz, der nichts für den Umgang enthält,
heißt Schulwitz. - Der Witz muß, wenn er gefallen soll, orginal sein.
Nichts ist elender, als der nachgeahmte Witz, eine Warnung für die
Deutschen. Ein Originalwitz ist der, der Ähnlichkeiten bemerkt, die
nicht jedermann in die Augen fallen. Die Engländer haben ihn vor
vielen anderen Nationen zum voraus. Der Mensch, der keinen Witz hat,
muß wenigstens bescheiden und zurückhaltend sein. - Der Witz belebt
die Gesellschaft durch Scherz. Denn eine jede Unterredung in Gesell-
schaft fängt gemeiniglich mit Erzählen an, wird mit Raisonnements und
Disputen fortgesetzt und endigt mit Scherz. Nichts ist aber abge-
schmackter und vergnügt weniger, als wenn man es schon darauf anlegt,
in Gesellschaft in einem Zuge zu scherzen.
/ Der Witz, der Originalität enthält, (wenn man die Welt in dem Lich-
te ansieht, wie sie unserm Kopfe scheint), heißt launig. Laune heißt
eine besondere Disposition, nach der man die Sache betrachtet. Diese
Laune findet man vorzüglich in Swifts Schriften und in Butlers Hudi-
bras.
/ Der Witz ist läunisch, wenn er unwillkürlich von seiner Gemütsdis-
position urteilt (von lunatisch, mit dem Wechsel des Mondes). Launig,
läunisch, nennt man auch einen Menschen, der nicht gut zu sprechen
ist und gar den Mund nicht auftut. Solchen nennt man in Preußen eine
"linischen, läunischen Hund". - Der Witz ist abgeschmackt, wenn er
überdacht ist, denn erläßt nichts für den Verstand übrig. Witz muß
keine Mühe gekostet haben, nur ein Spiel und kein Geschäft zu sein
scheinen. Er muß durch die Überraschung sich auszeichnen. Voltaire
zeigt leichten, Young aber ausgearbeiteten Witz.
/ Der Witz heißt durchtrieben, wenn er unter der Maske der Un-
schuld und Einfalt spöttisch sticht, z.E. Voltaires Witz.
/ Bonmot, Sinnspruch geht auf Witz. Sentenz, Denkspruch geht zu-
gleich auf eine Einsicht des Verstandes. Die Sprichwörter sind nichts
anderes als Volkswitz. Sie charakterisieren sozusagen die Völker
Denn sie sind gemeinhin Reden des Pöbels. (Chesterfields Briefe).
Als für Ludwig_IV. eine Ehrenpforte errichtet und der Genius des Ruhmes
daran in der Luft schwebend angebracht wurde, einen Kranz in der Hand
haltend, sagte ein durchtriebener Gascogner, man könnte nicht er-
kennen, ob der Genius den Kranz wegnehme oder nicht. -
/ Der Witz behandelt alles en gros, die Urteilskraft en detail.
Daher ist jener gut zu Entwürfen und dieser zum Ausführen. Wenn ich
jemanden beurteilen soll und ich sage: es ist ein guter Mann, so
/|P_220
/spreche ich en gros, ich muß aber auch im detail urteilen und sagen:
er hat die und die Eigenschaften. Denn der Andere weiß nicht, was
ich für gut halte.
/ Der Witz muß darum nicht gesucht sein, weil er ein Spiel der Ge-
danken sein soll, ein Spiel aber aufhört ein Spiel zu sein, wenn es
mühsam geschieht. - Mancher Witz ist ausnehmen fein. Die Engländer
rühmen sich des schweren Witzes und die Franzosen des leichten Witzes.
Der leichte Witz ist nicht immer schal. - Bei wichtigen Dingen, wie z.E.
Predigten, muß man keinen Witz anwenden. Er hat seinen Platz in der
Gesellschaft. Hier wird er oft im Scherz und Spaß angebracht. Scherz
ist Wechsel von witzigen Einfällen. Spaß, der Versuch, einen durch
Witze zu necken oder durch den Witz eine Art von Kränkung zu verursa-
chen. Dies ist gefährlich. Denn wenn der Geneckte übelgesinnt ist,
so kann daraus bisweilen ein heimlicher Groll entstehen. -
/ Der Mangel alles Witzes bedeutet einen stumpfen Kopf. Dem es aber
an Urteilskraft fehlt, den nennt man einen Dummkopf, manchmal, um
ihn zu schonen, einen "schwachen Kopf", weil das Wort "Dummheit" nur
eigentlich auf einen aufgeblasenen Narren laßt. Daß die Dummheit
einen in der Welt fortbringt, liegt schon in der Natur der Dinge.
Denn die Dummheit ist mit einem gewissen Zutrauen, welches man
"Dummdreistigkeit" nennt, verbunden, welche verhindert, daß man die
wahre Wichtigkeit einer Handlung nicht einsieht, und dann so macht
auch der Narr keinen eifersüchtig über sich. - Unwissenheit muß man
von Dummheit unterscheiden. Dummheit hindert allen Fortgang der Er-
kenntnis. Was die Unwissenheit aber betrifft, so weiß man, daß die
Wissenschaften unter unwissenden Monarchen und Ministern mehr florie-
ren, als unter gelehrten, weil die letzteren immer selbst mitpfuschen
jene aber sie in ihrem eigenen Gange schützen. - Die Russen sind dumm.
Z.E. in Petersburg ist es verboten, nicht eher über die Newa zu gehen
als bis ein Signal dazu mit einer Kanone geschieht. Wenn es sich nun
gut zuträgt, daß ein Russe einige Augenblicke vorher herübergegangen
ist und er hört den Schuß, so kehrt er zurück und geht noch einmal
herüber. Oder: wenn die Schildwache, die an der Newa steht, um darauf
Achtung zu geben, einen hinübergehen sieht und er ist schon beinahe
ganz hinüber, so jagt sie ihn zurück und er muß sich noch einmal der
Gefahr aussetzen. - Einem Bedienten hatte sein Herr befohlen, niemand
ins Haus zu lassen, und es kam Feuer im hause aus, und der bestand
auf dem Befehl seines Herrn. - Es hatte jemand in Rußland den Befehl
bekommen auf Wagen Proviant zu transportieren, so fiel in einer Nacht
viel Schnee und es wurde guter Schlittweg. Hierauf schrieb er an die
Kaiserin, ob er sollte mit Schlitten fahren. -
/ Man glaubt bisweilen, daß Dummheit mit einem guten Herzen zusammen
gehöre. Z.E. Man nennt einen polnischen Bedienten ehrlich und dumm,
als wenn eines nicht ohne das andere sein könnte. Redlichkeit ist aus
Grundsätzen und ein Redlicher ist nie dumm, er braucht nicht eben
große Fähigkeiten zu besitzen.
/ Wenn der Mangel an Urteilskraft bei einem Menschen zum Unglück mit
etwas Witz verbunden ist, so heißt er albern. -
/ Daß man viele Stumpfköpfe für Dummköpfe gehalten, sieht man an
dem Beispiel des Clavius. Dieser Mann war zuerst ein Jesuitenschüler
und so weit gekommen, daß er nun Elaborationen, Reden und Verse ma-
chen sollte. Es war ihm aber nicht möglich, sich auf einen Einfall
oder auf eine poetische Wendung zu besinnen. Die Jesuiten, welche,
wie beinahe alle Lehrer, die Ausarbeitung einer Rede oder eines Ge-
dichts für die höchste Stufe der Geschicklichkeit hielten, die ein
Schüler erreichen kann, hielten den Clavius für einen Dummkopf und
gaben ihn zum Grobschmiede. Er fühlte aber bald seine Geschicklichkeit
und Fähigkeit, ging vom Grobschmiede weg und legte sich auf die
/|P_221
/Mathematik und wurde der größte Mathematiker seiner Zeit. Hier sieht
man deutlich, daß Clavius viel Urteilskraft hatte und wohl ein stum-
pfer, aber nicht ein Dummkopf war. Bei vielen lebhaften Witzen zwei-
felt man sehr an der Urteilskraft, indem man nicht glaubt, daß jemand
zwei große Vermögen zugleich haben kann. Indessen ist der Witz doch
der Liebling unseres Gemüts, und ein Poet würde sich eher der Gefahr
aufgehangen zu werden aussetzen, als daß er einen witzigen Gedanken er-
sticken sollte. Denn er hält es gleichsam für einen Kindermord, beson-
ders wenn der Witz in der Natur ist und er ihn für ein allzu schönes
Geschöpf des Verstandes ansieht. Wer einmal einen Hang zum Witze hat,
der kann ihn nicht dämpfen.
/ Spielender Witz ist der, der nicht mit dem Verhältnis der Dinge
übereinstimmt, und nur vergleicht, aber nicht dazu dient, daß man den
Grund der Verknüpfung einsieht. Er unterscheidet sich dadurch vom ech-
ten Witz, daß er zufällige Ähnlichkeit für wahre und beständige an-
sieht. Wenn man z.E. Ähnlichkeiten der Wörter oder Wortspiele hervor-
sucht, die gar nicht mit der Sache stimmen. So findet sich in England
im Palaste des Herzogs von Malborough zu Blenheim ein Hahn und ein
Löwe, der ein Hahn zerreißt. Über dem Hahn steht das lakonische Wort
"Gallus", welches die Franzosen bedeuten soll. Man sieht, wie weit her
das Wortspiel ist. Ein spielender Witz kann ein schaler genannt werden
wenn er nur auf willkürliche Benennungen und zufällige Kleinigkeiten
gerichtet ist. Das alltägliche hat nichts Reizendes,das Fade aber ist
ekelhaft. Denn es ist eine Beschäftigung, die zu nichts taugt. So wer-
de ich nicht verdrießlich, wenn mir jemand aus der Gesellschaft keine
Beschäftigung gibt. Denn ich bin schon zufrieden, wenn ich sie ansehen
kann. Will man mich aber mit schalem Witz belustigen und beschäftigen,
so wird mir die Gesellschaft ganz unerträglich. Denn der Mensch ist
in dem Zustande, da er sich selbst überlassen wird, doch noch glück-
licher, als wenn er sich mit leeren Sachen beschäftigen sollte, ob er
schon ohne Bemühungen nicht glücklich sein kann. Der Mensch muß bei
allen Beschäftigungen einen Endzweck und eine Absicht haben. Und wenn
mir jemand riete, daß ich zur Motion eine Glocke ohne Koppel läufen
sollte, so würde ich nicht verdrießlich, denn ich erreiche meinen End-
zweck, habe Motion und beunruhige auch nicht die Stadt. Oder auch wenn
ich ein Steckenpferde reiten sollte, denn ich erhalte meinen Endzweck,
und diese leere Beschäftigung verdrießt mich also nicht. so mögen
wir auch nicht gern beim Spazierengehen ohne Endzweck handeln. Denn
wir setzen uns gemeiniglich vor, an einen Ort zu gehen, den wir uns
bestimmt haben, um da auszuruhen, da wir doch eben die Motion haben
könnten, wenn wir eine gewisse Weile hin und hergingen, allein hier
hindert uns das Leere dieses zu tun. von den Schiffern bemerkt man,
wenn sie auf dem Lande spazieren gehen, daß sie nur eine Schiffslänge
vorwärtsgehen und dann wieder umkehren, weil sie gewohnt sind, auf
ihrem Schiffe hin und herzugehen und nach allem zu sehen. Uns aber
wird das Spazierengehen immer angenehmer, wenn wir uns einen Ort be-
stimmt haben.
/ Der Witz macht eine Illusion. Sie muß sich aber immer auflösen in
wirkliche Gedanken. Schaler Witz ist auch ein Wortspiel und vergeht
gleich. ein Herr war bei einem Präsidenten zu Gaste. Der Bediente
reichte ihm den Suppenteller und begoß damit seinen Rock und
sagte dabei: hier heißts wohl recht summum jus, summa injuria. Das
Lächerlichste dabei war, daß er dies Paradoxon der Juristen auf eine
Suppe applizierte. Anfänglich gefällt es wegen der Überraschung. Her-
nach aber lacht man nicht darüber. Die Wortspiele können aber doch nicht
gänzlich verworfen werden. Z.E. jemand verglich den König mit einem
Reichsapfel und den Stallmeister mit einem Roßapfel.
/|P_222
/ Witz und Urteilskraft gefallen uns sowohl an uns als an Anderen.
Der Witz belustigt und vergnügt, die Urteilskraft macht zufrieden.
Der Witz bringt alle Gemütskräfte in Bewegung. Die Urteilskraft aber
hemmt sie, bringt sie zusammen und erhält sie in Ordnung. Der Witz
legt alles vor und die Urteilskraft ordiniert. Der Witz öffnet ein
Feld zu Aussichten, paaret die Dinge, gibt neue Einfälle, hat die
Kraft einen Menge von anderen in Bewegung zu bringen und schafft neue
Ideen. Die Urteilskraft muß seine unbedachtsamen Ausschweifungen
hemmen und ordnen. Witz muß nicht vorher ausgedacht sein und der ihn
hört, muß ihn leicht fassen können. - Wenn jemand zu reden anfängt,
und jedermann auf einen schönen Einfall hofft, er hernach aber etwas
Gezwungenes und Leeres herausbringt, so mag er selbst, wie es oft
geschieht, noch so sehr lachen über seinen Einfall, er wird von der
Gesellschaft doch nichts als ein wohlanständiges Lächeln oder eine ver-
zogene lachende Miene erhalten, weil er doch einmal haben will, daß
man darüber lache, und die Höflichkeit erfordert, daß man in sein
Gelächter miteinstimme. Wenn sich jemandes Urteilen Schwierigkeiten
entgegensetzen und er sie glücklich überwindet, so schätzt man ihn
sehr hoch, z.E. Newton. Scheints ihm überdies noch leicht geworden zu
sein, so gefällt es noch mehr. - Man kann den Menschen von zwei Seiten
betrachten. Er gebraucht sein Gedächtnis und seinen Verstand ent-
weder zum Witz oder zur Beurteilungskraft. Das gesellige Leben erfor-
dert mehr Witz als nachdenken, denn der Witz erzeugt Einfälle. bons
mots. Die Urteilskraft aber bringt Einsicht hervor. Der Witz hat mehr
Nachfolger, als der Verstand. Und wenn die Wissenschaft nicht in Schulen
bleibt, sondern über ein ganzes Volk sich auszubreiten an-
fängt, wie ungefähr vor hundert Jahren in Frankreich, so bringt es
eine Überschwemmung von witzigen Schriften zuwege, denn die Menschen
suchen mehr sich zu belustigen, als zu belehren. - Bons mots sind im
eigentlichen Verstande die Einfälle, die überraschen. - Man sieht das
an den Franzosen und Engländern. Die Franzosen haben mehr Einfälle, als
Einsichten, daher sind ihre philosophischen und anderen ernsthaften
Schriften voll von Einfällen. Terrassons Philosophie gibt uns ein
Beispiel vom Geschmack der Franzosen. So ist es auch mit ihren mora-
lischen Schriften beschaffen. Montesquieu zeigt mehr Einfälle, als
Einsichten. Die Engländer hingegen aber haben wieder mehr Einsichten,
und ob uns gleich bisweilen etwas als ein Einfall vorkommt, so ist
doch zu sehen, daß es praemeditiert ist. Einfälle müssen aber nicht
prämeditiert, sondern überraschend sein. Gewisse Wissenschaften lassen
sich nicht durch Einfälle traktieren. Die Freiheit und Naivität des
Witzes sind unterschieden. Feinheit des Witzes zeigt Scharfsinn an
und geht auf kleine unmerkliche Verschiedenheiten. Die Naivität des
Witzes belustigt mehr, als die Feinheit. Der Mensch ist zur Verstel-
lung geneigt. Wenn aber alsdann eine Aufrichtigkeit herausbricht in
solchen Punkten, wo die Welt sich zu verstellen sucht, wie bei dem
Mädchen in der Gellertschen Fabel, welches so naiv sagte: "Nein 14
Jahr und 7 Wochen" - so gefällt die Naivität sehr, sie macht lachen,
wir lieben aber den Menschen doch sehr, weil er sich einmal versehen
und weil die Aufrichtigkeit hervorleuchtet. Es gibt aber wieder eine
grobe und feine Naivität. Z.B. darf man nur den Don Quixote
lesen. Als Sancho Pansa gefragt wurde, was denn ein irrender Ritter
wäre, so sagte er: ein irrender Ritter ist, der keinen Tag vor einer
Krone und keine Nacht vor Schlägen sicher ist. Naivität ist das Gesunde,
was unerwartet woraus entspringt und mit Witz verbunden sein kann.
/ Der Witz ist veränderlich, um Neuigkeit begierig und wird ungedul-
dig, wenn man ihn etwas lange aufhält. Er sucht soviel Dinge zu ver-
gleiche, als nur immer möglich ist. Daher sind witzige Leute gemei-
niglich sehr veränderlich, welches sich sowohl bei ganzen Völkern, als
/|P_223
/bei einzelnen Personen findet. Man sieht dies bei der französischen
Nation. Solche Leute haben einen gewissen Hang, ihren Witz zu äußern
es sei nun unwillkürlich oder durch Satiren oder durch ein Gedicht
oder durch ein Nachsinnen, um nur der Gesellschaft etwas zu lachen
geben zu können. Sie können ihre witzigen Einfälle nicht bei sich be-
halten, und wenn sie sie nicht mehr unter ihrem eigenen Namen bekannt-
machen können, so tun sie es unter einem andern fremden. Daher stellen
sie die Sachen nicht nur in verschiedenen Veränderungen vor, sondern
sind auch selbst veränderlich. die Veränderung ist schon etwas, das
Menschen vergnügt. Denn sie vermehrt ihre Kenntnis. Übersteigt aber
die Veränderlichkeit ihren Grad, so daß der Mensch nicht lange genug
über einer Stelle sein kann, wenn er von Urteilskraft leer ist, so
sind es Hirngespinste und Phantome. Es gibt einen gewissen dauerhaften
Witz, sagt ein Engländer von Popens Schriften. Und ein zentnerschwe-
rer Witz, wie der Popens ist, kann unter dem Hammer eines Franzosen
weit gedehnt werden, gleich einem Stück Golde. Der Witz der Engländer
ist scharfsinnig, der Franzosen ihrer belustigender. Hudibras zeigt
einen großen scharfsinnigen Witz an, wiewohl er ihn nur auf pöbelhaft
Dinge angewandt hat. Er paart die sonst unähnlichen Sachen leicht zu-
sammen. Hume, Voltaire u. a. haben es für das witzigste gehalten, das
man nur je in Form eines Gedichtes gesehen. Jede Zeit ist zusammenge-
drungen und es ist ein Auszug der tiefsten Kenntnis. Solcher Witz be-
lustigt aber nicht sehr. Als Bolecho dem Hudibras riet, er sollte
doch einer Witwe den Besuch gönnen, da er ihn ihr versprochen, so
antwortete ihm Hudibras: Das Gewissen gleicht einem collegio, wo viele
Sachen abgemacht werden, gleichwie aber die collegia ihre Ferien ha-
ben, so hat auch mein Gewissen seine Ferien, und ich kann also deinen
Antrag nicht annehmen. Ein solcher Einfall gefällt, bei dessen Anbrin-
gen man ernsthaft aussieht, dessen Schwierigkeit man aber bald überwin-
det, und da also im Nachschmack gefällt.
/ Der Witz hat einen Einfluß aufs Lachen, aber nicht aller Witz
macht lachen. Es gibt zwar Menschen, die ohne Witz auch Lachen er-
wecken, allein dies geschieht auf ihre Kosten. Es gibt aber eine
Geschicklichkeit, das Lachen durch Einfälle zu erregen.
/ Einiger Witz ist ernsthaft, wie z.E. der Witz der Auslegung der
profanen und der heiligen Skribenten, die alle Ähnlichkeit hervorsu-
chen und ihre Sachen zu rechtfertigen. Solcher Witz sagt nicht viel
Talente zum voraus, denn man kann viel mutmaßen. Dieser ernsthafte
Witz zeigt sich auch bei Empfindungen, denn der Witz gibt alle Hypo-
thesen an die Hand. Daher geht es einem Menschen schwer von Herzen,
einen Einfall zu verlassen, der ihm viel Mühe gekostet. Es gibt ver-
schiedene Gattungen des Witzes, die das Lachen erregen. Derjenige
Witz, der die Laune erhält, heißt auch drolliger Einfall. Hudibras
ist voll davon, so wie es die Schriften der Engländer meistenteils
sind, welches aber den Franzosen fehlt. Hierher gehört auch Tristram
Shandy. Bei dieser Art des Witzes scheint man gar nicht die Absicht
zu haben, das Lachen zu erregen, sondern die Sache geht ernsthaft
fort, doch so abgemessen, daß es ins Lächerliche ausschlägt, und dies
macht eben die Laune aus. Je nachdem man die Dinge ansieht,
sind also die Arten von Laune unterschieden. Auf die Art gibts eine misan-
thropische und hypochondrische Laune, wenn den Menschen alles widrig
ist und alle Freunde ihm als Heuchler vorkommen. Wenn aber ein Mensch
eine solche Gemütsart hat, daß er sich über alles lustig macht, und
die Menschen in ihrem eiteln Wahn, den sie an sich haben, betrachtet,
so kommt ihm die Welt erträglich, ja wohl gar verschönert vor. Er
wird lustiger und findet Vergnügen daran. Solche Naturelle gibt es
wirklich und dies nennt man die Laune überhaupt. Man stellt sich die
Sache dem speziellen Gemütscharakter gemäß vor. Wenn sich ein jeder
Mensch eine solche Laune anschaffen könnte, daß er alles in der Welt
/|P_224
/für ein Spiel ansähe, so würde es das größte Glück für die Menschen
sein, nur müßte sie das nicht hindern, ihren Pflichten Genüge zu
leisten. Viele Menschen sehen Dinge ganz anders an, als andere. Ist
z.E. jemand einem andern im Amte vorgezogen worden, so sieht er es
für ein widriges Schicksal an und grämt sich. Ein anderer nimmt Gele-
genheit, seinen Witz dabei zu zeigen, wenn überdies der ihm vorgezoge-
ne ein ungeschickter Mensch sein sollte. Ein Mensch, der alles von der
lustigen Seite ansieht und nichts als wichtig betrachtet, hat auch die
Geschicklichkeit so zu schreiben, nur muß dies nicht als Nachahmung
geschehen.
/ 15. Vom Gedächtnis. - Das Gedächtnis ist nur in einem Grad von der
Imagination unterschieden und ist das vermögen, gehabte Vorstellungen
mit Bewußtsein zu reproduzieren. - das Vermögen bald etwas zu fassen
die reproduzierende Einbildungskraft, insofern sie in der Willkür
besteht. Gedächtnis haben ist das Vermögen, sich zu erinnern. Die
Erinnerung hat immer ihre Hilfsmittel. Manche können sich wenig, an-
dere können sich viel aus der Jugend erinnern. Es kommt immer darauf
an, mit welcher Aufmerksamkeit wir auf ein Objekt geheftet gewesen
sind. Durch die Aufmerksamkeit, die man sich angewöhnt, auf dem Ob-
jekt, das man vorhat, ganz geheftet zu bleiben, schärft und kultiviert
man das Gedächtnis ungemein. Daher verderben eben so sehr die Romane,
welche man doch nur lediglich zum Vergnügen liest, ohne einigermaßen
den Kopf dabei anzustrengen. Hernach behandelt man wichtige Dinge
ebenso als Romane und liest sie ebenfalls mit Unbedachtsamkeit, bloß
um die Zeit hinzubringen. Romane zu lesen ist schädlich. Wer die liest
macht sich immer einen neuen Roman. - Das Gedächtnis ist der Grund
aller menschlichen Wissenschaften, und wenn wir das Gedächtnis nicht
hätten, so wäre alles, was wir jetzt gut einsehen, nach einiger Zeit
neu für uns. Das Gedächtnis ist die bewundernswürdigste aller Seelen-
kräfte. Ein Mensch kann so erstaunend viel in sein Gedächtnis fassen
und doch nur einzelne Gedanken und das nur bei Gelegenheit reprodu-
zieren, und wenn diese nicht da ist, so glaubt man ganz leer an Gedan-
ken zu sein. es ist aber eine starke Vermutung, daß in dem mensch-
lichen Gedächtnisse nichts völlig verlöscht, wenn man auch glaubt,
daß es verloschen ist, weil man die Mittel zu der Reproduzierung,
nämlich die assoziierenden Vorstellungen bei der Hand hat.
/ Es gibt drei Arten von Vollkommenheiten des Gedächtnisses, in
denen ein Mensch vor den andern exzelliert. Das Gedächtnis ist
/1) capax, wenn man etwas leicht fassen kann.
/2) tenax, wenn man lange behalten kann.
/3) prompt, (behende), wenn man keines Besinnens bedarf, etwas aufzu-
finden. Und dann ist es auch noch eine logische Vollkommenheit, wenn
es
/4) treu (fida) ist. (Witzige Leute haben selten ein treu Gedächtnis).
Entsinnen ist, wenn ich weiß, daß ich etwas im Kopfe habe, aber
nicht herausgeben kann. Sich besinnen heißt, sich leicht an etwas
erinnern. Dieses findet bei witzigen Einfällen gewöhnlich statt. -
Die Jugend faßt geschwind, vergißt aber bald, weil ihr Kopf von
Ideen leer ist. In älteren Jahren ist es schwer, etwas im Gedächtniss
zu fassen, aber leicht das Gefaßte zu erweitern. Es scheint, als
hätten die Ideen nicht mehr Platz. Das ist dem Gedächtnisse sehr nach
teilig, wenn man etwas in Zerstreuung fassen will. Man muß sich
daher hüten, zerstreut zu sein, weil man sonst keine Spur im Gedächt-
nis lassen kann. Je mehr wir uns vernachlässigen, etwas zu behalten,
desto schwächer wird unser Gedächtnis hingegen je mehr wir uns be-
mühen zu behalten, desto stärker wird es. Es gehet hier so, wie dem
Magneten, der seine Kraft verliert, wenn man ihm nie Eisen vorlegt,
hingegen stärker zieht, je mehr man ihm Eisen vorlegt.
/|P_225
/Man kann etwas dem Gedächtnis einprägen durch bloßen Vorsatz,
es behalten zu wollen, und durch Assoziierung der Nebenvorstellungen.
Das Einprägen geschieht
/1) auf mechanische Art oder durch Memorieren, das durch vielfältiges
Wiederholen einer Sache geschieht wie z.E. bei Kindern das Einmaleins
Bei diesem Memorieren muß man, wenn man etwas reproduzieren will,
die Tour immer wieder von Anfang durchgehen, man hat aber dafür auf
Lebenszeit einen Faden, den man nur anfassen darf, wenn man den gan-
zen Knauel abwinden will. Dieses Memorieren ist in Wissenschaften
sehr notwendig, z.E. in der Geschichte der Epochen. Das Silbenmaß
macht, daß man die Verse leichter behält (versus memoriales). Allein
bei Verstandeserkenntnissen sollte man es weglassen, weil dem Verstan-
de dadurch alles Mitwirken genommen wird, und er passiv gemacht wird
Z.E. die Katechisation der Prediger.
/2) auf ingeniöse Art, wenn man durch Vergleichung und Ähnlichkeiten
seinem Gedächtnis etwas einzuprägen sucht. Die mehresten solcher An-
weisungen aber sind im höchsten Grade albern und können einem das
wenige vom Gedächtnisse, was man hat, gänzlich benehmen. Ein gewisser
Buno schrieb eine Bilderhistorie und Bilderpandekten, wo er das Ge-
setz de heredibus suis et legitimis durch einen Kasten auf einem
Wagen, eine Sau und die zwei Gesetztafeln Mosis vorstellt. Jemand
glaube, daß man die drei Namen Sem, Ham, Japhet besser behalten könn-
te, wenn man sich bei Sem "Semmel", bei Ham "Hammel" und bei Japhet
"er ist ja satt" vorstellte. - Das mechanische Memorieren ist besser
als das ingeniöse Memorieren.
/3) auf judiziöse Art, wenn man durch den Zusammenhang de Kenntnisse
und durch die Anwendung derselben sich etwas eindrückt. Das judizio
Memorieren ist das schönste, weil man da immer weiß, wovon man Ge-
brauch machen kann.
/ Man könnte sagen, daß das Gedächtnis ästhetisch sei, wenn dabei
ein Interesse ist. Z.E. wenn man sich einen schönen launigen Vers
aus einem Gedicht bekannt macht. Denn das Gedächtnis läßt sich
auch mehr was geographisch ist, als was historisch, vorstellen, weil der
Raum, aber nicht die Zeit sich bildlich vorstellen läßt. Man findet
Leute, die nicht schreiben können und deswegen doch ein starkes Ge-
dächtnis haben. Das Gedächtnis erhält zwar durchs Schreiben eine
Größe, wird aber nicht durch selbiges kultiviert. Das ungetreue
Memorieren ist nicht Vergessenheit, sondern es erinnert falsch. Das
ist die Folge des Witzes, der statt der eigentlichen Sache eine ähn-
liche produziert. Das findet auch bei denen, die die Wahrheit nicht
lieben, statt.
/ Gemeiniglich haben die Leute, welche ein stark Gedächtnis haben,
eine sehr schlechte Urteilskraft. Die Ursache ist, ein jeder Mensch
kultiviert dasjenige Seelenvermögen, womit er am besten fortzukommen
glaubt, auf Kosten der übrigen. Es hat Leute gegeben, die Wunder des
Gedächtnisses waren. Picus de Mirandola konnte zweitausend Wörter
aus einer fremden Sprache, wenn man sie ihm vorsagte, von vorne und
hinten hersagen, wie lange er sie aber behalten hat, kann man leicht
denken. Magliabecchi, Bibliothekar des Herzogs von Florenz wußte
sogar ein Buch, welches er einmal gelesen hatte, auswendig: er war
sozusagen, ein Repertorium von ganzen Bibliotheken. Er gehörte mit
unter die Gelehrten, die nicht wegen ihrer Reinlichkeit berühmt sind.
Er hatte Hosen von heller Farbe, die waren so beschmiert, daß er
darauf rechnete. Allein ein solcher vaster Vorrat an historischen
Kenntnissen drückt alle Urteilskraft nieder. Und wenn das Gedächtnis
noch so gross, aber dabei nicht treu ist, so verlieret es allen Wert.
/ Die Bücher ruinieren insoweit das Gedächtnis, daß, wenn man sie
besitzt, sich darauf verläßt, daß man, wenn man etwas wissen sollte,
weiß, wo man es zu suchen hat. Daher läßt sich aus geliehenen
/|P_226
/Büchern mehr profitieren. Überhaupt muß man aber, wenn man etwas aus
Büchern behalten will, sich schon vornehmen, manches zu vergessen
und manches zu behalten.
/ Die vornehmeste Ursache der Vergeßlichkeit ist das Lesen der Roma-
ne, weil ich solche Bücher schon mit dem Vorsatz lese, nichts zu behal-
ten und mich gewöhne, Sachen, welche Aufmerksamkeit erfordern, nur
obenhin zu lesen. Robert Boyle erzählt vom berühmten Wallisius, daß
da man ihm in seiner Jugend, weil er einmal sehr krank war, damit
er sich nicht angreifen möchte, eine zeitlang nur Romane zu lesen
gab, diese sein Gedächtnis so destruierten, daß da er, als er wieder
gesund war, eine Seite in einem Buche las, er nichts von der Seite
behalten hatte, die doch sehr wichtig war, und daß er sein Gedächt-
nis nur dadurch, daß er einigemale die Quadratwurzel von 12 Zahlen
in Gedanken auszog, restituieren konnte. - Bei den gemeinen Leuten
ist das Gedächtnis im höchsten Grade untreu. Ihre Zeugnisse können
aufrichtig sein, aber niemalen recht getreu sein, weil sie bei einem
schlechten Unterscheidungsvermögen immer ihre eigenen Gedanken, die
Raisonnements anderer und die Begebenheit selbst vermengen.
/1. Sanguinische Leute haben ein behendes, aber untreues,
/2. Phlegmatische in langsames, aber treues,
/3. Cholerische ein zähiges, aber nicht ausgearbeitetes,
/4. Melancholische ein ausgebreitetes und bleibendes Gedächtnis.
/16. Vom Dichtungsvermögen. - So wie das Gedächtnis auf der repro-
duktiven, so beruht das Dichtungsvermögen auf der produktiven Ein-
bildungskraft, aber auf der willkürlichen und ist also eine vorsätz-
liche Schöpfung neuer Gedanken ohne alle Gegenstände. Das Dichtungs-
vermögen ist:
/1. die Grundlage aller Erfindung.
/2. Der Quell von unserem Wohlbefinden, indem wir uns doch in der
Gedankenwelt immer besser befinden als in der wirklichen.
/ Wenn wir zuerst das Dichten als eine Grundlage der Erfindung
betrachten, so müssen wir hier verschiedene Arten von Erfindung
unterscheiden lernen.
/ 1) Etwas entdecken heißt etwas Neues antreffen, was schon da war
von dem man aber noch nichts wußte, z.E. die Entdeckung Amerikas,
auch der Magnet ist entdeckt, nicht erfunden, denn er war vorher
schon da.
/ 2) Etwas erfinden heißt, etwas finden, was nicht da war, z.E.
Schießpulver, es ist wahrscheinlich in China erfunden, Schwarz hat
es nur entdeckt. Die Strumpfwebermaschine, eine der künstlichsten,
die je ausgedacht worden.
/ 3) ausfindig machen, heißt etwas finden, das verlorengegangen
ist, wovon man schon voraus wußte, daß es da war, obgleich man
es bis dahin vergebens gesucht hat, z.E. die phönizische Schrift
auf den Grabmälern der alten Karthaginienser in Malta. Dies ist vor
nicht sehr langer Zeit geschehen. Die salomonischen Inseln auf der
Südsee.
/ 4) Aussinnen heißt, einen Handgriff finden, wodurch etwas zustan-
de gebracht werden kann, oder wenn man weiß, es muß auf eine ge-
wisse Art möglich sein, aber durch welche Mittel kann es geschehen.
Z.E. wenn man ein Handwerksinstrument aussinnt.
/ 5) Ersinnen heißt, von etwas Schöpfer sein, durch die Sinne
gänzlich der Urheber einer Sache sein. (Es ist fast derselbe Fall
bei dem Erdenken, nur daß der Verstand mehr dabei wirkt.)
/ 6) Erdenken, von etwas Urheber sein, was nur in seinen Gedanken
ist, z.E. eine romanhafte Begebenheit.
/ 7) Erdichten, heißt etwas Falsches mit Vorsatz für wahr ausgeben
/ 8) Dichten, heißt die Vorstellungen so verbinden, daß sie un-
mittelbar durch ihre Neuigkeit, Mannigfaltigkeit und Einheit vergnü-
gen
/|P_227
/sollen, und nicht mittelbar wie die andern Empfindungsarten. - (Dicht-
kunst, ars poetica, heißt eigentlich ein Machwerk. Dichten ist etwas
Neues schaffen.)
/ Der Dichter schafft sich eine Welt, nicht wie sie ist, aber die
mehr gefällt. Er stellt Grausamkeiten dar, die nie gewesen sind. Das
Dichtungsvermögen ist eine große Wohltat des Himmels. Die sogenannten
Luftgebäude sind sehr unterhaltend für den Menschen. Dichter sind
glücklicher in der Fabel, als in der Wahrheit. Dieses kann man mit
Haller auf alle Menschen beziehen. Denn in der Fabel kann der Dich-
ter nach seiner Freiheit und seinem Wohlgefallen Dinge geschehen las-
sen. Wenn er aber die Natur schildert, so ist die Einbildungskraft
weit unter derselben und die Imagination reicht gar nicht. Weit glück-
licher ist er aber, wenn er nach seinen Ideen alles, was der mensch-
liche Affekt hervorbringt, in der Einbildungskraft rege macht, wel-
ches ihm und uns viel Vergnügen macht. Dahin möchte das arkadische
Schäferleben gehören.
/ Die Dichtkunst unterscheidet sich von der Beredsamkeit darin, daß
1) wir beim Dichten die Vergnügung der Imagination und durch diese
die übrigen sinnlichen Vermögen zum Hauptgeschäfte machen. Der Ver-
stand ist hier nur ein Nebenzweck und dient nur dazu, daß er den
eigentlichen Zweck, nämlich den Bildern der Einbildungskraft Einheit
gibt. Also sind die schönen Künste Mittel, die menschlichen Vorstel-
lungen harmonisch, d.i. mit Verstande zu beleben. Oder die Dichtkunst
ist die Kunst, dem Spiel der Sinnlichkeit durch den Verstand Einheit
zu geben (darzustellen).
/2) Die Beredsamkeit ist die Kunst, die Ideen des Verstandes durch
die Sinnlichkeit zu beleben. Sie ist die Fertigkeit, sich gut aus-
zudrücken. Folglich ist hier der Verstand der Hauptzweck und die
Sinnlichkeit soll nur ein Mittel sein, ihn leichter zu überreden,
indem sie sehr gut täuschen kann. Der Redner hat eine wirkliche Be-
schäftigung, der Dichter hat ein bloßes Spiel vor sich, wo das Bemüt
in seiner Freiheit sich womit unterhalten kann, er darf sich nicht
an Regeln binden, er sucht der Mannigfaltigkeit eine Einheit zu
geben.
/ Der Dichter leistet mehr, als was er verspricht, weil er doch da-
bei belehrend ist, und am Ende ist immer Moral. Der Redner leistet
weniger als er verspricht. Die Dichter übertreffen die Redner im Nach-
ruhm, weil bei Dichtern immer mehr Produkt der Natur, beim Redner
mehr Betrug ist. Denn der letztere bedient sich seiner Kunst, um die
Schwächen Anderer zu ihrem Nachteil und zu seinem eigenen Vorteil zu
gebrauchen. Es läßt sich eher durch Nachahmung ein Redner, als ein
Dichter werden. Denn in der Dichtkunst ist mehr Originalität und
Genie, als bei der Beredsamkeit. Die Dichtkunst verschwindet mit dem
Alter und andere Wissenschaften bekommen alsdann ihre Reife. (Ver-
stand und Sinnlichkeit sind zwei Freunde, die nicht voneinander las-
sen und dennoch auch sich nicht vertragen können. Einbildungskraft
wird durch den Verstand zurechtgebracht und in Schranken gehalten.
Sehr künstlich und schwierig ist es, bei dem Unternehmen, beide zu ver-
einbaren, Sieger zu bleiben.)
/ Es ist merkwürdig, daß die dichterische Sprache vor der guten
Prosa vorausgeht. Die ersten Griechen schrieben Geschichten, Philoso-
phie usw. in Poesien. Pherekydes war der erste, der es wagte, in
Prosa zu philosophieren, bis man es endlich so weit brachte, daß man
für die mehresten abstrakte Begriffe Wörter fand.
/ (Der Redner sucht durch Symbole und Alegorien seine Begriffe an-
schaulich zu machen.) Beredsamkeit wird in verschiedenem Verstande
genommen:
/1. Beredtheit bedeutet, wenn man leicht viel sprechen kann, und ist
noch eine große Neigung dazu vorhanden, gleichsam ein Instinkt, so
/|P_228
/heißt sie
/ 2. Redseligkeit (ist dem schönen Geschlecht eigen)
/ 3. Beredsamkeit bezieht sich mehr auf Täuschung und ist die Kunst
zu überreden. Daher gehört sie für die Advokaten, für die Würde der
Religion aber und der Philosophie schickt sie sich gar nicht.
/ 4. Wohlredenheit ist mehr auf den Verstand und die Überzeugung ge-
richtet und nicht auf die Täuschung desselben durch die Belebung der
Einbildungskraft. Sie besteht darin, dem Verstande und der Sinnlich-
keit angemessen zu reden. Die Europäer sind schon von Natur zur Nüch-
ternheit im Reden und Wohlredenheit, die Orientalen zur schwülstigen
Beredsamkeit geschaffen.
/ Beredsamkeit ist so wie alle Produkte des Verstandes eine Arbeit,
die Poesie aber nur ein Spiel, daher verliert sie allen ihren Wert,
wenn sie mühsam zu sein scheint.
/ Bei der Poesie muß die Sinnlichkeit gleich einnehmen und der
Verstand muß der Nachschmack sein. Bei der Beredsamkeit muß an-
fänglich nur Verstand zu bemerken sein, hinterher muß man aber auch
die Sinnlichkeit im Nachschmack empfinden. Nicht alle Redner beob-
achten diese Regel. Wenn Cicero eine Rede hielt, so rühmte man ihn,
wenn aber Demosthenes redete, so rüstete man sich zum Kriege.
/ Die Wohlredenheit beruht teils auf einem großen Reichtum an
Ideen und einer guten Auswahl derselben, teils auf der Weltkenntnis
en gros. Daher kommt es, daß die berühmtesten Redner gemeiniglich
große Staatsleute waren, welche die Gabe besaßen, ihrem vortrage
den Wert der Popularität zu geben, z.E. Demosthenes, Cicero, Shaftes-
bury. Die scholastische Beredsamkeit der Rhetorik unterscheidet
sich daher sehr von der Wohlredenheit.
/ Es ist merkwürdig, daß die Beredsamkeit in einem Staate dann
vornehmlich floriert, wenn er sich seinem Untergange naht. Griechen-
land hatte nicht eher einen Demosthenes und Rom einen Cicero, als
bis ihr Umsturz vor der Türe war. Die Ursache ist: Beredsamkeit zeigt
ihren Einfluß auf Staaten, wo das Volk dezidiert. Wenn es aber so
weit kommt, daß das Volk sich nur von Rednern bestimmen läßt, so
ist dieses ein Beweis, daß die wahren Triebfedern der Staatsma-
schine zu wirken aufgehört haben.
/ Gedichte schicken sich am besten zum Memorieren, weil ein Wort
an das andere durch das Silbenmass gleichsam gefesselt ist. Und
Wahrheit selbst in Sentenzen übertrifft alle Wahrheit in Prosa,
was den Eindruck betrifft. - Die Poesie vergnügt mehr, als die Bered-
samkeit. Die Ursache, warum uns Gedichte mehr, als die Wahrheit
amüsieren, ist, weil die Natur uns nicht soviel Satisfaktion gibt,
als die, die wir uns selbst schaffen. (Die Schilderungen des Dichters
in der Idealwelt sind glücklicher, als in der wirklichen Welt. Sie
sind alsdann immer unter den Objekten.) Ein Gedicht gelingt niemals,
wenn es bloß die wahre Natur wählt, denn wir kopieren alsdann die
Natur, die sich doch durchs Kopieren nie erreichen lässt.
/ Zu jedem Verse wird erfordert
/1) entweder Silbenmaß, weil dieses zum Gesange erfordert wird, und
alle Poesie eigentlich auf den Gesang ausgeht. durch das Silben-
mass ahmt die Poesie die Musik nach. (Das Silbenmaß ist das bei
der Poesie, was bei der Musik der Takt ist. Diese Einschränkung ist
der Dichtkunst notwendig. Sie möchte sonst gar zu sehr ausschweifen.)
Es sagte einst jemand mit Scharfsinn, er glaube immer, wenn etwas
Prosaisches mit dichterischem Schwung geschrieben sei - wo bei kein
metrisches Silbenmaß ist - es sei tollgewordene Prosa.
/2) oder Reim. (Bei den Alten war der Reim gar nicht anzutreffen.)
Die Ursache, warum man fast in allen anderen Sprachen den Reim an-
statt des Silbenmaßes beibehält, ist: die Prosodie (d.h. das Silben-
maß) ist bei den Neuern nicht so bestimmt, wie bei der Alten, so daß
man viele Wörter nach Belieben lang oder kurz nehmen kann. Weil aber
/|P_229
/dadurch der Endzweck der Poesie, nämlich der Gesang wegfallen mußte,
so sucht man sich ihm wenigstens durch Reime zu akkomodieren. (Die
Alten ließen durch einen Flötenspieler dem Redner den Ton angeben,
in welchem er seine Rede anfangen sollte. Der Poet hat mehr Freiheit,
als der Redner, indem er sich zuweilen neuer (nur nicht grammatikalisch
falscher) Wörter und Wortfügungen bedienen kann.) Nur den Poeten er-
laubt man einen gewisse Freiheit der Sprache (licentiam poeticam), weil
man glaubt, ihnen etwas nachsehen zu müssen, indem sie so schon den
Zwang des Silbenmaßes und Reimes über sich nehmen.
/ Ein mittelmäßiges Gedicht ist unerträglich, dagegen eine mittel-
mäßige Prosa noch zu dulden ist. (mediocriter non licet esse poetis!)
Dies kommt daher, weil das Gedicht einen unnatürlichen, die Prosa hinge-
gen einen natürlichen Gang geht. Befriedigt nun der unnatürliche gar
nicht, so gefällt er sicher noch weniger, als der natürliche. (Die
Ursache, warum Verse und Sinnsprüche beliebter als Prosa sind, möchte
wohl sein, weil sie kürzer und gewöhnlich nachdrucksvoller sind. Es
sind nur überaus wenige, die dergleichen Dinge besser machen können.
Sonst gibt es Kritiker ohne Ende.)
/ Dichter sind gemeiniglich sehr arm. Man läßt sie wie Butler
Hungers sterben und hinterdrein setzt man ihnen Monumente auf. Die
Ursache ist, man bezahlt einige angenehme Eindrücke der schönen Künste
sehr gut, wenn sie so beschaffen sind, daß man sie für sich genie-
ßen kann, ohne daß alle Leute sie mitgenießen, z.E. Musik oder Ge-
mälde. Da nun die Poesie so beschaffen ist, daß sie eine Menge von
Menschen vergnügen kann, so schätzt man einen Dichter sehr gering.
Und dann, so bearbeitet die Poesie ihre Gegenstände sehr auf die
Unkosten des Verstandes. Dabei es kommt, daß sie bei denjenigen, die
eben keine lebhafte Einbildungskraft haben,einen schlechten Eindruck
macht. Holberg sagt: Die Advokaten lügen auf Ernst, die Poeten auf
Spaß, daher bezahlt man die Advokaten auf Ernst und die Poeten auf
Spaß.
/ (Wenn die Jahre herankommen, so verliert der Dichter seine feurige
Einbildungskraft. Er altert wie die Schönheit. Deswegen ist besonders
Voltaire ein Wunder, der bis ins späteste Alter ein guter Dichter
blieb. Die Einbildungskraft kann man durch keine Mühe erlangen. Der
Poet muß geboren werden. Diejenige Art zu dichten, welche am läng-
sten dauert, ist die launige Schreibart, die Torheit der Welt zu
schildern. Die mehresten Dichter sollten eigentlich gar keinen be-
stimmten Charakter haben. Denn weil sie jede Sache müssen vorstellen
können, so müssen sie auch allen Sätteln gerecht sein.)
/ Alle schönen Künste sind ein Spiel, nur ist:
/1) die Poesie und Beredsamkeit ein Spiel der Ideen,
/2) Musik und Gesang ein Spiel der Empfindungen,
/3) Tanz das Spiel der Gestalten.
/ Das Singen scheint den Menschen so natürlich zu sein, wie den
Vögeln, nur daß sie es ebenso wie diese lernen müssen. Die Musik ist
nur insoweit reizend, insoweit sie den Gesang erleichtert. Der Gesang
ist die Wirkung von unserem Wohlbefinden und befördert es auch durch
die harmonische Belebung der Nerven. Darum ist auch ein Vogel im
Bauer gesunder, je mehr er singt.
/ Der Tanz scheint dem Menschen ebenso natürlich und unentbehrlich
zu sein. Daher mögen auch alle Völker, wenn es ihnen ihr Klima nur
auf irgendeine Art erlaubt, gerne tanzen. Besonders tanzen die Neger
auch sogar in den amerikanischen Kolonien erstauend gern, und dabei
so kunstvoll, daß sich mancher Spanier von ihnen unterweisen läßt.
/ Einige Künste sind nicht ein bloßes Spiel, sondern stellen auch
die Gegenstände der Natur durch die Nachahmung dar, und zwar geschieht dies
/I. in der Apparenz. Hierher gehört
/ a) die Malerei, wo die Apparenz am höchsten getrieben ist, indem
/|P_230
/sie sogar körperliche Dinge auf Flächen darstellt, so daß Sehendge-
wordene, ehe sie sie gefühlt hatten, für natürliche Körper hielten.
/ b) die Bildhauerkunst stellt die Gegenstände nicht durch Figuren
auf Flächen, sondern durch wirkliche Körper vor, kann aber eben darum
nicht so mannigfaltig sein, wie die Malerei. Wir übertreffen die Alten
zwar in der Malerei, aber in der Bildhauerkunst kommen wir ihnen nicht
bei. Die Wachspoussierkunst gefällt lange nicht so, wie die Bildhauer-
kunst, weil bei der ersteren die gar zu große Ähnlichkeit mit natür-
lichen Dingen gewissermaßen ein Grausen erweckt. Bei der Bildhauer-
kunst aber bemerkt man immer die Apparenz und die Nachahmung der Natur
und nicht die Natur selbst. Daher würde eine marmorne Statue sehr ver-
dorben werden, wenn man sie durch Farben natürlicher machen wollte.
/II. In der Realität werden die Gegenstände vorgestellt
/ a) in der Baukunst
/ b) in der Gartenkunst. Eigentlich veranlaßten es nur die Englän-
der durch die kontrastierende Anordnung ihrer Gärten diese Kunst
unter die schönen Künste zu zählen.
/ Das Dichtungsvermögen ist so wie die Einbildungskraft.
/ a) willkürlich
/ b) unwillkürlich, und zwar
/1. in Ansehung des eignen Ganges, den die Gedanken nehmen,
/2. in Ansehung gewisser Produkte des Dichtungsvermögens, die sich
uns aufdrängen, wir mögen sie ertragen oder nicht. Diese kommen im
folgenden ran.
/ (Furor poeticus scheint, als wenn der Dichter eine unwillkürliche
Begeisterung hat. Seine Imagination ist durch seine Disposition zu
einem ungewöhnlichen Schwung geschickt. Es findet hier sozusagen ein
Zuströmen aller Dinge der Imagination statt, welches die Alten eine
Art von Begeisterung nannten. Die Alten haben auch daher den Dichtern
eine Wahrsagungskunst angedichtet.
/ a) Die Träume.
/ Wenn im Schlaf bei einem gesunden Menschen die äußeren Empfin-
dungen und Sinne fühllos sind und die Bilder der Imagination für un-
willkürliche Gegenstände gehalten werden, so heißts ein Traum. Es
sind wenig Menschen, die wirklich gar nicht träumen. Es ist ein an-
deres "träumen" und ein anderes "sich der Träumerei erinnern", weil
der Körper zur Zeit des Schlafs ermattet und dadurch fühllos wird,
so gibt die Natur die Träume, damit er bewegt wird, wie wohl nur
innerlich. Alles dieses Träumen wirkt auf das Innere und das Gemüt
wird dadurch affiziert. Es gibt einige Träume, die ziemlich allge-
mein sind. Z.E. haben sie gemeinhin Ähnlichkeit mit den Tagesge-
schäften. Wunderbar ist nur das, daß wir geraume Zeit mit Verstor-
benen ohne Befangenheit zu tun haben. Wir selbst haben aber auch im
Wachen merklich Träumereien. Ein Träumer ist der, der dem Gange einer
Einbildungskraft unwillkürlich nachhängt. Man nennt dies auch "zer-
streut". Dieses Irrewesen ist eine Gemütskrankheit.
/ Wir träumen im Schlafe unaufhörlich, und wir schlafen dann am
festesten, wenn wir uns in einem großen Tumulte durcheinanderkreu-
zender Bilder befinden, die so unordentlich und schnell abwechseln,
daß wir uns ihrer, weil sie mit dem Zustande bei der Erwachung in
keiner Verbindung stehen, gar nicht erinnern können. Die Träume haben
einen Zweck. Denn im Schlafe werden die Organe auf eine zeitlang
ganz abgespannt, ja, bei einem recht festen Schlaf hört auch das
Atemholen auf, und der gemeine Mann glaubt, alsdann von dem Alp ge-
drückt zu werden. Es muß also zu der Zeit etwas da sein, welches
die Lebenskräfte in Agitation erhält, und diese Agitation ist im
Schlafe noch weit inniger, als beim wachenden Mute.
/ Die Laune, in der sich ein Mensch befindet, ist nach Beschaffenheit
/|P_231
/der Träume, die er gehabt hat, verschieden. Doch ist es etwas Besonde-
res, daß ein Mensch aufgeräumt ist, wenn er böse Träume gehabt hat,
und mißvergnügt, wenn ihm lauter angenehme Sachen geträumt haben.
Die Ursache ist sehr leicht einzusehen.
/ Im Traume, wo die Seele des Menschen frei vom zwange wird, den
ihm bei wachendem Mute die Erziehung und das Gefühl für die Ehre
auflegt, kann man ungefähr bemerken, zu was für einer Denkungsart man
eine Anlage in sich hat, und was man hätte werden können, wenn nicht
Erziehung und Ehre die Natur gedämpft hätten.
/ (Es ist sehr unrecht, den Charakter eines Menschen aus seinen
Träumen, oder wenn er trunken ist, beurteilen zu wollen. Man wird
fast immer fehlen. Träume entstehen aus der zu starken Anhäufung
des Blutes auf die Herzkammer. Also sind die Handlungen, die man im
Traume tut, ganz unwillkürlich, und es läßt sich gar nicht daraus
auf die wahre Denkungsart schließen.)
/ Man würde meinen, daß der Mensch im Traume geschickter, als beim
Wachen wäre, indem es uns manchmal träumt, daß wir z.E. Verse lesen,
die uns sehr wohlgefallen, allein ich glaube, daß alsdann nur das
Gedächtnis lebhafter ist und sich leichter an Verse erinnert, die man
lange vorher mit Vergnügen gelesen hat. Es ist daher auch ein gewisses
Mittel etwas sich zu imprimieren, wenn man es kurz vor dem Schlafen-
gehen durchliest, indem wir im Traume die ganze Lektion fortsetzen.
/ b) Die Phantasterei.
/ Die Phantasterei ist ein Traum bei wachendem Mute. Jeder sehr
eigenliebige Mensch bildet sich ein, große Achtung einzuflössen, und
ist ein Phantast. Der Geizige genießt nur in bloßen Chimären, sein
Genuß besteht in dem möglichen Gebrauch. ein karger Geiziger beur-
teilt so die Vergnügungen, als wenn er sie hinterher beurteilt. Er
sagt: wenn die Leute Vergnügen genießen, so werden sie nach Hause
kommen und kein Geld haben. Solche Urteile sind sehr gut für die
Jugend in Ansehung einiger Vergnügungen. ein wahrer Geiziger hat den
Entschluß nimmer zu genießen. Es gibt zwei Arten von Phantasten.
/1. Ein Enthusiast ist ein Phantast nach Grundsätzen, d.i. er
gibt den Ideen Realität, aber nach Grundsätzen. Die Idee oder das
Muster einer vollkommenen Republik ist sehr gut, weil doch das Muster
vollkommen sein muß, wenn die Nachahmung gelingen soll. Allein wenn
man von dieser Idee so eingenommen ist, daß man sie realisieren
will, so ist man ein Enthusiast. Es gibt Verschiedene Arten von
Enthusiasten, z.E. der Freundschaft, des Patriotismus usw. Keinem
Hindernis weicht der Enthusiasmus mehr als der Spötterei. Daher
gibts auch in Frankreich weniger Enthusiasten. In England aber gab
es von jeher wunderliche Enthusiasten.
/2. Die Schwärmerei ist die Art von Verwechslung der Gegenstände der
Einbildungskraft, daß wir das, was ein Gegenstand des Glaubens ist,
als einen Gegenstand der Anschauung annehmen. Gemeiniglich fängt die
Schwärmerei mit einer näheren Gemeinschaft mit dem höchsten Wesen an
und dann folgen Gemeinschaften mit allerhand Arten von Geistern.
/ Die Schwärmerei kommt dem Wahnwitze näher, indem beide den Ver-
stand betreffen. Der Enthusiasmus nähert sich mehr dem Wahnsinn,
welcher die Sinne durch die Einbildungskraft betrügen lässt, und
Dinge zu sehen glaubt, die nur in seinem Kopfe sind.
/ c) Hypochondrie und Delirium.
/ Eigentlich ist nur der Körper die Ursache aller Gemütsfehler und
Launen. Sowohl in dem Kopfe des Rousseau als auch des Swift fand man
nach ihrem Tode Wasser, welches vielleicht ebensogut die Ursache
von dem Delirio des letzteren, wie von der paradoxen originellen
Denkungsart beider war. (Delirium als Zustand ist eine Krankheit, wo
man durch willkürliche Spiele der Einbildungskraft getäuscht wird.
/|P_232
Wenn das Delirium habituell ist, so würde das eine Störung des Ge-
müts sein und heißt Wahnsinn. Man kann delirieren ohne gestört zu
sein.
/ Überhaupt scheint das Delirium seinen Sitz im Gehirn und zwar an
der Stelle zu haben, wo aller Nerven zusammenkommen, welches die Ärzte
das commune sensorium nennen. Die Grillenkrankheit aber in diesem
oder jenem Nerve.
/ Der Wahnsinn unterscheidet sich von der Hypochondrie darin,
/1. der Hypochondrist kann sich gewisser Dinge nicht entschlagen, ob
er gleich weiß, daß sie nur Täuschungen sind.
/2. Der Wahnsinne weiß dieses nicht und träumt wachend.
Der der Wahnsinn seinen Sitz im Körper hat, so ist er auch auf viele
Generationen erblich, äußert sich aber nicht eher, als bis alle
Organe zur Entwicklung kommen. Daher wird sich auch
kein Mensch, wie man sagt, überstudieren, als wenn man schon eine
Anlage zum Überstudieren geerbt hat. Ebensowenig ist die Linie eine
Ursache des Deliriums verschiedener Aventuriers, sondern mit einem
Menschen, der schon kein anderes Mittel sich fortzuhelfen weiß, als
die Reise nach Ostindien, ists schon diesseits der Linie nicht richtig.
/ (Die Schlafwanderer heißen noctambuli. Man setzt diejenigen,
die im Schlafe reden, in eine Klasse mit ihnen. Diese Leute reden oft
auf die Art mit Verstande und Zusammenhang. Aber wenn sie wieder auf-
gewacht sind, so wissen sie nichts davon. Manche können in der Nach
im Finstern ihre Geschäfte fast ebenso wie am Tage verrichten, sie
bekommen (in Gedanken) Gäste usw. Haben sie nur ein vollkommenes
Vorstellungsvermögen wie am Tage alles gestanden hat, so finden sie
es auch in der Nacht, ohne zu fehlen. ein Haushofmeister in Turin
hatte alle Frühjahr solche Anwandlungen. Er blieb eine lange Zeit
Tag und Nacht in einem gewissen Schlaf, wobei er doch vernünftig han-
delte. War dieser Zustand vorbei, so betrübte es ihn sehr, ihn ge-
habt zu haben.)
/ Beim gesunden Gemütszustand hat ein jeder Mensch einen natürlichen
Hang, seine Urteile und Erfahrung durch die Urteile und Erfahrung
anderer zu berichtigen. Daher die Freude, wenn wir Andere unsern
Urteilen beitreten sehen. Ein Mensch in gestörtem Zustande aber hat
einen sensum proprium für sich und hält nur das für wahr, was ihm
sein Verstand oder seine Sinne eingeben. Daher so gewiß einen
Hypochonder Gesellschaft nützet, so gewiß schadet sie dem Wahnsinni-
gen, der das gesellschaftliche Urteil flieht, weil er darin alles
wider sich findet.
/ Aus Liebe und Hochmut wird man nicht gestört, sondern diese Lieb-
lingsideen der Verrückten sind eine Wirkung der Verrückung. Dieje-
nigen, welche mit sich selbst reden oder Gebärden machen, verraten
schon einen Grad von Wahnsinn. ob wir gleich von den Gemütsfehlern
unten noch mehreres sagen werden, so merken wir hier noch an, dass
man denjenigen einen Geck nennt, der sich für liebenswürdig hält, und
einen Narren, der sich für hochachtungswürdig hält. Ein Tor schlägt
den Wert von Kleinigkeiten, ein Narr seinen eigenen Wert sehr hoch
an. Daher wird der erste verlacht, der andere verhaßt. Ein Laffe ist
der, der ohne Erfahrung in die Welt tritt.
/17. Von der Praevision (Praesagition, Vorsehungsvermögen, Vorherver-
mutung). - Es gibt drei Vermögen des Gemüts, die auf die Zeit gehen
und alle zur Sinnlichkeit gehören. Wir haben
/1. einen Sinn für das Gegenwärtige. Dies Bil-
dungsvermögen kann man Imagination (facultas fingendi) nennen.
/|P_233
/2. einen Sinn für das Vergangene. Dies (reproduktive) Nachbildungs-
vermögen ist das Gedächtnis.
/3) einen Sinn für die Zukunft. Dies Vorbildungsvermögen ist das Vor-
hersehungsvermögen oder praevisio, (facultas praevidendi). Dies Ver-
mögen setzt die andern Einbildungsvermögen voraus. Es besteht darin,
daß vom Gegenwärtigen aufs Zukünftige geschlossen wird. Es ist kein
Vermögen, wo die Natur nach Proportion unserer Neigung davon Gebrauch
zu machen, sparsamer gewesen wäre, als dieses Vorhersehungs-
vermögen. Wir sind bestrebt, unseren Blick aufs Künftige zu werfen
und müssen es sein, weil wir tätige Geschöpfe sind und als etwas
Vorhergesehenes hervorzubringen bestrebt sind. Es müssen also alle
übrigen Vermögen der Praevision subordiniert sein. Denn wir müssen
voraussehen, was durch unsere Tätigkeit möglich ist, nur dann können
wir erst uns und unsere Kräfte bestimmen. Der reproduktive Teil un-
serer Einbildungskraft (Gedächtnis) ist zwar der Ordnung nach immer
er erste, aber unter den Bewegungsgründen, geht die Praevision vor-
an. Sie geht mehr aufs Üble, als aufs Gute, weil das Gemüt mehr
Besorgnisse als Hoffnungen hat und weil auch das Gemüt mehr durchs
Unangenehme, als durchs Angenehme rege gemacht wird. Das Gegenwärtige
dauert nur einen Augenblick. Das Vergangene kann uns wenig interessie-
ren. Allein die Zukunft interessiert den Menschen so sehr, daß er
jeder Torheit Gehör gibt, die ihm die Aussicht in dieselbe eröffnen
kann, und zum Unglück ist kein Vermögen des Menschen mehr einge-
schränkt als dieses.
/1.) Die Ahndung soll sein eine dunkle Vorempfindung des Künftigen.
Die Ahndung beim Menschen ist manchmal im bangen Zustande, welches
in körperlichen Umständen seinen Grund hat. Aber die Phantasie bringt
bei der Besorgnis schon Argwohn, daß eine Gefahr entstehen könne.
Man nennt das Ahndung, wenn ein Mensch das zukünftige Übel durch
vorhergehende Traurigkeiten spüren will, Ahndungen sollen Voranspie-
gelungen sein. Aber man kann nur, was gegenwärtig ist, empfinden und
nicht, was zukünftig ist. Die Ahndungen bedeuten im Grunde nichts.
(Dergleichen Besorgnisse äußern z.B. Mütter, die ihre Kinder zärt-
lich lieben, wenn sie mit auf die Jagd genommen werden, daß sie dort
das Leben verlieren werden. Hundertmal trifft es nicht ein. Dann wird
gar nicht mehr daran gedacht. Geschieht aber einmal ein Unglück, so
hört man gewöhnlich: Ei ja, sagt ich's nicht, ich hab es wohl vor-
her schon geahndet.) Die Ahndungen entspringen bei solchen Personen,
bei denen die körperlichen Unannehmlichkeiten sehr leicht auf den
Kopf und die Phantasie wirken. Die Hoffnung nennt man die Ahndung.
Weil der Ahndung die Mittel der Vorhersehung fehlen, so ist nichts
auf dieselbe zu halten. Denn das Vorhersehungsvermögen geschieht nach
Regeln der Verknüpfung des Gegenwärtigen mit dem Zukünftigen, wel-
ches ohne mittelbare Ursache nicht stattfinden kann.
/ In Absicht auf die Kalender- Prognostica ist noch anzumerken,
daß die Wetterprophezeiungen (außer den Beobachtungen nach dem
Planetenlauf, welche richtig sind) in die Kalender eingerückt wer-
den, ohne daß die, welche sie verfertigen, selber daran glauben.
Es geschieht der gemeinen Leute wegen, die immer gern zukünftige
Dinge wissen wollen.
/ 2.) Die Traumdeuterei ist so alt, als Menschen existiert haben,
doch in älteren Zeiten in größerem Ansehen als jetzt. Die Vernunft
fragt bei Träumen die Unvernunft um Rat und eben ihres Unsinns we-
gen scheinen die Träume von mystischer Bedeutung zu sein. Die Träume
werden immer gemeinhin durchs Gegenteil ausgedeutet. Z.E. wird je-
mand im Traume gehangen, so wird er zu Ehren kommen. Die kanadischen
Wilden haben beständig Träume und halten insgesamt viel darauf.
/|P_234
/Sobald einer unter ihnen Lust zu dem Marderfell (oder der Tabakspfeife
des anderen hat, so darf er bloß sagen, er habe davon geträumt,
so muß es ihm der Besitzer willig geben. Durch diesen Aberglauben
könnte viel Unglück gestiftet werden, welches aber dadurch verhütet
wird, daß der, dem eine Sache abgenommen, wieder von etwas träumt,
was dem Andern gehört, der es ihm dann gleichfalls ohne Widerrede
zurückgeben muß. - Träume können nur insoweit etwas bedeuten, inso-
weit sie den Menschen auf einen ganzen Tag aufgeräumt oder mißver-
gnügt machen, oder ihm vieles begegnen kann, was ihm nicht begegnet
wäre, wenn er nicht diesen oder jenen Traum gehabt hätte.
/ 3.) Die astrologia judiciiaria (Sterndeuterei). Meinungen, daß
aus der Lage der Sterne könne das Künftige vorhergesagt werden, die
Nativitätenstellerei, auszukalkulieren, wie die Sterne bei der Geburt
gewesen, calculus heiliger Zahlen Vogelflug, die Gedärme der Opfer-
tiere usw. waren bei den alten, auch bei Männern von vieler Einsicht
in großem Ansehen. Die Astronomen haben nur wegen Nachfragen des
Publikums sich darum bekümmert. Der niedere Stand hat einen großen
Aberglauben davon und bei Türken und Persern ist die Astrologie
noch sehr groß.(Achmed Effendi bat einst Friedrich_II., er möchte
ihm die Manier sagen, wie er durch die Astrologie in allen Schlachten
siegte? Er bekam zur Antwort: durch Exerzieren der Soldaten usw.) -
Sabäismus ist die Religion der Anbetung der Sterne (Augustus heißt:
"dem der Vogelflug Glück gebracht hat", keineswegs "Mehrer des Reichs".
Und doch wird es allgemein in dem falschen Sinne übersetzt.
/ 4. Die Mantica oder Chiromantie, wo man aus den Gesichts- und
Händezügen künftige Dinge vorhersagen will. Dies ist gemeinhin das
Gewerbe der Unwissendsten unter allen Menschen, der Zigeunerweiber.
Die Zigeuner sind immer wirkliche Indier, sind so gut Fremdlinge
in Ägypten und Persien, als hier. (Dies verrät ihre Farbe und Spra-
che.) Hierher gehört auch das Kaffeegießen, Kartenlegen usw.. Nur alte
Weiber geben sich mit Wahrsagungen ab.
/ 5.) Das Los, z.E. die sortes Virgilianae. Man schlug den Virgil
auf und legte mit zugemachten Augen den Finger hinauf und dann war
die getroffene Strophe die Weissagung. (Schwachsinnige Leute ziehen
aus einem Stammbuch morgens ein Sprüchelchen und der Inhalt dessel-
ben zeigt ihnen die Zukunft des Tages an, an dem sie leben. Bei dem
wichtigen Spruch: sorget nicht für den andern Morgen, denn usw. ist
nur die unzeitige und nichtige Sorge, keineswegs aber eine heilsame
Vorsorge verboten. Denn das erstere betrifft die Zukunft, insoweit
sie nicht in unserer Gewalt ist - in dem Fall heißt der Mensch
sorgenfrei, dies ist lobenswert, das andere, insoweit sie in unserer
Gewalt ist - in diesem Fall sorglos, wenn er nichts besorgt, dies
ist tadelnswert.) - Hierher kann man auch den Aberglauben rechnen,
was einem zuerst begegnet. Z.E. Der Jäger wird wenig Glück haben,
weil ihm zuerst ein altes Weib aufstieß.
/ Man muß einen Unterschied zwischen Wahrsagen und Weissagen ma-
chen.
/a) Wahrsagen betrifft das Schicksal einzelner Personen, z.E. durch
Chiromantie.
/b) Das Weissagen geht schon auf das Schicksal ganzer Völker und hat
auch oft großen Einfluß auf das Verhalten ganzer Nationen gehabt.
Z.E. die Propheten, die sibyllinischen Bücher.
/ Zu den Weissagungen rechneten die Alten auch den Zustand der Poeten
und nannten daher die Dichter vates, weil sie unter der Begeisterung
eines Dichters und der scheinbaren Begeisterung der Wahrsager einige
Ähnlichkeit bemerkten. Die Türken und Araber haben große Ehrfurcht
für tolle Leute, indem sie glauben, solche Leute werden von einem
Geiste besessen, der die Gabe zu weissagen hätte.
/|P_235
/ Der gemeine Mann ist mehr für die Folgen der gelehrte Mann mehr
für die Ursachen interessiert. Z.E. Wenn ein Komet erscheint, so
fragt der Gelehrte, woher dies Phänomen seinen Ursprung habe, der
gemeine Mann, was er doch bedeuten mag.
/ (Divination ist die Gabe der Vorhersagungen, die nicht aus der
Vernunft hergeleitet sind. Neuerdings hat man etwas von der Art
durch das Magnetisieren aufgebracht. Gmelin, ein Schwabe, empfiehlt
es in einer Schrift gar sehr. Man kann es nur bei Personen, die große
Nervenschwäche haben, anbringen. Diese werden zuvor desorganisiert
und dann teilt ihnen der Magnetiseur durch Streichen über verschiedene
Teile des Körpers sein elektrisches Fluidum mit. Aber eben durch
diese Mitteilung verlieren die Magnetiseure selbst viele Kräfte.)
/ Wir könnten uns der Begierde, künftige Dinge vorher zu wissen durch
zwei Wörter, Glück und Schicksal, entschlagen. Allein es ist noch
eine große Frage, ob die Menschen nicht das Verlangen hegen würden,
auch diese unwandelbaren Schicksale vorher zu wissen. Das Wort "Glück"
steht vornehmlich bei solchen Leuten in großem Ansehen, die Dinge
unternehmen, welche sich nicht durch Geschicklichkeit forcieren las-
sen, und das sind besonders Jäger, Fischer und Spieler. (Alle, deren
Vorteil vom Glück abhängt, wie hier der fall ist, sind gewöhnlich
abergläubisch.) - In Madagaskar ist ein schrecklicher Aberglaube.
Dort werden alle Kinder, die an gewissen Tagen (die sie die unglückli-
chen nennen) geboren werden, umgebracht. Alle diese Voraussehungen
sind mit Sorgen verbunden. Das Ratsamste ist, sich nicht mit Hoff-
nungen hinzuhalten, denn sie verbittern das Leben. Man muß nicht
für die Zukunft sorgen, wohl aber Vorsorge tragen. Es ist ein wahres
Glück für den Menschen, daß die Vorsehung einen solchen undurch-
dringlichen Schleier über die Zukunft geworfen hat. Der Mensch würde
keinen vergnügten Augenblick auf der Welt haben, wenn er wie ein
Missetäter den Tag des Todes wissen möchte. Aber nun, da er ihn
nicht weiß, sucht er den Termin in seiner Phantasie soviel als
möglich zu verlängern. Und daher kommt es auch, daß dem 80jährigen
Greise der Tod noch ebenso entfernt zu sein scheint, wie dem Jüng-
ling von 20 Jahren.
/ 18. Von den Zeichen.
/ Wir bedienen uns der Imagination und ihres Gesetzes der Assozia-
tion auf dreifache Art, durchs Erinnern, Vorhersehen und Bezeichnen.
Vom Gedächtnis und der Praevision (Praesagition) haben wir gehandelt.
Wir kommen jetzt auf das Bezeichnen oder: Von dem Vermögen des Ge-
brauchs der zeichen (facultas signatrix).
/ Die Zeichen dienen dazu, eine Vorstellung durch die andere her-
vorzubringen, und bezeichnen entweder 1. das Dasein oder 2. die lo-
gischen Begriffe der Dinge. die ersten könnte man logische Zeugnisse
nennen.
/I. Die Zeichen, welche das Dasein der Dinge bezeichnen, sind
/ 1. demonstrativ, wenn sie Zeichen der wirklichen Existenz der Din-
ge in der gegenwärtigen Zeit sind. Z.E. der Rauch zeigt jedesmal
Feuer an. Wenn Menschen blaß werden, so ist dies ein Zeichen von
Furcht oder von Zorn. Wer bei dem Zorne blaß wird, von dem hat man
auf der stelle zu befürchten. Von dem aber, der dabei rot wird, ist
dies nicht der fall, denn er trägt es nach. - Der Pulsschlag ist
für den Arzt ein Zeichen, ob das Fieber da ist oder nicht. Die Klei-
dung ist ein demonstratives Zeichen des Standes und des Reichtums,
ein Orden aber des Verdienstes eines Menschen. -
/ 2. rememorativ, wenn sie das Dasein der Dinge in der vergangenen
Zeit anzeigen, Z.E. zeigen die Grabmäler, daß jemand begraben sei,
so auch Grabstein, Grabhügel, Pyramide, Inscriptiones usw. Die Natur
hat viele solche signa. Z.E. die Muschelschalen in den Bergen zeigen.
/|P_236
/an, daß da einmal der Grund des Meeres gewesen sei. Ferner die Erd-
schichten, die Muschellager, die Versteinerungen sind rememorative
Zeichen des alten Zustandes der Erde.
/ 3. prognostisch, wenn sie das Dasein der Dinge in der künftigen
Zeit vorstellen. Z.E. bei dem Arzt ist es ein gewisser Zustand des
Gesichts, welcher den Tod des Kranken anzeigt (facies Hippocratica).
So hat man auch Zeichen des künftigen Wetters, die aber noch nicht
unter Regeln gebracht sind.
/II. Die Zeichen, welche die Begriffe bezeichnen, sind
/ 1. stellvertretende Zeichen. Von der Art sind die Zahlreichen.
(Die Indier sind die eigentlichen Erfinder der Ziffern 1, 2, 3, bis 9
und 0, wodurch man imstande ist, die höchsten Zahlen auszudrücken.
Die Araber brachten diese wichtige Erfindung nach Europa. Es ist
zu bewundern, wie die Römer bis dahin mit ihren unbequemen Zahlen die
schwierigsten Rechnungen so richtig und genau haben herausbekommen
können.)
/ 2. begleitende Zeichen sind unsere Wörter. Sie sind gewöhnlicher-
maßen ganz willkürlich, müssen aber, wenn sie verfänglich sein sollen
mit den Sachen in einiger Analogie stehen. Solange die Sprachen in
ihrer Kindheit sind, bedienet man sich der Symbole wegen Mangel an
Wörtern, die abstrakte Begriffe bezeichnen sollen. So war bei den
Ägyptern der Gott Anubis mit einem Hundskopf eine Abbildung der
Wachsamkeit. Die Schrift der Chinesen ist bis auf den heutigen Tag
symbolisch und ihre Gelehrten verdienen den Namen "literati" mit
Recht. Die begleitenden Zeichen sind an sich selbst keine erläuternden
Zeichen. Manche Völker haben erläuternde Zeichen. Z.E. Wenn der kana-
dische Wilde, der drei Männer tötete, in einen Baum schnitt: Ein
Dreipfeil von der Nation der Bären hat drei Männer getötet, nämlich
drei Pfeile, einen Bär und drei Menschen ohne Kopf.
/ Derjenige, der zuerst Wörter aus Buchstaben zusammensetzte, muß
ein subtiler Kopf gewesen sein. Denn es ist keine Kleinigkeit die
Beobachtung zu machen, daß sich eine ganze Sprache in so wenige Töne
auflösen läßt. - Eine Sprache, die aus 24 Buchstaben besteht, ist in
der Tat sehr arm. Schon die Franzosen haben mehr Buchstaben. Es wäre
etwas sehr anmutiges, alle Buchstaben aus allen Sprachen in alphabe-
tischer Ordnung ordnen zu können
/ Derjenige, der zuerst die Buchstaben hinschrieb, bildete sich bei
jedem eine Sache ein, die ihn zum Anfangsbuchstaben hatte, und so
wurde das Bild dieser Sache ein Buchstabe. Er dachte sich ein δ_Lücke
und malte sich also eine cubam, die bei den Phöniziern die Gestalt ei-
nes δ_Lücke hatte. δ_Lücke bedeutete einen Ochsenkopf und dieser war bei den
Phöniziern ein Zeichen der obersten Gewalt.
/ Symbole sind Zeichen, die gewisse Eigenshaften der Dinge bedeuten
sollen. Symbole sind Bilder, die wirkliche Objekte haben. Symbole sind
in unserer Erkenntnis sehr nötig, unsere Sprache ist ganz voll davon.
Die Menschen haben eher Symbole gehabt als Schreiben. Aus den Symbo-
len scheint allenthalben die Vielgötterei entstanden zu sein. Die
Neger haben ein Fetischglauben. Der eine macht einen Vogel, der andere
etwas anderes zu seinem Fetisch. In Madagaskar ist eine Art von Haus-
grille. Wenn die sich jemandem auf den Kopf setzt, so tanzen die
übrigen herum. Durch die Symbole haben die Menschen also sich gemein-
hin den Aberglauben und die Abgötterei verschafft, indem unwissende
Menschen das, was die Eigenschaften der Dinge vorstellen sollte, für
die Sache selbst ansahen. Das Krokodil in Ägypten war uranfänglich
das Wappen, ehe es mit der Zeit als göttlich verehrt wurde.
/ Ein Mensch ist noch immer geneigt, das, was nur ein Zeichen einer
Sache ist, für die Sache selbst anzunehmen. Ein Dutzend ist die Be-
zeichnung einer Menge, die dadurch leichter unter eine Einheit gebracht
/|P_237
/werden kann. Und doch konfundiert uns der Begriff vom Dutzend, so
daß wir oft Sachen, die nicht ein Dutzend ausmachen, weniger ästimie-
ren. Z.E. auf einer Auktion kauft man gerne alles dutzend- oder
halbdutzendweise, und wenn jemand 11 Paar Tassen kaufte, so wird er
immer denken, schade, daß nicht das Dutzend voll ist. Dies ist son-
derbar. Bittet man denn die Gäste zu Dutzenden? Ebenso denkt man,
wenn man auf einer Auktion 13 Tassen erstehen will: Ei nun, damit,
wenn eine zerbrechen sollte, doch das Dutzend voll bleibt. Man sagt,
der Kaiser von China soll 9999 Schiffe haben. Nun fragt gleich ein
jeder, warum nicht 10_000 voll? Es ist aber nicht einzusehen, warum
auch eins noch sein sollte, das nicht nötig wäre. Dies kommt daher,
weil wir gewohnt sind, immer bis 10 oder 100 oder 1000 zu zählen.
Mancher ist auch nur habsüchtig deswegen, um die Zahl voll zu haben.
/ (Decanus heißt eigentlich einer, der über 10 gebietet, und das
kommt vermutlich daher, weil für jeden Astralgeist immer 10 Unter-
geordnete sind. Vielleicht steht dies in Verbindung mit den zwölf himm-
lischen Zeichen. Weil dies just ein Dutzend machte, so hatten die
Alten auch zwölf Richter. Den ganzen Tierkreis teilten sie in 28
Wandhäuser, weil viermal sieben 28 macht, und andere dergleichen
Sonderbarkeiten mehr. Von der Art ist auch jener Aberglaube, daß
man nie 13 Gäste bitten muß, denn die unfehlbare Folge hiervon ist,
daß einer, und zwar der Dreizehnte gerichtet wird. Der Trost ist dann
noch, daß man nicht weiß, wer eigentlich der Dreizehnte ist.) Die
Ursache des Aberglaubens, daß, wenn am Neujahr 13 zu Tische sitzen,
einer von denselben in dem nämlichen Jahr sterben muß, scheint auch
auf den 12 himmlischen Zeichen zu beruhen. Heilige Zahlen sind sieben
bei den Juden und 9 bei den Ostindiern und Chinesen, auch bei den
alten Goten: Annus climactericus ist das Stufenjahr, das aus 7 und 9
multipliziert genommen ist. In diesem Jahre sollen berühmte Männer
gestorben sein. z.E. Aristoteles, Luther.
/ Wenn ein Nachdruck sein soll, so muß die symbolische Erkenntnis
aufhören und die intuitive anfangen. Man muß sich wundern, daß
manche Leute von Sachen reden, so daß sie von Andern verstanden wer-
den, ohne daß sie sie verstanden und empfunden haben. So lehrte
Sandson, Professor zu Cambridge, ein Nachfolger von Newton die Optik
ganz deutlich, unerachtet er blindgeboren war. Die verschie-
denen Arten der Berechnung von Lichtstrahlen hatte er von andern ge-
hört. Er zeigte, daß die rote Farbe die hellste und stärkste sei,
ohne daß man weiss, was er sich für einen Begriff vom Lichte gemacht
habe. Die Stärke des Lichts bildete er sich ein, wie die Stärke des
Eindrucks beim Schalle. So hören auch viele von Tugend mit Nachdruck
reden und drücken sich die Empfindungen ein, ohne an die Sachen
selbst zu denken und auf diese Art sind viele Menschen ein lebendiges
Echo. Frauenzimmer fragen danach, was die Leute von einer Sache re-
den, nach der Wahrheit der Sache aber selbst gar nicht. Man muß
überhaupt von einem Frauenzimmer gar nicht verlangen, was über ihre
Kräfte geht. Denn da sie nicht erschaffen sind, Vermögen zusammenzu-
bringen, so sollten sie auch keines dissipieren und das ist der Grund
ihrer Kargheit. Daher kommt es, daß sie per Sympathie in gewissen
Wörtern Achtung und Verachtung gegen eine Sache äußern. Viele tadeln
zwar das Laster, aber sie haben keinen innerlichen Abscheu davor,
sondern weil sie andere haben mit Verachtung davon reden hören, so
sprechen sie ihnen nach und haben also nur einen sympathetischen Ab-
scheu davor durch die Mienen und Worte eines Andern erlangt.
So machen es die Ammen, dass selbst
die Kinder viele Dinge fürchten in die Hand zu nehmen. Denn wenn sie
beim Anblick einer Raupe eine fürchterliche Miene machen, so werden
die Kinder die Raupe gewiß zufrieden lassen. Das männliche Geschlecht
/|P_238
/hat überhaupt andere Empfindungen als das weibliche. Es hat zwar
das weibliche Geschlecht auch erhabene Empfindungen von Dingen, aber
nicht wegen der Erhabenheit selbst, sondern weil Andere sie da-
für halten. Denn sie fragen nur nach dem Urteil Anderer, aber nicht
nach der Sache selbst.
/ Bloße Wörter können bei einem Menschen mit Empfindungen verbun-
den sein, wenn man z.E. liest, daß Vulcan dem Jupiter die Pfeile
geschmiedet und Blitz, Donner, Hagel, dicke Finsternis daruntergeschmie-
det, wie ein englischer Schriftsteller das beschreibt, so rühren hier
die bloßen Wörter. Wenn man jemanden auf der Stelle rühren will, so
muß man sich rührender Wörter bedienen. Bei Predigten aber kommt es
auf die Sachen selbst an, die vorgetragen werden. Klopstock ist bei
weitem kein eigentlicher Dichter. Er rührt nur per Sympathie, indem
er als ein Gerührter redet und wenn man seine Schriften mit kaltem
Blute liest, so verlieren sie viel. Oft bedient er sich einer unge-
wöhnlichen und fast polnischen Sprache, spricht abgebrochen und zeigt
wie gerührt er ist. Wenn uns ein Dichter eine Menge furchtbarer Dinge
vorstellt und uns in Schrecken setzt, so ist eine Menge Bilder da,
die selbst die Seele ausmalt. Zuweilen kommen so wunderbare Dinge zu-
sammen, daß man sie sich selbst nicht einmal recht einbilden kann
und man wird doch gerührt. Z.E. wie im Virgil die Zyklopen, die auf
einem Amboß Donner und Regen schmieden. Wenn wir daher etwas lesen,
so müssen wir sehen, ob uns die Sache selbst, oder nur das Bild,
worin sie vorgestellt wird, oder ob uns nur bloß die worte rühren.
Denn nicht das Ansehen der Sachen, sondern die wörter allein erschüt-
tern oft das Gemüt und jagen uns Schrecken ein, wenn sie von fürchter-
lichen Dingen gebraucht sind. Daher denken wir oft an die Sache selbst
nicht, weil uns schon das Wort in Bewegung gesetzt hat, und so ist
es oft mit rührenden Reden bewandt. Will man uns aber auf der Stelle
bewegen, so muß man gute Worte gebrauchen. So machte es jener Redner
der den Körper des Censors bringen ließ, eine schöne Rede hielt und
das Volks sogleich bewegte, mutig wider die Feinde des Censors zu
handeln. Will man eine langdauernde Entschliessung und Vorstellung
herfürbringen, so muß man die Sache selbst vortragen. Ein Prediger,
der seine Zuhörer rührt, bewegt sie nicht durch die Sachen selbst,
sondern durch die Worte. Wenn er gleich dem Donner die göttlichen
Strafen droht, so bezeichnet er nicht die Sache selbst, sondern er
sagt nur die Bilder davon, welche Schrecken herfürbringen. Sind sie
aber schon an gewisse Bilder und Führungen gebunden, so dürfen sie nur
rezitiert werden, und ich werde mehr gerührt und bewegt. Will man
einen Dichter recht beurteilen, so muß man das Metrum und die Bilder
weglassen und es historisch als eine Erzählung weglesen und sehen,
ob er auch dann noch rührt. Sind die Begriffe nachher wie vor-
hin und er rührt noch, so ist er ein Dichter zu nennen. Muß er aber
beim Rezitieren den Ton und die Worte eines Gerührten brauchen, so
ist er kein Dichter der eigentlichen Art. Dies aber muß man besonders
beim Klopstock tun.
/ 19. Vom Lachen. Dies ist eine sonderbare Erscheinung. Alle Men-
schen mögen gerne lachen, auch sogar Hypochondristen. Die wohlbeleib-
ten feisten Leute sind am meisten geneigt dazu, und es steht ihnen
auch gut an. Man nimmt daher auf dem Theater zu einer recht lustigen
Rolle gern einen, kleinen dicken Kerl, weil er schon durch sein Ansehen
und per Sympathie zum Lachen reizt. Denn wenn es ein hagerer langer
Mensch wäre, so würde ihm das Lachen nicht so natürlich sein. Beson-
ders lachen fette Menschen gerne beim Essen, und je mehr Anlage ein
Mensch zum feisten Körper hat, desto mehr bemüht er sich bei der
Tafel andre zum Lachen zu reizen. Es ist aber nicht so leicht, alle,
selbst vernünftige Leute ins Lachen zu versetzen, sondern es muß
ganz unerwartet kommen, und es muß sich gleich darauf ein Kontrast
/|P_239
/zeigen. Wenigsten muß es in der Vorstellung unerwartet sein. In
Frankreich wurde der Baukommission aufgetragen, eine Brücke zu bauen.
Da die Leute eines Tages zum Essen gingen und einen Gasconier immer
hin und her gehen und die Brücke bedenklich betrachten sahen, so
schlossen sie, daß dieser Gascogner auch ein Bauverständiger sein
müsse. Sie luden ihn also zum Essen, um ihn um seine Meinung zu fra-
gen, und da sie sahen, daß er so beschäftigt war, seinen Hunger zu
stillen, so warteten sie, bis er abgegessen hatte. Darauf fragte ihn
einer, was er von dem Brückenbau hielte, den sie eben unter den Hän-
den hätten? Ja, sagte er ernsthaft, ich sehe, daß ihr eure Sache recht
gut gemacht, besonders aber, daß ihr die Brücke quer über den Fluss
gelegt habt, denn würdet ihr sie in die Länge auf den Fluss legen
wollen, so möchtet ihr das Werk nicht so geschwind endigen. Hier brach
ein jeder in Lachen aus, weil sie sich viel versprochen hatten und
nun das Gegenteil gewahr wurden. alle witzigen Einfälle haben dies
Merkmal, daß man sich in der Erwartung betrogen findet. Das Gemüt
wird dabei auf eine gewisse Art in eine andere Direktion gebracht
und gleich einem Ball zurückgeschlagen. Und eben dadurch wird eine
solche Erschütterung in dem Körper verursacht, die das Lachen genannt
wird. Woher kommts aber, daß das Lachen den Menschen so angenehm ist
da es doch nicht für den Verstand ist, und nur Ungereimtheiten
jederzeit die Ursache davon sind?
/ Wir wollen zuerst das Lachen von der Seite des Gemüts betrachten.
Es ist einmal ausgemacht, daß bei allem, was lächerlich ist, ein
Widerspruch sein müsse.
/|P_240
/Zuweilen lachen wir auch ohne denselben. Das Auslachen ist
von dem fröhlichen Lachen ganz unterschieden. Ersteres zeigt
eine Gemütsart an, die nicht die beste ist. Daher wird ein
Gutherziger nie mitlachen, sondern er tut es nur alsdann, wenn
alle mitlachen können. Das Auslachen ist auch immer affektiert.
Denn ob man gleich aus vollem Halse lacht, so empfindet man
doch etwas, was dieses Lachen mißbilligt. Einige Menschen
können sehr darüber lachen, wenn sie einen fallen sehen, da
Andere dagegen nicht lachen können, denn sie setzen sich in
die Lage des Gefallenen und denken sich, wie ihm zu Mute sein
müßte. Das fröhliche Lachen muß jederzeit unschuldig sein
und sich allen kommunizieren können. Es gibt aber auch ein La-
chen, das aus einer gewissen Verkehrtheit entspringt und zum
Nachteil des Anderen geschieht. So lacht man z.B. wenn jemand in allem
seinem Tun Pracht verraten will und oft wider Willen Armselig-
keit verrät. Man lacht in diesem Fall darüber, daß der Hoch-
mütige gedemütigt ist. Ob aber gleich hierin dem ganzen
menschlichen Geschlecht Satisfaktion geschieht, so ist dies
Lachen doch boshaft. Will einer eine pathetische Rede halten,
deren er hätte können überhoben sein, und bleibt alsdann stek-
ken, so ist das Lachen darüber erlaubt. Denn warum übernimmt
er es? Predigt hingegen ein junger Kandidat zum ersten
mal und er bleibt stecken, so wird uns zugleich dabei
mit kalt, weil der Kandidat leidet und wir uns leicht vorstel-
len können, was in ihm vorgeht. Oft geschieht es, daß jemand
aus Distraktion Ungereimtheiten begeht, worüber er selbst
lacht, wenn er sich besinnt. So schrieb einer an einen Grafen
"Mein lieber guter Johann" und an den Pächter "Hochwohlgebo-
rener Herr Graf". In diesem Fall lacht man mit. Wenn jemand
viel Umstände und Zeremonien macht und es zeigt sich das Ge-
genteil, so daß man seine Armseligkeit und das Eitle sieht
so lacht man herzlich darüber und dies demütigt ihn wegen sei-
ner Eitelkeit hinlänglich. so auch wenn ein Railleur wieder
railliert wird, denn dadurch, daß er gespottet wird, ge-
schieht gleichsam allen Genüge. Das Lachen überhaupt ist eine
Art von Bandenlosigkeit und diese ist erlaubt, wenn ihr nur
kein moralisches Gesetz entgegensteht. Wenn wir auf die Mate-
rie des Lachens sehen, so entspringt es jederzeit aus einem
sich plötzlich zeigenden Gegenteil. Ein Gascogner sah einsmal
eine Ehrenpforte, worauf der König gemalt war, dem der Genius
einen Lorbeerkranz über den Kopf hielt, und sagte: Es ist ja
nicht zu sehen, ob der Genius dem Könige den Lobeerkranz ab-
nimmt oder aufsetzt. Man lacht bisweilen auch über eine Klei-
dung, die nicht Armseligkeit, sondern Eitelkeit verrät. Son-
derbar ist der Putz der Hottentottenweiber. Eine Braut denkt
ihrem Bräutigam sehr liebenswürdig vorzukommen, wenn sie sich
mit Schaffett beschmiert und sechs schwarze Striche ins Ge-
sicht malt. Man hat gesehen, daß beim Lachen ein Widerspruch
sein muß, der eine Ungereimtheit ist und wenn sie plötzlich
kommt, ein Lachen verursacht. Dieses Lachen läßt ein Anden-
ken bei uns zurück. Denn wenn wir auch die prächtigsten Spei-
sen, die wir in einer Gesellschaft gehabt, längst vergessen
haben, so erinnern wir uns doch noch dieser oder jener Erzäh-
lung, die dabei vorkam und worüber wir so sehr gelacht, und
sind unzufrieden, wenn Andere, denen wir den Spaß erzäh-
len, nicht mitlachen wollen. Dies zeigt aber eine Schwäche
unser selbst an, wenn man einen solche Sache nicht vergessen
kann, sondern für sich darüber noch lächelt! Boshaft ist das
Lachen über die Torheit Anderer. Denn es zeigt wenig Verstand
an, und man hat wenig Ursache sich zu freuen, daß man nicht
/|P_241
/so dumm ist wie Andere, und man müßte auf der Straße bestän-
dig lachen. Wir können auch gar nicht einsehen, daß eine Un-
gereimtheit eine Ergötzlichkeit sei oder eine machen könne.
Es ist nicht immer so leicht, die Ursache des Lachens durch
einen Widerspruch einzusehen. Heinrich_IV. sah im Louvre einen
Landedelmann mit einer trotzigen Miene auf und nieder gehen.
Es schien, daß er selten müsse aus seinem Dorf gekommen sein,
wo er der vornehmste war. Der König war schlecht angezogen und
fragte ihn: "Wem dienen Sie?" Er antwortete: "Keinem, sondern
ich bin mein eigener Herr." Hierauf sagte der Kö-
nig: "So bedaure ich Euch, daß Ihr einen solchen Flegel zum
Herrn habt." Hier steckt der Widerspruch darin, daß der König
beim Bedauern etwas Gutes zu sagen scheint und just das Gegen-
teil meint. Ein Indier war bei einem vornehmen englischen
Herrn in der Faktorei auf der Insel Surate zu Gaste.
Bei Öffnung einer Bouteille Champagnerwein sah er, daß der
Wein herausspritzte und wunderte sich darüber. Der Engländer
fragte, worüber er erstaune, da dies doch nichts Besonderes
wäre. Der Indier ärgerte sich darüber, daß er sich so bloß-
gegeben, und sagte: "Ich wundere mich nicht, daß es an die
Decke spritzt, sondern wie Ihr dies habt in die Bouteille hin-
einbringen können." Je mehr das Gemüt ernsthaft zu sein
scheint und gleich einem Balle zurückgeschlagen wird, einen
desto größeren Schwung nimmt es. Die wahre Fröhlichkeit des
Lachens ist die melancholische. Hierdurch können viele andere
Sachen erklärt werden. Warum gehen wir z. B. gern in eine
Tragödie, um zu weinen? Das melancholische Lachen wird bei
denjenigen Menschen leicht excitiert, die kitzlig sind. Das
Kitzeln ist eine Reizung der Nerven und Fasern, deren Zuckun-
gen und Erschütterungen sich bis zum Zwerchfelle propagieren,
welches den ganzen Leib umgibt. Daher zieht ein Mensch, wenn
er weiß, daß er geneckt werden wird, schon zum voraus die
Fasern zusammen, daß sie gespannt werden. Berührt man diese
gespannten Fasern, so erfolgt ein gespanntes Schrecken. Das
Schwanken des Zwerchfells bringt eine Bewegung in der Lunge
herfür, und die Lunge, die alsdann die Luft geschwinder als
sonst einzieht und ausstößt, bringt alle Blutgefäße in Bewe-
gung, und diese große innere Bewegung ist das Lachen. Der Ge-
danke also, der beim Lachen ist, macht nicht fröhlich, son-
dern die innere Bewegung durchs Lachen. Es ist dies eine bes-
sere Bewegung, als Holzsägen und Reiten. Denn die Transpiration
wird nach dem Lachen vergrößert und der Mensch findet sich
ganz renoviert. Hingegen ist das unmäßige Lachen schädlich
und erschlafft die Nerven und Fasern. Daher sitzen einige,
die scharf gelacht haben, träumerisch da, so daß man von
ihnen sagt: "sie sind wie auf die Nase geschlagen". Wenn die
Medici wüßten, daß eine innere Bewegung weit besser sei
als eine äußere, so würden sie mit einem Patienten sorgfälti-
ger umgehen und ihm bei einer Motion zugleich einen Gesell-
schafter mitgeben, der ihn lachen macht. Unsere Seele denkt
nie allein, sondern im Laboratorio des Körpers, zwischen wel-
chen beiden immer eine Harmonie ist. Alle Handlungen des Ge-
müts haben eine harmonische Bewegung im Körper, und so wie
die Seele denkt, bewegt sich der Körper mit. Die Gedanken be-
wegen die Fasern und die Bewegungen des Gehirns gehen weiter
fort und verursachen die Handlungen.
/|P_242
/Daher macht der plötzliche Absprung der Gedanken eine zittern-
de Bewegung im Zwerchfell und frappiert uns. Als Heinrich_III.
die Magistratspersonen einer kleinen Stadt entgegenkamen und
Esel mithatten, so hielt einer von den Magistratspersonen eine
Rede an ihn, während welcher ein Esel gräßlich zu schreien
anfing, worauf der König sagte: "Ihr Herren Magistratspersonen,
redet doch nicht alle untereinander, damit ich die Rede des
einen verstehen kann." Die Heilkraft des Lachens macht vergnügt
nicht die Ungereimtheit. Daher muss derjenige, der Andere zum
Lachen bringen will, es sich anfänglich nicht merken lassen,
sondern den Kontrast bis zuletzt ersparen. Denn das Gemüt muß
treuherzig einen solchen Weg geführt werden. Und wenn man eine
solche Sache nicht so ernsthaft erzählen wollte, so würde zwar
die Ungereimtheit bleiben, das Lachen aber wegfallen. alles
also, was das Lachen verursacht, gefällt dem Gemüt nicht un-
mittelbar, sondern weil der Absprung der Gedanken die Nerven
erschüttert, die Erschütterung aber bis zum Diaphragma, von
diesem bis zur Lunge gelangt, und also die innere Bewegung
verursacht. In der Gesellschaft mag jeder gerne erzählen und
wartet begierig, wenn der andere aufhört, bloß weil ihm das
eine größere Motion macht, als wenn ihn ein Anderer erschüt-
tert. Er lacht über die Erzählung eines Anderen, weil die ihn
auf eine weit lächerlichere bringt, die er gleich darauf er-
zählen kann, und er behält eine solche Historie, damit er An-
dere wieder damit zum Lachen bringen kann. Ebenso ist es auch
mit den tragischen Bewegungen beschaffen, da uns bald Zorn,
bald Hoffnung, bald Großmut rührt. Unsere Gliedmaßen sind
von der Art, daß einige die Ausdehnung, andere die Zusammen-
ziehung der Gefäße des Blutes bedürfen. Daher geht man der
Transpiration wegen in die Komödie. Geht man aber in die
Tragödie und vergießt Tränen oder empfindet doch wenigstens
alles das, was Tränen erwecken kann, so ist es so gut, als
ließe man sich schröpfen. Es ist gewiß, daß das Weinen er-
leichtert, wenn man sich auch schämt in Tragödien zu weinen,
denn es sind doch alle Bewegungen des Weinens dagewesen. Nur
muß es nicht unsere eigenen Angelegenheiten betreffen, denn
diese liegen uns zu lange im Kopf. Auch ist es gut, wenn die
Menschen bisweilen in Affekt gesetzt werden. Nur muß sich ihm,
wenn er z. B. zum Zorn gereizt wird, niemand widersetzen, da-
mit er auspoltern und mit einer gewissen Beredsamkeit seinen
Zorn äußern kann. Ein solcher Mensch kommt hernach recht mun-
ter in die Gesellschaft. Viele Ärzte haben dies mit ihren Pa-
tienten versucht und es ist ihrer Gesundheit sehr zuträglich
gewesen. Wir übergehen hier das Kapitel vom Geschmack, weil
vorher von allen Erkenntniskräften, dann vom Gefühl der Lust
und Unlust, wohin auch die Lehre vom Geschmack gehört, die
Rede sein wird.
/ ≥ II. Von dem Verstand oder dem Obererkenntnisvermögen. ≤
/ Unsere Erkenntnis ist entweder sensitiv, zur Sinnlichkeit
und Anschauung gehörig, oder sie ist intellektuell, das Vermögen
sich etwas durch allgemeine Begriffe vorzustellen, welches der
Verstand ist.
/|P_243
/ Der Verstand als das Obererkenntnisvermögen begreift unter
sich
/ 1. Verstand ist das Vermögen der Regeln, zu urteilen.
/ 2. Urteilskraft ist das Vermögen, zu sehen ob etwas
unter der Regel steht.
/ 3. Vernunft ist das Vermögen zu schließen, aus den Regeln,
nach den Regeln das Besondere aus dem Allgemeinen abzu-
leiten.
/Vorzüge des Verstandes - Er macht alle übrigen Vermögen brauchbar
dirigiert alle anderen Gemütskräfte und macht alle übrigen Talent
Der präsidierende Verstand ist die oberste Kraft der Seele. Lei-
denschaftliche vergleichen ihre Handlung nur mit einer Neigung
und vergessen sie mit der Summe aller übrigen zu vergleichen.
Daher sie Sklaven ihrer Leidenschaft heißen.
/ Ohne Urteilskraft kann niemand zu einem Grad der Vollkommen-
heit gelangen. Juristen, Ärzte, wenn sie gleich die beste Theorie
haben, sind, wenn ihnen Urteilskraft mangelt, unbrauchbar. Ur-
teilskraft kann nicht instruiert werden, geht nur durch Übung an-
zuwitzigen. Unter gesundem Verstande versteht man oft Urteils-
kraft. Er ist eigentlich richtige Anwendung der gegebenen Regeln.
Erfahrungsregeln lassen sich mit ihren Folgen nicht a priori be-
stimmen. Urteilskraft wird dem Witz entgegengesetzt und ist das
Vermögen unter vielem den Unterschied zu bemerken. Die Urteils-
kraft ist zwiefach.
/Vergleichende Urteilskraft, diese ist von Scharfsinnigkeit
verschieden, erstere besitzen selbst Tiere.
/2. verknüpfende Urteilskraft ist die, wodurch wir unsere Erkennt-
nis mit den Regeln verknüpfen.
/Der Verstand urteilt a posteriori, die Vernunft schließt a priori.
- Man sagt von jemandem, er habe Verstand, wenn er nicht nur das
Vermögen des Verstandes hat, sondern sich auch desselben bedient.
Viele zeigen in ihren Raisonnements, daß sie viel Verstand ha-
ben, sie gebrauchen ihn aber nicht. Verstand haben heißt etwas
verstehen. Es gehört aber viel dazu eine Sache zu verstehen, wie
sie sei. Oft stellen wir uns etwas vor, ohne es zu verstehen. So
bedienen wir uns vieler Sprichwörter, ohne ihren sensum zu ken-
nen. Die Definitiones von Sachen dienen zum Verstehen. Die Men-
schen äußern bei allen Kräften des Gemüts keine so große Eifer-
sucht, als wenn es auf den Punkt des Verstandes ankommt. Sie ge-
stehen ihre blöden Augen, Witz, schwach Gedächtnis u.s.w., nur in
Ansehung eines gesunden Verstandes und eines guten Herzens wollen
sie keinem nachstehen. Dies kommt daher, weil der Verstand
alle übrigen Vermögen brauchbar machen kann. Denn ohne Verstand
helfen uns unsere Seelenkräfte nichts. Die größte Schärfe der
Sinne, die Stärke des Witzes, gut Gedächtnis würde den Menschen
noch mehr herabsetzen, als wenn sie alle schlechter wären. Die
übel disponierte Proportion unserer Erkenntniskräfte mit dem
Verstande macht die größte Häßlichkeit der Seele aus. Gleichwie
aber ein Mensch deshalb noch nicht ausserordentlich schön ist,
wenn alles bei ihm in gehöriger Proportion ist, so ist auch ein
kleiner Verstand nicht zu verwerfen, wenn nur alles danach pro-
portioniert ist. Es ist dies gleichsam ein Mensch nach dem ver-
jüngten Maßstabe. Denn nur die Disharmonie und Disproportion
macht die Häßlichkeit aus. Z.B. gut Gedächtnis, Witz, aber ohne
Verstand. Die Seele ist gleichsam ohne Verstand krüppelhaft.
Einem Menschen, der z. B. viele Dinge im Gedächtnis, aber wenig
im Verstand hat, laufen oft viele Sachen nur den Kopf, die ihn
da er sie oft unrecht anbringt, lächerlich machen. Viele Leute
/|P_244
/studieren, um recht große Narren zu werden. Denn da sie viel ge-
hört und nichts recht verstehen, so wollen sie von allem urteilen,
welches dann dumm herauskommt. Solche Leute aber sind in der Ge-
sellschaft unerträglich, Schreihälse. Als jemand in einer Gesell-
schaft war, wo sich ein solcher Schreihals befand, der von allem
redete und nichts verstand, lenkte er das Gespräch so herum,
daß er erzählte, daß Xerxes einen bestellt hätte, der bei der
Tafel immer ausrufen mußte: "Gedenke, König, daß Du ein Mensch
bist!" Dies applizierte er auf den Schreihals und sagte ihm, er
sollte auch jemanden bestellen, der ihm zurufe: "Gedenke, daß Du
ein Narr bist!" So wie der Himmel oft einen Verschwender mit Mil-
lionen heimsucht, so trifft es sich auch, daß mancher, der keinen
Verstand hat, andere Fähigkeit im großen Maß bekommt. Man sagt: Ver-
stand kommt nicht vor Jahren. Man sollte statt des Wortes "Verstand" eigent-
lich Urteilskraft" sagen. Denn Verstand kann wohl frühzeitig sein,
aber nicht Urteilskraft, sie bedarf Jahre.
/Gattungen des Verstandes. - Wir können uns einen Verstand denken,
der durch die Erfahrung klug geworfen und die genugsame Urteils-
kraft in Ansehung der Erfahrung hat. Ein Mensch, der ihn hat,
attendiert auf alles, was in die Sinne fällt, und wird also durch
Erfahrung klug. Viele aber werden auch wieder nicht durch Erfah-
rung klug, weil sie wenig Acht darauf haben. Nur selten findet es
sich aber, daß wirklich scharfsinnige Leute diesen empirischen
Verstand besitzen. Denn es ist ein Vermögen in abstracto zu erken-
nen ganz unterschieden von dem, was in concreto zu beurteilen
ist. Warum nennt man einen Medicus einen großen Theoreticus, aber
schlechten Practicus? Deshalb weil mancher einen empirischen guten
Kopf hat, der gute Regeln auf einen gewissen Fall geben kann, aber
keinen spekulativen Verstand besitzt und seine Regeln nicht all-
gemein machen kann.
/Spekulativer Verstand ist derjenige, der in sich selbst die Regeln
der Anwendung enthält. - Wenn alte Leute sagen, sie wollten, wenn
sie noch einmal geboren würden, ihr Leben nach einem ganz andern
Plane einrichten, so irren sie. Denn wenn dieselben Umstände blie-
ben, so würden sie gewiß wieder ebenso handeln, als sie vordem
gehandelt haben.
/Viele haben bloß einen praktischen Kopf. So finden sich z. B.
Leute, die ein vortreffliches Augenmaß haben in Ansehung der
Kunstwerke. Es gibt Leute, die in der Kunst aus zerbrochenem Por-
zellan schöne Stücke zu machen, z. B. Tische auszulegen, Rabatten
auszuziehen u.s.w. so fertig sind, daß sie gleich wissen, was für
eine Farbe von Porzellan sie ergreifen sollen, um den Tisch zier-
lich auszulegen, und so ist es auch mit den Sinnen. Einem guten
Pferde darf man nur, wenn es an einen Graben kommt, den Zügel
schließen lassen, und es hat schon das Augenmerk, ob es hinüber-
kommen wird oder nicht. Was dazu erfordert wird, in Ansehung des
Augenmaßes, den praktischen Verstand zu kultivieren, wäre für
einen denkenden Kopf noch etwas untersuchungswürdiges.
/Der theoretische Verstand ist der, der alles auf allgemeine Sätze
anwendet, Von solchen heißt es aber: lateinische Wirte taugen
nichts.
/ Es gibt im Grunde einen doppelten Verstand,einen kann man
Talent, den andern Verdient nennen. Diejenigen Menschen, die die
vorgelegten Dinge verstehen und gut beurteilen können, haben Ta-
lent. Nun gehört aber auch ein Verstand dazu, der da überlegt, was
/|P_245
/man von diesem Talent für einen Gebrauch machen kann, und dies
ist der dirigierende Verstand (als ein Verdient), vermittelst des-
sen man von dem Ganzen alles Möglichen auf die Teile geht, da
hingegen das Talent oder der subordinierte Verstand von den Tei-
len zum Ganzen hinaufsteigt. Der dirigierende Verstand geht vom
Allgemeinen zu besondern Teilen fort, beurteilt die Sachen und
macht sie stimmig mit seinem allgemeinen Plane. Obgleich viele
wirtschaftsverständige Bauern auf einem Gute sind, so wird ihnen
dennoch ein Arrendator gesetzt. Denn die Bauern haben einen sub-
ordinierten Verstand. Sie arbeiten alle. Jedoch fehlt es ihnen
am dirigierenden Verstande, der die Wirtschaft im ganzen über-
sieht und die Arbeiten so verteilt, daß ein jeder Tag mit demje-
nigen, was im ganzen Jahre verrichtet werden soll, einen Zusammen-
hang hat. Den subordinierten Verstand kann man auch den admini-
strierenden nennen. Viele Menschen besitzen einen guten
administrierenden Verstand, so daß sie zu allem geschickt sind. Allein
die dirigierende Kraft fehlt ihnen, und sie wissen diese Geschick-
lichkeit nicht zu einem allgemeinen Zwecke anzuwenden. Einige
halten die Königin Christina von Schweden für eine kluge, Andere
aber für eine einfältige Dame, und beide haben Recht. Sie hatte
große Talente und einen guten administrierenden Verstand. Sie
besaß eine große Geschicklichkeit ihre Sachen auszuführen,
mehr als viele Männer. Auf der anderen Seite hingegen war wiederum
keine Prinzessin so unklug, als sie. Sie war nicht imstande eine
gute Wahl ihrer Zwecke und Projekte zu treffen, und es fehlte ihr
also der dirigierende Verstand. Sie hatte alle Ehre, die ihr nur
möglich war, und doch schienen ihre Untertanen so ungesittet zu
sein, daß sie ihre Talente nicht gewahr werden konnten. Sie
reiste herum, changierte die Religion, wurde andern Höfen lästig
und bei ihrem Verstande unglücklich. Was sie redete waren alles
sehr kluge Sachen, was sie aber tat, war alles nicht kluges
Zeug. Der dirigierende Verstand muß alles zusammennehmen und
fragen, wozu soll das dienen und was wird nun mein Zweck sein?
Viele arbeiten Sachen, Andere führen sie aus. So ist es beim Bau
einer Stadt, eines Hauses u.s.w. Einer macht den Riß davon, der
Andere baut es. So geht es auch den Komödienschreibern. Sie
wissen, wenn sie einer Person eine Rolle geben, sie diese vor-
trefflich spielen zu lassen, sich gut auszudrücken. Liest man aber
die Komödie zu Ende, so läuft der Leser das ganze Stück durch
und sieht auf die Verbindung und kann alsdann oft nicht einsehen,
warum der Dichter diese oder jene Person hineingebracht hat.
Goldoni ist im Komischen vortrefflich. Z.B. Der Diener zweier
Herren. Wenn ich aber ans Ende komme, so laufe ich das Stück
durch, frage ich nach dem rechten Zweck und finde ihn nicht. So
weiß man beim Lessing, soviel Witz er immer auch zeigt, wie z. B.
im Freigeist, wo Theophan viel Gutes sagt, doch nicht, warum er
ihm diese Rolle gegeben. Solche Komödienschreiber haben einen
administrierenden, aber keinen dirigierenden Verstand. Wenn man also
den einen als verständig preisen, den andern tadeln hört, so darf man
nur auf den doppelten Verstand rekurrieren.
/ Der Verstand, insofern er Talent ist, zeigt sich frühzeitig,
und junge Leute können ihn in einem großen Grade haben. Aber von
dem verdienstlichen Verstande, nach dem allgemeinen und verhältnis-
weisen Wert die Dinge zu schätzen und zu betrachten, heißt es mit
Recht: Verstand kommt nicht vor Jahren. Er verspätet sich zuweilen
bis ins 40. Jahr. In diesem Alter geht alsdann gleichsam eine
Palingenesie im Verstande vor. Man verliert alsdann oft die An-
hänglichkeit an dies oder jenes Ding, das uns vorher viel wert
war. Beweise, die vorher unwidersprechlich schienen, sind hernach
beim reifen Verstande von keiner Wichtigkeit. Der Verstand heißt
der richtige, der gesunde, der durchdringende, ausgebreitete, tiefe.
/|P_246
/ Der richtige Verstand ist der, der nicht durch den Witz
der Gaukler die Seele verdorben, und irre gemacht wird, und be-
steht darin, daß man nichts zuläßt, was nicht mit abgemessener
Wahrheit genau paßt. Oder die Richtigkeit des Verstandes beruht
darauf, wenn der Verstand so scharf ist, daß er in der Ausübung
immer durch die Erfahrung bestätigt wird. Behender Verstand ist
nicht immer richtig. Zur Richtigkeit des Verstandes gehört Klar-
heit. Richtiger Verstand ist überhaupt gemeinhin ein natürliches
Talent. Vor allen andern Nationen haben die Engländer einen rich-
tigen Verstand. Er ist aber nicht immer mit Lebhaftigkeit verbun-
den, sondern oft sehr langsam, aber um so zuverlässiger.
/ Männlicher Verstand ist derjenige, der die Regeln aus sich
selbst und nicht von Andern hat. Der Frauenzimmerverstand kopiert
sich nach den Regeln Anderer. Frauenzimmer müssen sich nach den
rühmlichen Beispielen Anderer richten, Männer sich selbst eine
neue Bahn brechen. Der männliche Verstand ist derjenige, der
keine Regeln abborgt. Das Frauenzimmer hat wohl einen subordinier-
ten Verstand oder Talent, aber keinen dirigierenden. Daher sind
sie geschickt, die Mittel, so ihnen an die Hand gegeben sind, aus
zuführen, aber sie können sich nie einen rechten Begriff vorset-
zen oder selbst gute Zwecke wählen, sondern es läuft alles auf
Tändelei aus. Überhaupt ist es mehr für den männlichen, als den
weiblichen Verstand, den Wert der Dinge zu schätzen. - Daß weib-
liche Regierungen gemeinhin gut abgelaufen sind, kommt daher,
weil sie sehr gelinde waren und das Volk sozusagen sich selbst
regierte. - Ebenso ist es auch mit den Wissenschaften. Es ist da-
bei wie auf einem Schiff, wo alle Menschen ihre Arbeit wissen.
Aber einer muß sie dirigieren.
/ Einige Menschen haben einen technischen Kopf, der bei be-
sonderen Stücken, in einzelnen Sachen sich vortrefflich zeigt und
subtil ist, aber aufs Ganze keinen Blick werden kann. Sie sind
wie Leute die weit gereist sind und die Landkarte nicht kennen.
Sie wissen von jedem Ort etwas zu erzählen, aber sie haben keinen
Begriff vom ganzen Lande und seiner Verbindung. So malen manche
Maler gute Füsse, aber nicht proportionierte ganze Statuen.
/ Andere haben einen architektonischen Kopf. Diese entwerfen
Risse und übersehen das Ganze, welches sie alsdann den techni-
schen Köpfen zur Ausarbeitung überlassen. So geht es auch der Ju-
gend, der man viel gelehrt, aber nie den Geist aus vielen Wissen-
schaften herausgezogen hat. Manche Wissenschaften sind so beschaf-
fen, daß man vom Ganzen auf die Teile gehen muß, z.B. Geogra-
phie und Astronomie. Dieser präsidierende Verstand nun ist die
oberste Kraft der Seele. Menschen, die voll von Leidenschaften
sind, vergleichen nie das, was sie tun, mit dem Ganzen aller ih-
rer Zwecke, sondern nur mit einer ihrer Neigungen und vergessen
sie mit der Summe aller übrigen zu vergleichen, daher sie auch
Sklaven ihrer Leidenschaften genannt werden. Es ist aber schänd-
lich, wenn ein großer Herr (der Verstand) gleichsam degradiert
hinter dem Pöbel der Leidenschaften gehen muss.
/ Pyrrhus, König in Macedonien und Nachfolger des großen
Alexander, hatte den Kopf voller großen Taten. Einst sagte er
zu seinem Hauptmann Kineas: "Nun will ich nach Italien gehen und
die Römer überwinden." Dieser fragte ihn: "Und hernach?" Dann
will ich nach Kleinasien ziehen, um die Völker zu demütigen, und
dann nach Syrien. Kineas fragte ihn weiter: "Und hernach?"
"Dann wollen wir in Ruhe ein Glas Wein trinken." "Ei", sagte
/|P_247
/Kineas, "so wollen wir jetzt lieber anfangen zu trinken. Denn δ_Defekt
weiß, was für Ungemächlichkeiten dort auf uns warten". Hier ist
klar, daß die Menschen, die in Leidenschaften sind, niemals au@ δ_Defekt
Ganze zusammengenommen sehen. Es gibt ungemein kluge Frauenzimmer,
denen fast allen der dirigierende Verstand fehlt. Sie können nicht
einsehen, warum sie nicht die Herrschaft erhalten. Und doch sagen
sie, wenn sich der Mann ins Unglück gebracht und man es ihnen
vorwirft, der Mann hätte sollen klüger sein. Es ist auch nicht zu
leugnen, daß es Fälle gibt, wo dem Manne der dirigierende Verstand
fehlt und die Frau ihn besitzt. Mit solchen Frauen mag ich nicht
gern viel zu tun haben. Allein man muß eine jede Regel, wenn
auch einige Folgen davon abgehen, soviel möglich ist, allgemein
lassen. Nach meiner Meinung ist den Männern durchgehends die Herr-
schaft anvertraut. Die Ursache ist diese, weil die Natur doch et-
was in den Mann gelegt, was man bei der Frau vergeblich suchen
wird. Der erfinderische, witzige Verstand der Frauenzimmer, der
die Entwürfe des Mannes exsequieren soll, ist vom dirigierenden Ver-
stande des Mannes so sehr unterschieden, daß der Mann gegen die
Frau wie ein Klotz aussehn kann. Und dies ist bisweilen die Ur-
sache, daß sie sich wundern, warum sich der Mann die Herrschaft
anmaßt. Denn weil sie nicht wissen, daß ihnen dieser Verstand
fehlt, so glauben sie alle herrschen zu können. Sonderbar ist es
doch, daß die berühmtesten, klügsten Weiber, die die besten Bü-
cher geschrieben, die dümmsten Dinge angegeben haben. Dieser tech-
nische Frauenzimmerverstand ist den Leidenschaften zinsbar, er
wird durch sie verdunkelt und muß ihnen wie ein Sklav nachge-
hen. Der große Dichter Milton hatte Cromwells Partei gehalten. Da nun
die Partei des Königs gewaltiger wurde, so traten viele von
Cromwells Partei ab zu der des Königs. Milton tat es aber nicht. Nun
aber wollte man doch einen so großen Mann gern erhalten und bot
ihm eine Stelle eines lateinischen Sekretärs an, wenn er zur Par-
tei des Königs treten wollte, wobei er viele tausend Pfund Ster-
ling bekommen hätte. Milton aber, der von der Würde einer repu-
blikanischen Regierungsform allzu überzeugt war, blieb unbeweg-
lich. Seine Frau, die ihn herzlich liebte, suchte ihn zu bereden
und gebrauchte alle möglichen Vorstellungen dazu. Milton aber
sagte: "Ach, meine werteste, Sie haben ganz recht, Sie und all
ihr Geschlecht will in Kutschen fahren, ich aber will ein ehrli-
cher Mann bleiben."
/ Der Verstand ist vom Witz ganz unterschieden. Der Verstand
ist beständig, dauerhaft, der Witz aber flatterhaft. Wer Witz ohne
Verstand besitzt, der ist ein Witzling. Der Verstand ist tätig und
gesetzt. Darum nimmt man in der Fabel den Fuchs für witzig an und
läßt einen standhaften gravitätischen Ochsen verständig reden.
Ein Verstand ist aufgelegt zu Einfällen, ein anderer zu Einsichten.
Ersteren besitzen die Frauenzimmer, denn alle Wissenschaften, Po-
litik, Moral, Metaphysik - nur die Mathematik ausgenommen - be-
stehen bei ihnen in Einfällen. Ein Einfall ist eine Erkenntnis,
die ohne einen überdachten Zusammenhang derselben mit anderen Er-
kenntnissen entspringt. Er gefällt alsdann am besten, wenn er un-
erwartet und überraschend, selbst dem, der ihn vorbringt, im
Munde kommt. Hingegen ist ein ganzes Buch voller Einfälle uner-
träglich. Einfälle gefallen nur, wenn sie bisweilen vorkommen. Die
Deutschen sind zu Einfällen nicht geneigt. Denn ihr Naturell ist,
langsam und bestimmt verständig zu schreiben. Die Engländer haben
auch zuweilen Einfälle, die man mit Recht witzige Grimassen nennen
kann, weil sie gar zu sehr überlegt und ausgesonnen zu sein
scheinen, daß sie der Munterkeit der Franzosen gar nicht bei-
kommen.
/|P_248
/ Die französische Nation ist die Mutter des Geschmacks. Es
kommt ihr keine als die der alten Griechen gleich. Man kann ihnen ge-
wissermaßen die Italiener an die Seite stellen. Diese aber haben
nur einen Geschmack der Sinne, z. B. in der Baukunst, Malerei,
Bildhauerkunst.
/ Der Verstand wird ferner eingeteilt in den seichten und
gründlichen. Der seichte erkennt gleichsam nur die Oberfläche
der Dinge. Der gründliche aber dringt ins Innere der Dinge hinein.
Mancher Kopf ist von Natur seicht (superficiel), ein anderer ist
sinnig und gründlich. Die Redekunst macht seichte Köpfe. Die Ma-
thematik konnte aber gründliche Köpfe bilden, wenn sie sich nicht
bloß mit einem Gegenstande, nämlich mit den Grössen, beschäftig-
te. In der Erziehung hüte man sich mit der Redekunst anzufangen,
besser mit der Mathematik. Noch besser aber ist es, wenn man jun-
gen Leuten gleich im Anfange moralische Sätze vorlegt, und sie ih-
nen hinlänglich beweist, denn man lehrt sie dadurch nichts ohne
Grund anzunehmen. Die Engländer sind diejenigen, die am gründlich-
sten denken, d. h. ihre Sachen sind der Idee adäquat, die man von
der Sache hat. Und wenngleich die Arbeit der Franzosen mehr Ge-
schmack verrät, so fehlt ihr doch die Präzision und Abgemessen-
heit der englischen Arbeit. Der gründliche Verstand unterscheidet
sich vorzüglich dadurch vom seichten, daß er die Sa-
chen komplett bis auf die ersten Gründe sucht. Ein Tischler, der
alles so macht, daß es zusammenpaßt, hat einen gründlichen Ver-
stand. Denn sobald eine Sache adäquat ist der Idee, die der Sache
zum Grunde liegt, so ist sie gründlich.
/ Es gibt ferner einen anhaltenden oder flüchtigen oder tu-
multuarischen Verstand. Letzterer ist der, der vom Witz dahinge-
rissen wird. Der Verstand ist folgendermaßen von der Vernunft
unterschieden. Der Verstand urteilt über alles, was ihm durch die
Erfahrung vorgelegt wird, und darf also nur das verstehen, was
ihm gegeben ist, a posteriori. Die Vernunft aber urteilt a priori,
d. h. über Dinge, die durch keine Erfahrung gegeben sind, und dies
heißt man schließen. Und nur durch Schließen kann man etwas
fürs Künftige herausbringen. Man fordert daher von diesem oder
jenem Menschen, daß er nur Vernunft haben soll, um vorauszusehen,
daß dies oder jenes geschehen oder nicht geschehen werde. Wenn
man z. B. einem Juden, dessen Aufenthalt man nicht weiß, Geld
bringt, so ist leicht zu vermuten, daß er es nicht wiedergeben
werde. Aber wenn man Vernunft hatte, so konnte man es auch leicht
voraussehen. Vorstellungen also, die zur Erkenntnis der Erfahrung
gehören, betreffen den Verstand. Vorstellungen aber, die zur Prae-
vision dienlich sind, bringt die Vernunft zuwege. Wenn z. B. ein
General beordert wird, seinen Platz zu behaupten und den Feind
davon abzuhalten, so braucht er nur Verstand, daß er diese Ordre
recht verstehe. Wenn er aber beordert wird, den Feinden Abbruch
zu tun, so gehört hierzu Vernunft. Denn hier muß er selbst
schließen, wie dies am füglichsten angehen könne. Und so braucht
ein Bedienter nur Verstand, ein Mandatarius, Hofmeister muß aber
Vernunft haben. Herren, die despotisch regieren wollen, haben
gern Bediente, die nichts als Verstand besitzen. Man sollte nicht
eher Begriffe gebrauchen, als bis man sie versteht. Indes brau-
chen doch viele Leute Worte, die sie in ihrem Leben nicht verste-
hen. Ja selbst Philosophen tun dies und daher entsteht dann ein
vieljähriger Streit, bis man endlich darauf verfällt und fragt:
Was versteht man dadurch? So ist z. B. gewöhnlich, daß man einem
Kranken saftige Speisen verbietet. Der Arzt rezensiert auch wohl
/|P_249
/einen ganzen Catalogum von solchen Speisen, ohne selbst zu wis-
sen, was saftig ist als Schweinefleisch, weisse Erbsen usw. und kommt
dabei oft selbst in Verlegenheit. So ist's auch mit dem worte
"Gift". Bald meint man das Gift, was schädlich ist, bald das,
was in der Medizin gebraucht wird und verwirrt endlich den Be-
griff dadurch so sehr, daß man nicht weiß, was Gift ist. Wenn
man aber den Begriff Gift dadurch erklären wollte, daß man
sagte: Gift ist dasjenige, was keinen Bestandteil des menschli-
chen Körpers ausmachen kann, und also durch die innere Mechanik
fortgetrieben wurde, so wäre dies der wahre Begriff von Gift. Und
so konnte man viel Medizin zum Gift rechnen, z. B. Quecksilber,
denn es kann nicht ein Teil des Körpers bleiben. China aber und
Eisen gibt wirklich dem Körper Nahrung und ist also kein Gift.
Gift hieß in den alten Zeiten Dosis und zeigte nicht Schlimmes
an, daher auch Zugift soviel heißt als Zugabe. Und venenum kommt
von venumdare, welches aber durch "verkaufen" übersetzt wird.
Wenn man so die ganze Sprache durchgehen wollte, so würde man er-
staunen über die Menge von Wörtern, die die Menschen gebrauchen
und doch nicht verstehen, so daß mancher sich selbst nicht ver-
steht. Man suche erst ein Wort, eine Sache zu verstehen und dann
raisonniere man über die Sache. Die Menschen bedürfen der Vernunft
nicht so viel als des Verstandes. Will man also den Kindern den
Verstand excolieren, so muß man es dahin zu bringen suchen, daß
sie die Worte, mit denen sie einen zweideutigen Begriff verknüp-
fen, recht verstehen lernen, und sie werden hierdurch gewohnt
werden, nicht so leicht anzunehmen, was sie nicht verstehen. Die
Definitiones dürfen aber nicht die Quellen und Gründe der Begriffe
sondern nur bloß das Verstehen entdecken und eröffnen. Der Ver-
stand aber wird analytisch, wenn man seine eigenen Begriffe zer-
gliedert. Alle moralischen Begriffe sind solche Verstandesbe-
griffe. Sie entspringen aus dem Verstande und nicht aus den Sin-
nen.
/ Gemeiner Verstand ist derjenige, der jedem zum Muster die-
nen kann, das, was man im Französischen sens commun nennt. Aber
ganz etwas anderes ist sens vulgaire, d. h. soviel als der Ver-
stand, den alle Menschen haben. List zeigt eine gewisse Überle-
genheit an. Doch hat der Betrüger nicht immer mehr Verstand als
der Betrogene. Sonst gewöhnlich läßt sich ein Mann von ausge-
breitetem Verstande nicht betrügen. - Arglist ist gemeinhin Ein-
geschränktheit des Geistes. - Viele hat man gerne in Gesell-
schaften nicht eben um durch Unterhaltung sich mit ihnen zu ver-
gnügen, sondern um ein zufriedenes Gesicht zu sehen.
/ Vom gesunden Verstande. - Es gibt einen scharfsinnigen, leb-
haften und ausgebreiteten Verstand. Allein der gesunde Verstand
hat doch den größten Beifall, ob er gleich seine Schranken hat.
Durch ihn erkennen wir Recht und Unrecht, nicht aber aus den Sin-
nen. Denn sonst würden wir an allen Orten Gegenstände davon entdecken.
Wir stutzen bei der Fragen: Was ist Recht? Uns ist wunderbar,
daß man nicht nach tausend Jahren sich besinnt zu fragen, was
man im Anfange vergessen und oft darüber gestritten hat. Der
Mensch bittet um das Wenigste, wenn er um Gesundheit des Verstan-
des bittet, und alle Wünsche, die darüber gehen, scheinen unver-
schämte Bitten zu sein. Denn der gesunde Verstand ist gleichsam
nur das tägliche Brot, um das wir bitten sollen. Er ist notwendig
wie die Gesundheit des Körpers. Sowie aber eine gekünstelte und
nur durch Arzneimittel unterhaltene Gesundheit keine Gesundheit
/|P_250
/des Körpers ist, so muß auch der gesunde Verstand ungekünstelt
sein. Denn er ist nicht eine Sache der Kunst, sondern er liegt
im Naturell zum Grunde. Er gehört also dazu, und es wird von ihm
nur erfordert, daß er richtig sei. So wie aber zur körperlichen
Gesundheit nicht Lachen und Springen, sondern nur die Kongruenz
mit den wesentlichen Handlungen erfordert wird, so braucht auch
beim gesunden Verstande eben keine Gründlichkeit, Schärfe, Leb-
haftigkeit zu sein. Diogenes sagt vom Plato, der ihm zweimal so-
viel gab, als er von ihm bat: Plato ist doch ein Schwätzer, er
gibt mehr, als man haben will. Diogenes fordert hier Präzision,
nichts mehr, nichts weniger, denn er muß abgemessen sein. Der
gesunde Verstand braucht aber nicht lebhaft zu sein, sondern die
Sache nur in concreto zu erkennen, d. h. in Fällen, die durch die
Erfahrung gegeben sind und a posteriori. Denn derjenige Verstand,
der die Wahrheit in abstracto erkennt, ist schon ein subtiler
Verstand. Läßt man z. B. an einen gemeinen Mann, der bloß ge-
sunde Vernunft hat, eine Rechtsfrage ergehen, z. B. ob der,
dessen Tier seinem Nachbar Schaden getan, ohne seine Schuld ver-
bunden sei, das damnum zu reparieren, so wird er dies zwar an-
fänglich nicht verstehen, läßt man ihm aber Zeit, so wird er
hier erst einen wirklichen Fall in concreto sich denken und dann
urteilen. Der Jurist aber erkennt es in abstracato und wird gleich
dezidieren. Das Vermögen in concreto zu urteilen, ist also der
gemeine Verstand, insofern aber dieser richtig ist, heißt er
der gesunde. Man hat in Hortichia (nach dem Büsching Noreia),
einer Stadt im Kirchenstaat, einen Rat, der aus 4 Personen
(quadri illiterati) besteht, die aber weder lesen noch schreiben
können, weil sie bei Leuten, die lesen und schreiben können, li-
stige Ränke und nichts Gutes vermuten, die sich unter den bloß
gesunden Verstand mischen können in ihren Urteilen. Und um also
ehrliche Leute im Rate zu haben, so lassen sie den, der eine Rat-
stelle erlangen will, schwören, daß er weder lesen noch schrei-
ben könne. Bei uns gibt es auch Gerichte von bloßen Schulzen,
die ebenso beschaffen sind, und einzig nach dem gesunden Ver-
stande und daher sehr richtig urteilen. Solche Leute urteilen
bloß in concreto und wissen auf jeden Fall zu antworten, niemals
aber in abstracto. Ein gesunder Verstand ist zugleich praktisch.
Der subtile oder abstrahierende ist, der die allgemeinen Regeln,
nach denen in besonderen Fällen geurteilt werden soll, erkennt.
Z.B. den Willen Gottes gern tun, heißt Gott lieben. Hier ist
ein solcher Fall, ergo (also) usw. Todesurteil in abstracto ist also bloß
als eine Regel anzusehen. Nur aber durch den gesunden Verstand
können wir einen Fall unter eine allgemeine Regel subsumieren,
und es kann dies kein geschickter, kein gelehrter Verstand tun,
wenn der gesunde fehlt. Es ist daher zu bewundern, daß keine
Gelehrsamkeit, keine Unterweisung, auch nicht der höchste Grad
der Scharfsinnigkeit, den Mangel des gesunden Verstandes ersetzen
kann. Der Rechenmeister gibt dem Schüler allgemeine Regeln zum
Rechnen. Hat aber der Schüler keinen gesunden Verstand, so wird
er keinen besondern Fall unter diese Regeln subsumieren können.
Denn von dem Fall kann es keine neuen Regeln geben, weil dies
wider die Natur der allgemeinen Regeln wäre. Und so kann man
keinen Menschen, einen Fall unter eine allgemeine Regel zu sub-
sumieren lehren, wenn er nicht einen gesunden Verstand hat. So
kann man z. B. jedem Frauenzimmer die Komplimente wohl lehren,
/|P_251
/aber nicht sie zu unterscheiden und zu untersuchen, wann und wie
sie dieselben machen soll, sondern man überläßt die Regeln davon
und ihre Anwendung ihr selbst und ihrem gesunden Verstande. Es
ist also der Verstand eine subsumtio casus dati sub certas regu-
las, ob es der Fall ist, wo die Regel soll angewandt werden. Es
ist minor propositio in syllogismo practico. Man erkennt daher
einfältige Leute sehr bald. Denn sie verfahren immer nach Regeln.
Und dies zeigt schon, daß sie immer vom Gängelbande müssen ge-
führt werden und nach Regeln, die man ihnen genau vorgeschrieben.
Narren kann man also nur nach Regeln leiten, aber nicht vernünf-
tige Leute. Daher sagt man oft: dieser Mensch hat es sich zur Re-
gel gemacht, z. B. nichts wegzugeben, als was höchst notwendig ist,
und was ein Anderer mit Recht von ihm fordern kann. Dann erfordert
die Klugheit, daß man etwas freigebig sei, wenn man nicht wider
den Wohlstand pekzieren (sündigen) will. In solchen Fällen läuft
man oft übel an, da man sich durch Abweichung von der Regel großen
Nutzen verschaffen könnte. Bisweilen ist es aber auch gut, Regeln
zum allgemeinen Gesetz zu machen, z.B. bei Heiraten und ihren
Beweggründen. Die Eltern haben eine Neigung ihre Art zu erhalten.
Daher prägen sie ihren Kindern nur zu sehr ein, so zu heiraten,
daß sie ein großes Vermögen bekommen, wenn ihnen gleich der Bräu-
tigam oder die Braut nicht gefällt. Sie stellen ihnen vor, wie
bald die erste Hitze und die Liebe mit der Schönheit vergeht, oder
sagen wohl gar, die Liebe werde sich noch finden. Dies alles
zweckt dahin ab, daß sie nur hauptsächlich für die Erhaltung ih-
rer Art sorgen. Und in diesem Fall ist im ganzen besser, daß man
danach verfährt, um zu leben zu haben. Das ist die Ursache, daß
wir nicht nach Gemütseigenschaften, sondern nur nach Schönheit und
nach Geld sehen. Hat aber ein Mensch gesunden Verstand, so darf
man ihn nicht an Regeln binden.
/ Einige nennen den gesunden Verstand, den schlichten, graden
und einfältigen Verstand. Man kann den gesunden von jedem Menschen
verlangen. Es ist bei ihm die Richtigkeit und Einfalt zu bemerken,
und die Einfalt ist der kleinste Grad des Verstandes. So wie aber
die Forderung des gesunden Verstandes billig ist, so ist es auch
die Forderung seiner Richtigkeit und die findet sich gerne bei
der Einfalt, denn das Künstliche ist mehr dem Betruge unterworfen.
Wie aber die Gesundheit keine Sache der Kunst ist, so ists auch
beim gesunden Verstande. Und wir finden beim Menschen etwas, was
ihm die Natur unverderbt gab und was sich durch Kunst nicht ver-
schaffen läßt. Der gesunde Verstand ist also das Vermögen in
concreto zu urteilen, der feinere urteilt in abstracto. Eine Regel
z. B. "casum sentit dominus" wird der gesunde Verstand nicht ver-
stehen, er muss einen Fall haben. Im allgemeinen kann der bloß
gesunde Verstand nicht erkennen. Man sieht aus diesem allem leicht,
daß der gesunde Verstand empirisch ist und folglich seine Urteile
durch die Erfahrung formiert. Die moralischen Gesetze der Philoso-
phie und der gemeinen Leute sind nur darin unterschieden, daß
der gemeine Verstand die Regeln nicht einsieht. Er übt den gesun-
den Verstand bei den Gegenständen der Sinne aus. Wollte man aber
alle Wissenschaften in concreto vortragen, so würde man keinen
allgemeinen Begriff von einer Sache haben, und es wäre alsdann
gar kein Begriff.
/|P_252
/ Von der gesunden Vernunft. - Die gesunde Vernunft ist
das Vermögen a priori zu erkennen, d. h. ohne alle Erfahrun-
gen. Man braucht Verstand, um etwas Anbefohlenes auszuführen.
Man braucht aber Vernunft, etwas auszurichten, was nicht be-
fohlen ist, und einzusehen, was in diesem Falle nützlich
wäre. Man weiß, was der Andere wohl würde geurteilt haben,
wenn ihm der Umstand bekannt gewesen wäre. Alles Vorhersehen
und Mutmaßen geschieht durch die Vernunft, weil wir alsdann
nicht aus Ähnlichkeiten, sondern aus Gründen schließen. Sie
zeigt sich darin, daß wir die Ding erkennen, ohne daß da-
von Fälle angegeben werden. Durch den Verstand erkennt man
aus dem roten Aufgang der Sonne, daß es regnen werde.
Will man aber aus der Dünnheit der Luft den Regen schließen,
so braucht man Vernunft. Gesunde Vernunft ist, die aus
den Erfahrungssätzen a priori urteilt. Sie schließt und des-
halb heißt sie das Vermögen zu schließen. Cicero sagt: ein
Philosoph, der die Geschichte mit einem philosophischen Auge
durchliest, kann einen Wahrsager abgeben. Die Vernunft urteilt
a priori oder schließt. In jedem Schlusse ist:
/ 1. ein allgemeiner Satz, der durch die Vernunft eingese-
hen wird,
/ 2. Die Applikation eines allgemeinen Satzes auf einen
Fall, un dieses geschieht durch den Verstand,
/ 3. Die Konklusion, die sowohl durch den Verstand als
durch die Vernunft geschieht.
/ Z.B. Alles, was veränderlich ist, hat eine Ursache. Die
Vernunft sieht dieses ein. Der Mensch ist veränderlich - dies
subsumiert der Verstand. Also hat der Mensch einen Grund.
Also schließt die Vernunft in majori propositione, Verstand
in minori, beide in Konklusion. Der gesunde Verstand appli-
ziert eine allgemeine Regel auf einen casum datum. Die Anwen-
dung der Regel beruht überhaupt auf dem Verstande. Z.B. beim
Rechnen. Hier muß der Lehrer seinen Schülern überlassen,
einen Fall unter die Regel zu bringen. Denn dies kann nicht
durch Regeln erkannt werden, sondern durch Übung. Der gesunde
Verstand dient zur Applikation der Regeln der Vernunft ad
casum datum. Dass z. B. ein Mensch ein veränderlich Wesen
sei, ist schon klar aus dem gemeinen Verstande. Sehr oft ha-
ben Leute, die einen feinen Verstand haben, keinen gesunden
Verstand. So können viele Gelehrte, die alles in abstracto
erkennen, keinen gegebenen Fall mit Gewißheit unter eine
Regel subsumieren. Denn hierzu gehört eine empirische Fähig-
keit. Die Vernunft kann durch Regeln bereichert werden, der
gesunde Verstand nicht. Dem gesunden Verstand ist die Nach-
ahmung am meisten entgegengesetzt. Alles Lachen, das nicht
bloß eine Nachahmung ist, geschieht, daß gewisse allgemeine
Sätze gesagt werden, z. B. in der Mathematik, Philosophie.
Die Vernunft wird dadurch excoliert. Denn die Schulen können
gesunden Verstand nicht geben, aber wohl durch viele vorgeleg-
te Fälle kultivieren. Die Nachahmung ist für die gesunde Ver-
nunft der Tod. Diese Nachahmung wird bei der Jugend umso
stärker und dieser Geist der Nachahmung bleibt auch haften,
wenn nicht gleichsam eine philosophische Palingenesie vor-
geht, da der Mensch, wenn er zur Vernunft kommt, sich gleich-
sam nochmals erzieht. Diese Nachahmung ist darum der gesunden
/|P_253
/Vernunft zuwider, weil man dabei weder a priori noch a poste-
riori etwas erkennt, sondern nur Kopie vom Verstande eines
Andern wird. Daher kommts, daß der Mann von gesunder Ver-
nunft den Betrug sieht, wo der Andere Zauberei sieht. Wo einer
Antipathie und Sympathie findet, da wird der Andere nichts als
Einbildungen gewahr. Wo der eine Schicksal sieht, erblickt der
Andere seine eigene Schuld. Der gesunden Vernunft ist alles
dies gemäß, was den Mitteln gemäß ist. Wodurch die Vernunft
a priori schließt, sind die Gesetze der Natur. Und es läßt
sich also über die Dinge in der Welt nur urteilen, wenn sich
die Gesetze der Natur deutlich zeigen. Derjenige also, der den
Gebrauch meiner Erkenntnis nach den Gesetzen der Natur unmög-
lich macht, handelt dem Gebrauch der gesunden Vernunft zuwider.
So scheint ein Weib, das Zaubereien zu spielen vorgibt, durch
nichtige Worte und Herbeiziehung höherer Wesen die Ordnung der
Natur umzukehren. Wenn solche Vorurteile bei einem Volk ge-
gründet sind, so tun sie der Vernunft großen Abbruch. Biswei-
len aber inkomodiert die Vernunft und man läßt sie dann ge-
meiniglich von ihrer Schildwache ab und überlaßt sich den
Neigungen und Phantasien Anderer. Es ist uns zwar angenehm,
wenn wir durch die Vernunft die Dinge a priori erkennen kön-
nen. Allein es ist etwas Mühsames dabei, weil man Scharfsin-
nigkeit dabei gebrauchen muß, und man ist also insgeheim
froh, daß man vom Gebrauch derselben befreit wird, vorzüglich
wenn wir bei einem gegebenen Fall die allgemeinen Gesetze er-
kennen und Verblendungen des Witzes vermeiden und also
Scharfsinn gebrauchen müssen.Aus eben der Ursache ist der
Mensch zu Wunderdingen geneigt, besonders zu solchen, die
nicht durch unsere Vernunft zu begreifen sind. Denn diese be-
freien ihn von der Notwendigkeit seine Vernunft zu gebrauchen,
und erteilen ihm gleichsam eine. Wir werden uns immer vorwer-
fen, wenn wir bei begreiflichen Dingen nicht unsere Vernunft
gebraucht hätten. Aber jetzt, da die Sache über unsere Ver-
nunft geht, dürfen wir uns keine Vorwürfe machen. Zu diesen
Wunderdingen gehören.
/1. Träume uind ihre Bedeutung, 2. Einbildungskraft schwangerer
Weiber und der vermeinte Einfluß auf die Frucht, 3. Einflüsse
des Mondes auf die Pflanzen, 4. Erscheinungen der Geister,
5. Antipathie und Sympathie, 6. die Wünschelrute.
/ Der Wahn in Ansehung schwangerer Weiber, deren Einbil-
dungskraft auf die Geburt Einfluß haben soll, wird lange
dauern, obgleich er durch medizinische Gründe längst wider-
legt ist, weil er vom weiblichen Geschlecht herrührt. Das
weibliche Geschlecht nimmt eher einen Wahn an, als das männ-
liche, und dies macht die Gemächlichkeit, die sie lieben.
Dieser Wahn ist ihnen auch sehr nützlich. Ja, sie freuen
sich, daß ihre Einbildung einen so wichtigen Einfluss haben
soll. Und wenn die Kinder hernach Fremden mehr als ihrem Va-
ter ähnlich sehen, so sind sie imstande, solches auf die Ein-
bildungskraft als die Schöpferin
/|P_254
/glücklich zu reduzieren und die Männer müssen ihnen glauben. Dieser
Wahn dient ihnen auch dazu, daß sie die Männer zu allerhand Ausgaben
nötigen, um ihren Appetit zu stillen, wenn sie nicht haben wollen,
daß das Kind etwa mit Katzenohren zur Welt kommen soll. Man lese
darüber Rickmanns Buch von der Einbilungskraft nach.
/ Was die Wünschelrute betrifft, so wird sie den Bergleuten zugestan-
den. Man würde sie aber sehr wider sich aufbringen, wenn man dersel-
ben die ihr einmal beigelegten Wirkungen absprechen wollte. Selbst
Wallerius, der grosse Mineralienkenner in Schweden ist dieser Meinung.
Mit der Wünschelrute hat es diese Bewandtnis, daß man sagt: Es muß
in der Johannisnacht ein Zweig von Haseln abgeschnitten werden, so
daß er die Gestalt einer Gabel hat. Wenn man nun diese zwei Haken an-
faßt und auf den Berg geht, so Metall ist, so soll dies die Spitzen
dieser Rute an sich ziehen. Einige vernünftige Verfechter, denen bei
diesem Instrument vieles abergläubisch vorkam, schränkten dies ein und
sagten: sie dürfen nicht eben in der Johannisnacht abgeschnitten wer-
den. Andere sagten gar, es wäre einerlei, ob sie von Holz oder Metall
wäre und es komme nur auf die Person an. Diese setzten die Ursache der
Bewegung der Wünschelrute in die elektrische Wirkung, die die inner-
lichen Teile auf den Leib machen, so daß die Muskeln dadurch auf
diese Weise bewegt würden, daß er sich mit dem Steckchen bücken müsse.
Allein diese Meinung ist ebenso töricht.
/ Vom Einfluß des Mondes ist bekannt, daß er die See zweimal in
24 Stunden durch die Ebbe und Flut bewegt. Daraus aber will man
schließen, ob z. E. die Erbsen gut blühen werden, und daß der Mond
auch auf Bäume und Menschen einen Einfluss habe und will eben daraus
Bäume zu fällen erraten. Dies ist aber ein Gegenstand, der wenigstens
doch noch Untersuchung verdient.
/ Was die Geschichte der Geistererscheinungen betrifft, so scheinen
die Andeutungen der Träume daher ihren Ursprung genommen zu haben. Das
aber aller dieser Wahn so leicht angenommen ist, ist gar kein Wunder.
Denn man verschaffte sich zur Zeit der Scholastiker in den Klöstern
einen angenehmen Zeitvertreib damit, indem die Mönche den Leuten zur
Abendzeit solches Zeug erzählten, wobei man nicht den Verstand brauchen
durfte und die Zeit vertrieb. Wollte sich einer darüber den Kopf zer-
brechen und es durch die Vernunft zu erklären suchen, so erzählte der
Andere etwas zehnmal Ärgeres. Ja, man verfertigte zuletzt ein ordent-
liches System von lauter solchen Grillen und teilte die Geister in
Klassen ein, in Cubos, in Succubos usw., ohne daß sie je von einem gesehen
wären. (Siehe Kants Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume
der Metaphysik.) Es war dies ein freies Feld für die Erdichtungen und
für die witzigen Köpfe. Man findet aber immer einen Widerwillen davor in
sich, so wie ein Mensch einen Abscheu findet, wenn er etwas Böses tun
soll. Wir hören immer bei Anhörung solcher Wunder einen Befehl in uns,
der uns zuruft: Bediene dich deiner Vernunft, denn fällt die Vernunft
weg, so haben wir nichts als den tierischen Instinkt, die Vergleichung
durch Witz und Einbildungskraft übrig.
/ Der Aberglaube nimmt Regeln an, ohne auf Prinzipien zurückzugehen.
Ein jedes Prinzip, welches den Gebrauch meiner Vernunft selbst un-
möglich macht, muß nicht unter die Maximen des Verstandes aufgenommen
werden. Z.E. erzählt man uns ein Wunder, so weigert sich die Vernunft
zu glauben. Ein wahres Wunder kann man noch eher als Geister annehmen.
Denn die Allmacht Gottes vermag es. Der Aberglaube kann mit vielem
Verstande verbunden sein. Er ist nützlicher für die Wissenschaften, als
Schwärmerei. Dies lehrt uns die Erfahrung. Wie viele feuerte er nicht
an zu den Wissenschaften, daß sie sie mit mehrerem Eifer betrie-
ben. Schwärmerei aber ist der Gelehrsamkeit und Ausbreitung der Kennt-
nisse im höchsten Grade zuwider. Der Aberglaube läßt sich in ein
/|P_255
/System bringen, Schwärmerei aber nicht. Sympathie und Antipathie wirken
sehr gut auf abergläubische Leute. Sie machen sich u. a. auf folgende
Weise ein Pulver. Sie legen grünes Vitriol in eine weiße Flasche und
stellen dieses an die Sonne. Wenn dies nun trocknet, so zerfällt es in
ein weißes Pulver, welches sie das "sympathetische" nennen. Wenn man im
Duell jemanden verwundet hat und bestreicht die Degenspitze, so hei-
len die Wunden bald. Hat einer den Vernunftmaximen einmal durch Aber-
glauben entsagt, so kennt der letztere keine Grenzen. - Der Aberglaube
ist eine gewisse Anhänglichkeit an etwas, obgleich es den Vernunft-
maximen widerstreitet. - Viele Leute sind geflissentlich abergläubisch.
Sie befinden sich recht wohl dabei. Da sie andern Einsichten nicht
gleichkommen können, so setzen sie sie herunter, um von der Gleichheit
der Einsichten sich zu überzeugen. Aberglauben ist eine gewisse
Selbstliebe, nach welcher wir den andern unwissend darstellen. Leicht-
gläubigkeit ist ein Fehler der Urteilskraft. Die Sache mag wahr oder
falsch sein, so nimmt sie das Urteil Anderer an. Sie ist keine geübte,
keine reife Urteilskraft. Es ist sehr merkwürdig, daß man Wunder im-
mer gesetzt hat in die vorige Zeit und nicht in die jetzige Zeit.
/ Besondere Vernunftmaximen. - Maximen sind subjektive und nicht ob-
jektive Vernunftprinzipien. Sie beschäftigen sich nicht mit Objekten.
Es gibt drei besondere Vernunftmaximen.
/ 1. Das Selbstdenken ist das Prinzip der Aufklärung und das Bewusst-
sein, selbst denken zu können. Oder es hilft dazu
/a) daß man seine Vernunft zum obersten Probierstein der Wahrheit
machen kann,
/b) daß man das, was man durch Selbstdenken erzeugt hat, viel gründ-
licher einsieht, und daß solches nie entwischen wird und kann. Zum
Selbstdenken gehört so sehr weitläufige Kenntnis nicht, sondern es
wird nur die eigene Vernunft als Probierstein der Wahrheit gebraucht.
/ 2. An der Stelle jedes Andern denken zu können. Es ist eine beson-
dere Eigenschaft. Das Vermögen sich in den Standpunkt jedes Andern
denken zu können, kann man nennen die erweiterte Denkungsart und der
sie nicht besitzt ist eingeschränkt. (Es ist ein Prinzip der Indianer
jede Nation habe eine Religion für sich. Sie zwingen daher auch nie-
manden ihre Religion anzunehmen. Wenn christliche Missionare ihnen
von Christo, seinen Lehren, seinem Leben usw. erzählen, so hören sie
aufmerksam zu und wenden nichts ein. Ja wenn sie auf das Moralische
von der Verderbtheit des Herzens kommen, so geben sie ihnen alles zu
und unterbrechen sie wohl sogar. Wenn sie aber nachher anfangen von
ihrer Religion zu erzählen und die Missionare unwillig werden und
ihnen vorwerfen, wie sie solche Unwahrheiten gelauben können, so neh-
men die Indianer ihnen dieses übel, indem sie sagen, daß sie ihnen
alles geglaubt, ohne daß sie die Geschichten hätten beweisen können,
warum sie ihnen nicht ebenso glaubten!) Man sagt auch sonst für das
Wort "eingeschränkt" - "borniert". Borniert ist ein Mensch, der nicht
viel weiß. Dies Wort ist also passend. Ein Bornierter ist nicht der
nicht gelernt hat, sondern der keine erweiterten Begrife hat. Seine
Denkungsart ist eingeschränkt. Er kann sich nicht in die Stelle eines
anderen versetzen, sondern urteilt bloß in seinem Standpunkte nach
seiner einen Art und siehet nie eine Sache im andern Gesichtspunkte
an. Dieses Vermögen ist ein Probierstein der Wahrheit, der Richtigkeit
meines Urteils. Der Mangel dieses Vermögens ist nichts?
/3. Jederzeit mit sich selbst übereinstimmend zu denken (sein). Dies
ist die konsequente Denkungsart. Diese Maxime der Vernunft wird am
schwersten beobachtet und die inkonsequente Denkungsart ist sehr nach-
teilig für die Menschen. Die konsequente Denkungsart könnte man die
bündige nennen. Konsequent muß man denken können, damit immer ein
Grundsatz mit dem andern bestehen kann. Doch aber kann auch der, der
/|P_256
/falsche Grundsätze hat, konsequent denken. Z.E. der Schwärmer urteilt
nicht inkonsequent. Das konsequente Urteilen ist sehr gut, wenn die
Grundsätze gut sind. Denn alsdann müssen die Folgerungen auch gut
sein. Konsequent in seinen Maximen zu Handlungen zu sein, ist sehr
vorteilhaft, sobald nur die Maximen gut sind. Dieser Gebrauch ist
zweierlei, theoretisch, das betrifft das konsequente Urteilen und
praktisch, das betrifft das konsequente Verfahren nach guten Grund-
sätzen und seinen Willen danach zu bestimmen. Konsequent denken heißt
auch gründlich denken, daß immer eines mit dem andern in Zusammenhang
bleibt und übereinstimmend ist. Diese Denkungsart ist die schönste.
Es gehört aber dazu eine außerordentliche Aufmerksamkeit, und daher
kommt's, daß wenige Menschen so denken. Die konsequente Denkungsart
mit falschen Prinzipien ist nicht gut. Sie bleibt aber doch noch von
vieler Wichtigkeit. Es gehört aber viel dazu und besonders viel Erfah-
rung, die irrigen Prinzipien und Irrtümer wegzudenken und den Zusammen-
hang genau zu beurteilen. Konsequent also zu sein bei richtigen Grund-
sätzen ist das größte Glück der Vollkommenheit, und konsequent zu
sein bei falschen Grundsätzen immer das größte Übel.
/ Von der Reflexion. - Reflexion ist die Vergleichung der Vorstellun-
gen in der Absicht, um das Gemeinschaftliche und Verbindliche dersel-
ben zu erkennen. Distraktion ist, wenn die Attention und willkürlich
unterbrochen wird. Man dissipiert sich willkürlich und man wird distra-
hiert unwillkürlich.
/ Wenn die Kraft des Gemüts durch immerwährende Attention erschöpft
und abgestumpft ist, so erholt und dissipiert (zerstreut) man sich
(willkürlich), indem man seine Aufmerksamkeit total abspannt und
an viele Gegenstände zu verteilen sucht, damit sie auf keinem einzigen
stark haften bleibt. So willkürlich zerstreut man sich vorzüglich in
Gesellschaften, wo gesprochen wird. Man kann sich in Gesellschaften
besser zerstreuen und seinen Gedanken freien Lauf lassen. Nur muß
die Gesellschaft (wie sich Graf Chesterfield ausdrückt) nach Art der
Musen nicht über 9 und nach Art der Grazien nicht unter 3 sein. Denn
sonst teilt sich die Gesellschaft in kleinere Teile und wird dadurch
eben verdorben. Das eigentliche Angenehme, was sich die Gesellschaft
mitteilen soll, fehlt. Mithin hört das rechte Vergnügen auf. In einer
solchen Gesellschaft wird hier still geredet, dort geheimnisvoll ge-
tan. Überhaupt der rechte Ton der Vertraulichkeit und der Geist
der Mitteilung, der doch billig hier sein sollte, fehlt. Aber in einer
Gesellschaft, die nicht geteilt ist (welche nur stattfinden kann,
wenn die Gesellschaft nicht so groß ist) geht es anders zu. Da ist
die Mitteilung allgemein und die Vertraulichkeit hat ihren Platz. Das
Gemüt wird willkürlich durch Zerstreuung auf allerlei Gegenstände ge-
bracht und man wird zugleich durch diese Gemütsbewegung gestört, weil
das Gemüt auf verschiedene Gegenstände geleitet wird.
/ Unwillkürlich ist die Zerstreuung, wenn man in diesem Zustande auf
etwas gezogen wird, worauf man die Aufmerksamkeit zu wenden nicht
Lust hat. Der Mensch ist distrahiert, d. h. unfähig gemacht, etwas zu
denken. Man kann unwillkürlich zerstreut sein a) durch die angestrengte
Aufmerksamkeit, b) durch gewisse Objekte von großem Interesse. -
/Anmerkung. Durch Übung kann man jeden Gedanken loswerden dadurch, wenn
man denkt, daß dabei nichts zu tun ist. c) Dadurch, daß die Aufmerk-
samkeit unwillkürlich variiert von einem Objekt auf das andere - ab-
sent mit seinen Gedanken sein und da sein, wo sie nicht sollen. Denken-
de Köpfe sind alle zerstreut in Gesellschaft, weil sie sie nicht in-
teressiert. Bei ihren Arbeiten sind sie nicht so zerstreut. Z.E. Es
kam zum Newton sein Freund und fand eine Terrine mit Hummer in einer
Stube und aß alles auf. Darauf kam Newton und wollte essen. Da er
aber nichts fand, so sagte er: "Ach! Ich habe auch schon gegessen" und
/|P_257
/ging weg. - Wenn Diener, die sonst nicht zu denken haben und zerstreut
sind, so haben sie entweder eine Intrige oder Bekümmernis oder Liebes-
geschichte im Kopf. Das Erstere pflegt wohl gewöhnlich der Fall zu
sein. Wenn Frauenzimmer, die doch immer mit ihren Vorstellungen herum-
schweifen und daher recht in Gesellschaft gehören, wenn die distra-
hiert sind, so sind sie entweder verliebt, oder es herrscht sonst et-
was in ihnen. Die unwillkürliche Zerstreuung ist eine Krankheit, wo
die Aufmerksamkeit auf sich selbst gerichtet ist und wo man den Gedan-
ken, die eine Unlust erwecken, nachhängt. Menschen, die dgl. subtile
Zerstreuungen haben und immer Luftschlösser bauen, taugen gar nichts
in Gesellschaft, sind sich selbst schädlich und der Gesellschaft lästig.
Dgl. Leute sind gemeinhin Narren der Gesellschaft. Denn wenn ein zer-
streuter in Gesellschaft ist, so gibt's immer was zu Lachen. - Gedanken-
losigkeit muß willkürlich gesucht werden. Man muß täglich sich ge-
wöhnen, über gewisse Dinge förmlich nachzudenken. Dadurch genießt man
sich von der geistigen Seite und fühlt seine Gemütskräfte erfrischt und
wohlgeordnet. Man muß die Kräfte des Gemüts gehörig ins Spiel bringen
damit eine Art von Harmonie herauskommt. Man erholt sich nicht durch
die Gedankenlosigkeit, sondern nur durch die Abwechslung. Wieland be-
dient sich dieser Abwechslung, indem er zu gleicher Zeit prosaische
und historische Schriften verfertigt. Abstrakte Köpfe sind gleich zer-
streut, weil sie nicht gewohnt sind, sich auf das Konkrete einzulas-
sen. Solche müssen nicht reisen, denn sie sehen nichts. (Abstrakte
Begriffe sind solche, die ich nicht in concreto durch Beispiele darstellen
kann.)
/ Von Majorennität (Mündigkeit) und Minorennität (Unmündigkeit).
Der Verstand gelangt mit den Jahren zur Stärke, daß der Mensch
endlich ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werden kann. Dieser
Grad ist die natürliche Majorennität. Minorenn ist man, wenn man in
dem Jahre zu schwach ist, ein Mitglied des allgemeinen Wesens zu sein.
Das ist nach Natur- und Zivilgesetzen bestimmt. Wo man vor Erlangung
dieses bestimmten Alters minorenn bleibt, so muß das auch gelten.
Wir sehen also hieraus, daß die Unmündigkeit besteht in dem Unver-
mögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines Andern zu bedienen.
Ungeachtet der Jahre kann jemand in gewissen Dingen unmündig sein. Dies
sehen wir daraus, weil sich ein großer Teil der Menschen in der Reli-
gion der Leitung anderer überläßt, wenn sie auch in den besten Jahren
schon sind. Sie haben bei aller Wichtigkeit und Notwendigkeit sich
ihres eigenen Verstandes zu bedienen, doch den Hang, der Leitung
ihrer Lehrer zu folgen. Dies kommt daher, weil, wenn eine Religion
von andern gelehrt wird und sie falsch ist, man glaubt nichts verant-
worten zu dürfen. Die Schuld wird dann immer auf den Lehrer geschoben,
weil man selbst kein Urteil über die Sache fällen mag. Der wagt, der
von seiner Religion zur andern übergeht, auf sein Gewissen und auf sei-
ne Rechnung. Solcher Wechsel aber nützt nichts. Denn der Mensch wird
dadurch nicht besser, daß er Dinge, die gar nicht erheblich sind, auf
sein Gewissen gewagt hat. Es gibt eine gewisse Faulheit, sich seiner
Vernunft zu bedienen, wie z. E. Pharao und Joseph. Gewöhnlich geschieht
dies bei Regenten, wenn der Beichtvater zugleich Minister ist. Z.E.
Philipp_IV., König von Spanien, forderte kurz vor seinem Tode von
seinem Beichtvater, der ihn überhaupt immer regiert hatte, einen Auf-
satz, was er noch tun müßte, um selig zu werden. Da dieser Aufsatz
fertig war, fand der König, daß er beinahe alles leisten würde, das
Ausgelassene aber sollte auf die Rechnung des Beichtvaters und nicht
auf die seine kommen. Er mochte aber auch selbst nicht einmal die Be-
fehle zur Vollstreckung der darin getanen Vorschläge selbst erteilen,
sondern auch dies mußte der Beichtvater tun.
/ Menschen können ihre Vernunft selbst gebrauchen, wenn sie sich nur
Mühe geben wollen. Was macht dem Menschen Mut sich in der Religion und
/|P_258
/dem gemeinen Wesen des eigenen Verstandes zu bedienen? Die Philosophen
sind nicht Vormünder der Menschen, sondern sie zeigen nur, inwiefern
man durch diese Freiheit zu seiner Glückseligkeit gelangen kann. Wir
können sagen, daß, wenn die Menschen nie die Freiheit hätten Narr zu
sein, sie auch unmöglich klug werden. Denn der Mensch kann garnicht
gezwungen werden klug zu sein, sondern er muß die Grundsätze zum
guten Leben aus sich nehmen. Ein Mensch, der Hang zur Verschwendung
hat, wird nie durch Zwang dahin gebracht werden, daß er sparsam lebe.
/ δ_F_147 Das Volk ist in dieser Rücksicht beständig unmündig. Ein verstän-
diger Mann dirigiert immer die Verschiedenheiten der Köpfe, die gar
nicht ihre Zwecke erreichen können, und stimmt sie zu ihren Zwecken.
Ohne einen solchen Mann kann der Haufe nichts ausrichten, besonders
was gemeinschaftlich sein soll. Ein solcher vernünftiger Mann kann
vorzüglich, wenn er ein guter Redner ist, viel ausrichten und er kann
das Volk ganz nach seinem Sinn lenken. Häufige Beispiele, die dieses
beweisen, haben wir in der Geschichte der Griechen und Römer. Große
Gesellschaften werden daher immer klein. Denn wenn von einer Sache die
Rede ist, so haben einige die Gedanken auf diese, die andern auf jene
Gegenstände gerichtet, und so entstehen bei jedem Nebenpunkte, so daß
dadurch etwas Unzusammenhängendes herauskommt.
/ Despoten sind die, die das Volk unmündig halten, daß es nicht
räsonnieren darf. Hier heißt es: räsonniert nicht, nicht als ob die
Menschen keinen Verstand hätten, sondern hier soll alles durch Be-
fehle und Ansehen geschehen, um eine Einheit hervorzubringen. Solche
Regenten können ihre Untertanen ganz wie Maschinen behandeln. In einer
Demokratie ist das ganze Volk mündig. Aber es sind Demagogen, die das
Volk regieren.
/ Die patriarchalische Regierung, wo für das Wohl der Untertanen
gesorgt werden soll, ist die gefährlichste, weil die Untertanen unter
dem Zwange sind und wie Kinder behandelt werden. Der Regent hat den
Titel "Vater des Vaterlandes". Ein König muß für die Gerechtigkeit
sorgen, daß das Recht eines jeden durchaus nicht gedrückt wird. Für
die Glückseligkeit seiner Untertanen kann er freilich nicht sorgen,
sondern wird ein jeder schon selbst dafür sorgen, dass er sich sein
Leben und die Seinen beschützt. Für Gerechtigkeit muss ein König sor-
gen, aber für das Wohl eines jeden kann er nicht. Denn dieses kann
nicht als ein ganzes dirigiert werden, wie ein jeder für sich lebt,
Dennoch scheint das ganze Menschengeschlecht unter der Leitung eines
anderen glücklich zu sein. Ein Volk zu regieren, dazu gehört Über-
legenheit des Verstandes und vorzüglich Aufmerksamkeit, daß das
Ganze nicht verdorben oder gar zerstört werden kann.
/ Es gibt doch eine wirkliche Unmündigkeit wegen mangelnder Urteils-
kraft, und zwar 1.) in Ansehung der Geschäfte und auch sogar 2) in
Ansehung des Denkens, und zwar durch ihre eigene Schuld. Besonders
in der Religion trauen sich die Menschen nicht das geringste Selbst-
denken zu. Die Philosophen nennen diejenigen, die dieses Mißtrauen
in sich setzen, Idioten. Sie denken immer, sie sind Laien. So war es
ehemals der Gebrauch, daß sich viele Menschen Leute hielten, die
für sie ein gutes Gedächtnis oder wohl gar ein gutes Herz haben soll-
ten. Von der letzteren Beschaffenheit sind doch eigentlich die Almo-
seniere. Cicero erzählt uns, daß jemand sich einen hielt, der Ge-
dächtnis für ihn hatte. Denn wenn er ihn fragte: "Wie hieß doch der -
wo war doch das - wann war das", so mußte jener es immer wissen.
/ Die Unmündigkeit der Jugend wegen Mangel der Erkenntnisse und
geübter Urteilskraft bezieht sich auf Geschäfte, denen sie nicht ge-
wachsen ist. Die Gelehrten sind in Ansehung der häuslichen Geschäfte
unmündig. Denn wenn man sie z. E. etwas von Wirtschaftssachen fragt,
so antworten sie gleich: "Gehen Sie nur zu meiner Frau." Ein Gelehr-
ter sagte sogar einmal, da man ihm die Nachricht brachte, daß das
Haus brennt: "Ich wohne zu Miete." Die Frauenzimmer sind in bürger-
lichen
/|P_259
/Angelegenheiten unmündig. Das Frauenzimmer muß nicht im gemeinen
Wesen auftreten. Es schickt sich besser für die Männer. Auch beim Ver-
heiraten kann man sagen, daß sie unmündig sind, weil sie doch immer
eines Ratgebers bedürfen. Wenn Rousseau sagt: "Die Frauenzimmer bleiben
zeitlebens Kinder", so verstand er darunter diese Unmündigkeit. Man
betrachtet das ganze Publikum für unwürdig, wenn man den falschen
Grundsatz in Ausübung bringt: "Das Publikum braucht die Gesetze, nach
denen es gerichtet wird, nicht zu wissen. Wenn jemand gefehlt hat, so
wird man es ihm schon sagen." Der Arzt fordert passiven Verstand,
der Theologe und Jurist ebenfalls. Frauenzimmer werden mit ihren
körperlichen Anlagen und Verstand eher reif, als die Jünglinge. Was
sie im 17. Jahr sind, das sind sie auch immer. Aus ihnen kann nichts
mehr werden. Die Jünglinge werden später reif, aber dann auch ganz
mündig, welches die Frauenzimmer nie werden können. Frauenzimmer kön-
nen schon weit eher mit Geld umgehen, als Jünglinge. Sie werden es
nicht so leicht für unnütze Dinge ausgeben, wie der Jüngling noch in
seinem 18. und 19. Jahr. Gott aber hat sehr weislich den Trieb zur
Sparsamkeit in das weibliche Geschlecht gelegt, damit es desto bes-
ser einer Haushaltung vorstehen könne.
/ Von den Krankheiten des Gemüts. - Gestört zu sein, ist das Genus,
Delirium ist species. Schwachköpfig sein und Blödsinnigkeit wird nicht
zum Gestörtsein gerechnet. Die Blödsinnigkeit aber kann sehr groß
sein. Sie kann so weit gehen, daß die Menschen den Tieren gleichkom-
men. Z.E. Kretins im Walliser Land in den Tälern sind eine Art von
Mißgeburt mit einem Kropfe. Sie haben keinen gewissen Verstandesge-
brauch. Sie leben passiv und befinden sich doch dabei recht wohl. Die
Ursache muß in ihrem Körper liegen. Man hat gefunden, daß ihr
cerebrum kompakter ist, als das des Gesunden. Eine andere solche Men-
schenart sind die Cagots in Frankreich auf den Pyrenäen. Carboniere
sagt, sie sind so herabgewürdigt durch Verfolgung Anderer, sie sind
ein Rest von den arianischen Goten, sie haben gleichsam die Dummheit
geerbt.
/ δ_F_148 Delirium ist nicht allein Schwächung, sondern auch gänzliche Um-
stimmung der Gemütskräfte, die nicht in derselben Proportion wirken.
Zu dem Delirio rechnet man auch das Irrereden bei Krankheiten. - Eigent-
lich läßt es sich nicht recht erklären, was ein gestörter Mensch
sei. Fontenelle sagt: Wir sind alle Narren, nur mit dem Unterschiede,
daß man die von der allgemeinen Art für klug hält, aber diejenigen,
von der besonderen von uns "Narren" genannt werden.
/ Amentia, Sinnlosigkeit ist das, was Blödsinn ist. Dementia, als
ob ein verkehrter Geist wirke. Diese Verrückung kann man einteilen.
/1.) Beim Wahnsinn ist der Fehler in der Einbildungskraft,
/2.) beim Blödsinn ist der Fehler im Verstande,
/3.) beim Wahnwitz ist der Fehler in der Urteilskraft,
/4.) beim Aberwitz ist der Fehler in der Vernunft.
/Hypochondrie, ist die körperliche Ursache der Gemütskrankheit, Gril-
lenkrankheit genannt, welche, obschon noch nicht völlig Delirium,
doch das Analogon davon ist. Der Hypochondrist weiß, daß Täuschun-
gen sind in seiner Einbildungskraft und will ihnen widerstehen, kann
es aber nicht. Hypochondristen bleiben spät auf und dies kommt daher,
die Einbildungskraft wird stärker als am Tage. Man muß nicht auf
einem Übel lange haften. Die Hypochondristen hängen so lange sie
können einem Gedanken nach.
/ Wahnsinn ist eine Einbildung, daß etwas der Gegenstand der Sinne
sei, was doch der Gegenstand der Einbildungskraft ist. Z.E. Lavater
will den Menschen ganz aus seinem Gesicht kennen. Man schickte ihm
einmal das Gemälde des Rickerot, eines Mörders ohne von den Taten des
Menschen die mindeste Erwähnung zu tun. Er sollte sein Urteil darüber
fällen. Er konnte aber aus seiner Physiognomie nichts weiter schließen,
/|P_260
/als daß er etwas Spöttisches an sich habe. Die Marquisin von Brinvil-
lier war eine außerordentliche Giftmischerin. Sie vergiftete ihren
Vater, Bruder, Schwager u.a. Dessenungeachtet fand Lavater, der von
ihren Handlungen nichts wußte, sie habe in ihren Augen einen teufli-
schen Zug. Dennoch sind die Physiognomisten (auch selbst hierin der
gute Lavater) Phantasten, und Phantasie ist sinnliche Empfindung, kommt
dem Wahnsinn nahe. Ein Mensch, der oft mit sich selbst redet, ist
eine species davon. Es ist merkwürdig, daß man kein gestörtes Kind
antrifft. Dies kommt daher. Der Mensch wird gestört nur alsdann, wenn
die Vernunft sich entwickelt und mit der die Anlagen, die er dazu hat,
sich entwickeln. Mit der Männlichkeit entwickelt sich sozusagen der
Wurm, etwas, das nicht richtig mit ihm im Kopfe ist. Man sagt, der
Mensch hat einen Sparren zuviel. Vielleicht kann dieser Ausdruck da-
her kommen, daß jemand sich auf die Sparren, die in den alten Wappen
waren, zu sehr einbildete. Man sagt auch, jemand ist über die Linie ge-
reist und leitet davon bisweilen die Verrücktheit her. Dies hat keinen
Grund. Denn wenn sie nur Verstand haben, wenn sie hinreisen, so werden
sie auch so zurückkommen. Der Mensch hat sich überstudiert. Dies läßt
sich nicht denken. Er kann sich wohl überhandelt haben, z. E. ein Kauf-
mann. Wer nicht schon einen Ansatz zum Wurm hat, wird durch zu vieles
studieren nicht dahin kommen, daß er die Offenbarung Johannes ent-
ziffern will. Der Mensch wird toll vor Hochmut. Hochmut ist nicht
bloß ein Eigendünkel, sondern auch Andern zumuten, sich geringer zu
schätzen. Er sucht es nur durch Mittel zu erlangen, die den Zweck ver-
fehlen, und wird ein Narr. Er wird vor Liebe verrückt. Die Liebe, wel-
che die Wirkung der Tollheit war, hielt man für die Ursache. Ein
Mensch kann raptus haben. Er ist aber doch noch nicht gestört. Derje-
nige, der raptus hat, sieht hinterher ein, daß es Schimären sind, der
Verrückte aber nicht. Solche raptus werden durch Affekte zuwege ge-
bracht. Manche sind nur in Ansehung eines Punktes wahnsinnig, und das
nennt man Delirium circa objectum. Kommt man mit ihnen auf einen ge-
wissen Punkt, so ist alles vorbei. Etwas anderes ist Delirium vanum.
Manche Menschen haben eine noch andere Art von Wahnsinn. Sie glauben
nämlich, daß alle Menschen sich beredet haben, sie anzufeinden und
zu beleidigen. Ein Beispiel von der Art ist Werner, der in vielen
Ländern herumreiste, sich aber an jedem Ort nur solange aufhielt,
als er vermuten konnte, daß sein Name noch nicht bekannt geworden
wäre. Denn sobald dies nur Geschehen, glaubte er, alle Menschen paß-
ten schon auf, ihn zu beleidigen und zu kränken. Er glaubte, an jedem
Ort, wo er hinreiste, die Bäcker vergifteten das Brot.
/ Der eigentliche Wahnwitz besteht im Räsonieren. Der Wahnwitzige
bildet sich ein, über Gegenstände besser als Andere räsonieren zu
können. Man kann es den logischen Egoismus nennen, weil er glaubt, er
brauche nie das Urteil irgend eines Andern, indem das Seinige stets
das Beste ist. Der Wahnsinnige zeigt dieses wohl auch schon, aber nur
in einzelnen Fällen. Z.E. er glaubt immer ein Nordlicht zu sehen, und
Andere sehen es nicht. Wir sind verbunden, Anderer Urteile zu gebrau-
chen, um uns zu probieren, ob wir geirrt haben.
/ Der Aberwitz ist Wahn des Verstandes in Ansehung des Überschwängli-
chen. Er besteht darin, überschwängliche Erkenntisse zu haben. So wie
Swedenborg Umgang mit Engeln, überhaupt viele Geheimnisse einzusehen
vorgab. Die Menschen können aber dieses nie erlangen.
/ Wahnsinn ist eher zu heilen als Wahnwitz und Aberwitz. Hypochon-
drie nähert sich nicht dem Wahnwitz und Aberwitz, wohl aber dem Wahn-
sinn.
/ Die Gradationen der Gemütskrankheiten (Blödsinn, Gemütsschwäche, -
Störung usw.) sind so unendlich, daß man sie kaum unterscheiden kann.
Bei der Störung des Gemüts finden oft grosse Talente statt. Es gibt
/|P_261
/Menschen, die viel sonderbares
δ_F_149 Zeug, aber doch mit einer gewissen Methode reden. Es gibt
u. a. eine gewisse Originalität der tollheit. Harrington,
ein Mann von vielem Geiste glaubte, es flögen gewisse
Effluvia in Gestalt der Fliegen aus seinem Körper. Ganz unrecht
kann er wohl nicht haben, denn einige Menschen behaupten, daß
sie an verschiedenen Punkten ihres Körpers elektrische Auslee-
rungen fühlen, und es ist wahrscheinlich. Was mag der Unter-
schied sein zwischen einem gestörten und verrückten Menschen?
Aus dem einen Umstande beim Anfange der Männlichkeit - was
ist die Veränderung hierbei? Beim Mädchen kommt Zurückhal-
tung, bei Mannspersonen Verlegenheit. Sie ist bedacht, wie sie
in die Augen fällt zum Vorteil oder Nachteil. Trübsinnig der,
der eine Anlage hat, melancholisch zu werden. Tiefsinnig ist
eigentlich ein Widerspruch, weil der Sinn niemals tief geht, son-
dern tief denken kann man,wo man auf Gründe geht. Z.E. wenn
man einen Autor rühmt als tiefsinnig, so gehört er zum Hospital.
Tief denkend kann er wohl sein. Tiefsinn ist Schwermut und be-
deutet eigentlich den Zustand des Menschen, wo er in seine eigene
Attention und Bewegung vertieft ist, daß er sich nicht heraus-
helfen kann. Der Mensch ist gestört, der über Dinge urteilt, ohne
sie aus dem andern Gesichtspunkte zu betrachten. Z.E. Jemand
sagt: "Ich habe viel Feinde", wenn man ihm auch sagt: "Gib nur
acht, Du hast keine Feinde", so kehrt er sich doch nicht dran.
Ein jeder vernünftige Mensch hält das zum Probierstein der
Wahrheit, wenn andere dieselben Beweise unrichtig finden, er
reflektiert darauf und ist überzeugt, daß er geirrt hat. Dieses
tut der Gestörte nicht. Alle Verrückungen sind verschieden.
Einige kann man durch gute Behandlung wieder zurechtbringen.
Dies soll besonders in England stattfinden. Ein Arzt in Frank-
reich sagte, viele Krankheiten als vapeurs hätten bei den Frauen-
zimmern nach der Revolution aufgehört, auch die Tändeleien,
aber seit der Zeit wären mehrere Arten von Verrückungen den-
noch im ganzen weniger Todesfälle vorgekommen. Die Ursache
kann von der Überspannung in politischen Angelegenheiten her-
rühren. In England sind verschiedene Nervenkrankheiten,die
nur vorübergehend sind. Den Grund kann man hiervon nicht an-
geben. Bei uns finden sich nicht so leicht Mittel für diejenigen,
die schon verrückt sind. Alle Verrückungen sind gemeinhin nach
der Erfahrung aus der Familie angeerbt, außer einigen außer-
ordentlichen Fällen, z. E. Rache, welches auch eine Art von Ver-
rückung. Ein Frauenzimmer einer gestörten Familie war klug,
Sie heiratete und zeugte Kinder. Das nach ihr schlachtete, wurde
gestört, denn der Mutter Bruder war im Hospital gestorben. In
Berlin heißt das Tollhaus "Irrenhaus". Dieses ist aber eine un-
eigentliche Benennung. Denn wenn das Haus für die Irrenden
sein sollte, so würde es bei weitem nicht groß genug sein.
/Es ist einfältig. Es ist der, der Mangel an Verstand hat.
/Der ist dumm, der keine Urteilskraft hat, der Gelehrte ist dumm
in den gewöhnlichen Geschäften des Lebens. Terrasson, ein
großer Gelehrter wohnte im obern Zimmer und wenn er her-
unterging, pflegte er immer im Vorzimmer die Perücke aufzu-
setzen. Eines Tages las er aber einen Streit der Poesie. Wie er
nun herunterging, vergaß er die Perücke aufzusetzen und ging
mit der Schlafmütze unter dem Arm auf die Straße.
/Er ist nicht gescheut. Man spielt mehr mit dem Gedanken, viel-
leicht "zerstreut in seinen Urteilen" soll es heißen.
/Narr ist der, der beleidigend hochmütig ist, der einen größeren
Wert in sich selbst setzt, als ihm zukommt. Man lacht ihn aus.
Den größten Teil der Menschen könnte man eher Narren als
Bösewichter nennen. Deswegen sagt ein Autor: ein Narr stößt
den andern an den Kopf und stößt mit seinem leeren Kopf seinen
Bruder an.
/Tor ist der, der einen größeren Wert in Dinge setzt, als ihnen
zukommt. Dahin gehört z. E. aller Aufwand und Eitelkeit, auch das
/|P_262
/Verliebtsein, denn Verliebtsein und Klugsein ist ein Widerspruch, weil der Verliebte im
Affekt ist und der Affekt den Menschen zum Toren macht. Ein Sonderling
der sich klug dünkt und auf seine eigene Manier ein Tor ist, ist ein
Geck und wenn er jung ist, ein Laffe. Letzterer bewundert alles und
wird von allen betrogen. Ersterer aber, der sich einbildet klug zu
sein, wird am Narrenseil geführt, verachtet und gering geschätzt, weil
er das Alter entehrt. - Weisheit ist der Torheit, Klugheit der Narrheit
entgegengesetzt.
/ Ein Hochmütiger, der sich blicken läßt, handelt unklug. Er for-
dert von Andern Zeichen der Achtung und er zeigt Verachtung. Alle
Hochmütigen sind daher generaliter Narren. Denn sie wollen ihrer Tor-
heit gemäß, die sehr beleidigend ist, daß Andere sie hochschätzen
sollen. Ein solcher Narr handelt seinem Zwecke zuwider. Denn indem er
es sich merken läßt, was er verlangt, verdirbt er sein Spiel. Man
kann seinen Vorzug erreichen, wenn man sich demütig stellt, wenn man
herablassend, bescheiden ist, weil man den Andern von sich nicht ab-
zwingt, sondern ihnen vielmehr Gelegenheit gibt, ihr wertes Ich zu
zeigen, wodurch der Eigenliebe geschmeichelt und sie nicht gekränkt
wird, so daß sie auch darauf denken, den, der sie vorzieht, auch
andern vorzuziehen. (Anmerkung. Asiatische Völker haben sonderbare
Meinungen über die Erde. Die Perser sagen, sie sei der Abtritt, wohin
der Engel die Menschen einmal aus dem Paradiese gebracht, wo sie aber
unglücklicherweise durch ein Versehen geblieben wären. δ_F_150 Die Indier sa-
gen, sie sei das Zuchthaus, wohin sie der böse Engel Moasor gebracht,
um sie dadurch zu reinigen; sie wären ehedem bloß Geister gewesen,
jetzt wäre aber der Körper ihr Fegefeuer, ergastulum.)
/Torheiten werden gar nicht bemerkt und machen beliebt. Ein muster-
hafter, fehlerfreier Mann ist nicht beliebt. Denn wir mögen gerne
Torheiten sehen, um die unsrigen entgegenzuhalten. Plato sagt: wir
lieben nicht den Gast, der nichts vergißt, wenn ein Frauenzimmer
sagt: Ich bin ein Narr, so ist das falsch. Wenn sie sagt "Närrin"
so ist dies mehr affektiert. Narr beim Mann ist schon mehr. Denn wenn
einer sagt: Ich bin ein Narr, so nimmts man ihm sehr übel.
/Närrin und Törin wird beim Frauenzimmer immer für gleich genommen.
Es kann auch daher kommen, daß man dem Frauenzimmer zuschreibt, daß
es nicht solche Klugheit wie Männer besitze.
/ NB. Da nun die Krankheiten des Gemüts abgehandelt sind, folgt
jetzt noch etwas von den Fähigkeiten desselben.
/ Von den Fähigkeiten des Gemüts. - Man nennt die Erkenntnisfähig-
keit im gemeinen Redegebrauch Kopf, so wie man die menschlichen
Begierden und Neigungen durch das Wort Herz anzeigt. Man gibt einem
Menschen einen solchen Beinamen, der von dem Vermögen zu dem er ins
besondere inkliniert, entlehnt ist, und so unterscheidet man die
Menschen ihren Gemütsfähigkeiten nach in witzige, kluge, findige, vor-
sichtige, verständige, zerstreute Köpfe, je nachdem eine unter den
andern versteht, dem Objekte oder den Wissenschaften nach in mechani-
sche, poetische, mathematische, philosophische, oder auch empirische
Köpfe. Das Studium der Gemütsfähigkeiten eines jeden Menschen ist
von der äußersten Wichtigkeit, und es ist belohnend genug, zu unter-
suchen, was für Gemütsfähigkeiten oder Kräfte dazu erfordert werden,
einen Kopf oder eine Fähigkeit auszumachen. Es ist ein Mann von Kopf
weniger, als der Mann von Geist. Der erstere weiß sich in alles zu
finden, der letztere aber kann selbst erfinden. Kopf setzt man dem
Pinsel entgegen. Dieser Ausdruck "Pinsel" ist von den Kleckmalern her-
genommen, die nichts weiter können, als den Pinsel mechanisch führen.
Der "Kopf" denkt selbst, der "Pinsel" ahmt nach. Es sind aber die
meisten Menschen so beschaffen, dass sie nachahmen müssen. Dieses ist
nicht Eingeschränktheit, sondern der Gebrauch des Verstandes und
/|P_263
/der Vernunft, insofern er fehlerhaft ist. - - Es
kommt beim Kopf am mehrsten auf Proportion an. Wenn man
einen Kopf tadelt, so bezieht es sich nicht auf die einzelnen Er-
kenntnisse, sondern nur auf Proportion. Mancher würde ein guter
Kopf sein, wenn er nicht zu witzig wäre. Unter Kopf verstehen
wir den, der zu allem fähig ist, er muß nicht das vorziehen, was
nicht zu seinem Zweck gehört. Es ist besser, auf einer niedrigen
Stufe Lob, als auf einer hohen Unehre zu erlangen. - Für einen
Lehrer wäre es gut, wenn er die Fähigkeiten, die er zu einer
Sprache hat, nicht so sehr als die andern kultivieren möchte, die
nicht so groß zu einer Sache sind, um eine Proportion hervor-
zubringen. - Manche wissen sich mehr als andere in Dinge zu
bequemen. Sie können z. E. durch ein Mikroskopium mehr sehen
und entdecken, als Andere. Dagegen besitzen wieder Andere das
Talent, besser Methoden zu erfinden. Durch diese letztere
Eigenschaft zeichnen sich vorzüglich die Schweizer aus. Viele
Bauern unter ihnen kann man mit Recht élèves de la nature
nennen. Ohne je Unterricht empfangen zu haben, machen sie die
geschicktesten Kunstwerke, z. E. Brücken über reißende Ströme,
welche sie ganz selbst ausgedacht hatten. Ein von Sulzer dem
verstorbenen König Friedrich_II. empfohlener Schweizer
(mit Namen Hochwald) erfand ein Klavier, wobei durch eine
Walze alles, was darauf phantasiert wird, ziemlich leserlich auf
Papier geschrieben wurde.
/Empirischer Kopf - ein solches besonderes Talent, Beobach-
tungen, Erfahrungen anzustellen. Mancher Mensch hat einen
guten medizinischen Kopf. Hierzu gehört aber z. E. der Geist
der Beobachtung und gesunder Verstand, der zugleich mitbeob-
achtet, d. h. ein empirischer Kopf. Dazu gehört eben nicht Fein-
heit der Vernunft, um in abstracto urteilen zu können (welches
jedoch auch gut ist), sondern er muß die Umstände und ihre
Verknüpfung untersuchen, um zu bemerken, was der kranke
für eine Krankheit hat. Als Karl_IV. gestorben war, stritten
die Ärzte noch, was er für eine Krankheit gehabt habe, und so
geschieht es noch oft. Aber zum empirischen Kopf gehören nicht
nur gute Sinne, sondern auch das Vermögen zu vergleichen, also
ein ausgebreiteter sensitiver intuitus. Er muß ein gut Gedächtnis
haben, sich der vorigen Umstände des Kranken erinnern zu kön-
nen und sich auf viele andere Fälle zu besinnen. Wir finden in
dem Hamburgischen Magazin ein vortreffliches Beispiel des
Nutzens eines empirischen Kopfs. Es soll eines Bauern Sohn in
Sachsen eine so sonderbare Krankheit gehabt haben, daß er
ganz ausgetrocknet und wenn er gegangen, alle Glieder an seinem
Leibe geklappert haben. Die Medici stellten nun über die Art
seiner Krankheit und über die Mittel, wie sie sie heben könnten,
eine Beratschlagung an. Endlich erklärten sie sich, daß die Krank-
heit von einer Vertrocknung derjenigen Säfte herrühre, die sich
in den Muskeln befänden und durch die die Gliedmaßen beisam-
men erhalten würde. Die Frage war aber nun, wie sie diesen
δ_F_171 Saft erweichen und wieder herstellen sollten. Man sann lange
nach. Endlich besann sich ein empirischer Kopf auf die Erfah-
rung, daß sich das Quecksilber mit Speichel vermischen ließe und
eine zähe Materie ergäbe. Hieraus schloß er, daß durch solche
merkurialischen Mittel auch vielleicht die Säfte ihre vorige Flüs-
sigkeit wieder erhalten könnten, das Gliederwasser wieder zu
verschaffen. Er applizierte Merkurialsalbe und stellte diesen kran-
ken Menschen völlig wieder her. Hieraus läßt sich nun erklären,
wie Ärzte mit wenig Theorie viel glückliche Kuren machen kön-
nen. Der Arzt also, zu dem ich Zutrauen habe, braucht von der
/|P_264
/Struktur des menschlichen Körpers nicht so große Erfahrung zu
haben, denn diese ist sehr klein und die Erkenntnis sehr einge-
schränkt, so hoch sie auch die Ärzte treiben. Selbst Hippo-
krates, der an der Spitze der Ärzte steht, und dessen Asche
mit Recht von allen verehrt wird, und der so glücklich in seiner
Praxis war, wußte nichts vom Kreislauf des Bluts. Gute histo-
rische Kenntnisse können nebst einer sorgfältigen Beobachtung
mehr dienen, als wenn einer eine Krankheit a priori nach sei-
nem System kurieren wollte,m denn der menschliche Körper soll
sich da nach dem System des Arztes, das er im Kopf hat, richten.
Es ist daher besser, sich einem empirischen Arzt anzuvertrauen,
als einem rationalen, der nur vernünftelt. Der empirische Kopf
untersucht erst die Natur der Krankheit und dann kuriert er,
da hingegen derjenige Arzt, der viel Theorie hat, alle Kranken
a priori heilen will, welches ihm denn oft fehlschlägt.
/Es wäre überhaupt nützlich, wenn das Genie eines jungen Men-
schen erst wohl probiert würde, denn die Wissenschaften sind sehr
unterschieden und einer ist zu dem, der Andere zu jenem auf-
gelegt. So wird zur Mathematik ein anderer Kopf, als zur Philo-
sophie erfordert. Ein mathematischer Kopf taugt nicht zur Philo-
sophie. Die Philosophie ist eine Wissenschaft des Genies, die
Mathematik eine Kunst. Sie kann ordentlicherweise als ein Hand-
werk erlernt werden, und man kann es darin sehr hoch bringen,
wenn man auch nicht selbst erfindet. Man braucht in der Mathe-
matik nicht Contenance zu haben, sondern Kopf, auf eben der-
selben Sache nur lange zu haften und ein gut Gedächtnis, damit
man die Aufgaben im Kopfe behalte. Man muß dabei das Spiel
des Witzes hemmen können, damit er nicht im Nachdenken störe.
Ja es ist zuweilen gut, wenn ein Mathematicus einen stumpfen
Kopf hat, und ob es gleich auch Genies darin gibt, so fließt dies
doch aus einer ganz andern Quelle und gehört nicht wesentlich
zum Studio der Mathematik. Hingegen wird zu einem philoso-
phischen Kopf durchaus Witz erfordert, damit er die Sache von
allen Seiten betrachten, auf die Folgen sehen und diese unter-
einander vergleichen könne. In der Mathematik sind die ein-
fachsten Begriffe in Punkten, Linien usw. die leichtesten. In der
Philosophie aber die schwersten. Auch ist in der Philosophie not-
wendig, daß die gesunde Vernunft immer dem feinern Verstande
zur Seite gehe und ihn kontrolliere. In der Philosophie geht das
Concretum vor dem Abstracto, in der Mathematik das Abstrac-
tum vor dem Concreto. Und in der Philosophie kann ich mir eine
Sache nicht in abstracto denken, sondern ich muß erst einen Fall
in concreto annehmen. Wenn man sich also in der Philosophie
einen allgemeinen Begriff von der Billigkeit machen will, so muß
man sich einen Fall in concreto denken und die Billigkeit davon
abstrahieren. Z. E. ich habe bei einer Sache mehr Arbeit ge-
habt, als ich vorher glaubte, so habe ich zwar mehr verdient,
als ich mit dem Andern bedungen habe, er darf mir aber nicht
mehr geben, sondern wird es nur aus Billigkeit tun können. Die Mathe-
matik redet erst von einer aufgerichteten Linie und appliziert
sie hernach auf Berge und kann also die Sache nicht zuerst in
concreto betrachten, sondern in abstracto. Die Mathematik sieht
nicht erst auf die Materie einer Sache. Der Philosoph aber, wenn
er die Ideen der Flüssigkeit abstrahieren will, muß sich erst mit
den Eigenschaften des Wassers oder einer anderen flüssigen Ma-
terie bekannt machen.
/Was den poetischen Kopf betrifft, so differiert dieser von allen
/|P_265
/ungemein. Denn er ist schöpferisch. Diejenigen aber, die sich
schaffen, bekümmern sich nicht viel um Geschöpfe, die schon da
sind. Wenn aber Menschen schaffen, so muß etwas herauskom-
men, was mit der Anderen Schöpfung gar nicht stimmt. Ein
Poet muß an die Stelle der Sachen Schatten setzen können. Denn
Schatten kann er erschaffen. Man sehe Miltons Reise des Engels.
Beim Poeten kommen nur Manier, Art und Weise der Sachen vor,
nicht aber die Sachen selbst, es sind nur Schattenbilder derselben.
Er ahmt die Stimme eines Tugendhaften nach, ohne selbst tu-
gendhaft zu sein. Er scheint wie ein Held und hat doch kein Herz.
Er ist wie jenes Tier, das alles im Walde in Schrecken setzte,
weil es sich in eine Löwenhaut gehüllt hatte, das man aber nach-
her an den langen Ohren erkannte. Ein Poet besitzt daher keinen
einzigen Charakter, aber er weiß, alle anderen Charaktere nach-
zuahmen, so wie der Siegellack an sich selbst keine sonderliche
Gestalt hat, aber geschickt ist, alle Gestalten anzunehmen. Der
Poet muß also Witz und Leichtigkeit haben, seine eigene Den-
kungsart umzuwandeln und sich in die Stelle eines Andern zu
versetzen. Er muß aber vor allen Dingen die Erscheinungen
trennen, und wenn er von dem Innern des Menschen redet, so
δ_F_152 muß es doch nur auf die inneren Erscheinungen eingeschränkt
sein. Er muß auch Vergleichungen anstellen können, und man
will beobachtet haben, daß ein Dichter, welcher dichten will, auch
die Miene desjenigen annehmen solle, dessen Sprache er redet.
Und die Erfahrung lehrt, daß man den Charakter eines Menschen
nicht vollkommen schildern könne, wenn man nicht auch seine
Miene annimmt. Dies sieht man z. E. wenn in Gesellschaften
Leute etwas von jemandem erzählen. Man erzählt vom Professor
Pietsch, daß er, wenn er einen Helden dichten wollte, sich
Reitstiefeln angezogen und beim Dichten so herumgegangen sei.
Ein kritischer Kopf, der nichts als Andere kritisieren kann,
ist ein tadelsüchtiger Mensch. Denn Kritik ist die Beurtei-
lungskraft im Unterschiede.
/Es gibt ferner mechanische Köpfe. Man bemerkt, daß viele
Kinder schon von ihrer Jugend an schnitzeln usw. und dies zeigt
schon an, daß sie einen mechanischen Kopf haben. (Man kann
auch die Geschichte mechanisch lernen. Der hat kein historisches
Talent, der sich den Kopf mit Erzählungen und Jahreszahlen
vollpfropft.) - Wenn man den Kopf eines jeden jungen Menschen
jederzeit analysieren möchte, so könnte man schon voraus
a priori bestimmen, was für ein Métier er künftig ergreifen müsse.
Man sollte aber nicht junge Leute selbst hierin wählen lassen.
Denn sehr oft will ein Kind, das vielleicht einen guten mecha-
nischen Kopf hat, bloß darum ein Medicus werden, weil es solche
Männer oft in Kutschen fahren sieht, oder weil es krüppelhaft
ist, oder weil es hört, wieviel Staatsneuigkeiten ein solcher Mann
seinen Eltern erzählt, oder weil es spazieren und im Vorbei-
gehen die Patienten besuchen kann. Es ist aber nichts kläglicher,
als wenn ein Mensch auf eine Wissenschaft verfällt, wozu er nicht
die geringste Fähigkeit hat. Daher kommt es, daß das Stecken-
pferd alle anderen wahren aus dem Stall jagt, und daß ein Mensch
alles inkultiviert läßt, wozu er geschickt ist, und das bearbeitet,
wozu er im höchsten Grade ungeschickt ist. Die Ursache davon
ist diese, weil die Menschen immer gern etwas anderes sein
mögen, als sie wirklich sind. Sie denken, das kann dir doch keiner
nehmen, was du schon bist, es ist aber doch gut, daß du noch
suchst, was anders zu werden. So dichten z. B. viele Poeten, ohne
daß sie jemand liest, und so klimpert mancher den ganzen Tag
/|P_266
/auf dem Klavier und komponiert, und niemand will ihn hören.
Er will aber doch gern ein Musikus sein. Menschen suchen die
Veränderung, gleich als wenn sie Prometheus mit einem groben
Ton beseelt hätte. Aus diesem sieht man aber leicht, wie nötig
und nützlich das Studium der Köpfe sei. Und obgleich Schulen
und Examinatoria genug angestellt sind, so ist doch dafür wohl
nicht gesorgt. Die Departements der Wissenschaften und Künste
werden jetzt nur durch einen Zufall gut besetzt. Oft ge-
schieht die Wahl aus Not oder aus Wahn, und daher kommt es
daß die Menschen mehrenteils in der Welt an eine unrechte
Stelle kommen. Es würde aber ein lustiger Plan sein, wenn man
jeden Menschen an seine rechte Stelle setzen möchte, wohin ihn
die Natur bestimmt hat. Mancher General würde Tambour wer-
den, mancher Jesuit ein Minister, mancher schlechte Jurist ein
guter Holzhacker, mancher, der in Gesellschaft geht, um sie zum
lachen zu bewegen und viel schnattert, ein ehrlicher Gastwirt,
und mancher, der jetzt mit den Barbierbecken herumläuft, würde
geschickter sein, gute Stücke auf dem Buckel zu tragen. Die
menschliche Freiheit macht diese Verwirrung, da die Menschen
selbst fremde Stellen wählen und nicht aus Neigung, sondern aus
Not, oft nicht aus Geschicklichkeit, sondern aus Wahn. Da aber
dieser Plan nicht zu hoffen ist, so muß man glauben, daß die
verkehrte Versetzung vielleicht die schöne Mannigfaltigkeit der
Welt ausmacht, ob sich gleich die Menschen so verwirren, daß sie
nicht wieder herauskommen.
/Musikalischer Kopf ist ein Unding, man kann ihn nicht haben,
wohl aber ein musikalisches Genie.
/Esprit universel (ingenium universale) ist die angeborene An-
lage im Gebrauch der oberen Erkenntniskräfte, - Ingenium be-
deutet auch soviel als Eigenschaft, z. E. ingenium alicujus rei.
/Vom Begriff des Genies. - Genie ist eigentlich Talent von hö-
herem Range, ist die musterhafte Eigentümlichkeit des Talents.
Genie besteht darin, daß etwas ausgeführt wird, was ein Muster
für Andere werden kann. Dieses Talent hat eine Eigentümlich-
keit, was durch Nachahmung nicht bewirkt werden kann, und
diese Eigentümlichkeit nennt man Originalität. Genie bedeutet
einen Originalgeist. Das Wort Geist gebraucht man in vielen
Fällen. Denn man sagt oft von einer Gesellschaft, Gemälde, Rede,
/Diskurs, es ist ohne Geist, d. h. es ist nichts belebendes dabei.
Und man sieht leicht, daß das Wort "Geist" das principium des
Lebens bedeutet. Es ist aber ganz was anderes, wenn man sagt
Orginalgeist. Er ist nicht Geist der Nachahmung. (Nur den Geist
der Nachahmung haben z. B. die Russen im Malen. Sie können
gut kopieren, aber nichts selbst machen. Sie haben keine eigen-
tümlichkeit im Malen.) Der Deutsche hat für Genie kein Wort.
Auch ist das Wort "Genie" nicht ursprünglich französisch, son-
dern es kommt aus dem lateinischen Wort genius. Genius war
bei den alten Römern der eigentümliche Geist des Menschen
δ_F_153 der bei der Geburt anfängt und mit dem Tode aufhört. Dieser
Geist war den Menschen beigestellt um ihm an- und abzuraten.
Das ist eine Art Metapher und Allegorie. Doch hat das Wort bei
den Lateinern nicht die Bedeutung, wie es bei uns hat. Es be-
deutet nämlich nicht Genie, sondern ein reines ingenium. Das
Kopieren der Gemälde ist ein unschätzbares Talent, aber die
ursprüngliche Originalität ist Genie.
/Im Genie ist Originalität der Einbildungskraft das Vorzüglichste
und hauptsächlich Notwendigste, insofern sie ein Muster wird.
Der Verstand und die Urteilskraft muß sie doch im Zügel halten,
weil sie sonst zügellos und regellos wird. Man hat auch gewisse
Künste des Genies. Wissenschaften können durch anhaltenden
Fleiß erlernt werden, vorausgesetzt, daß man das Mittelmaß der
Talente, die dazu erfordert werden, habe: z. E. in Mathematik,
Geschichte usw. kann man durch anhaltenden Fleiß ziemliche
Fortschritte machen ohne sonderliche Talente. Allein mit allem
Fleiß kann man es doch nicht weit in der Poesie bringen, wenn
nicht schon natürliche Anlagen da sind. Das Genie geht eigentlich
auf Kunst. Die Kunst unterscheidet sich dadurch vom Hand-
werke, daß, wenn man beim Handwerk etwas weiß, man es
auch kann. Aber bei der Kunst geht es nicht, man kann
da alles gut wissen, aber vermag nichts zu machen, z. E. beim
Malen. Das Genie gehört zu den Künsten und diese Künste
werden schöne Künste genannt. Schöne Wissenschaften gibt
es gar nicht, denn sie gehören zum Verstande. Aber schöne
/|P_267
/Künste, wie z. B. Dichtkunst, Redekunst usw. Man kann
denjenigen, der durch Nachdenken und Nachahmen es weitge-
bracht hat bei weitem nicht ein Genie nennen, sondern es ist ein
Gelehrter. Wenn ein solcher vielleicht mit dem größten Fleiß
alle Dichter durchgelesen hat und er keine natürliche Anlage
zum Dichten hat, so hilfts ihm nichts. Der Einbildungskraft ist
Nachahmung zuwider. Zum Genie gehört daher Freiheit und
Originalität der Einbildungskraft, die sich nicht in Schranken
hält, und doch dem Verstande nicht widerspricht, ohne daß sie
von ihm gezwungen und ihr durch seine Regeln Grenzen gesetzt
werden sollen. Dies kann geschehen, weil sie original eigentüm-
lich und nicht nachgeahmt ist. Die Einbildungskraft ist auch beim
Genie musterhaft, weil ihre Produkte Anlaß zu neuen Regeln
geben. Sie wird nicht durch Zwang schon gegebener Regeln, son-
dern durch sich selbst dirigiert. - Die Ideen sind solche Vor-
stellungen der Dinge, die angesehen werden als Originale der
Dinge selbst. Z.E. es will jemand eine Rede beurteilen, so muß
er eine Idee von der Rede haben, die eine Vorstellung a priori
ist, und die ihm als eine Regel zur Beurteilung der Rede dient.
- Das Genie ist angeboren, und durch alle mögliche Mühe kann
man nie ein Genie erreichen. Einer, der es nicht hat, kann Ver-
stand haben, aber es kann ihm an Witz oder Urteilskraft in der
Einbildungskraft fehlen. Da hörts dann auf, Genie zu sein. Denn
wo eine Kraft fehlt, ist kein Genie, auch kein Geist.
/Die bloße Originalität (Eigentümlichkeit) des Genies ist nicht
hinlänglich, sondern es muß auch nachahmungswürdig sein. So
kann es z. E. eine originale Narrheit geben. Das nachahmungs-
würdig ist, ist ein positives Original.
/Virgil hat zwar den Homer nachgeahmt. In der Manier hat
er aber doch Originalität. Diese Originalität des Virgil wurde
aber durch den Homer aufgeweckt und ohne Homer wäre nicht
Virgil gewesen. Voltaire sagt sogar, wenn Homer den Virgil
geschrieben hätte, so wäre es sein bestes Buch.
/Ein Maler kann nachahmen in der Manier, wenn er auch nicht
dieselben Stücke zeichnet. Die Gruppierung (Stellungen), Licht
und Schatten kann er nachahmen. Denselben Stil kann er zwar
haben, aber nicht denselben Inhalt. Zum Nachahmen braucht der
Mensch Verstand, zum Nachäffen aber Affenverstand. Dies skla-
vische Art der Nachahmung benimmt alle Eigentümlichkeit und
man findet sie bisweilen in Schulen z. E. die Nachäffung der
Ciceronianischen Reden. Wenn auch viele bei Einem Schreiben
lernen, so hat doch ein jeder eine andere Manier. Dies beruht
auf der Organisation der Finger. So hat auch jeder im Vortrage
seine besondere Manier.
/Ein Talent ist jede Eigenschaft unsrer Erkenntniskraft. Man
setzt das Genie in der Freiheit vom Zwange der Regeln, z. E.
in der Poesie. Regeln sind Gängelwagen, wovon wir geführt sind.
Sind sie schon vorhanden, so ist man Nachahmer. Sofern die
Malerei eine Kunst des Genies ist, besteht sie in der Nichthal-
tung an Regeln. - Es kann eine gewisse Methode im Unsinn
sein, aber er ist nicht nachzuahmen. Es muß eine exemplarische
(nachahmungswürdige) Originalität sein. Lernen ist nichts an-
deres als nachahmen. Die Hervorbringung des Genies ist das,
was man nicht lernen kann - z. E. man kann wohl reimen, aber
nicht dichten lernen. Der Dichter wird geboren (Chesterfield).
In Italien gab es ehedem Erbprofessoren. Es wunderte sich je-
mand hierüber aber er erhielt zur Antwort: ei, hat man doch Erb-
könige! - ist es etwa leichter, einen Staat zu regieren, als eine
Wissenschaft methodisch zu lehren?
/Regeln befolgen ist nachahmen. Von gewissen Regeln, die kon-
ventionell sind, können wir uns nicht so recht freimachen, weil
die Vernunft sie uns lehrt. Die Poeten haben eine gewisse licen-
tia poetica, aber nicht so wie ein Papst, der, wenn in einer Zeile
eine Silbe zu wenig war, so nahm er auf der andern Zeile eine
dazu. Der Dichter kann einmal ein Wort machen, welches nicht
δ_F_154 gebräuchlich ist, oder ein Wort in einer andern Bedeutung ge-
brauchen. - Es gibt Genieaffen. Diese weichen von aller Regel
ab. Die Produkte des Genies sind immer Arten von Eingebungen,
Sachen des Genies können nicht nachgeahmt werden. Durch das
Genie gibt die Natur der Kunst die Regeln. - Geniemäßig, d. h.
obenhin, Dinge behandeln, dient zum Spott.
/Ein Mann von Geist. Geist ist das Vermögen, die Einbildungs-
kraft durch Ideen zu beleben, oder der Einbildungskraft einen
Schwung zu
/|P_268
/geben. Schwung ist eine Bewegung, die immer fortdauert, wenn sie ein-
mal eingedrückt ist - eine Art von unwillkürlicher Bewegung, wie z.B.
wenn etwas von einem Berge herunterfällt o. dgl.
/ Dem freien Schwung des Geistes ist der Mechanismus entgegengesetzt.
Ein mechanischer Kopf kann alle Talente hben, er bedarf aber immer
einer Regel, um gelenkt zu werden. Die Einbildungskraft hat nicht die
Freiheit, ihre Kraft ins Spiel zu setzen. Mechanischer Kopf ist ohne
Geist. Er hat zwar Verstand, aber er muß immer Regeln haben, nach de-
nen er handelt, und da dies was alltägliches ist, so erregt es keine
Bewunderung. Dennoch ist dieser Verstand sehr nützlich in Dingen, die
erlernt werden sollen. Genie hat zwar sehr große Vorzüge. Mechanismus
aber im Talent tut das mehrste im Talent. Genies machen wohl Epoche,
mechanische Köpfe aber erhalten Ordnung und das gemeine Wesen, wenn
Genies Revolution in der Welt hervorgebracht haben. Nachäffendes
Genie mag lieber ein kollerndes Pferd als ein Schulpferd reiten. Die
Ursache ist, um die Augen zu fallen.
/ Das Genie kann man von den Virtuosen unterscheiden. Im Grunde be-
trachtet geben letztere keine Regel an die Hand. Der Musiker, der ein
guter Kompositeur ist, ist ein Genie. Denn Erfindung gehört zum Genie.
Die Exekution des Stücks erfordert ein eigentliches Talent in Ansehung
der Ausführung, wozu Mechanismus in den Organen sehr beförderlich ist.
Virtuosen haben eine besondere Organisation, die zur Kunst sehr vor-
teilhaft und von Natur sehr schön ist. Man kann zum Genie rechnen:
1.) Einbildungskraft, 2.) Urteilskraft, 3.) Geist, 4.) Geschmack.
/ Einbildungskraft sowohl in Ansehung der Fruchtbarkeit als der
Mannigfaltigkeit ist die Basis des Genies. Sie muß aber nicht regellos
und noch weniger zügellos sein.
/ Urteilskraft ist die Kraft, welche die Einbildungskraft einschränkt
und unter Regeln bringt, Behutsamkeit im Gebrauch des Verstandes,
negative Klugheit. Sie ist ernsthaft, und glänzt am wenigsten.
/ Geist, aus den beiden vorigen zusammengesetzt, ist das Vermögen,
die Einbildungskraft durch Ideen zu beleben. Dies entsteht dann, wenn
sie in Schwung gesetzt wird - beruht auf dem großen Gehalt der Ideen.
/ Geschmack zeigt die Reife der Produkte des Genies an. Dies ist das
Schwerste. Man kann ihn ästhetische Urteilskraft nennen.
/ Ein kultiviertes Genie hat Geist - Reichtum - und Geschmack - d. h.
Mäßigung und Harmonie.
/ Anmerkung. Als der Vater des berühmten Raphael Mengs diesen seinen
Sohn taufen ließ, wunderte man sich, warum er ihn Raphael genannt,
da er doch nicht voraussehen könnte, ob er einstens soviel Genie zur
Malerei zeigen würde, wie Raphael. Hierauf versetzte er: Ich will ihm
das Genie schon beibringen. Er hielt auch in der Tat Wort, indem er
seinen Sohn durch Schläge dahin brachte, daß er die contours immer
richtig zeichnete. Mengs gestand auch selbst, daß ihm dieses viel
geholfen, indem er in der Folge stets gewiß war, daß seine contours
fehlerfrei wären, und deswegen nur auf Schatten, Licht, Ausdruck usw.
sein Augenmerk richten durfte.
/ Es hatte einmal jemand ein vortreffliches Gemälde verfertigt,
welches aber tot schien. Mengs riet dem Verfertiger, er solle im Vor-
dergrund noch eine Möwe malen, und durch diesen Vogel wurde schnell
das ganze Gemälde gehoben und sah lebhaft aus. Wer solche Dinge em-
pfindet, zeigt, daß er einen großen Kopf habe.
/ Das Genie bei verschiedenen Nationen nimmt folgende Wendungen an.
/ Bei den Italienern schießt das Genie in die Krone, d. h. sie las-
sen sich bei ihrem Genie durch die Sinnlichkeit hinreißen. Dies ist
Einbildungskraft.
/ Bei den Deutschen in die Wurzel d. h., sie besitzen viel Urteils-
kraft in ihrem Genie.
/|P_269
/ Bei den Engländern in die Frucht, d. h. in dem Genie, welches sie
zeigen, ist viel Geist, und in ihren Büchern findet man Reichhaltigkeit
am Verstande am meisten Gedankenfülle und Reichhaltigkeit am Verstand.
/ Bei den Franzosen in die Blüte, d. h. sie haben viel Geschmack in
ihrem Genie.
/ Bei manchen Völkern findet sich mehr Genie, als bei andern. Es hängt
von der Einbildungskraft ab, Italien ist ein Land, wo die Einbil-
dungskraft viel Stoff findet.
/ Daß es so wenig Genies gibt, daran haben wohl die Schulanstalten
und selbst die Regierung schuld. In der Schule herrscht ein Zwang
Mechanismus und ein Gängelwagen der Regeln. Dies benimmt den Menschen
oft alle Kühnheit selbst zu denken und es verdirbt die Genies. Es ist
wahr, daß die übrigen Gemütsarten sich immer nach Regeln sehnen.
Diese Regeln sollten aber nur δ_F_155 rektifizieren, das Mechanische - da es
doch sehr nötig ist, muß sehr behutsam gebraucht werden, damit nicht
alle Genies untergehen. Der Mechanismus erstreckt sich so sehr nach-
her auf die Denkungsart, daß man nicht anders als nach erlangtem
Modell oder Muster denkt. Die deutsche Nation ist dazu sehr gestimmt.
Zu einem Beweise dient die Titelsucht dieser Nation, weil sie z. T. ein
Naturell dazu hat, z. T. auch durch den Mechanismus dazu gebracht wor-
den ist. Dieses Mechanische hängt auch von der Regierung sehr ab. Der
Richter muß mechanisch nach den Buchstaben des Gesetzes in allen
möglichen Fällen richten. Es ist aber doch in der Tat nicht möglich,
daß ein Gesetz auf alle möglichen Fälle gemacht werden kann.
/ Die affektierten und angemaßten Genies glauben, daß sie, wenn
ihre vorherige Herumschweifung und Verwicklung der Einbildungskraft,
die mit Worten bekleidet wird und dem Verstande etwas Angemessenes
zu enthalten scheint, für wirkliche Genies gehalten zu werden verdie-
nen. Sie prätendieren Bewunderung und Befremdung. Solche Genies fin-
det man häufig in Deutschland. Sie haben was Orakelmäßiges. Das gibt
einen Anschein, als sei es unmittelbar aus der Natur. Bei ihnen ist
die rohe Stärke der Einbildungskraft, die nicht durch Geschmack kul-
tiviert ist.
/ Man nennt gewöhnlich einen außerordentlichen Kopf Genie, welches
nicht eigentlich ist, weil die Originalität, welche alle Kräfte pro-
portioniert, fehlt. Newton war ein großer Kopf, aber kein Genie.
Genie geht auf Einbildungskraft, angemessen ihrer eigenen Freiheit
des Geistes. Ein Genie unterscheidet sich vom Kopf nicht den Graden
der Talente nach, sondern nach der glücklichen Proportion der Gemüts-
kräfte, die durch Einbildungskraft harmonisch belebt wird. Es ist
ein glückliches Talent, nach der Qualität durch Fleiß kultiviert.
Milton, Shakespeare sind Genies.
/ Wenn jemand wozu Naturhang hat, besitzt er auch dazu Naturtalent?
Es ist schwierig auszumachen, daß die Natur die Talente so ausge-
teilt habe, daß jedesmal, wo Neigung ist, auch Talent sei. Leider ist
es oft nicht wahr. Denn es kommt gemeinhin auf Veranlassung und ersten
Eindruck an, daß man einen Hang zu etwas bekommt, weil es gefällt.
Z.E. ein junger Bursch, der den Arzt oder Prediger in einer Kutsche
fahren sieht, sagt: o, ich will Arzt werden. Daher ist es immer nötig
seine Geschicklichkeit in der Zeit immer so zu kultivieren, damit man
nachher zu allerlei Zwecken geschickt sei. Es gibt gewisse Günstlinge
der Natur. Solche sind die Elèves de la nature in der Schweiz.
/ Ein frühzeitiger Kopf (ingenium praecox, frühreifes Talent) kann
eigentlich nicht zum Genie gezählt werden. Es leistet nicht soviel,
wie es verspricht. Z.E. ein Kind, das sehr klug ist, bringt es hernach
doch nicht weiter, als andere. Es ist zwar früher fertig, aber nicht
besser, als andere. Am unerträglichsten ist die frühe Urteilskraft.
Heinecke aus Lübeck, ein Kind das in seinem zehnten Jahr eine außer-
ordentliche Klugheit zeigt und frühzeitig starb, wäre doch nichts
anderes, als ein mittelmäßiger Kopf geworden. Hingegen findet man,
/|P_270
/daß große Köpfe in der Jugend nicht viel versprochen haben. Z. E.
Fontenelle, der war ein Tausendkünstler der Wissenschaften. Die Spa-
nier in Amerika werden sehr früh brauchbar, aber nach dem 30. Jahr
haben sie ihr non plus ultra erreicht. - Überhaupt Talente tun nie
einander Abbruch, wenn sie nur proportioniert sind.
/ Die Bauern haben erstaunlich viel mechanisches Genie. Bei der
Astronomie und Mathematik stellt sich ein solches Genie sehr früh
ein, und wenn eine Anweisung da ist, so kann es sehr weit gebracht
werden. Die Köpfe, die mikrologisch grübeln, sind von den Genies
unterschieden. Sie können darin viel Scharfsinnigkeit beweisen, taugen
aber nichts zu großen Sachen, wo sie viel umfassen sollen. Dem Mikro-
logen ist entgegengesetzt der extendierte Kopf. Es gibt zyklopische
Gelehrsamkeit, wo viel historisches Wissen ist, wo aber die Urteils-
kraft fehlt, inwiefern die Kenntnisse richtig und wahr sind und ange-
wandt werden können. Die Vereinigung aller Talente nennt man einen
Kopf. Dazu gehört Polyhistorie. (Dieser Name kommt eben daher, weil
das meiste darin in historischen Kenntnissen besteht. Sulmasius
(Saumaise) und Julius Cäsar Scaliger waren Polyhistoren.) Ein solcher
allgemeiner Kopf muß zu allen Wissenschaften aufgelegt sein. Er hat
auch Geschicklichkeit in vielen Arten. Doch diese Vereinbarung hat
Schwierigkeit. Denn Philosophie und Dichtkunst läßt sich nicht füg-
lich zusammenbringen. Der Philosoph schildert die Dinge nach der Wahr-
heit, der Dichter nach dem Schein und gewöhnt den menschlichen Ver-
stand, statt an Begriffe an Bilder. Ein solcher Polyhistor,
der alles weiß, weiß es nicht vernunftmäßig, sondern historisch.
/Bei Plato war mehr Genie, bei Aristoteles mehr Verstand.
/(Montucla sagt in seiner Geschichte
der Mathematik, es habe im Altertum nur einen Archimedes und in der
neueren Zeit nur einen Newton gegeben, der doch kein Originalgenie
war. Auch Leibniz war kein Originalgenie.- Selbst nicht Leonardo da
Vinci, welcher doch sozusagen alles war. Er besaß nämlich alle Wis-
senschaften und Kenntnisse, war der größte Maler und Bildhauer sei-
ner Zeit usw. stellte dabei selbst eine sehr schöne Figur vor und
was noch weit mehr, als dieses alles ist, er war ein kompletter recht-
schaffener Mann. Er starb in den Armen König Franz_V.)
/ Naturalisten einer Wissenschaft sind die, welche ohne Anweisung
Wissenschaften erlernt haben. Hiebei findet doch ein Mangel des Fun-
daments statt. Die Leichtigkeit einer Ausübung entsteht durch öftere
Wiederholung, wodurch eine Fertigkeit entsteht, aber auch eine Not-
wendigkeit, die nennt man Angewohnheit. Z.E. Man kann sich das Flick-
wort oder die Miene eines Andern angewöhnen, wenn man es ihm oft
nachmacht. Wenn ein Flickwort gleich ein gutes Wort ist, so taugt es
doch nicht, denn das Gute muß nach Grundsätzen und nicht durch Ange-
wohnheit ausgeübt werden. Bei der Angewohnheit findet Hilfe statt. Die
Angewohnheit wird notwendig
/|P_271
/und bei der Erhaltung der-
selben schadhaft. Man muß alles in der Welt tun und erdulden
können, d. h. man muß an alle Handlungen und Leiden
sich gewöhnen, und es ist nicht gut, wenn man es nur mit ge-
wissen Handlungen und Empfindungen so macht. Denn eine Ge-
wohnheit ist ein Mechanismus und der muß vermieden werden.
/Der Mechanismus in der Ausübung der Fähigkeiten ist dem Genie
nicht zuwider. Aber der Mechanismus muß in der Unterweisung
aufhören, wenn es auch die Genies nicht wollen. Der Mechanis-
mus ist notwendig in Ansehung des Gedächtnisses und der Ma-
terialien, die gefaßt werden sollen.
/ (Anmerkung. Hier ist der erste Teil "Vom Erkenntnis-
/ vermögen" zu Ende und es fängt an der zweite -)
/ ≥ Zweites Stück: Vom Gefühl der Lust und Unlust. ≤
/ Nachdem wir die Erkenntniskräfte des Menschen erwogen ha-
ben, so gehen wir nun zu seinem Gefühl der Lust und Unlust und
zu seinen Gründen der Tätigkeit über.
/ Gefühl generaliter genommen, ist das Subjektive unserer
Vorstellung, was keine Erkenntnis sein kann. Empfindung ist
das genus (Gattung) und Gefühl die species (Art). Empfindungen
können auch Erkenntnisstücke werden. Alle unsere Vorstellungen
von Farben oder vom saurem und süßen Geschmack sind Empfin-
dungen. So auch Licht kann ein Erkenntnisstück werden. Man
braucht diese Empfindungen, um sich die Beschaffenheit eines
Gegenstandes vorzustellen. Lust und Unlust sind subjektive
Empfindungen. Denn ich kann es von keinem Gegenstande außer
mir sagen. Sie liegen also bloß in mir. Lust ist die Bezie-
hung meiner Empfindung auf mein Subjekt. Gefühle können nicht
im entferntesten Erkenntnisstücke werden, wenn ich z. B. sage:
es ist angenehm. Gefühl der Lust ist dasjenige Gefühl, welches
eine Ursache hat sich selbst zu kontinuieren (fortzusetzen).
Das Gefühl der Unlust ist solch Gefühl, das dem Gemüt wider-
strebt oder sich selbst zu erhalten widerstrebt.
/ Die Gegenstände, aus denen das Gefühl der Lust und Unlust
entspringen, werden nach der Verschiedenheit desselben genannt
1) angenehm (oder schmerzlich), 2. schön (oder häßlich), 3.
gut (oder böse).
/ Das Angenehme ist der Grund der Lust und Unlust durch den
Sinn (oder Empfindung) - oder was uns in der Empfindung ge-
fällt oder vergnügt.
/ Das Schöne ist der Grund der Lust und Unlust durch die
Reflexion (Geschmack) - oder was uns in der Erscheinung ohne
Geschmack. (Es gefällt nur in der puren reflektierten Anschau-
ung.)
/ Das Gute ist der Grund der Lust und Unlust nur allein
durch Begriff der Vernunft oder was uns im Verstande gefällt.
/ Das Angenehme vergnügt, das Schöne gefällt, das Gute
wird gebilligt in Beziehung auf den Zweck. Diese Ausdrücke
sind verschieden und oft einander entgegengesetzt. Wenn wir
den Sokrates in Ketten und den Caesar vom ganzen Rat begleitet
betrachten, so gefällt der Zustand des Caesar der Empfindung
und dem Geschmack nach mehr. Erwägen wir aber den Zustand
beider durch den Verstand, so ziehen wir den Zustand des So-
krates dem Zustande des Caesar vor. Das Schmerzhafte ist vom
Bösen sehr unterschieden. Vieles gefällt, aber vergnügt nicht.
Z. B. wenn die Tugend uns so angenehm wäre, wie sie gefällt
(gebilligt wird), so würde jedermann tugendhaft sein. Denn sie
ist das höchste Gut und alles außer ihr gehört bloß zur An-
nehmlichkeit. Aber leider vergnügt sie an sich selbst nicht.
Angenehm ist dasjenige, wovon uns das Dasein gefällt. So er-
kennen wir von vielen Dingen, daß sie schön sind, wie z. B.
von einem prächtigen Palast mit Kolonnaden. Aber angenehm fin-
den wir ihn nicht. Denn an seinem Dasein können wir keinen Ge-
fallen finden. - Also nur das, dessen Dasein uns gefällt,
/|P_272
/vergnügt die Empfindungen.
/ Das wahre Gute muß stets durch den Verstand erkannt wer-
den und dies sind die verschiedenen Arten der Lust und Unlust.
Das Gefühl derselben aber ist vom Geschmack unterschieden. Ge-
schmack ist nur eine gewisse Urteilskraft im Reflektieren. Er
gehört dazu, um das Schöne wahrzunehmen. Er ist schon Talent.
Ein dummer Mensch hat ihn nicht. Auch kein Tier kann Unter-
schied zwischen dem Schönen und Hässlichen machen.
/ Es frägt sich nun hier, worauf der Unterschied zwischen
Lust und Unlust beruhe? Weil sich zuletzt alles aufs Gefühl
reduzieren läßt, so wollen wir zuerst das Gefühl erwägen und
das Prinzip des Vergnügens und des Schmerzens aufsuchen. Wir
fühlen in allen Fällen, daß das Gefühl des Leben alle ent-
hält, was da belustigt, und daß alles, was in uns zusammen-
stimmt, unser Leben uns fühlen zu lassen, uns Lust verursacht,
und hingegen alles, was unsere Lebensfähigkeiten bindet, in
uns Unlust hervorbringt. Wenn uns etwas belustiget, so
empfindet alsdann jedes Organ, wenn es nach seinem Mechanismo
in die größte Tätigkeit gesetzt wird, sein Leben ganz. Mithin
liegt das Prinzipium aller Lust und Unlust in der Begünstigung
oder Bindung unserer Lebensfähigkeit. So empfindet z. B. unser
Auge das größte Vergnügen, wenn es von Gegenständen in
die möglichst größte Aktivität versetzt wird. Ist aber der
Anblick von der Beschaffenheit, daß unser Auge gezerrt wird
und ein Eindruck den andern hemmt oder auch, wenn es gar keinen
Eindruck hat, so empfindet es Unlust, im Fall während der Zeit
kein anderer Sinn vergnügt, d. h. in Aktivität gesetzt wird.
So ist es auch mit dem Geschmack. Was unsere Geschmacksdrüsen
in die größte Aktivität setzt, das schmeckt uns am besten.
Es scheint, daß die Geschmacksdrüsen am Gaumen der Zunge, mit
dem Magen sehr genau zusammenhängen, weil man dasjenige,
was gut schmeckt, auch gut verdauen kann. Diese Geschmacksdrü-
sen sind pyramidal und also spitzig. Wenn nun die Salzteil-
chen der Speisen diese ihre Spitzen in Bewegung setzen, so
empfindet man in Ansehung des Geschmacks das höchste Prinzip
des Lebens. Ebenso ist's mit dem Gehör bewandt. Die in glei-
cher Zeit aufeinander folgenden Eindrücke der Musik
bringen in einem Körper, der schwenkungsfähig ist, zuletzt
eine starke Schwenkung hervor. Daher ists nicht ratsam, daß
Soldaten, welche Pontons besteigen, dabei Tritt halten, weil
die Schlag auf Schlag folgenden Eindrücke der Brücke eine
solche Schwenkung geben könnten, daß sie sänke. Nun ist jeder
Ton gleichzeitig, denn dadurch unterscheidet er sich vom
Schall. Und diese gleichzeitigen Töne bringen zuletzt im Ohr
die stärkste Bewegung herfür. Daher verursacht die Zertren-
nung des Körpers einem Menschen viel Schmerzen. Wenn aber
Teile des Körpers gedehnt werden, so ist dies ein langdau-
erndes Hindernis des Lebens und alsdann der größte Schmerz.
/ Zum Vergnügen gehört bloß Sinn. Alles dasjenige aber,
was uns vergnügt, befördert nicht zugleich unser Leben, son-
dern es läßt uns solches nur stärker fühlen. So finden die
mehresten Menschen an Ausschweifungen und Handlungen, die
ihr Leben ruinieren, ein Vergnügen, und so scheinen viele Ver-
gnügungen schädlich zu sein, z. B. der Soff. Wenn ein Mensch
trinkt, so vergrößert er das Gefühls eines Lebens auf eine
zwiefache Art: 1. in Ansehung des Geschmacks, 2. in Ansehung
der Berauschung. Die Organe schwellen durch das Trinken vom
/|P_273
/Blute an. Ein Berauschter ist gleich munterer und empfindet
keine Sorgen. Und so lassen uns alle Rausche, außerdem daß
sie die Geschmacksdrüsen reizen, durch unsere Tätigkeit füh-
len. Daher trinken die Türken Opium. Dieses macht zwar stumpf,
aber im Anfange stark und herzhaft. Alles hingegen, was unsere
Sinne bindet, das schmerzt. Aber Dinge, die den größten
Schmerz verursachen, sind nicht immer die schädlichsten. So
sind z. B. Zahnschmerzen entsetzlich und doch ist noch niemand
davon gestorben. Andere sind ohne Schmerz und dabei die schäd-
lichsten. So kann z. B. die Lunge fast ganz verzehrt sein, und
der Kranke empfindet, wenn er etwa nicht hohe Treppen steigt,
keinen Schmerz. Die Ursache ist, weil die Lunge keine Nerven
hat und also auch nicht empfindsam ist. Überhaupt macht die
Verletzung kleinerer Glieder größeren Schmerz, als die
grösserer.
/ Außer dem Vergnügen an der Tätigkeit eines einzigen Sin-
nes gibt es noch ein Vergnügen, welches aus den Teilen aller
Sinne entsteht, ein Vergnügen aus dem Gefühl des gesamten Le-
bens, wenn innerlich die Lebenskanäle bespeist sind und man
nichts zu verlangen hat. Der lustige Abbé, der nach einer guten
Mahlzeit die weichen Polster drückt, empfindet dies Vergnügen.
Sein ganzer Zustand besteht aus einer Empfindung aller Sinne,
wo keiner vor dem andern hervorsticht. Der, welches sein gan-
zes Leben fühlt, ist zufrieden. Man kann die Summe aller Emp-
findungen fühlen, ohne darüber zu reflektieren. Es ist wunder-
bar, daß die Gesundheit nicht das gesamte leben fühlen läßt,
ja daß der Mensch fast nie seine Gesundheit fühlt. Denn wir
empfinden nichts als was da absticht. Viele junge Leute sind
deshalb unzufrieden, daß sie gesund sind, denn sie sind in
beständiger Unruhe durch Neigungen. Sie haben immer Appetit und
werden von vielen Projekten des Vergnügens turbiert. Indes
gibt es auch Augenblicke, darin man seine Gesundheit fühlt,
z. B. nach dem Essen bei der Decoction und Digestion. Es gibt
Menschen, denen Schmerz und Vergnügen nicht bis ans Gemüt
reicht, und andere können zufrieden im Zustande des Wohlseins
sein, obgleich einige Schmerzen ihre Ruhe stören, denn ihr Le-
ben im ganzen betrachtet gefällt ihnen doch.
/ Vergnügen ist das Gefühl von der Beförderung des Lebens.
Schmerz ist das Gefühl von der Hinderung des Lebens. Das Ver-
gnügen ist nicht die Beförderung des Gefühls des Lebens.
Schmerz macht uns in gewisser Art untaugbar etwas anders zu
empfinden und ebendies enthält immer gewisse Hindernisse des
Lebens. Fühlen wir dies Hindernisse, so ist dies Schmerz. Der
Mensch fühlt sein Leben sowohl im Schmerz als im Vergnügen.
Jeder Atemzug befördert unser Leben, nur vergnügt uns dies
nicht mehr, weil wir es nicht mehr empfinden. Das Gefühl des
Lebens an sich ist also kein Vergnügen, sondern das Gefühl von
der Beförderung des Lebens. (Ein Hindernis des Lebens ist ein
größerer Antrieb des Lebens.) Vor einer Beförderung muß ein
Hindernis gewesen sein. Also ist Vergnügen die Aufhebung des
Schmerzes. -
/ Graf Veri hat ein sehr gutes Buch über die Beschaffenheit des Vergnügens
geschrieben. Er sagt, wir können nie unsern Zustand
mit Vergnügen anfangen. Schon sobald das Kind auf die Welt
kommt, sagt er ferner, legt es seinen Schmerz durch ein jämmer-
liches Geschrei an den Tag, wie es auch einem Wesen zukommt,
dem so unzählige Übel bevorstehen. Vielleicht scheint dies
/|P_274
/etwas exageriert (übertrieben) aber es ist doch wahr.
/ Wir haben noch zu bemerken:
/ 1. Schmerz ist immer vor dem Vergnügen. 2. Zwei Vergnü-
gen können nicht unmittelbar aufeinander folgen. Es schleicht
sich immer ein Schmerz dazwischen. Das Vergnügen im Leben
kann nie grösser werden als der Schmerz. Denn ist der Schmerz
groß gewesen, so ist auch das Vergnügen, das durch die Auf-
hebung des Schmerzes entsteht, groß und so auch im Gegenteil.
3. Die allmähliche Verschwindung des Schmerzes macht kein Ver-
gnügen, sondern nur die plötzliche. Z. B. der Mann wird sich
weit mehr freuen, wenn seine Frau, die sehr krank war, auf
einmal genest, als wenn sie nach und nach konvalesziert. -
Oder wenn ein Mensch auf einmal reich wird, wird die Freude
größer sein, als wenn er es nach und nach wird. Man kann
hier einen Vergleich machen mit einer Fontäne. Wenn man den
Finger vor die Öffnung hält und dann plötzlich wegnimmt, so
springt das Wasser doppelt so stark.
/ Das physische Vergnügen kann nicht ohne Schmerz genossen
werden, denn nur der Schmerz macht den Genuß möglich. Z. B.
wenn man anfängt Tabak zu rauchen, so ist es einem ganz zu-
wider. Aber auch noch dann, wenn man sich es angewöhnt hat,
bedient man sich solcher Getränke, die den Geschmack geschwind
wegnehmen. Jeder Zug macht Schmerz und indem man ihn weg-
bläst, macht es Vergnügen. Es ist eine Hemmung des Lebens der
Wärzchen auf der Zunge und am Gaumen. Der Speichel belebt sie
aber wieder, der durch das Getränke auf die Art plötzlich den
Schmerz aufhebt. Überhaupt gewähren gemeinhin die Dinge, wel-
che anfangs viel Missvernügen machen, in der Folge das größ-
te Vergnügen. - In der Musik muß bisweilen eine Dissonanz
sein, damit uns die folgenden angenehmen Töne desto besser
gefallen. Ruhe ist nur dann angenehm, wenn Anstrengung vorher-
gegangen ist. Nur der, der den Vormittag über gearbeitet hat,
genießt eigentlich den Nachmittag. Romane, Schauspiele lassen
ihren Helden immer erst große Trübsal erdulen und dann
wird alles durch die Ehe gekrönt. Fielding hat einen belieb-
ten Roman "Tom Jones" geschrieben. Er wechselt mit Ungemäch-
lichkeiten, Hoffnungen ab, endigt sich auch mit einer Heirat
und besteht aus vier Teilen. Nun hat jemand versucht noch
einen fünften Teil dazu zu verfertigen (recht wie das fünfte
Rad am Wagen), wo sie schon verheiratet sind. Dieser fiel
aber sehr schlecht aus. - Sobald die Liebespein aufhört, hört
auch die Liebe auf. Wir sehen also, daß Vergnügen ohne Ein-
mischung des Schmerzes nicht genossen werden kann.
/ Die Natur hat uns zur Tätigkeit bestimmt und als Stachel
der Tätigkeit Vergnügen und Schmerz gegeben. Die Unzufrieden-
heit mit dem gegenwärtigen Zustande ist jedem Menschen eigen.
Er strebt nach einem andern Zustande, und wenn er in diesem
wieder ist, so ist er doch nicht mit zufrieden. Der Mensch
ist überhaupt nie im Genuß desselben Zustandes, sondern
stets in Gedanken bei dem Übergange in einen neuen begriffen.
Die Langeweile treibt uns aus dem gegenwärtigen Zustande,
ohne zu wissen, in welchen man will. Weil bei der Lektüre ein
immerwährender Wechsel und Übergang zu neuen Gegenständen
ist, lieben wir selbige vorzüglich. Auch die Annehmlichkeit
des Spiels beruht bloß auf dem fortwährenden Wechsel der Zu-
stände, und es ist nicht ganz zu verwerfen, wenn nur die
interessierte Neigung moderiert ist. Es gibt unserem Gemüt
eine gesunde Motion, die stark mit der Motion der Eingeweide
korrespondiert.
/|P_275
/ Im Schmerz wird uns das Leben lang, im Vergnügen kurz.
Alles, was uns die Zeit lang macht ist Schmerz. Unsere Ver-
gnügen gehen immer ruckweise. Währt einerlei Empfindung fort,
haben wir Langeweile. Diejenigen, die am meisten über Lange-
weile klagen, beschweren sich am häufigsten über die Kürze
des ganzen Lebens. Manchen Menschen wird jeder Tag lang.
Dies sind die Müßiggänger. Es ist aber auch keiner, dem
nicht wenigstens eine Stunde im Tage zu lang wird. Das ver-
flossene Leben scheint allen kurz. Man glaubt beinahe gar
nicht gelebt zu haben.
/ Wir finden Menschen, deren Ruhe weder durch die Ergötz-
lichkeiten vermehrt, noch auch durch irgend einen Verlust
vermindert wird, ob sie auch gleich Schmerz empfinden und
stöhnen, weil dies ein Mittel der Erleichterung der Schmer-
zen ist, so wie durchs Schreien das Blut, welches in Schrek-
ken nach dem Herzen zusammenfährt, wieder dissipiert wird.
Wer unter dem Schmerz nicht stöhnt, der affektiert. Manche
sind auch bei Schmerzen vergnügt, weil ihnen das Leben doch
wünschenswert vorkommt. Wir müssen einen Unterschied machen
zwischen dem, was mißfällt, und dem, was uns zufrieden
macht. Man kann viel Dinge verlangen und dabei doch zufrieden
sein, weil man diese Dinge als zur Vergrößerung seiner Glück-
seligkeit dienlich ansieht. So kann man sich eine größere
Anmut seines Lebens wünschen und, wenn man sie nicht erlangt,
sie aufhören zu wünschen. Bei einem solchen Menschen ist das
Leben gleichsam eine schwere Masse, und kein Vergnügen macht
ihn sonderlich lustig, kein Schmerz sonderlich betrübt. Wer
sie aber als Bedürfnisse zur Befriedigung ansieht, der ist
bei seinem Verlangen unzufrieden. Lustigkeit und Traurigkeit
ist die Modifikation aller Seelen. Standhaftigkeit aber ge-
fällt und ist wünschenswert. Das gesetzte Gemüt bewundert je-
der, und wenn es auch keine Annehmlichkeit hat, so hat es
auch keine Traurigkeit. Jeder wünscht sich lieber ein gesetz-
tes Gemüt, als eine immerwährende Freude. Denn diese ist alle-
zeit unsicher, und es darf sich nur etwas Weniges ändern, so
ist es mit der Lustigkeit aus. Der gesetzte Mann aber hängt
nicht vom Zustande ab. Er ist zwar nie ein Gegenstand des
Neides, aber auch ein Gegenstand des Mitleidens. Er besitzt
sich selbst. Alles dasjenige, was nicht ein Gefühl von dem
Hindernis des Lebens ist, trägt etwas zu unserem Wohlbefinden
bei. Wird das Gefühl des Hindernisses des Lebens weggeräumt,
so bin ich zufrieden. Die Zufriedenheit ist nicht ein positi-
ves Vergnügen. Der Schmerz hingegen ist das Gefühl von dem
wahren Hindernis des Lebens und etwas Positives. Was mit der
Zufriedenheit zusammen stimmt, erfreut mich nicht allemal.
Wenn man weder im geistigen noch im körperlichen Leben ein
Hindernis empfindet, so befindet man sich wohl oder ist zu-
frieden. Epikur behauptete, daß die Glückseligkeit, welcher
der Mensch teilhaftig werden kann, das fröhliche und das zu-
friedene Herz sei, wenn nämlich die Zufriedenheit oder das
Vergnügen aus den Menschen selbst quillt. Wir müssen den Hang
zur Fröhlichkeit und Zufriedenheit vom Hang zur Lustigkeit
und von der Neigung, alle Vorfälle zum launigen Spaße zu
kehren, unterscheiden. Denn einige haben ein fröhliches Herz,
/|P_276
/andere sind lustig, andere haben eine scherzhafte Laune. Es
zeigt sich, daß die Dinge der Welt den Zustand des Menschen
nicht notwendiger Weise schmerzhaft machen, sondern daß es
bloß darauf ankommt, wie ein Mensch die Sache aufnimmt. Die
ganze Zufriedenheit beruht also nicht auf den Vorfällen und
Gegenständen, sondern auf der Art, wie wir die Dinge aufnehmen
und von welcher Seite wir sie ansehen. Es gibt Menschen, die
die Tyrannei des Schicksals gleichsam verspotten und bei alle
dem, was ihnen schmerzhaft sein konnte, Ausflüchte wissen. Ja
selbst beim Sterben weiß sich ein solcher Mensch aufzurich-
ten, indem er z. B. an die Kürze des Lebens denkt und daß er
nicht ein Leben, sondern Jahre zugelegt hat. Das große
Kunststück dazu zu gelangen, besteht darin, daß man sowohl
den schmerzhaften als vergnügten Zufällen des Lebens ihre
Wichtigkeit benehmen kann. Der Schmerz wird alsdann einen sol-
chen Menschen nur matt affizieren, und der Mangel wird ihm
ebenso gleichgültig sein, als sein Dasein. Es wird ihn kein
Unglück niederschlagen, und er wird immer Ursache finden ver-
gnügt zu sein. Wird er an einem Orte nicht gelitten, so geht
er an einen andern. Er wird dadurch nicht fühllos, sondern er
fühlt zwar den Schmerz und alles, was ihm begegnet, aber er
wird sich nie seiner bemächtigen - glückliche Gemütsart!
/Ein Mensch zu sein, ist wirklich keine so wichtige Sache.
Denn nur bloß das Wohlverhalten bestimmt den wahren Wert des
Menschen. Daher ist die Rechtschaffenheit das Wichtigste bei
ihm. Er muß also moralisch gut leben. Denn wohl leben und
lange leben ist für den Menschen gar nichts Wichtiges, und
vorzüglich begünstigt dies bloß den Wahn und die Eitelkeit.
Wir müssen aber nicht darum eine Wichtigkeit daraus machen
weil, es andere tun. Vernünftiges Leben, Rechtschaffenheit und
Tugend sind die Waffen gegen alle Ungemächlichkeiten dieses
Lebens. Die Kürze desselben aber kann uns am besten in die
Gemütsart setzen, zufrieden zu sein. Genaue Befolgung dessen,
was die Moral vorschreibt, damit mir das Gewissen nichts vor-
werfe, das macht mich zufrieden, das macht mich am Ende ruhig.
Was kann ich dafür, daß die Ding der Welt nicht nach meinem
Willen gehen? Meine Zufriedenheit sollen sie mir nicht rauben,
sondern ich will mich in sie schicken. Was kann es uns am Ende
unserer Tage helfen, daß wir gut geschmaust haben und in
Kutschen gefahren sind? Nur allein also im Wohlverhalten liegt
die Wichtigkeit des Lebens. Habe ich aber zeitlebens recht-
schaffen und tugendhaft gelebt und gibt es noch eine andere
Welt, so bin ich auch würdig daselbst einen andern Posten zu
bekleiden. So denkt der zufriedene Mann. August, auf einer
Schaubühne vorgestellt, fragt seine Generale: Meint ihr wohl,
daß ich die Rolle meines Lebens gut gespielt habe? Ja, ant-
worteten sie, sehr gut! Nun, sagte er, so klatscht und zieht
den Vorhang zu. (NB. Dies soll wirklich geschehen sein, %.vide
%.Anekdoten %Großer Männer.) Wenn wir mit dieser Zufriedenheit die Lustig-
keit und Traurigkeit vergleichen, so scheint die Lustigkeit
noch immer einen Vorzug vor der Zufriedenheit zu haben. Denn
das Lustige besitzt gleichsam den Reichtum, das Zufriedene
aber nur das Notdürftige. Fließt aber daraus, daß jemand
mehr besitzt, als seine Bedürfnisse erfordern, daß er auch
glücklich sei? Wenn jemand über die Zufriedenheit noch die
Lustigkeit sucht, so sucht er etwas, was er entbehren kann.
/|P_277
/Man kann aber alle Vergnügungen so genießen, daß man dabei
alle Entbehrlichkeit spürt. So kann z. B. ein Zufriedener
eine Musik mit Vergnügen anhören. Er macht sich aber auch
nichts daraus, wenn er sie ein ganzes Jahr nicht hört. Macht
man es in allen Dingen so, so hat man schon das Wesentliche
der Zufriedenheit. Ein Leben ohne Vergnügen scheint zwar kaum
wünschenswert zu sein. Allein die Vergnügungen tragen nicht
allemal zur Glückseligkeit etwas bei. Denn die Glückseligkeit
besteht in der Zufriedenheit der Summe aller Neigungen. Wenn
man sich alle Vergnügungen des Lebens entbehrlich macht, aller
Glückseligkeit desselben entsagt, so vergrößern alle Vergnü-
gen unsere Zufriedenheit und tragen mehr zur Glückseligkeit
bei. Überdies verlieren wir oft auf der andern Seite das, was
wir auf der einen gewinnen. So schaffen uns z. B. die Komödien
Vergnügen. Allein wir verlieren dabei auf der andern Seite,
indem wir zu Hause auch ein gutes Buch lesen können, oder
einen guten Freund besuchen. In der Komödie frieren wir, und
hier können wir unsere Gemächlichkeit brauchen. Unbillig
aber ist es wohl, daß jeder Mensch nach Reichtum strebt,
weil der Reichtum eine souveräne Gewalt gibt über alles, was
in der Macht des Menschen steht. Der Mensch sucht dadurch alle
seine Neigungen zu befriedigen, und je reicher er ist, desto
mehr Gewalt besitzt er zu dieser Befriedigung. Ob der allei-
nige Besitz dieses Geldes glücklich macht, ist noch nicht aus-
gemacht. Zwar ist das Bewußtsein, alle Mittel glücklich zu
werden in Händen zu haben, sehr angenehm. Denn die Geldscha-
tulle ist gleichsam ein optischer Kasten, worin der Geizige
Kutschen, prächtige Tafeln, Musik u. a. erblickt. Allein die
bloße Macht glücklich zu werden, macht den Menschen noch
nicht glücklich, sondern der Zustand muß wirklich sein.
/Reichtum vermehrt überdies unsere Begierde nach Vergnügen.
Denn man glaubt für Geld alles haben zu können, selbst Gesund-
heit und ein ruhiges Gewissen. Behält der Mensch nur immer das
Geld als ein Mittel seine Neigungen zu befriedigen, so ist es
Torheit, wenn er noch mehr damit zu verdienen sucht, indem
er Mittel verwendet, um neue Mittel zu erlangen. Dies ist aber
eine doppelte Kargheit, auf solche sonderbare Art sich des
Geldes zu bedienen. Solche Leute weiden sich mit der Imagina-
tion. - Sie sehen andere ruhig in die Komödie fahren und freu-
en sich, daß es nur auf sie ankommt, sich alle Arten von Ver-
gnügen zu verschaffen. Denn ihr Geldklumpen ist einer zauberi-
schen Macht gleich, die alles herfürbringen kann. Obgleich es
nun ein Vergnügen ist, sich mächtig zu fühlen, ohne wirklich
zu genießen, so verschafft doch diese Macht keinen Zusatz
zur Glückseligkeit. Außerdem nutzt sich das Vergnügen selbst
ab. Denn es hat keine Mittel sich zu renovieren. Es gibt aber
doch einige Vergnügungen, die zu unserem Glück wirklich etwas
beitragen, aber nur im Anfange. Der Mensch kann bei sich
nichts anderes zuwege bringen, als die Zufriedenheit. Die
Lustigkeit aber, welche der Grad des Gefühls von der Verbesse-
rung des Lebens heißt, ist ein positiver Grad des Vergnügens
und größer als die Zufriedenheit. Das Gemüt aber ist bei der
Lustigkeit nicht mehr im Gleichgewicht und stimmt nicht mehr
überein. Das Glück des Menschen besteht in der Abwesenheit
des Schmerzes und des Mißvergnügens. Wenn aber Menschen, um
/|P_278
/bei der Tafel ihr Vergnügen zu vermehren, sich eine Tafelmu-
sik halten, so ist die Frage: ob sie dabei nicht mehr verlie-
ren, als gewinnen, indem sie keinen vernünftigen discours füh-
ren können. Man überlege nun, ob es nicht besser sei, mit
einem andern guten Freunde beisammen zu sein, der so zufrieden
ist, wie ich, oder sich in einer großen Gesellschaft zu be-
finden, wo Musik und viel Lärm ist. Kommt aber wohl die Lu-
stigkeit mit der Fröhlichkeit in Vergleich? Bisweilen nicht.
Die sogenannte Lustigkeit ist zerstörend und räuberisch und
endigt sich mit Traurigkeit. Sie ist mit einem englischen
Windspiel zu vergleichen, welches man in der Stube hält, und
das auf Tassen und Gläsern herumspringt. Es ist ein Art von
konvulsivischer Bewegung beim Menschen, da der Nervensaft
gleichsam über sein Ufer tritt. Daher kommts, dass lustige
Leute nach dieser Bewegung traurig werden, wegen Erschöpfung
der Kräfte.
/ Die Menschen sagen, sie sind glücklich, wenn sie gegen
die ihnen zustoßenden Übel Mittel finden. Oft nennen sie auch
das --- Glück, woran sie einmal gewöhnt sind. Daß dies wahr
sei, sieht man aus dem Beispiel der Grönländer. Man brachte
einstens welche nach Dänemark, um zu sehen, ob der Kontrast
dessen, was sie da finden würden, mit dem was sie gewohnt wa-
ren in ihrem Vaterlande zu sehen, eine angenehme Empfindung
ihnen einflößen würde. Sie fanden in Dänemark in Betracht
gegen Grönland eine herrliche Natur. Sie sahen Bäume, Ge-
sträuche, Wälder, blumigte Wiesen, angenehme Dörfer, viele Men-
schen usw. Aber alles dies wurde ihnen bald unerträglich. Denn
eben die Menge Menschen, die sie täglich umgab, wurde ihnen
lästig, ohne andrer Dinge Erwähnung zu tun, deren sie nicht
gewohnt waren, und da sie diesen Übeln nicht abhelfen konn-
ten, sehnten sie sich nach Grönland zurück.
/ In der Arbeit finden wir Glück, denn die Natur hat uns
Triebfedern zur Tätigkeit gegeben. Arbeit verkürzt die Zeit.
Dieses zeigt an, daß wir gerne über das Unangenehme des Le-
bens wegwollen. Der Arbeitende hat immer einen Prospekt,
nämlich Ruhe.
/ Der Bräutigamszustand ist glücklicher, als der Ehezu-
stand, weil er immer einen Prospekt hat. Geld erwerben ist
angenehmer, als es besitzen. Das, was einer besitzt, vergnügt
ihn nie. Der Kaufmann hat mehr Vergnügen, wenn seine Handlung
gelingt, als wenn er von seinen Interessen lebt. Unser vergan-
genes Leben genießen wir nicht, sondern es scheint verschwunden
zu sein. Glückseligkeit ist eine Idee von etwas, dem wir
nachjagen. Denn wenn wirs erreicht haben, so ist es keine
Glückseligkeit mehr. - Es ist mehr der Würde des Menschen ge-
mäß zu handeln, das zu genießen. - Wir können uns einen
Fonds der Zufriedenheit denken, welchen ein jeder Mensch ha-
ben muß. Ein Mensch wird verächtlich, wenn er weibisch trau-
rig beim Unglück ist und zu sehr sich freut bei seinem Glücke.
Der letztere beträgt sich wie ein Kind und sieht nicht vor-
her, daß wenn er dies Glück lange besessen hat, er dieses
Vergnügen wieder verlieren kann, indem er neuen wünschen
nachhängen wird. Wer die Erbschaft im Prospekt hat ist gewis-
sermaßen glücklicher, als der, welche sie besitzt. Die Idee
von den meisten Dingen (denn viele könnte man doch ausnehmen)
ist angenehmer, als der Genuß, der Vorgeschmack angenehmer,
als der Nachgeschmack. In den Sterbelisten in London findet
/|P_279
/sich, daß immer mehr Menschen aus zu großer Freude, als vor
Betrübnis gestorben sind. Nicht als ob es mehr Freude in der
Welt gäbe, sondern der Grund liegt darin: Der Betrübnis su-
chen wir zu widerstehen, der Freude aber nicht, dieser über-
lassen wir uns ganz. Der Mensch vertieft sich in den vorstel-
lenden Genuß der Glückseligkeit. Er hat keine Macht sich zu
finden und die Natur wird zerrüttet. Zufriedenheit muß ge-
sucht werden in dem Vermögen entbehren zu können. Wenn der
Mensch fühlt, daß er Bedürfnisse hat, die in der Natur nicht
gegründet sind, so ist er schon unglücklich. Der Luxus und das
Wohlleben ist dieser Zustand. (Z.B. Anmerkung. Zum Luxus gehö-
ren die schönen tücher, die mit einer aus Fernambukholz ver-
fertigten Farbe zubereitet werden. Ganze Schiffsladungen Fer-
nambukholz werden zu dem Ende aus Brasilien geholt. Die Einge-
borenen lachen hierüber. Einer fragte einmal den Besitzer des
Schiffes, warum er es täte, und da er zur Antwort erhielt. Ich
tue es, damit meine Nachkommen keinen Mangel an Tüchern haben,
so erwiderte der Brasilianer: Hieraus sehe ich, daß ihr Mären
alle Narren seid. Mären zeigt bei ihnen soviel als Europäer
an. Man weiß aber gar nicht, woher dies Wort seinen Ursprung
habe.)
/ Die Genugsamkeit kann alsdann leichter stattfinden, wenn
jemand es noch nicht versucht hat viel zu genießen.
/ In Ansehung des Wechsels des Guten (Angenehmen) und Bö-
sen (Unangenehmen) sind zwei Ausdrücke (nämlich, wie man
sich dabei verhält).
/ 1. Gleichmütig ist der, der nicht gleich wodurch bewegt wird.
/ 2. Gleichgültig ist der, der nicht gleich wodurch affiziert wird,
"nicht bewegt" heißt "nicht aus seiner Fassung gebracht."
/Ein solcher Mensch muß Grundsätze haben. Er erfreut und be-
trübt sich nicht oder tut doch wenigstens beides ohne Affekt.
(Affekt ist die Bewegung des Gemüts, wodurch jemand aus seiner
Fassung gebracht wird.)
/ Freude und Traurigkeit entspringen aus der Reflexion über un-
sern Zustand. Nur nach der Vergleichung seiner selbst mit andern
fühlt man sich glücklich oder unglücklich. Z. B. Wüßten wir,
daß niemand etwas Besseres hätte, als Gerstenbrei, so würde
er uns auch ganz vortrefflich schmecken. -
/ Gleichmütigkeit ist dem läunischen Gemütszustande entge-
gengesetzt. Läunisch ist ein Mensch, der wider seinen Willen
im Gemütszustande sich verändert, so daß man nie weiß, wes-
sen man sich zu versehen hat.
Das Läunische äussert sich da, wenn der Mensch aufge-
bracht wird, da andre sich dessen am wenigsten vermuten. Sol-
che sehen am schärfsten auf jede nicht bedeutende, noch so ge-
ringe Abweichung von der Regel. Der Bauer nennt so einen einen
lynischen Hund - wetterwendisch, lunatisch, der mit dem Monde
wechselt. Wenn ich ihn freundlich anrede, so antwortet er mit
Bitterkeit. Manche Hunde sind von der Art. Sonst lassen sie
gern mit sich spielen. Aber wenn man alsdann mit ihnen spie-
len will und sie beißen, so nennt man sie lynsch. Lynsch
oder läunisch ist von launigt sehr unterschieden, welche die
Eigenschaft eines Talents ist, welches original im Denken und
Handeln ist. Jenes ist eine Gemütskomplexion, welche nachtei-
lig ist. - Eine beharrlich gute Laune ist eine vortreffliche
Gemütsstimmung, die auch für andre vorteilhaft ist. Sie findet
/|P_280
/am häufigsten bei der Frömmigkeit, die in Reinheit des Her-
zens besteht, statt. - Wenn man die Übel des Lebens aus einem
lächerlichen Gesichtspunkte betrachtet, so geschieht dies aus
einer besonderen Gemütsdisposition, nach welcher man alles
aus einem ganz andern Gesichtspunkte betrachtet, als die übri-
ge Welt. So war auch Demokrit einzig in seiner Art. Ebenso
auch Heraklit, der den Menschen als ein Geschöpf betrachtete,
das immer mit Elend und Kummer umgeben wäre. Die Laune des er-
stern ist der Laune des letztern vorzuziehen. Launigte Männer
und launigte Schreibart lieben wir, denn die gewöhnliche Beur-
teilung hat nichts Aufweckendes.
/ Empfindsamkeit ist verschieden von Empfindseligkeit. Emp-
findsamkeit ist eigentlich das Vermögen, sich den Empfindungen,
die aus einer Idee entspringen, zu überlassen. Empfindselig-
keit ist eine Affektibilität, Affektation der Empfindsamkeit.
Delicatesse ist wirklich nichts anderes als Empfindsamkeit.
Man glaubt dies Wort nicht ins Deutsche übersetzen zu können.
Delicatesse hat man 1. in Ansehung der Frauenzimmer, d. h.
wenn man gleich bisweilen Gelegenheit hätte, ihnen Reprochen
zu geben, es aber doch nicht tut. 2. zeigt man sie in einer Art
von Feinheit, andere zu beurteilen, ob es ihnen unangenehm ist
oder nicht. Überhaupt besteht sie im Wohlwollen, andere ge-
wisser Unannehmlichkeiten zu überheben. - Empfindseligkeit ist
die Nachäffung eines teilnehmenden Gemüts. Diese Denkungsart
ist bei den Männern am ekelhaftesten. Den Frauenzimmern, die
damit Parade machen, über alles gleich gerührt zu sein, kann
man es eher verzeihen. Aber eine solche Mannsperson, die immer
beinahe schmilzt und kläglich tut, ist unausstehlich. Er
denkt, wenn er nur mitheult, so ist's genug. Es ist aber nicht
mehr als: es weinen nur ihrer zwei. Er muß helfen, wenn er kann.
Er aber weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er mit in
den Klageton einstimmt. Gute Laune und beharrliche gute Laune
ist eine glückliche Gemütsstimmung für den Menschen. Er ist
immer zum Vergnügen disponiert. Er betrachtet alles aus einem
fröhlichen Gesichtspunkte. Derjenige, der eine mürrische Laune
hat, ist auch wieder ausgelassen fröhlich. Das Beste ist die-
ses: Man kann nicht immer fröhlich sein, aber man muß
sich bemühen, gleichgültig zu sein, um zum Vergnügen anderer
beitragen zu können und nicht hinderlich zu sein. Gute Laune
in Ansehung eines eigenen Unglücks ist eine gewisse Delicatesse.
Andere nicht zu belästigen.
/ Es gibt auch Leute, die eine scherzhafte Laune haben. Die
Franzosen nennen sie humeur, wiewohl humeur eigentlich eine
üble Laune anzeigt. Die Menschen haben ein Vergnügen, den
Dingen einen Wert zu geben, nach Beschaffenheit des Gesichts-
punktes, in dem sie selbige ansehen wollen. So sieht z. B.
jemand einen Aufzug oder große Zeremonie mit vieler Ehrerbie-
tigkeit an, dagegen der andre dazu lacht. Es liegt also die
Wichtigkeit einer Sache bloß in der Art, wie sie jemand an-
sieht, und also ist nötig: 1. dass man die Sachen in ihrem
waren Lichte besehe, 2. daß man sie so ansehe, wie es der Be-
schaffenheit der Seele am heilsamsten ist. Bloß Wahn und
Torheit haben den Dingen einen falschen Wert gegeben. Betrach-
tet man die Menschen daher von der falschen Seite, so schei-
nen sie uns bald beneidenswert, bald bemitleidenswert. Das
forschende Auge aber sieht sie alle in der wahren Gestalt,
nämlich in der Narrenkappe. Der Torheit hängt man nach aus
Neigung zur Ernsthaftigkeit und den wichtigen Geschäften aus
/|P_281
/Zwang. Die Ernsthaftigkeit grenzt immer an Kummer. Ein ruhiger
zufriedener Mensch findet bei allen Widerwärtigkeiten etwas,
worauf er einen Scherz machen und sich beruhigen kann. Thomas
Morus hatte eine so glückliche launigte Gemütsart. Er war
Großkanzler in England und ein rechtschaffener Mann. Wenn ihm
eine Sache widrig sein wollte, so sah er, ob er sie nicht zum
Spaße brauchen könnte, aber nicht zu schalem Witze. Als er
seinen Kopf bereits auf den Block legte, so sagte er zum Hen-
ker: er sollte ihm nur nicht den Bart abhauen, denn dies stün-
de nicht in seinem Urteil. Und so haben manche Menschen von
Natur die glückliche Gemütsdisposition, daß sie den Dingen
die Wichtigkeit nehmen können. Bei den Dingen in der Welt,
denen man die größte Wichtigkeit beilegt, ist nichts anders,
als ein großer Lärm über törichte Absichten. Die Lustigkeit
ist ein positiver Grad des Vergnügens. Sie ist räuberisch, in-
dem sie uns andere Vergnügen nimmt, da wir dem einen nachhän-
gen, und sie verschwendet die größten Kräfte der Seele, daher
man lustige Leute ohne irgendeine Ursache auf einmal traurig
sieht. Die Traurigkeit ist das Urteil über das Elend des Zu-
standes und kommt von der falschen Schätzung her. Wir finden,
daß wir sie gar nicht leiden können. Daher entfernen wir uns
fern von traurigen Leuten, und verweilen wir auch bei ihnen,
so geschieht es doch nur, um nicht den Namen eines
kalten oder gar schlechten Freundes hören zu wollen. Dahinge-
gen bleiben wir nicht ungern in der Gesellschaft desjenigen,
der Schmerzen erduldet und sie großmütig und frisch erträgt.
Aber auch einen lustigen Menschen ertragen wir nicht leicht,
teils, weil wir ihn verächtlich finden, teil wir sehen, daß
ein Schmerz, der ihm zustoßen könnte, ihn ebenso kraftlos ma-
chen würde, teils aber auch, weil wir neidisch zu werden an-
fangen über seine gute Gemütsart. Der Schmerz sowohl als die
Freude müssen communicativ sein und dies geschieht, wenn sie
die Mittelstrasse nicht überschreiten und in der Empfindung
bestehen. In einen solchen Zustand sich zu versetzen ist mög-
lich, wenn man sich von Jugend auf übt, von angenehmen und un-
angenehmen Gegenständen die Gedanken sogleich abzuwenden. Denn
das Gegenteil verschlimmert sogleich den Charakter. Die Trau-
rigkeit und das Vergnügen bringen nicht allein die gegenwärti-
ge Empfindung herfür, sondern auch das Voraussehen, daß es
künftighin entweder besser oder ärger werden kann. Es ist
doch etwas Besonderes, daß die Alten den Tod als ein Mittel
der Aufmunterung brauchten. Daher auch der Beschluß ihrer
Grabschriften beständig so lautet: sei vergnügt, brauche dieses
Leben, weil du in kurzem das bist, was der Verstorbene gegen-
wärtig schon ist. Die Alten suchten nicht wie wir Furcht und
Schrecken durch den Tod zu erregen. Auch ist merkwürdig, daß
einige von den alten Völkern ihre Toten verbrannten, z. B.
die Römer, die alten Preußen, andere sie einbalsamierten,
wie die Ägypter. Beide standen in der Meinung, dem Leichnam
dadurch einen Gefallen zu erweisen. Die ersten setzten ihn
darin, die Seele von der Verbindung des Körpers ganz und gar
zu trennen, und letztere hingegen die Gemeinschaft der Seele
mit dem Körper noch zu unterhalten.
/|P_282
/ Der Geschmack ist von der Empfindung dadurch zu unter-
scheiden, daß die Empfindung eine Lust über meinen eigenen
veränderten Zustand ist, der Geschmack aber eine Lust in der
Anschauung ist, die wir von dem Objekte haben. In einigen
Organen haben wir mehr Erscheinung, als Empfindung, in an-
dern umgekehrt. Eine gar zu grosse Empfindung hindert das
Urteil von der Aufmerksamkeit aufs Objekt. So können wir z.
B., wenn wir aus einem finstern Keller auf einmal ins Licht
oder an Schnee kommen, nicht auf die herumliegenden Gegen-
stände acht haben und sie bemerken. Ein Grund der Lust, der
in der Erscheinung ist, heißt das Schöne. Der Grund der Un-
lust, heißt das Häßliche. Eine Lust aus der Anschauung ge-
nommen vergrößert unsere Glückseligkeit nicht im mindesten
und ist weiter nicht, als das Verhältnis meiner Erkenntnis
zum Objekt. Wenn aber die Schönheit unser Wohlbefinden ver-
mehrt, so daß wir den Gegenstand noch einmal zu sehen wün-
schen, so ist sie schon mit dem Reiz verknüpft.
/ Melancholische Personen sehen es ungern, wenn andre
Menschen um sie heitern Sinnes sind. Sie gönnen niemandem
Fröhlichkeit, ja sogar - sie lieben nicht einmal heiter Wet-
ter, sondern haben es am liebsten, wenn der Himmel in hefti-
gen Regengüssen auch so weint sie sie.
/ Sich zu Gemüte ziehen heißt sich ganz dem Schmerz über
irgendeine Sache überlassen. Etwas sich zu Herzen nehmen
heißt, sich insofern dem Schmerz überlassen, als er eine
Triebfeder ist, Übel abzuhalten.
/ Das Zu-Gemüte-Ziehen ist eine vergebliche Qual. Den Tod
eines Andern kann man nicht zu Herzen, sondern zu Gemüte zie-
hen. Man muß eigentlich sich nichts zu Gemüte ziehen, aber
alles zu Herzen nehmen. Dahin gehört die Buße als eine Her-
zensqual. Diese müßige Reue, wo man das Geschehen nicht unge-
schehen machen kann, ist das zu-Gemüte-Ziehen, welches nichts
nützt. Der Mensch muß eine geschwinde Resolution fassen, ein
besserer Mensch zu werden und nicht über dem Schmerz brü-
ten.
/ Alles Vergnügen muß steigen. Denn wenn es nicht steigt,
so sinkt es. Es ist gut für junge Personen, daß sie sich
viele Dinge ersparen, die für Männer gehören. Sie müssen sich
den Genuß ersparen für die Zukunft. Gesetzt auch man stirbt,
so wird man nicht darüber betrübt werden, daß man Vergnügen
nicht genossen hat, besonders dann, wenn sie nur Genuß
sind und keine Kultur bei sich führen. Denn was sind genossene
Vergnügen in der Folge? - Nichts, noch zuweilen abgeschlagene
angenehmer. - Nur das Gute, was man getan hat, nur das er-
freut uns am Ende des Lebens.
/ Nicht nach der Summe des Vergnügens und des Schmerzes
schätzen wir das Glück, sondern nach dem Maßstabe, ob es vor-
her oder nachher gekommen. Denn wenn selbst das ganze Leben
irgendeines Menschen unglücklich verflossen wäre und er nur
den letzten Tag seines Lebens recht angenehm und zufrieden
vollbracht hat, so hält man ihn für glücklich. Ebenso ist's
auch mit einer Tischgesellschaft, die während der ganzen Mahl-
zeit nicht sonderlich vergnügt gewesen ist. Kommt nur am Ende
ein lustiger Einfall, so werden sie alle dadurch zu einer
freudigen Stimmung gebracht. Also hat man Ursache stets auf
den Nachschmack unsrer Vergnügen zu sehen. Ist dieser gut,
so sind sie vollkommen.
/|P_283
/ Ob unsere Grundsätze fest sind, das kann man nur erst
nach langem Zeitverlauf gehörig prüfen. Erst dann kann man
mit Zuverlässigkeit sagen, ob sie Stich halten oder ob wir
uns nur bloß mit dergleichen angenehmen Vorspiegelungen
getäuscht haben.
/ Es ist ein sehr falscher, trauriger Grundsatz, womit
viele sich hinhalten - Ende gut, alles gut. Sie rasen in das
Leben hinein und denken, am Ende wollen sie auf einmal gute
Menschen werden. - - Als ein Missetäter, der einige Zeit ge-
fangen gesessen, gefragt wurde, inwiefern er sein Leben,
wenn er sollte befreit werden, künftig bessern würde, ant-
wortete er (klüger als die Frage war): Darüber kenne ich mich
noch nicht so genau.
/ Dasjenige Vergnügen, welches zugleich Kultur ist, kann
am längsten genossen werden, denn es macht uns vermögend,
das Vergnügen fernerhin zu genießen. Essen und Trinken ist
keine Kultur; denn je mehr man gegessen hat, je weniger kann
man noch essen. Unter die Vergnügungen der erstern Art, welche
dauerhaft sind, gehören die des Geschmacks und des Umgangs,
denn durch diese werden wir immer mehr kultiviert und ver-
feinert. Man kann hieher rechnen die idealischen Vergnügen
im Gegensatz von den physischen. Jene entspringen bloß aus
der Einbildungskraft, aus Vorstellungen und Gedanken und sind
am dauerhaftesten, diese nutzen sich selber ab (das Vermögen
zu genießen). Diese Gefühl, welches abstumpft, steht also
weit unter dem, welches Kultur bringt. Das physische Vergnü-
gen kann auch insofern zum idealischen gehören, wenn man es
sich zum Prospekt macht, Z. B. jemand spart sich für den Ge-
schlechtstrieb, bis er Mann sein wird. Vergnügen mit Geschmack
verbunden stärkt das Vermögen des ferneren Genusses. Von der
Art ist auch der Umgang mit wohlerzogenen tugendhaften Frauen-
zimmern. Er ist ein Vergnügen, welches kultiviert.
/ Wir können attendieren auf Luxus. Üppigkeit drückt es
nicht aus, denn dies bedeutet eine Unmäßigkeit, sich gewis-
sen Vergnügen zu überlassen (und dies ist ein Tadel), welches
nicht Luxus ist. Luxus läßt sich gar nicht ins Deutsche
übersetzen. Der Franzose gibt dem Wort eine französische
Endung und sagt Luxe. Dies kann aber der Deutsche nicht,
dessen Sprache den Vorzug (gleichsam eine gewisse Keuschheit)
hat, daß man alle fremden Wörter, die sich in ihr befinden,
sogleich erkennen kann. Luxus bedeutet eigentlich die Neigung
des Zeitalters zu einem entbehrlichen Aufwande mit Geschmack.
Man nennt auch wohl denjenigen, der Aufwand macht in Ansehung
des Entbehrlichen einen Verschwender. Luxus ist: 1. die Wir-
kung einer grossen Kultur, 2. wirkt er selber auf die Kultur,
weil er mit Geschmack eingerichtet überhaupt ideal ist. Der
Geschmack wird dadurch Vergnügen, und Vergnügen läßt sich
als solches in tausend Mannigfaltigkeiten vermehren. Luxus
ist eine Kultur, wodurch wir eine Mannigfaltigkeit bekommen.
Wenn der Aufwand auch auf das Entbehrliche verwandt wird, so
folgt doch der große Nutzen, daß die Industrie dadurch be-
fördert und ungemein belebt wird. Viele sonst müßige Hände
erhalten dadurch Arbeit. Der Geschmack, die Zierlichkeit und
Annehmlichkeit im Umgange wird dadurch kultiviert. Die
schlimme Seite des Luxus ist: er kann auch so beschaffen
sein, daß das gemeine Wesen dadurch leidet in Ansehung des
/|P_284
/Unentbehrlichen, wenn nämlich durch den Aufwand gar zu viele
entbehrliche Dinge verbraucht werden. So sagt Rousseau: Man-
che Mensche, die sich sehr viel Mehl auf den Kopf streuen,
bewirken eben dadurch, daß viele keins in der Suppe haben.
/ Gesetze wider den Luxus heißen auch Aufwandgesetze. Sie
sind aber nicht ratsam. Denn der Luxus wird wirklich nicht da-
durch vermindert. Sie verfehlen überhaupt ihre Wirkung. Denn
die Menschen verfallen auf ein anderes Objekt, wenn ihnen eins
untersagt wird. Die Industrie würde dadurch gehemmt, und wo
würde die Menge Menschen bleiben, die dadurch sich ihren Un-
terhalt erwirbt. Vor alten Zeiten war weniger Luxus. Aber es
war auch nicht ein so großer Antrieb zur Arbeit. Denn jetzt
arbeitet man, um sich wieder viel anzuschaffen. Solche Artikel
sind ratsam zu verbieten, die von auswärts kommen (da man
überdies scheint den einheimischen Vorzug zu gestatten) und
deren Wert vorzüglich auf der Einbildung beruht, z. B. eng-
lisch Tusch. Überhaupt kann man nur durch Klugheit, nicht durch
Zwang den Luxus einschränken.
/ In einem Buch über den Nationalreichtum wird gesagt: - -
Fürsten sind die größten Verschwender. Ein Friseur ist kein
produktiver Arbeiter, aber wohl ein Perückenmacher. Bei dem
letzteren bringt eine Arbeit die andere hervor. Auch Bediente
sind nicht produktive Arbeiter. Sie bringen nichts Verdienst-
liches hervor.
/ Ein Engländer gab folgende Definition des Luxus an: Luxus
ist das Übermaß der Vergnügen, welche weichlich machen. Dies
kann wohl von dem schädlichen Luxus gelten. Lord Home (in sei-
nen Betrachtungen über den Menschen) kritisiert ihn und sagt:
Fahren macht weichlich, aber nicht Reiten. Also gehören Kut-
scher zum Luxus, aber nicht Reitpferde. Er rühmt auch ferner,
daß die Vergnügen seiner Nation von der Art wären, daß sie
nicht weichlich machten, wie z. B. Wettrennen usw. Aber sie
können auch so beschaffen sein, daß sie durch Überspannung
die körperlichen Kräfte ruinieren.
/ Das "sustine et abstine" der Stoiker, aushalten und aus-
dauern, in Summa, daß wir uns Vergnügen versagen, ist das
wahre Mittel, uns Vergnügen zu verschaffen. Der Mensch der
es auf das Vergnügen nicht anlegt, genießt gerade am leichte-
sten das Vergnügen, und der, welcher es sich versagt, genießt
es am meisten.
/ Wir sind auch noch fähig eines Vergnügens oder
Schmerzes von höherer Art, nämlich eines Wohlgefallens und
Mißfallens sowohl an Schmerz als auch an Vergnügen. Ein Ge-
genstand kann angenehm sein, aber doch mißfallen, weil wir
nicht damit zufrieden sind, daß er uns angenehm ist. Z. B.
Ein Sohn, der einen strengen Vater hat und in Verlegenheit
ist, freut sich auf die Erbschaft. Er wird aber doch im Grunde
diese Freude sich sehr reprochieren, welche er nicht verhüten
kann. Ein Adjunctus, wenn er sagt, Gott wolle den Prediger
noch lange erhalten, so lügt er, und wenn er sich in Bedräng-
nis fühlt, so hat er doch wohl einen angenehmen Prospekt, den
er nicht verhüten kann - tanquam vultur exspectat cadaver. -
/ Ein Gegenstand kann unangenehm sein, aber der Schmerz
kann gefallen. von dieser Art sind die Schmerzen aller Leiden,
von denen man sich nicht will trösten lassen, z. B. eine Toch-
ter über den Tod ihres Vaters, eine Gattin über ihren Mann.
Von der Art ist die Reue wegen eines Übels oder Versehens,
daß wir über dem Schmerz brüten und ihn uns nicht entreißen
/|P_285
/lassen. Denn wir fühlen uns schuldig und schätzen uns hoch,
daß wir den Schmerz haben, und der Schmerz gefällt uns, wir
approbieren, daß wir uns selbst Vorwürfe machen. Ein sol-
cher, der sich nicht innerlich betrübt und sagt: Was ist zu
tun? es ist schon geschehen, ist kein guter Mensch. Die Ursa-
che des Wohlgefallens liegt auch darin: die Vernunft sieht es
als eine Art von Pflicht an, einen Schmerz zu fühlen. Es ist
aber auch viel Phantastisches dabei, und der, welcher sich zu
sehr härmt, ist auf immer verloren.
/ Ein Vergnügen kann auch noch überdem gefallen, d. h. daß
die Vernunft es billigt, wenn die Empfänglichkeit für dieses
Vergnügen zu billigen ist. Z. B. das Vermögen alte Dichter zu
lesen, hier ist zugleich Vergnügen und Wohlgefallen.
/ Ein Schmerz kann zugleich mißfallen, z. B. Neid. Dem
Neidischen ist es unangenehm, daß er neidisch ist. Betrübt
zu sein über das Gute anderer, was einem gar nicht hinderlich
ist, ist häßlich. Der Menschenhasser mißfällt sich selbst,
indem er andere beleidigt.
/ Das Vergnügen, das wir uns selbst erwerben, gefällt mehr,
als das, welches wir durch den Zufall erhalten. Man freut
sich immer, daß wir für die Arbeit Geld bekommen, und der
Prospekt des Genusses enthält bisweilen mehr Vergnügen, als
der Genuß selbst. Der Besitz des Geldes durch Fleiß gefällt
mehr, als der durch ein Los in der Lotterie. Diese Lottospiele
sind wirklich dem gemeinen Wesen sehr schädlich. Sie erfüllen
die Menschen mit Phantasien, und mancher traut seiner Phanta-
sie und glaubt dadurch glücklich zu werden, welches doch nie
angeht. Ein rechtschaffener Mann wird gewiß beschämt sein,
wenn er das gewonnene Geld einsteckt, er wird sich gewiß vor-
werfen, daß viele Arme und Elende dazu ihr bißchen Geld bei-
getragen haben.
/ Es ist schwer zu entscheiden, was schmerzhafter ist,
schuldig oder unschuldig leiden. Doch betrübt wohl der selbst-
verursachte und verschuldete Schmerz mehr, als der, woran man
nicht schuld ist. Wenn ein Mensch unschuldig leidet, ist es
erträglicher oder schmerzhafter. Die Menschen führen aber in
diesem Fall oft zweierlei Sprache: Mein Gott, ich habe soviel
leiden müssen und war doch unschuldig. Der andere sagt: ich
hielt es für ein großes Glück, daß ich unschuldig war. Bei-
des läuft am Ende darauf hinaus: Wenn ich unschuldig von Men-
schen leide, so entrüstet das, wenn ich schuldig von Menschen
leide, so schlägt es nieder. Derjenige, der aufs moralische
Wohlgefallen sieht, findet Trost. Derjenige, der aufs physi-
sche Wohlgefallen sieht, findet Unwillen. Ihm ist es unerträg-
lich, daß er unschuldig leiden muß. Er wünscht lieber, daß
er schuldig wäre, denn alsdann geschähe ihm doch wenigstens
kein Unrecht.
/ Vergnügen wächst durch die Vergleichung mit Anderer Lei-
den. Wenn man im Winter bei dem kältesten Frost oder bei Regen
und Sturm an seinem Spieltische in einer warmen Stube sitzt,
die bunten Karten in der Hand, so kann man sich so voll Mit-
leiden anstellen. Mein Gott, sagt man, was mag jetzt der arme
Wandersmann, der Seefahrer nicht auszustehen haben usw. Ei-
gentlich aber stellt man sich, zu einer solchen Zeit, Fremder
Leiden nicht eben aus Mitleid vor, sondern nur darum, damit
man seinen behaglichen Zustand desto besser fühlen könne.
/|P_286
/Dies zeigt aber eben nicht einen bösartigen Charakter. Es
liegt schon der menschlichen Natur und ist der Erfolg
von der oppositio juxta opposita.
/ Schmerz wächst durch die Vergleichung mit anderer Freu-
de. Der Unglückliche ist boshaft, sagte einmal ein Parlaments-
mitglied. Etwas ist wohl daran. Der Unglückliche kann es wer-
den, wenn er soviele Glückliche sieht. Aber immer findet dies
nicht statt, höchstens dann, wenn er sich für unglücklich
hält.
/ Dem Leidenden ist es Trost, wenn er hört, daß auch An-
dre Leiden haben. Ja selbst in dem Leiden unserer besten
Freunde ist immer etwas, das uns nicht mißfällt. Der Mensch
scheut sehr die Überlegenheit des Anderen, und aus diesem
Grunde kann man sagen, der Wohltäter macht sich Feinde. Das
Spiel der Rivalität, welches überall sonst ohne Ausnahme
herrscht, hat eigentlich die Triebfeder aller menschlichen
Handlungen in Bewegung gebracht. Es ist uns darum unangenehm,
wenn wir an einem andern keinen Fehler entdecken können, weil
uns nun gar nichts zur Gegenrechnung übrig bleibt. Deswegen
hassen wir stets die Superiorität des Andern - Schadenfreude
ist dies Betragen nicht, nur Rivalität.
/ Anmerkung. Man will immer gern mit andern Menschen in
gewisser Gleichheit sein, Z. B. wir begnügen uns allenfalls
mit Käse und Brot, wenn es nur niemand sieht. Aber einen abge-
schabten Rock mögen wir nicht gern tragen. Denn so können wir
gar nicht in Gesellschaft gehen, weil uns dann jedermann
unsere Armut ansieht und wir dadurch herabgesetzt wer-
den.
/ Es gibt noch eine Art, daß man meint, der Schmerz könne
vermindert werden, wenn man sich vorstellt, er hätte wohl
noch ärger sein können. Dieser Gedanke wiegt den Schmerz auf.
Eulenspiegel sagt, Gott wolle ihn nur vor drei Dingen bewah-
ren: 1. vor großem Glück, weil die Mensch, wenn er etwa
den Arm bräche, sagen: es ist ein großes Glück, daß er
nicht den Hals gebrochen hat, 2. vor starkem Getränk,
welches die Mühlen treibt, 3. vor gesunden Speisen (Medizin
aus der Doktorapotheke).
/ Glück macht weichlich, Unglück verzweifelnd. Ersteres
übt nicht die Kräfte, letzteres härtet ab, wenn man sich nicht
ihm ganz überläßt. Uebermütig durch Glück und niedergeschla-
gen durch Unglück ist verächtlich, es zeigt Schwäche des Gei-
stes an.
/ ≥ Vom Geschmack ≤
/ Wir haben eine dreifache Art des Wohlgefallens.
/ 1. Das Wohlgefallen durch den Sinn ist Vergnügen, im Ge-
gensatz von Mißfallen durch den Sinn, welches Schmerz ist.
Vergnügen ist angenehm, Schmerz unangenehm.
/ 2. Wohlgefallen durch Reflexion. Dies ist das Wohlgefal-
len am Schönen. Hierzu gehört Geschmack oder Vernunft und
Sinn. Wesen, die bloss Vernunft und keine Sinne hätten, wür-
den nirgends Schönheit finden. Sie erfordert nicht allein
Sinn (Empfindung) und Verstand (Begriffe), sondern auch Re-
flexion. Das Geschmacksvermögen ist ein schwer zu erforschen-
des Vermögen.
/|P_287
/ 3. Das Wohlgefallen an einem Gegenstande durch den Be-
griff ist gut. Es ist das absolute Gute, was niemals schlecht
sein kann.
/ Das Angenehme ist also für den Sinn, das Schöne für die
ästhetische (sinnliche) Urteilskraft, den Geschmack, das Gute
für den Verstand. Das Angenehme vergnügt. Das Schöne gefällt.
Das Gute wird gebilligt.
/ Vom Angenehmen muß man sagen: es ist mir angenehm, und
nicht: es ist angenehm. Vom Schönen muß man sagen: es ist
schön, und nicht: für mich ist es schön. Denn was schön sein
soll, muß jedermann gefallen, nicht a priori durch die Ver-
nunft, sondern durch die Erfahrung.
/ Die Geschmackslehre ist die Aesthetik. Wir können nicht
davon ausführlich handeln. Denn man betrachtet in unseren Zei-
ten diese Lehre als eine besondere Wissenschaft. Wir wollen
also nur die Hauptbegriffe anführen und bei der Erklärung
einiger Sprichwörter anfangen.
/ Von der Geschmackslehre oder Ästhetik. De gustibus non
est disputandum. Dieses Sprichwort muß wie alle Sprichwörter
sehr eingeschränkt werden. Man kann über den Geschmack wohl
streiten, aber nicht vernünfteln, nicht durch Gründe argumen-
tieren, beweisen. Schönheit läßt sich nicht beweisen und vor-
demonstrieren. Ein jeder muß wissen, was ihm gefällt oder
nicht gefällt. Also lässt sich über den Geschmack nicht dispu-
tieren, d. h. nicht mit Gründen argumentieren, was schön sei.
Ein Gedicht z. B. ist ein Gegenstand des Geschmacks und kann
einem schön, dem andern nicht schön sein. Denn die Vernunft
ist wohl der Richter des Wahren, aber nicht des Schönen. Man
streitet also allerdings, denn einer sagt: es ist schön, der
andere behauptet das Gegenteil. Aber über das Angenehme strei-
tet man nicht. Wenn einer sagt: ich trinke roten, der andere:
ich trinke weißen Wein, so wird man darin nie widerlegt wer-
den. Jeder genießt das, was ihm am angenehmsten ist. Es ist
aber ganz etwas Anderes, wenn von Gesundheit die Rede ist.
Wenn ich etwas schön nenne, so kann ich nicht sagen: dies ist
schön für mich, das für dich usw. Z. B. wenn ein ganz vor-
treffliches Gefäß von Porzellan, worauf sich eine schöne Ma-
lerei befindet, herumgezeigt wird, und es findet sich
etwa der eine oder der andere, dem es nicht gefällt, so sagt
man von ihm: er hat keinen Geschmack. Wenn aber auch Sauer-
kraut nicht jedermann gefällt, so wird man darüber nicht ge-
tadelt. Hier liegt das zweite Sprichwort zum Grunde: ein jeder
hat seinen besondern Geschmack (Chacun a son gout). Ein gutes
Prinzip der Ungeselligen. Wer aber einen besondern Geschmack
hat, hat keinen. Denn unter Geschmack verstehen wir eine sol-
che Beurteilung des Schönen, die für jedermann gültig sein
muß. Ein Gegenstand heißt schön, wenn er jedermann gefällt.
Das Schöne soll etwas sein, das ein Gegenstand der Lust ist.
Es ist aber unterschieden von dem Angenehmen, welches ein Pri-
vatwohlgefallen anzeigt, auch von dem Guten (dies gefällt
durch den Begriff), denn es geschieht durch Reflexion. Das
Intervallum zwischen den Vorstellungen und den Begriffen eines
Gegenstandes ist Reflexion. Alles, was schön ist, gefällt in
Gedanken, im Spiel, z. B. Musik. Der Mensch, welcher nicht
reflektieren kann, findet keinen Geschmack an einer zusammen-
stimmenden Musik. In der Reflexion muß etwas liegen, das dem
Gemüt behagt. Die Chinesen lieben nur die Musik eines einzigen
Instruments. Sobald accompagnement dabei stattfindet, so ge-
fällt sie ihnen nicht mehr. Sie kommt ihnen dann vor, als ein
/|P_288
/konfuses Getöne, was sie ohne Zusammenhang sausen hören. Dies
kommt daher, weil sie nicht reflektieren, nicht aufmerken,
wie die verschiedenen Töne aufeinander folgen und endlich zu
einer Harmonie zusammenstimmen. Zwar haben die Chinesen ein
musikalisches Tribunal, dessen Zweck ist, ihnen begreiflich
zu machen, daß eine neue aus mehreren Instrumenten zusammen-
gesetzte Musik besser klingt. Aber wahrscheinlich werden sie
nie dies einsehen lernen. Aus dem nämlichen Grunde, weil sie
nicht reflektieren können, statuieren sie nicht einmal Schat-
ten auf Gemälden. Sie wollen haben, dass alles Licht sein soll.
Ja sie verlangen sogar dasselbe von der Natur und rechnen es
ihr zum Fehler an, daß sie soviel Schatten gibt.
/ Der Grund des Wohlgefallens im Geschmack läßt sich nicht
beweisen. Es ist genug, wenn wir wissen, was im Geschmack vor-
kommt.
/ Begriff der Schönheit, Winckelmann sagt, daß ein Unter-
schied sei zwischen Reiz und Schönheit. Die Farben am Gemälde
geben den Reiz, das Wohlgefallen durch den Sinn. Die Zeichnung
gibt die Schönheit oder das Wohlgefallen durch die Reflexion.
Er sagt ferner: Die Schönheit in Gemälden ist mit Neigung in-
teressiert, und man kann sie reizend, aber selten schön nen-
nen. So ist der Körperbau des weiblichen Geschlechts ohne
Zweifel nicht so regelmäßig, als der des männlichen, hat
also auch, im strengen Sinne genommen, nicht soviel Schönheit.
Aber die Schönheit des weiblichen Körperbaus besteht darin,
daß er sehr reizend ist. Daraus läßt sich nun leicht erklä-
ren, woher es kommt, daß man an nackenden weiblichen Figuren
mehr Schönheit findet. Die Produkte der Schönheit (z.B. die
Venus) waren bei den Alten sittsamer, als jetzt. Denn bei dem
Urteil über Schönheit liegt gemeinhin Neigung oder gar Leiden-
schaft zum Grunde, welche das Urteil verfälscht. Ein Maler
pflegte sein Gemälde, wenn es schlecht geraten war, zu einem
goldenen Rahmen zu kondemnieren, und es erreichte dadurch ge-
wöhnlich seinen Zweck. - Der gemeine Mann sieht mehr auf Reiz,
als auf Schönheit, d. h. ihm gefällt mehr die Materie, als die
Form. Z. B. in Pracht findet er Vergnügen, denn hier ist
mehr Empfindung durch den Sinn. Darunter gehören Vergoldungen.
/ Die Schönheit ist entweder Schönheit der Natur oder
Schönheit der Kunst. Die Natur ist schön, wenn sie aussieht
wie Kunst, und Kunst ist schön, wenn sie wie Natur aussieht.
Z. B. wenn wir im Walde einen grünen Rasen antreffen, der
rund herum von Bäumen eingeschlossen ist, und wie ein
Amphitheater aussieht, so finden wir es sehr schön. Die
regelmäßigen Blätter bei einer Narzisse sind schön, weil sie
aussehen wie Kunst, und eine gemalte Narzisse ist schön, wenn
sie aussieht wie die natürliche. So muß man auch immer bei
der Kunst sich bemühen, allenthalben Natur anzubringen.
/ Bei allen unsern Vorstellungen wollen wir, daß unsere
Gemütskräfte im Spiel und nicht beschäftigt sind. Ein pein-
licher Fleiß, der sich dabei zeigt, gefällt nicht. - Das
Spiel des Verstandes und der Imagination, daß sich wechsel-
seitig hilft, macht, daß uns Schönheiten der Natur, herrli-
che Prospekte wohlgefallen und daß wir solange dabei verwei-
len können. Denn die große Mannigfaltigkeit der Dinge, die
in unser Auge fallen, verursacht daß wir stets neue Be-
schäftigung haben. Musik ist fürs Gehör, Baukunst, Malerei,
/|P_289
/Kupferstecherkunst fürs Sehen. Die größte Kunst ist Malerei
viele Räume auf einer Fläche vorzustellen. Sie ist überhaupt in
Darstellung des Schönen am weitesten gekommen. Einen dauerhaften
Eindruck für die Nachkommen macht Baukunst.
/ Gefühl des Erhabenen. Ueber das Schöne haben wir die be-
sondre Benennung Geschmack. Ueber das Erhabene aber haben wir
keine dergleichen auszeichnende Benennung. Das Erhabene bedeu-
tet eine Vergleichung, übertreffend den gewöhnlichen Maßstab
der Größen, oder was über den gewöhnlichen Maßstab der
Größen hinausgeht. Burke, ein aufgeweckter Kopf, hat vom
Schönen und Erhabenen geschrieben und sagt: Erhaben ist das,
dessen Vorstellung uns Schauder und Furcht einjagt, z. B. die
See, der Sturm, steile oder herüberragende Felsen, jähe Höhen,
tiefe Einöden, darin der einsame grauenvolle Aufenthaltsort
eines Eremiten, ferner die Nacht ist erhaben, aber der
Tag ist schön. Aber er hat doch nicht so ganz Recht. Denn das,
was in uns Schaudern erregt, finden wir nicht immer erhaben.
Im Gegenteil bezeugen wir Widerwillen und Verabscheuung vor
dem, was uns mit Furcht erfüllt. - Besser möchte folgende De-
finition sein: Erhaben ist dasjenige, wo die Imagination durch
den Gegenstand so erweitert ist, daß der gewöhnliche
Maßstab nicht mehr hinreichend ist, sie zu fassen. Darum wol-
len wir jedoch gar nicht leugnen, daß manche erhabene Dinge
einen heiligen Schauer in uns erregen können, z. B. ein unge-
heures wüstes Schloß, dessen zum Teil verfallene Ruinen uns
das ganze Altertum anzeigen u. dgl., oder von einer Seite die
Anlagen zur Tugend, von der andern der Abgrund einer schwarzen
Seele des Menschen. Doch müssen solche Dinge nie ganz oder zu
sehr vom Gewöhnlichen abgehen. Denn das Gigantische, Monströse
mißfällt immer. Z. B. wenn man sagt: Das russische Reich ist
ungeheuer groß, so ist dies gar kein Lob. Wie weit etwas ge-
hen könne, daß es nicht gigantesque werde, läßt sich nicht
bestimmen. Der Jupiter Olympicus war, wenn er gestanden hätte
- er saß - 60 Fuße hoch. Er enthielt also 10 Menschen von
6 Fuß in sich. Ein witziger Kopf sagte: Wenn der Jupiter auf-
stünde, so würde er das Dach umreißen. Wir schätzen die
Größe eines Menschen nach dem kubischen Inhalt. Wenn es aber
darüber ist, so werden wir verlegen und dies ist analogisch
dem Schreck. Wir ziehen dabei unsere Imagination und nicht die
Vernunft zu rate.
/ Der Geschmack gründet sich auf Interesse und dieses hat
er nur in Gesellschaft. In ihr werden die Gegenstände des Ge-
schmacks erst wichtig. Einer, der auf einer wüsten Insel al-
lein lebt, wird nie ein Blumenbeet anlegen oder auf geschmack-
vollen Schnitt und Farbe des Kleides sehen usw. So ist sogar
zu vermuten, daß er mit einer häßlichen Frau zufrieden sein
würde, denn der Wert einer schönen besteht nur darin,
daß man sie andern vorziehen könne. Überhaupt haben wir alles
was zum Geschmack gehört, nur für fremde Augen. Geschmacks-
neigung ist Eitelkeit, Geschmackstalent ist gut. Geschmacks-
neigung ist eine sehr große Plage, wenn sie weit extendiert
wird. Was dem echten Geschmack zuwider ist, das ist die Mode.
Der Mensch, der guten Geschmack in Mobilien hat, besitzt ihn
nicht immer in Konversationen. Der Konversationsgeschmack ist
ein ganz aparter Geschmack und in Frankreich zu Hause. Aber
den Geschmack in Ansehung der Dinge (Mobilien) findet man in
Italien. Der Konversationsgeschmack ist sehr der Mode unter-
worfen und nichts verdirbt ihn mehr, als sie. Es darf eine
Sache nicht schön sein, wenn sie δ_Ende_Fahnen nur neu und durch Beispiele
empfehlend ist. Mode ist ein Geschmack, dessen Wert bloß in
/|P_290
/der Neuigkeit besteht, z. B. unsere Frauenzimmer tragen jetzt
wahre Matrosenhüte, bloss weil es Mode ist. Sie gestehen übri-
gens selbst, daß sie sehr häßlich sind. Manchen Personen
läßt alles gut. Sie dürfen nur was aufbringen, so gefällt es
allen, und alle machen es nach, ohne zu unterscheiden, ob es
an sich hübsch läßt, ob es gut, dauerhaft oder nützlich sei.
Ein Schneider in London wollte eine neue Mode aufbringen und
versprach einem jungen Menschen, dem alles gut ließ und der
in viele Gesellschaften kam (diese beiden Stücke waren not-
wendig zu dem, was der Schneider wollte, erforderlich) ein
Kleid von neuen, noch nie dagewesenen Schnitt ganz umsonst
machen. (Wenn man einen solchen, dem alles gut läßt, prangen
sieht, so wird man ordentlich verwirrt, worin die Schönheit
bei ihm zu suchen sei.) Der junge Mensch ging es ein, und so
bald er in Gesellschaft kam, so gefiel jedem der neue Rock.
Alle drängen sich zu ihm und fragen, bei welchem Schneider er
den Rock habe machen lassen. Er sagt es ihnen und nun ent-
schließen sie sich, den folgenden Tag sogleich hinzugehen
und sich ähnliche Kleider bei ihm zu bestellen - keiner bleibt
aus und bald kam der Schneider unter Kunden. So bringen auch
Actricen auf dem Pariser Theater, denen ebenfalls alles gut
läßt, Moden auf, welche die Königin nachahmt und dann unter-
läßt es auch zuverlässig keine andre Dame. Es ist sehr natür-
lich, daß die Franzosen Moden aufbringen. Denn sie haben von
allen Nationen die größte Leichtigkeit.
/ Junge Leute, die gar zu sehr (und fast allein) auf Musik
verfallen, bekommen gewöhnlich nur einen seichten, schalen
Charakter, und zwar deswegen, weil dergleichen Musikliebhaber
selten andre Geschäfte vornehmen oder, wenn sie es ja tun,
doch nur überhin. Denn sobald irgendwo ein Konzertchen ist, so
müssen sie mit dabei sein. Es sagte einst jemand zu einem sol-
chen Menschen: Sie sind jetzt wie ihr Instrument, weiter läßt
sich mit Ihnen nichts anfangen, als daß man auf Ihnen spielt.
Dergleichen Leute machen es ungefähr so wie die Komödianten,
welche denken, jedermann muß den Titel des gestern aufgeführ-
ten Stückes wissen, und sich außerordentlich wundern, wenn
sie Leute finden, die nicht darin gewesen sind, weil sie nur einzig und allein mit
diesem Gedanken erfüllt sind.
/ Beim Schönen sieht man nicht immer auf den Nutzen, son-
dern nur unmittelbar auf die Vorstellung. (NB
ein porzellaner Teller und ein silberner). Das Schöne muß
immer so beschaffen sein, daß es das Wohlgefallen befördert
und mit dem Guten übereinstimmt. Das Schöne hat viele Analogie
mit dem moralisch Guten. Derjenige Mensch, der Wohlgefallen an
den Schönheiten der Natur findet, zeigt schon eine gute mora-
lische Seite, in ihm liegt wenigstens ein guter Fond. Das Wohl-
gefallen an den Schönheiten der Kunst kann lauter Eitelkeit
sein. Kann die Schönheit bestehen, wenn sie dem Nutzen wider-
streitet? Gewiß nicht, das Nützliche muß zum Grunde liegen.
Das Nützliche macht zwar nicht das Wesen der Schönheit aus,
aber es muß hervorleuchten und alle Arten von Schönheiten, die
dem Zweck widerstreiten, gefallen nicht.
/ Jede Nation hat vielleicht eine ganz andere Idee, wenn
sie sich das höchste Ideal menschlicher Schönheit denkt. So
werden sich z. B. die Neger nie einen andern Gegenstand als
einen schwarzen darunter denken. - Der Schein des Guten gehört
wenigstens mit zum Geschmack. Er bringt schon etwas Gutes her-
vor. Z. B. Höflichkeit ist ein Schein des Wohlwollens. Was
das Gute selber betrifft, so versteht man oft unter einem gu-
ten Menschen einen gutmütigen Menschen, d. h. einen solchen,
/|P_291
/der sich alles gefallen läßt, von dem man sich alles Gute
zu versehen und nichts Böses zu besorgen hat, der überhaupt -
eigentlicher zu sprechen - eine Schlafmütze ist. (cocu bon-
homme, eine Hahnrei.) Ein guter Mensch ist eigentlich der, der
gut von Charakter, der gute feste Grundsätze in seinen Hand-
lungen hat. (Des jungen witzigen Lords Rochester Grabschrift
auf Carl_II.: Hier liegt Carl, der in seinem ganzen Leben
viel Kluges gesagt und nichts Kluges getan hat - dies war ganz
richtig. Der König nahm es ihm auch nicht übel.) Gut zu sein
kommt uns leicht vor, aber es gehört dazu eine beharrliche
Standhaftigkeit. Ehrlichkeit ist nichts weiter als der klein-
ste Grad, das Minimum der Aufrichtigkeit im Verkehr mit andern
Menschen. Ein Zeitalter also, wo die Ehrlichkeit so ganz vor-
züglich gepriesen und geehrt wird, ist sehr im Verfall. Denn
die Folge ist, daß auch sie selten ist. Dennoch ist es bes-
ser, als wenn sie gar verachtet würde. Gutes und Böses muß
in der Welt vermischt sein. So hat es die Natur gewollt. Man
macht sich immer gemeinhin die Vorstellung, wenn ein Volk al-
les gute und das andere alles Böse hätte, so müsste das letzte-
re notwendig besser werden. Die Mischung guter und böser Men-
schen gibt Anlass zur Kultur. Gute Menschen untereinander kön-
nen nicht bestehen. Nichts würde ihre Gutmütigkeit erhalten.
Denn das Böse unter den Menschen ist der Wetzstein zum Guten.
Die Schönheit gefällt ganz allein unmittelbar, da es hingegen
ein mittelbar Angenehmes z. B. die Wissenschaft gibt. Vergrö-
ßern aber die Wissenschaften an sich selbst die Vollkommenheit
des Menschen oder tragen sie nur etwas dazu bei? Die Schönhei-
ten sind mehrenteils unnütze und das, was man wesentlich schön
nennt, erhält einen andern Zuwachs. Ob nun eine Person schön
oder häßlich ist, sieht man durch die Anschauung. Die
schlechten Züge aber werden durch Geldsäcke nicht schön.
Schönheit betrifft das Urteil über die Anschauung, und An-
schauung ist etwas Unmittelbares, also auch die Schönheit.
Wir wollen zuweilen etwas ganz rein haben und also auch den
Geschmack. Das Vermögen über die Erfindung und Auflösung
mathematischer Beweise ist ganz rein. Und hier findet der
Mensch ein Vergnügen, wenn er die Tätigkeit einer ganz be-
sondern Kraft verspürt. Wenn etwas im Geschmack ganz allein
gefallen soll, so muß man auf den Nutzen der Sache gar keine
Rücksicht nehmen. Vereinigt sich aber die Schönheit mit dem
Nutzen, so wird der Gefallen daran desto gründlicher und dau-
erhafter. Indes ist die reine Schönheit, die bloß für den
Geschmack ist und ein gewisses reines Vergnügen gewährt, von
allem Nutzen leer. Daher gefällt uns eine wohlgemachte Dose
von Papier-Maché weit besser, als eine künstlich ausgearbeite-
te silberne, weil aus dieser gleichsam der Geiz herfürguckt
und sie verkauft und zu Golde gemacht werden kann. Das Porzel-
lan wird aus Mangel des Nutzens für schön gehalten, auch wohl
ein wohlgearbeitetes goldenes Gefäss, weil man sieht,
daß man, da doch Geld hiezu nicht verwandt zu werden pflegt,
gleichsam auf den nutzen desselben renunziert. Der Nutzen ist
ein Gegenstand der Reflexion, der Geschmack aber ein Vorwurf
der Anschauung.
/|P_292
/ Wir tun wohl auch stolz darauf, daß wir uns so fein
fühlen, wenn wir im Geschmack und in der Anschauung Vergnügen
empfinden. Ja wir haben von einem Bauer, der sich statt eines
Pfluges ein schönes Gemälde anschafft, und den die herumstehen-
de Menge vielleicht auslacht, eine große Meinung, ob wir ihn
gleich für einen schlechten Wirt halten werden. Gefühl und Ge-
schmack unterscheidet sich unendlich. Vergnügen und Schmerz
werden nur von Sinnen begleitet und von alldem verursacht, was
einen Eindruck zuwege bringt. Hingegen ist der Geschmack eine
Vorstellung der Sachen, wie sie im Wohlgefallen erscheinen, wel-
ches aus unserer eigenen Tätigkeit, Gegeneinanderhaltung und
Vergleichung entsteht. Bei einigen Sinnen attendieren
wir mehr auf die Vorstellungen, als auf die Eindrücke. Man ver-
gleicht zwar die Vorstellungen im Geschmack mit einem Gefühl, aber doch nur
in Ansehung der Vorstellungen. Es gibt auch eine Art
von Vergnügen, einen schönen Gegenstand gesehen zu haben, das
aus der Zuneigung entsteht, wovon viele, die es von sich ken-
nen zu erzählen wissen. Sonst gehört zum Geschmack Urteilskraft,
zum Gefühl, als welches Reiz und Rührungen zum voraus setzt, ge-
hören Sinne. Geschmack ist kein sinnliches Urteil, nicht Urteils-
kraft der Sinne und der Empfindung, sondern die Anschauung und
Vergleichung durch Anschauung, Lust oder Unlust zu bekommen. Da-
her haben manche Menschen zwar viel Gefühl, weil sie Reizbar-
keit besitzen, aber keinen Geschmack, aus Mangel an Urteilskraft.
Der Geschmack muß beständig erlernt werden, dahingegen das Ge-
fühl nur höchstens durch Uebung verfeinert wird. Ferner richten
auch alle Künste, die fürs Gefühl sind, den Geschmack zugrunde.
Daher scheinen alle Dichter, die sehr stürmisch und süß rasen,
desselben zu entbehren, weil das Gefühl ganz nichtig ist. Eben
dies gilt auch von den Predigten, die gar keinen weitern Nutzen
haben, als der sich auf einige Augenblicke bezieht, wenn sie
nämlich das Gefühl rege zu machen suchen, welches man aber vom
moralischen Gefühl, da man das Gute nicht aus Nachah-
mung, sondern aus Anschauung erkennt, unterscheiden muß. Denn
wenn der Donner der Beredsamkeit aufhört, wird man bald ruhig,
weil das Gefühl nichts Beständiges herfürbringt. Ueberhaupt muß
man Toren durchs Gefühl nur bewegen, und der größte Schaden
entsteht daraus, wenn man sich bei Untersuchungen darauf beruft.
/ Was im Geschmack gefallen soll, muß allgemein sein.
Auch das Urteil, welches durch ihn gefällt wird, muß kein pri-
vates, sondern ein allgemeines Urteil oder ein allgemeiner
Grund des Wohlgefallens sein. So speist derjenige mit Geschmack
der sich nicht bloß nach dem Appetit akkommodiert, sondern sei-
nen Tisch so besetzt, daß alle Menschen gern mitessen möchten,
wie wohl man jetzt den Grund eines guten Wirts ganz umgekehrt
hat und mit diesem Namen einen solchen belegt, der nicht für
sich selbst und noch weit weniger für andere gut speist, son-
dern kurzgefaßt darunter einen Geizhals versteht. Es erwerben
sich daher diejenigen, die beständig allein essen, keinen Ge-
schmack. Es wäre hier wert zu untersuchen: ob auch wohl bei al-
len Arten von Empfindungen, ein allgemeiner Grund der Ueberein-
stimmung sein kann. Daß ein solcher beim Geschmack sein müsse,
erhellet daraus, daß es anders nicht möglich sein würde, für
alle Personen eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten und sich
darauf einzuladen. Indessen kennen wir den Geschmack, der auf
Empfindungen hinausläuft, nur aus Erfahrungen, denjenigen aber,
/|P_293
/der sich auf Anschauung bezieht, oder den idealischen, können
wir den Geschmack a priori nennen. Doch können wir zuweilen bei
neuen Gerichten erraten, ob sie dem Geschmack gefallen werden
oder nicht.
/ Der Geschmack ist ferner gesellschaftlich und das Prinzip
des Zusammenhaltens einer Gesellschaft und des allgemeinen Ver-
gnügens. Der Punkt, daß ein Ding allen gefalle, wird endlich der
stärkste. Wenn daher jemand in einer Gesellschaft dem andern
einen Schnack erzählt, worüber er lacht, so sieht man sich sehr
um, ob nicht ein allgemeines Gelächter darüber entstehe. Das
Wohlgefallen kann groß sein, obgleich das Vergnügen selbst sehr
wenig dazu beiträgt, und hierin besteht das Edle des Geschmacks,
da wir die Schätzung des Werts an einem Dinge nicht in Rücksicht
eines einzigen, sondern im Verhältnis auf alles vornehmen. In
der Einsamkeit und auf dem Land gefällt uns bald ein Garten,
bald ein Wald, in der Stadt aber wirkt das Gegenteil, weil er
nämlich das Land in kleinem Maßstabe vorstellt. Denn es scheint
überhaupt, daß der Mensch, allein betrachtet, gar keinen Be-
griff von Schönheiten haben würde, daher wir ihn auch bei unge-
selligen Leuten gar nicht bemerken. Wenn man nun aber immer aus-
spähen muß, was allgemein gefällt, so hat der Geschmack ja gar
keine Regeln, die fest sind. Der Geschmack hat immer Prinzipien,
die in der Natur der Menschheit gegründet sind. Allein Beobach-
tungen müssen uns erst die Regeln desselben zeigen, und wir kön-
nen sie nur durch die Erfahrung bekommen. Wolle man dawider ein-
wenden, daß dasjenige, was man schön nennt wechselt, so müssen
wir sagen, daß dies der modische Geschmack, der aber nicht den
Namen eines Originalgeschmacks verdient. Wer aus Mode wählt,
weil er sie für Prinzip des Schönen hält, der wählt aus Eitel-
keit und Wahn, nicht aber aus Geschmack. Ob nun gleich die Ein-
stimmung, die man der äußern Form gibt, daß sie mit der Form
der mehresten übereinstimmt, eine Art von Schönheit ist, und
das Altväterliche anzeigt, wie man nichts als gut zu finden fä-
hig ist, als dessen man schon gewohnt ist, so stimmen dennoch
die Regeln und die Urteile des Schönen gar nicht mit der Mode
überein, und Mode und Gewohnheit sind dem Geschmack entgegen.
Der Mann von Geschmack richtet sich zwar auch nach der Mode,
aber nach Prinzipien des Geschmacks. Das Frauenzimmer ist mo-
disch im Urteil, der Mann hingegen urteilt gewöhnlich nach Prin-
zipien. Einige Moden verfallen sehr geschwind, andere erhalten
sich lange, vielleicht daher weil kein anderer Ton angegeben
wird. Daher lassen sich viele eine römische Kleidung machen,
weil diese beständig bleibt und unsere hingegen fast alle
Tage geändert wird - und weil die alten Moden der Enkelwelt
lächerlich vorkommen. Manche Moden entstehen daher, weil man
jemanden, den vielleicht alles gut kleidet, damit prangen sieht,
und man verwirrt wird, worin eigentlich die Schönheit bei ihm
zu sehen sei.
/ Der Geschmack zeigt eine Uebereinstimmung einer
sinnlichen Beurteilung an, und das Sprichwort: de gustibus
non est disputandem, ist also falsch. Denn disputieren heißt
soviel als beweisen, daß mein Urteil auch für den andern gül-
tig ist, und der Satz: ein jeder hat seinen eigenen Geschmack,
ist also der Satz der Unwissenheit und ein gutes Prinzip der
Ungeselligen. Man streitet nicht über den Geschmack, weil kei-
ner darin dem Urteil des andern zu folgen verlangt. Wenn nun
aber im Geschmacke nichts wäre, was allgemein gefiele, so
wäre es ein Gefühl. Mithin muß es sich über den wahren Ge-
schmack disputieren lassen. Ein jeder nach seinem Geschmack, d. h. ein
/|P_294
/jeder genieße also sein Vergnügen allein. Daraus folgt, daß
jeder allein bleiben soll.Wenn jemand gute Freunde zu sich
bittet, wird er sich erst nach eines jeden Geschmack erkundi-
gen? Nein, er wird sich nach dem allgemeinen richten.
/ In den Prinzipien des Geschmack ist zwar vieles empirisch
und bei Gelegenheit der Erfahrungen gesammelt, aber die Gründe
der Beurteilung sind nicht bloß aus der Erfahrung abstrahiert,
sondern sie liegen in der Menschheit, und dann wenn das Urteil
des Geschmacks mit dem Urteil des Verstandes begleitet wird, so
liegen sie gewiß in der Natur der Sinnlichkeit. Daher ist das
Urteil des Geschmacks nicht privat, sondern die Menschen haben
allgemeine Regeln der Beurteilung des Geschmacks. Hieraus sieht
man, daß sie niemals entgegengesetzt sein können, denn da sie von eben
dem Objekt gelten oder da die Gesetze der Sinnlichkeit bei allen
einerlei sind, so würden entgegengesetzte Urteile des Geschmacks
eine Kontradiktion herfürbringen. Eins muß wahr, das andre
falsch sein. Urteile des Gefühls hingegen können sich opponiert
sein, weil Empfindungen das Subjektive ausdrücken. Nur müssen
es nicht reflectiones sein, die man für Empfindungen hält. Wenn
also dem einen in der Stube zu warm, dem andern zu kalt ist, so
sind ihre Urteile zwar widersprechend, aber sie können doch
beide Recht haben. Denn es sind zweierlei Subjekte, und jeder
urteilt so, wie er affiziert wird. Die Menschen nehmen aber
sehr oft ihre subjektiven Urteile für objektive. Einer sagt
von einer Person, daß sie hässlich ist. Dem andern kommt sie
unleidlich vor und der dritte findet gar keine Annehmlichkeit
an ihr. Diese urteilen nicht von der Person, sondern von ihren
Empfindungen und also nicht objektiv, sondern subjektiv über die
Art, wie sie affiziert werden. Vom Angenehmen und Unangenehmen
muß man nicht streiten. Denn dies ist ein Streit über das Sub-
jekt. Gutes und Böses ist eine Sache des Objekts. Wenn ich also
sage, die Sache ist gut oder böse, so urteile ich vom Objekt.
Schönheit und Häßlichkeit gilt also gewiß von den Objekten,
und es werden sowohl allgemeine Gesetze der Sinnlichkeit als
des Verstandes ausgefertigt werden können, d. h. eine Wissen-
schaft, für jene eine Aesthetik, für diese eine Logik.
/ Eines dieser Gesetze der Aesthetik heißt: Alles was
die sinnliche Anschauung erleichtert und erweitert, erfreut uns
nach objektiven Gesetzen, die für alle gelten. Unsere sinnli-
chen Anschauungen sind entweder im Raum, nämlich die Figuren
und Gestalten der Dinge, oder in der Zeit, nämlich des Spiels
der Veränderungen. Es sind also gewisse allgemeine Regeln der
Aesthetik. Reiz und Rührung müssen wir aber jetzt beiseite set-
zen.
/ Die Vorstellungen der Gestalt oder der Figur der Dinge
sollen nach Gesetzen der Sinnlichkeit gemacht werden. Nun ha-
ben alle Menschen gewisse einstimmige Gesetze, wodurch sie sich
die Gegenstände formen. Dies sind Gesetze und Vorstellungen.
zweierlei gehört zur sinnlichen Anschauung im Raum, nämlich
Proportion der Teile oder ihr Ebenmaß und ihre Richtigkeit,
welche Symmetrie und Eurhythmie heißt. Eine Ordnung der Dinge
in der Zeit nennt man ein Spiel, und ein Spiel der Gestalten
ist ein Wechsel derselben in der Zeit. Zu einer guten Musik
wird gleichfalls zweierlei erfordert, nämlich der Takt oder
seine gleiche Abteilung der Zeit, dann aber auch, wenn viele
Töne vereinigt werden, eine Konsonanz oder Proportion der Töne.
/|P_295
/Dieses gefällt, weil alles, was unser Leben vergrößert, diese
Wirkung bei uns herfürbringt, welches man allerdings von einer
Erleichterung des sinnlichen Anschauens sagen kann, indem der
Mensch ein großes Mannigfaltige sich nicht anders vorstellen
kann. Was also die sinnliche Anschauung erleichtert, ge-
fällt und ist schön. Es ist den Subjektgesetzen der Sinnlichkeit
gemäß und befördert das innere Leben, indem es die Erkenntnis-
kräfte in Tätigkeit setzt. Diese Erleichterung geschieht durch
Raum und Zeit. Symmetrie erleichtert die Begreiflichkeit, Ver-
hältnis der Sinnlichkeit. Bei einem unproportioniert gebauten
Hause kann ich mir das Ganze schwer vorstellen. Bei einem wohl-
gebauten aber sehe ich Gleichheit auf beiden Seiten, Gleichheit
der Teile, und dies befördert meine sinnliche Vorstellung. Eine
Erweiterung unserer Erkenntnis und Mannigfaltigkeit aber wird
zum sinnlichen Wohlgefallen erfordert. Nun vermehrt aber die
Anschauung das Leben, die Tätigkeit und begünstigt sie. Daher
muß es mir gefallen, aber deshalb auch allein. Denn diese Re-
gel liegt bei allem zum Grunde. Alle Menschen haben Bedingungen,
unter denen sie sich ein großes Mannigfaltige sinnlich vorstel-
len können.
/ Musici heißen Spieler. Wir können aber auch Tänzer
Spieler der Gestalt nennen, so wie bei Pantomimen. Beim Gar-
ten finde ich Schönheit durch Begreiflichkeit. Ist keine Ord-
nung darin, so kann ich mir davon kein Bild machen, denn ich
sehe zuviel auf einmal. Wenn ich einen Garten ansehe, so bin
ich beim ersten Blick ernsthaft und sehe Proportion und Symme-
trie. Er gefällt mir daher, weil ich Gemächlichkeit habe ihn
mir vorzustellen. Es darf etwas nicht allen gefallen, deshalb
/ 1. weil dazu eine Kunst gehört. Ohne daß ich etwas ver-
stehe, kann ich es nicht schön finden.
/ 2. weil wir noch etwas Besseres kennen.
/ Wenn wir das Bessere vergessen könnten, so würde uns die
Sache gefallen. Aber sie gefällt uns doch auch wirklich, ohne
daß wir es wissen. Diese scheinbare Geringschätzung kommt her
von der Vergleichung der Gegenstände gegeneinander, die man an-
stellt. Daß aber die Vergleichung eine solche Veränderung her-
vorbringen kann zeigen die Beobachtungen. V. Bielfeld sagt in
seinen Briefen: Heidegger glaubte wegen seiner Pockennarben der
häßlichste zu sein, und man stellte deshalb eine Wette an. Der
andere zeigte eine Weibsperson, die freilich in Ansehung anderer
ihres Geschlechts häßlich aussah. Heidegger aber setzte ihr
seine Perücke auf, indem er wohl wußte, daß der Anschein der
größten Häßlichkeit von der zwischen ihr und dem übrigen Frau-
envolk angestellten Vergleichung herrühre, und sich zog er Frau-
enkleider an. Darauf sah er weit häßlicher, sie aber viel leid-
licher aus. Denn als Weib gekleidet verglich man ihn mit Wei-
bern, sie hingegen in der Perücke mit Männern, und so verlor
er noch weit mehr und sie hingegen gewann mehr. Die alten Frauen
sehen gegen alte Männer gut aus, hingegen verlieren sie in Ver-
gleichung mit hübschen Mädchen. Dei schönste Mannsperson in
Frauenkleider gehüllt sieht frech und unangenehm aus. Daher gibt
man auch den Frauen so empfindliche Beiwörter, z. B. Hexen, weil
sie das Unglück haben, mit jungen Mädchen verglichen zu werden,
da sie in Rücksicht auf ihr Geschlecht mehr abgenommen haben,
als Männer gleichen Alters, gegen welche jene noch immer schön
genug aussehen. Wenn wir das Interessierte zu dem schönen Geschlecht
fahren ließen, so würden sie uns vielleicht nur erträglich sein.
/|P_296
/Der eine kann etwas häßlich nennen, was der andere gut nennt.
Es ist hier etwas Komparatives. Das Prinzip: De gustibus non
pp. bleibt also immer dumm, und es wird dem Verstande dadurch
ein so schönes Feld der Beurteilung entzogen. Es ist aber ein
wahrer Beweis der Weisheit der Vorsicht, daß sie solche
Gründe des Geschmacks in den Menschen gepflanzt hat, wodurch
der Grund der Glückseligkeit bei den Menschen gelegt ist. Wir
müssen einen Unterschied machen zwischen schönen Gegenständen
und schönen Vorstellungen von denselben. Denn wir können auch
von häßlichen Gegenständen schöne Vorstellungen haben. So
kann uns eine häßliche, aber gut gemalte Person gefallen.
Einige Tiere mißfallen uns. Sind sie aber in Marmor wohl abge-
bildet, so gefällt uns das Bild wegen der Uebereinstimmung der
Gegenstände. Die logischen Gesetze sind die, welche zeigen, wie
man zur richtigen Erkenntnis der Sache gelange, es sei durch
Schwierigkeit oder Leichtigkeit. Etwas stimmt also mit den ob-
jektiven Gesetzen überein, wenn in der Erkenntnis Wahrheit und
Deutlichkeit anzutreffen ist, wenn sie gleich mit Schwierigkeit
erlangt wird, hingegen mit unsern subjektiven Gesetzen, wenn
sie die Tätigkeit unseres Verstandes in ein leichtes Spiel ver-
setzt. Wenn die Aesthetik eine Wissenschaft wäre oder wenn
ästhetische Gesetze existierten, so würden sie zeigen, wie
man eine Demonstration leicht, faßlich, naiv und durch ein
natürliches Licht klarer machen könne. Voltaire wußte die
schwersten Sachen leicht zu machen, so daß man sich zu-
letzt wundert, bei dergleichen Dingen Schwierigkeiten gefunden
zu haben.
/ Bei aller Schönheit des Geschmackes aber muß man
dennoch einen Unterschied machen zwischen dem was schön und
was hübsch ist. Denn beim Schönen ist immer ein Reiz anzutref-
fen, beim Hübschen aber nicht. Ein Frauenzimmer ist venusta,
wenn ihre Schönheit mit dem Reize der Grazien verbunden ist,
pulchra aber, wenn ihr diese fehlen. So gibt's Mädchen und
andere Dinge, die zwar gute Züge haben, jedoch von Reizen ent-
blöst sind, und wiederum andere, welche reizen ohne schön zu
sein. Z. B. die Züge der Sanftmut stimmen mit den sanften Emp-
findungen und machen Reiz, die Munterkeit stimmt mit der Deli-
katesse oder Höflichkeit und die Leichtigkeit wird im Umgange
bald bemerkt. Bei Frauenzimmern, die Reize haben ohne Schön-
heit, kommt der Reiz überhaupt von der Geschlechterneigung her, weil es
ein Frauenzimmer ist. Was schön oder wohlgereimt ist, belu-
stigt, läßt aber kalt. Eine Gesellschaft ohne Reiz nennt man
tot. Der Reiz ist entweder körperlich oder ideal. Der körper-
liche ist grob, der idealische hat gemeiniglich die Moralität zum
Gegenstande. Bei der Musik liegt der Reiz in dem, was meine
Affekte in Bewegung setzt. Ein nach allen Regeln der Musik
komponiertes Stück kann schön sein und gefallen und doch keine
Reize haben. Es läßt uns ungerührt und wir approbieren es
nur. Oft sind es Nebenumstände, die uns eine Sache reizbar
machen. So kann uns eine Sache der Neuigkeit wegen reizbar
vorkommen, weil wir sie zum erstenmal sehen, weil sie neu ist,
weil ich sie allein sehe, weil sie mir oder meinem Verwandten
gehört usw. Eine Gegend ist schön und hat besonderen Reiz für
mich, weil ich sie aus meinem Zimmer übersehen kann. Die Men-
schen sind dabei sehr eigen. Sie suchen oft aus den elende-
sten Dingen Reize heraus. Dieser Reiz aber ist der körperli-
che Reiz, weil er durch körperliche Bewegung hervorgebracht
wird, und heißt der indirekte Reiz oder die Rührung.
/|P_297
/ Es gibt gewisse Dinge, die sinnlich angeschaut werden
und Ideen verursachen. Diese Ideen wirken wieder zurück auf den
Leib, bringen Bewegungen im Körper herfür, worauf eine Empfin-
dung erfolgt, die uns in ihren Folgen gefällt. Von dieser Art
ist das Lachen, wobei die Idee eine unerwartete Umkehrung des
Vorhergesehenen ist, welches sonst gleichgültig wäre.
/ Woher kommt es aber, daß uns dasjenige, was Lachen er-
regt, vergnügt? Und weshalb gefällt uns das, worüber man lacht?
Dies Vergnügen kommt nicht von den Sachen her, denn dies sind
meistens schlechte, alberne und einfältige Dinge. also nicht
die Schönheit des Gegenstandes, auch nicht die Eigenliebe ist
Ursache davon, denn sollte ich mich darüber freuen, daß ich
besser bin, als ein anderer? Die Ursache aber ist vielmehr eine
unerwartete Umkehrung der Idee, eine Herfürstechung einer Sache,
die mich nicht interessiert. Sonst ist es entweder ernsthaft
oder gleichgültig.
/ Woher kommt's, daß wir ein schauernd Vergnügen empfin-
den und daß wir das gerne sehen, was wir uns mit beständigem
Grausen vorstellen müssen? Woher erweckt das Melancholische
durch Beklemmung der Brust ein Vergnügen? So stellen wir uns
gern einen Menschen vor, der in einer wüsten Einöde in eine
abscheuliche Tiefe fällt. Dies kommt daher, weil in unserm Kör-
per ein sehr feines Gewebe von Nerven ist, denen keine Mo-
tion, kein Mittel durchdringen kann. Auf diese wirken nun un-
sere Ideen und zwar auf verschiedene Art. Auch kommt es daher,
weil der Gegenstand interessant ist und uns nichts angeht. Denn
interessiert uns etwas, so ist es Ernst und dann hört alles
plaisir auf. Das Vergnügen dabei entsteht daher, weil eine
ernsthafte Idee, die wir uns vom Unglück machen können, nach-
lassen kann, wenn wir wollen. Durch unsere Willkür können wir
den Körper in eine Bewegung bringen, die keine Medizin verschaf-
fen kann. Alles kommt wieder in ein Aequilibrium, wenn wir uns
satt geweint haben, da die Nerven vorher subtil erschüt-
tert wurden. Bei diesen Organen des menschlichen Körpers, die durch
die verschiedenen Stellungen nicht in Bewegung gebracht werden
können, hat es die Vorsicht so eingerichtet, daß die Ideen des
Menschen auf die Empfindungen wirken, doch jede auf eine
besondere Art. Einige Nerven werden zusammengezogen, andere
dilatiert und so wird der ganze Körper durchgearbeitet, und es
ist eine gute Reparation des Körpers, die uns immer nützlich ist. Die
Vorsehung hat daher sehr weise gesorgt, daß wir nicht sehen,
nicht hören usw. können, ohne Empfindungen zu haben. Einige
Personen werden dadurch gesund, daß sie sich ärgern, nur muß
ihnen bei ihrem Poltern keiner widerstehen. Ein berühmter Arzt,
der sich besonders mit Messung des Gewichts des Menschen abge-
geben, entdeckte, daß er beim Kartenspiel nicht nur einen
größeren Appetit bekäme, sondern daß auch eine weit stärkere
Transpiration ergehe, als durch Motion. Es ist also sehr vor-
teilhaft, daß wir nicht sehen, reden können, ohne daß die
Ideen auf unsern Körper wirken. Der Alte mag gern lachen und
ist daher gern in Komödien, die Jugend hingegen, die sonst weit
häufiger lachen mag, sieht gern Tragödien. die Ursache liegt
darin, weil die Leichtsinnigkeit der Jugend darin ein Gegenge-
wicht findet durch die Schwermut und Beklemmung des Herzens,
welche aber bei ihnen nicht haftet, sondern nachläßt, wenn das
Stück geendigt ist. Bei den Alten hingegen haften die Eindrücke
der Tragödie länger und sind dauerhafter, da im Gegenteil das
Vergnügen bei ihnen bald aufhört und bei der Jugend länger haf-
tet. Doch muß man auch sagen, daß sowohl Leute, die sehr viel
/|P_298
/lachen, als die ernsthaft sind, über einige Angelegenheiten
keinen Geschmack zeigen. Das Vergnügen also, was man an Komö-
dien und Tragödien empfindet, liegt nicht in den Ideen, sondern
im Magen. Daher rührt es auch, daß einem ein Stück nicht tra-
gisch genug ist und für den andern wieder viel traurige Auf-
tritt hat. Der ernste Geschmack ist von dem allen unterschie-
den. Die wahre Schönheit ist ernsthaft und gelassen. Das wahre
Schöne besteht nicht im Lachen. Das Leben gehört zum indirekten
Reiz. Etwas im Ernste zu nehmen, ist keine Kunst und es zeigt
wenig Genie an, wenn man bei Geschäften eine gravitätische
Miene macht. (Die Neigung alles ins Lachenswerte zu ziehen,
zeigt die Heiterkeit des Genies nur an, und diese, wenn sie
sich nun über alles verbreitet, ist nur eine Maske der gesunden
Vernunft.) Es ist besser etwas bei gesunder Laune zu verrichten,
wodurch der Mensch bei den Fähigkeiten erhalten wird. Und daher
ist es auch besser, das Laster von der lächerlichen als von
der schädlichen Seite zu schildern. Der Mensch bei einer ernst-
haften und gravitätischen Miene sieht lächerlich aus und je
ernsthafter er auch sein Steckenpferd reitet, desto lächerlicher
erscheint er.
/ ≥ Vom Nutzen der Kultur des Geschmacks. ≤
/ Die Beschäftigungen des Gemüts mit dem Schönen verfeinern
es und machen es moralischer Eindrücke fähiger. Auch schärft die
Kultur des Geschmacks die Urteilskraft. Sie verfeinert den gan-
zen Menschen und verursacht, daß er eines idealischen Vergnü-
gens fähig wird. Der Genuß der mehrsten Dinge ist im Verbrauch
der Sache und ist also nicht eine Teilnehmung vieler. Die Ver-
gnügen des Geschmacks aber sind edler. Sie sind teilnehmend und
darin steckt eben das Feine. Ein schöner Garten, den ich sehe,
kann viele vergnügen. Der Geschmack hat etwas Feines, etwas
mit der Moralität Analogisches. Er vermehrt nicht mein Wohlbe-
finden, sondern es lassen sich meine Vergnügen nach Geschmack
verteilen. Er richtet alle Vermögen der Menschen so ein, daß
sie zum Vergnügen anderer beitragen. So kann ein Musicus von
viel tausend Menschen mit Vergnügen angehört werden. Außer
der Verfeinerung macht uns auch der Geschmack gesellig. Die
Verfeinerung sogar unseres sinnlichen Urteils macht den Men-
schen fähig, nicht bloß an Eindrücken der Sinne zu hangen,
sondern selbst Schöpfer seiner Vergnügen zu sein. Alle ideali-
schen Vergnügen sind mehr aus der Reflexion, als aus dem Ge-
nuß der Sache genommen. Ein Autor sucht die leichtfertige Art,
in Gedichten z. B., die Liebe, Wein usw. mit schö-
nen Farben schildern, zu rechtfertigen. Er sagt: sie be-
fördern die Moralität, verfeinern den Geschmack, das idealische
Vergnügen und bessern den Menschen. Derjenige Mensch ist
glücklich, der sich ein idealisches Vergnügen machen kann, und
ein Mensch, dessen Geschmack verfeinert ist, ist eo ipso besser
geworfen.
/ Hume behauptet gegen Rousseau, daß die alten rauhen
Sitten auch die Menschen einander ungesellig und der Moralität
unfähig gemacht haben, und daß die Verfeinerung des Geschmacks
uns zwar nicht ganz allein, aber doch unvermerkt bessern kann.
/ Das zu sehr Modische im Geschmack verrät einen Menschen
ohne Grundsätze. Ein solcher Mensch denkt nicht immer für
sich selbst, sondern sucht nur der erste zu sein in Sachen,
von denen er es voraussieht, daß sie allgemein werden können.
Der Gebrauch und die Mode im Geschmack sind aber unterschie-
den. Kleidet man sich nach dem allgemeinen, so kleidet man
sich nach dem Gebrauch. Ist man aber der erste, der sich einer
/|P_299
/Kleidung bedient, die hernach allgemein wird, so kleidet man
sich nach der Mode. Die Mode ist mit dem Anfange des Gebrauchs.
Für einen vernünftigen Menschen aber schickt es sich nicht,
daß er sich nach den Grundsätzen im Gebrauch richte, viel we-
niger, daß er darin modisch sei. Bei Dingen, die bloß in die
Augen fallen, kann er sich nach dem Gebrauch richten, weil diese
die Einförmigkeit unter den Menschen stiftet und sie verbindet.
Aber in Grundsätzen modisch zu sein, ist unanständig. Wenn man
z. B. der Mode folgen wollte, seine Frau immer allein gehen
oder fahren zu lassen. In Frankreich sah ein Fremder einen Mann,
ganz kaltblütig mit seiner Frau gehen und fragte einen Franzosen
Lieben sich diese? Der Franzose antwortete: O nein! es ist seine
Frau, hier wäre die Mode, daß man seine Frau nicht lieben müsse.
In Genua schämt sich eine Frau neben ihrem Manne auf der Straße
zu gehen, und glaubt, es verstehe sich schon von selbst, daß
dieses unanständig sei, denn eine jede Frau hat außer ihrem
Mann noch einen Cavalier servant (cicisbeo). Im Geschmack mo-
disch zu sein, ist ein Beweis, daß man gar keinen hat. In der
Schreibart hat man in Deutschland viele Moden angenommen. Bald
schreibt man gedrungen, bald weitläufig, bald war die Mode so
kompreß zu schreiben, daß Demosthenes sich der Wörter hätte
bedienen können, um sie statt Kieselsteine in den Mund zu neh-
men, durch ihre Vermittelung eine reine Aussprache zu lernen.
Bald war der Geschmack, die Gedichte mit Juwelen, Gold, Stürmen
schwarzen Wolken pp auszufüllen. Bald darauf kam die Mode auf,
tändelnd zu schreiben. Man wollte witzig sein und so entstand
etwas Fades und Schlechtes. Man sagte, es sollte eine Munter-
keit sein. Diese steht aber nicht jedem an. Vielleicht bemühte
sich jemand hier einen französischen Schriftsteller, den er
selbst nicht verstanden, nachzuahmen. Es gelingt aber nicht,
hierin die Franzosen nachzuahmen. Nachher kam ein gewisses
Spiel des Witzes in Antithesen auf. Man kann es einer
Schreibart bald ansehen, wenn sie auf einem gewissen Leisten
gemacht ist. Das Wesentliche der Schreibart ist Leichtigkeit.
Sie muß gar nicht scheinen Mühe gekostet zu haben. Soll
etwas gut geschrieben sein, so muß man dies nicht einmal be-
merken, außer nur nachher in den Folgen.
/ Verfeinerung des Geschmacks ist von der Verzärtelung
unterschieden. Die Empfindung gehört zur Beurteilung. Aber
empfindlich zu sein gegen Vergnügen, ist eine Schwäche. Wer
einen verfeinerten Geschmack hat, findet bald wo Beleidigungen
stecken, aber er kann sie großmütig ertragen und braucht
seine Kenntnis dazu, dass er sich hütet andere zu beleidigen.
Die Verzärtelten aber sind empfindlich und nehmen auch die klein-
ste Beleidigung übel auf. An einer Mannsperson ist dies eine
Schwäche, bei den Frauenzimmern leiden wir sie wegen ihres Ge-
schlechts. An ihnen schätzen wir sie hoch und ein dreistes
Frauenzimmer ist uns zuwider ebenso wie ein weibischer Mann.
Ein Mann muß empfindend und zärtlich sein, nicht empfind-
lich und verzärtelt. Ein zärtlicher Ehemann oder Liebhaber ist
der, der in der Wahl der Wörter behutsam und delikat ist und
alles, was etwa beleidigen könnte, sorgfältig abhält. Dazu
gehört ein feiner Geschmack, d. h. quod emollit mores. Die
Wissenschaften gewöhnen die Menschen nur zu reflektieren und
können auch dadurch ihren Geschmack verfeinern. Unser Gefühl
in Ansehung der Reize und Rührungen ist vom Geschmack sehr
unterschieden und kann zwar mit ihm vergesellschaftet werden,
/|P_300
/aber es macht den Geschmack nicht selber aus. Wer immer reize
und Rührungen verlangt, hat keinen Geschmack. In Schriften, Ge-
dichten und allen Werken des Witzes können Rührungen schön an-
gebracht werden. Allein es muß erst das Thema, der Gegenstand
schön ausgemalt sein. Ich muß erst von der Sache selbst ein
faßliches Bild haben, und die Rührungen werden nur mit unter-
mengt und dienen zur Teilnehmung einer Sache. Reiz aber ohne
Geschmack ist ein blinder Reiz. Prahlerei und Pracht sind dem
wahren Geschmack entgegengesetzt, wenn man z. B. mit Reichtum
prahlt. Durch Verschwendung verliert der Geschmack viel, wenn
er auch wirklich dabei zu finden ist; denn er besteht eben darin,
daß man mit Sparsamkeit und wenigen Kosten etwas schön habe. So
sagt ein Maler von der Venus eines Andern: Da Du sie nicht
besser hast malen können, malst Du sie sinnreich. Er hatte sie
aber mit Juwelen behangen. Eine Person mit so vielem Reichtum
behangen gefällt lange nicht so gut, als das Sanfte und dies ist
nicht kostbar, sondern simpel und geschmackvoll. Pracht bezieht
sich auf Ehrgeiz und alles, was prächtig und gezwungen läßt,
will nicht gefallen. Brabanter Kanten sind nur wegen der Kunst,
die man darauf verwendet, teuer. Wenn die Manschetten so her-
fürkommen, als ob sie nicht wollten gesehen sein, so lassen
sie schön. Ein Kleide muß kommod zu sein scheinen, nicht als
ob man sich ängstlich fürchte, irgendwo damit anzustossen, um
es nicht zu beschädigen. Die jetzigen zuckerhütnen Moden sind
offenbar wider den Geschmack. Die Köpfe sehen so spitzig aus
wie die Wilden in Amerika, die die Köpfe ihrer Kinder so spit-
zig wachsen lassen. Es muß überhaupt immer etwas Legères beim
Geschmack sein. Wenn ich an einem Orte zu Gast und die Frau
läuft samt den Bedienten viel herum, so gefällt es nicht, die
Speisen mögen noch so schön sein. Denn das Vergnügen muß man
nicht mühsam suchen, wohl aber die Nahrung. Beim Vergnügen
selbst muß alles bequem scheinen, und es muß sich alles
gleichsam durch eine Zauberkraft von selbst finden und
dann gefällt es.
/ Eine allgemein Regel der Sitten brauchen wir nicht
zu suchen, wir haben sie. In Ansehung des Geschmacks müssen
wir etwas Festgesetztes, gewisse Urbilder haben, sonst zerstört
die Mode alles. Der griechische und lateinische Geschmack hat
sich noch am reinsten gehalten und dient zum Muster. Gingen
diese Dichter verloren, so würde der Geschmack großen Revo-
lutionen unterworfen sein. Es muß eine tote Sprache sein,
denn sonst ändern sich Wörter und Ausdrücke. Vor 100 Jahren
lobte man den Reineke Fuchs und er war damals in den besten
Versen abgefaßt. Jetzt lacht man darüber. So werden verschie-
dene Versarten Mode, z. B. Lieder nach Klopstock. Die Franzosen
fürchten den Verfall des Geschmacks sehr und haben auch Ursa-
che. Denn alle lateinischen und griechischen Bücher werden in
ihre Sprache übersetzt. Als zuletzt das Corpus juris in ihre
Sprache übersetzt wurde, sagte jemand: jetzt wird auch keiner
mehr lateinisch lernen. Die Antiken der Bau- und Bildhauerkunst
in der Poesie und Redekunst dienen zum Muster. Hörten diese
auf und gingen verloren, so würden die Menschen auf vielerlei
Empfindungen kommen, und es muß also ein Muster da sein, wenn
etwas bleiben soll.
/|P_301
/ Der Delikatesse des Gewissens bei dem, was zur Freund-
schaft gehört, ist der fähig, der seine sinnliche Urteilskraft
geschärft, der Geschmack hat. Der Geschmack bringt den Men-
schen darauf, was allgemein gefällt und präpariert ihn schon
zum gesellschaftlichen leben. Der Mensch von Geschmack wählt
nicht, was ihn vergnügt, sondern was allgemein gefällt. Er
sieht die Dinge aus einem gemeinschaftlichen Punkte an. Er muß
aber natürlich wählen aus innerer Beschaffenheit des Geschmacks,
nicht aus Mode wählen. Denn das sehr modische Wählen ver-
rät einen Menschen von wenig Grundsätzen. Alle Sinnlichkeit be-
reitet dem Verstande schon die Sache vor, so daß die Handlungen
des Verstandes dadurch eine gewisse Leichtigkeit bekommen. Der
Geschmack führt uns nicht durch allgemeine Regeln, sondern durch
besondere Fälle. Die Vernunft ist eine Art von Hofmeisterin,
mit der man sich nicht aus Neigung, sondern bloß aus Notwen-
digkeit beschäftigt. Der Verstand ist etwas, das durch die Länge
beschwerlich wird. Daher ist uns alles, was die Funktion dessel-
ben mit mehrerer Leichtigkeit verwaltet, angenehm. Dies tut aber
der Geschmack und stellt uns Fälle in concreto vor. Derjenige,
der die Vernunft mit dem Geschmack verbindet, bestreichet gleich-
sam den Rand des Bechers, der voll von einer zwar etwas widrigen
aber sehr nützlichen Arznei ist, mit Honig. Aber viele Menschen
sind wie Kinder. Sie lecken vom Rande den Honig ab, ohne die
Arznei zu berühren. Sie lesen schöne Bücher, um bloß für den
Geschmack etwas zu sammeln,als schöne Ausdrücke, Historien u.
dgl. und denken nicht einmal an den Endzweck des Autors.
/ Bei jeder Sache bemerken wir etwas selbständiges Schönes.
Indes versteht es sich von selbst, daß die Sachen, die an sich
nichts Selbständiges haben, auch nichts selbständiges Schönes
haben, denn ihr etwaniger Reiz ist nichts Selbständiges, z. B.
das Modische. Jeder Mensch will original sein, und diese Idee
rekommandiert ihn eine Mode zu machen, indem er sich vor-
stellt, wie viele ihm Folgen werden, und eine Idee muß bei je-
der Sache zum Grunde liegen. Wir können eine Sache nicht eher
für schön halten, als bis wir wissen, was es für eine sei und
was da schön sein soll. Denn eine Sache kann in verschiedenen
Verhältnissen schön und auch nicht schön sein. so kann man z. B.
noch nicht urteilen, ob ein gemaltes Gesicht schön sei, wenn
man noch nicht weiß, ob es ein Mann oder ein Frauengesicht
sein soll, und ein gemachter Kopf kann als Mannsperson schön,
als Frauenkopf aber häßlich sein. Ein Rock, den ich beim
Schneider zuschneiden sehe, kann als Regenrock vielleicht
schön, als Galakleid aber hässlich sein. ich muss also wissen,
wozu die Sache bestimmt ist, ehe ich urteile. Man muss allemal
die Idee der Sache voraussetzen. Diese Idee ist von vielen
Dingen zusammengenommen abgeleitet und gleichsam das Mittlere
von allen Egressen und Defekten vieler specierum. Das Muster
der Schönheit leigt als im Mittlern der species (Arten).
/ In Ansehung aller Dinge ist die Uebereinstimmung der
Rührung mit der Idee die wahre Schönheit. Man muß aber die
Materialien der Schönheit von der Schönheit selbst sehr wohl
unterscheiden. Denn die Materialien machen nicht die Schönheit
aus, sondern die Zusammenordnung, Verbindung und die Form. So
sind z. B. hübsche Farben die Materialien der Schönheit. Allein
die Schönheit selbst entsteht, wenn diese Materialien zusammen-
gesetzt werden. Hat man erst den Begriff einer Sache, so wird
/|P_302
/die Schönheit als ein accidens angesehen. Was aber der
Absicht der Sache widerstreitet, ist der Schönheit zuwider
und kann nicht lange gefallen, d. h. die Sache, die schön sein
soll, muß mit der Idee zusammenstimmen. Ein Kleid z. B., wel-
ches enge ist, gefällt nicht, denn es widerstreitet der Ab-
sicht, weil es kommod sein sollte. Die Alten machten an den
Häusern Pfeiler nach einer Spirallinie, weil sie die Pfeiler
unserer Art für plump hielten. Man sieht aber bald, daß dies
mit der Idee des Hauses nicht übereinstimmt, wenn es fest sein
soll, und die Schönheiten sind nur accidentia. Moden scheinen
keine dauerhafte Schönheit zu haben, weil es viel Mühe gekos-
stet sie einzuführen, besonders, wenn sie viel Peinlichkeit
haben. Alle Annehmlichkeiten und Reiz aber, die der Absicht
der Dinge widerstreiten, sind dem Selbständigen der Schönheit
entgegen. In einem Gedicht oder in einer Rede besteht das Selb-
ständige der Schönheit und der Beziehung der Sinnlichkeit auf
Gründlichkeit, Wahrheit und Reinlichkeit. Die logische Voll-
kommenheit macht also das schönste Selbständige aus.
/ Die Kenntnis des Menschen und der Wissenschaften gibt
uns den Stoff an die Hand, über den wir alle Schönheit verbrei-
ten können. Der Verstand macht dazu die Grundlage und wo er
durch Schönheit sekundiert wird, da ist was Dauerhaftes. Alles
hingegen ist umsonst, ein schöner Geist mit einem leeren Kopf
werden zu wollen. Wenn man den David Hume, einen der neuesten
Schriftsteller, und einen englischen Zuschauer liest, so weiß
man nicht, ob man hier die Schönheit oder die Gründlichkeit
und die Einsichten schätzen soll. Keiner unter den Schriftstel-
lern, die dies Selbständige nicht gehabt, ist in seinem Geschmack
bewundert geblieben. Schönheit aber kann vom Meister nicht er-
lernt werden, wenn man keine gründliche Kenntnis von Sachen
hat. Denn die Lehre vom Geschmack (Aesthetik) ist keine Dok-
trin, sondern nur eine Kritik. Kritik ist die Unterscheidung
des Werts in einem schön gegebenen Subjekt. Indem man gewisse
Produkte kritisiert, übt man den Geschmack. Wäre sie eine Doc-
trin, so könnte man lernen witzig werden. Denn Doctrin ist eine
Unterweisung, wie man etwas Schönes herfürbringen soll.
Das Silbenmass und das Reimen kann man zwar ebenso gut lernen,
wie drechseln, aber Dichten, Neuigkeit der Gedanken, lebhafte
Bilder, Abstechungen machen oder Bewunderung erregen, ist
nicht zum Lernen. Indess hat sie den Nutzen, daß man durch
vielfältige Kultur, durch Kritik anderer sich in Uebung und
Wertigkeit setzt, sich selbst zu kritisieren und zu beurteilen,
dass sie die Urteilskraft schärft und das Genie in-
directe exzitiert. Man wird alsdann nichts oder wenn man etwas
schreibt, etwas Schönes schreiben. Die Kritik lehrt uns den
Vorrat den wir an Erkenntnissen haben, wohl anbringen. Was da
gefällt, ist den ästhetischen Regeln gemäß, aber nicht alles,
was nach ästethischen Regeln abgefaßt ist, gefällt. Ästhetische
Regel ist nur darum recht, weil etwas gefällt, wenn es so ist. Ist aber ein
Fall, der untern einer Regel steht, nicht nach Geschmack und
gefällt nicht, so ist die Regel falsch. Denn ästhetische Re-
geln können nicht a priori, sondern aus Beispielen, d. h.
durch Erfahrungen (a posteriori) bewiesen werden. So kann man
eine ganze Lehre der Kritik abfassen. Z. B. es macht jemand
ein Gedicht nach allen Regeln, und doch gefällt es zuweilen
nicht. Wem ist nun zu glauben? Den ästhetischen Regeln oder
denen, denen es nicht gefällt? Den letzteren. Denn alle ästhe-
tischen Regeln sind nur vom Geschmack vieler Menschen abgezogen
/|P_303
/Nichts aber schadet dem Genie mehr als die Nachahmung, wenn
man nämlich glaubt, nur nach der Aesthetik entscheiden zu dür-
fen. Dies geschieht leider in den Schulen, und man kann sicher
behaupten, daß der Mangel an Genies in unseren Zeiten bloß aus
den Schulen herrühre, wo man Kindern Regeln zu Briefen, Chrien
usw. vorschreibt, wo man sie lateinische phrases auswendig ler-
nen läßt, welchen Zwang man spät und oft gar nicht ablegt. Wie
sehr aber möchte ein alter Römer, der die jetzigen lateinischen
Schriften lesen sollte, lachen, wenn sie auch in zierlichem La-
tein abgefaßt wären. Denn man kann sich in der Verbindung der
Wörter, wenn sie auch ebenso da sind, ungemein irren. Das deut-
sche Wort "übersetzen" ist übel angebracht, wenn man sagt: er hat
das Deutsche ins Lateinische übersetzt. Das ist zwar grammati-
kalisch recht gesprochen, und doch ist der Ausdruck lächerlich.
Bei den alten Griechen wurden die Autoren nur "zitiert" und die
Genies dadurch "exzitiert".
/ Der Geschmack scheint nichts Wesentliches zu sein. Denn
man sieht wohl ein, daß er von der Vollkommenheit unterschie-
den ist, indem er uns nur Dinge als vollkommene vorstellt, die
es nicht sind. Bloße Politesse zeigt eben noch nicht gute Ge-
sinnungen, sowie ein guter Ausdruck noch keinen Verstand an-
zeigt. Eine Uhr kann richtig gehen, ohne viel Schönheit. Und
Modenuhren sind schön geputzt und gehen oft sehr unrichtig. Der Ge-
schmack scheint also etwas Überflüssiges und gewissermaßen
ein Blendwerk zu sein, womit Menschen sich hintergehen, um die
Dinge sich angenehm vorzustellen und üble Stellen dadurch zu
verdecken. Die artige Manier, sich gut auszudrücken,
ist gleichsam nur ein Firnis, womit man alles überzieht, aber
kein eigentliches Verdienst. Das Wohlgefallen durch den Verstand
ist ganz etwas Anderes, als das durch Sinnlichkeit. Das erste
heißt gut, das andere schlecht. Sollen aber alle unsere Urteile
des Verstandes praktisch werden, so muß sich der Verstand zur
Sinnlichkeit herablassen, denn allein ist er nicht hinreichend.
Doch die Sinnlichkeit muß dem Verstande, nicht der Verstand
der Sinnlichkeit untergeordnet sein. So zeigt der Kompaß nur
die Weltgegend an und gibt dadurch Anlaß zur Richtigkeit des
Schiffs. Aber er bewegt das Schiff nicht. Dazu gehören Regeln.
Und so schreibt auch der Verstand Regeln vor, deren Ausübung
aber nur insofern möglich ist, als sie auf Gegenstände der Sinne
angewandt werden. Es müssen demnach die Menschen Geschmack ha-
ben, um die Regeln der Vernunft in Ausübung bringen zu können,
vorzüglich in der Sittlichkeit. Und in der Tat ist der Ge-
schmack auch nichts anderes, als die ganze Tugend, angewandt
auf Kleinigkeiten oder auf Gegenstände, die keine große Ange-
legenheiten des Menschen ausmachen. Z. B. Politesse, Artigkeit
ist tugendhaftes Verhalten auf kleine Gegenstände (oft in hohem
Grade) angewandt. Die Höflichkeit, so man den Frauenzimmern er-
weiset, und die Distinktion, mit der man ihnen begegnet, ist die
nicht aus Großmut entsprungen? Begegneten ihnen die Mannsper-
sonen nicht großmütig, wie tief würden sie wegen ihrer Schwä-
che sinken. Und so erwarten alle Personen von der Großmut an-
derer Achtung. Wird aber nicht die Großmut hier auf etwas Uner-
hebliches angewandt? Ein Mann von Politesse muß, wenn er Gäste
hat, die unterste Stelle an der Tafel einnehmen, um sich den
letzten Teller zu bestimmen. Er muß seine größte Mühewaltung
darin bestehen lassen, seine Gäste zu bewirten, die Gesell-
schaft aufzumuntern, wenn es auch auf seiner Seite mit den
größten Unbequemlichkeiten verbunden ist. Was ist dies aber
anders als Freundschaft und Bemühung Anderer Wohl zu befördern?
/|P_304
/Was anders als Politesse, gutartige Gesinnung, und ist dies
nicht Tugend, ob sie gleich nur auf einen Tag, auf einen Um-
stand angewandt wird? Auch muß ein Mensch von Geschmack in Gesellschaft nicht
von sich selbst sprechen. Denn es zeigt an, daß man sich ein
vorzügliches Recht einräumen wolle, welches andere nicht gerne
sehen. So geht es mit allen Regeln des Geschmacks im Umgang.
Der Geschmack in Kleidung oder Ameublement, Anlegung eines Gar-
tens, indem er von den Menschen verfeinert wird, und einen Ein-
druck nach seinen kleinsten Teilen abwiegen lehrt, macht den
Menschen zugleich fähig, in Ansehung des Wichtigen sehr
leicht die Disharmonie zu empfinden. Und auf diese Art ist
der Geschmack eine beständige Kultur der Tugend, indem er die
Menschen fähig macht, bei wichtigen Dingen aufs Pflichtmässige
zu sehen und das Geringste gegeneinander abzuwiegen. Alles
Sittliche enthält zugleich das Schöne. Wenn ein Mensch etwas
Ungeziemendes spricht, so sagt man: Er hat keine Conduite. Oft
kann man auch etwas sprechen, was sich zwar schickt, aber doch
nicht gefällt. Es ist unser Geschmack gleichsam ein Augenmaß
in allem Schicklichen. Es kann auch zuweilen ein Mensch, der
Unschickliches redet, Conduite und Artigkeit besitzen. Ein
Mensch, der schicklich ist, ist wohlerzogen, und derjenige,
der darauf sieht, was gefällt, hat Geschmack. Schicken und Ge-
ziemen ist der Grund der Schönheit, und dies schreibt der Ver-
stand vor. Alles Schöne, alle Manieren haben den Grund in der
Moralität. Denn was boshaft ist, kann nicht schön sein. Man
kann die Moralität in allen Handlungen der Menschen finden.
Das Urteil, das wir in jeder Gesellschaft von jeder Miene an-
derer Personen, von dem Betragen der Kinder gegen ihre Eltern
fällen, hat jederzeit seinen Grund in der Moralität, ob wir es
gleich zur Politesse rechnen. Dies macht, daß die Moralität
nicht ungesellig ist. Die Tugend nimmt uns ein, nicht durch
den Gebrauch, sondern insofern sie uns gefällt. Auf diese
Weise arbeitet der Geschmack der Tugend vor, gibt ihr das Ge-
fällige und macht, daß sie auch in der Erscheinung gefällt. -
Denn sofern sie nur durch oder in der Vernunft gefällt, ist
sie ein Gebot. Gebote aber sind dem Menschen jederzeit ver-
haßt. Der Geschmack ist also ein Analogon der Vollkommenheit
und seine Verfeinerung von großer Wichtigkeit. Es ist in der
Anschauung das, was Sittlichkeit in der Vernunft ist.
/ Nun aber entsteht die Frage: Wie wird der Geschmack
studiert? Man muß ihn lernen. Der Mensch ist eine besondere
Kreatur, die alles lernen muß. Hume behauptet in Ansehung des
Rousseau, daß auch Tugend müsse gelernt werden und so auch
der Geschmack. Durch Erlernung kann man ihn nicht erzeugen,
sondern indem wir unser natürliches Talent exkolieren. Welches
ist nun die Art, zu einem richtigen und gesunden Geschmack zu
gelangen? Nicht durch Regeln, denn er unterwirft sich keinen
Regeln, sondern nur durch Anschauung, d. h. das Beispiel in
der Sache selbst und das unmittelbare Anschauen, das die Sache
selbst in mir hervorbringt, d. h. die Erscheinung selbst. Al-
lein es kann mir jemand eine Sache zeigen wollen mit der Ver-
sicherung, daß es mir gefallen werde. Allein eigentlich kann
niemand sagen, das soll mir gefallen. Denn der Geschmack grün-
det sich nicht aufs Sollen. Die Regeln mögen sagen, was sie wol-
len, so gebieten sie nicht, sondern kritisieren nur. Zu allem
andern kann ich gezwungen werden, aber daß mir etwas gefallen
soll, steht in keines Menschen Gewalt. Alle Regeln also, die
etwas in Ansehung des Wohlgefallens gebieten, sind lächerlich,
weil sie sich auf Beobachtungen gründen und von der Menge der
/|P_305
/Fälle abstrahiert sind. Geschieht es nun, daß jemanden etwas,
was nach allen Regeln des Geschmacks eingerichtet ist, doch
nicht gefällt, so kann man nicht sagen, daß der Geschmack
dieses Menschen unrichtig sei, sondern die Regel ist falsch.
Es ist sonderbar genug, daß hier die Appellation vom Verstande
zur Erscheinung gilt, da es sonst doch gerade umgekehrt ist.
Lessing ist ein starker Kenner der theatralischen Regeln, und
doch gefallen viele seiner Stücke im Zusammenhange nicht, un-
erachtet die Teile gefallen. Wenn er nun einem, dem seine Ge-
dichte nicht gefallen, zeigen wollte, daß seine Spiele nach
allen theatralischen Regeln eingerichtet wären, so würde er ihm
antworten: Laßt mich mit euren theatralischen Regeln zufrieden,
genug, es gefällt mir nicht. Dies ist ein sicheres Kennzeichen,
daß die Regeln unrichtig sind. Eine jede Regel erfordert eine
besondere Bestimmung. Nun läßt sich durch solche Regeln eher
anzeigen, was da mißfällt, d. h. negative, als was gefällt
oder positive ist, weil der allgemeine Widerstreit leichter zu
beobachten ist, als der Grund der Verknüpfung. Der einzige Weg,
unsern Geschmack zu bilden ist der, daß uns viele Gegenstände
der Natur vorgelegt werden und daß wir an denselben das Rei-
zende und das Rührende zu unterscheiden suchen. Der Reiz gehört
zum Schönen, die Rührung zum Erhabenen - und zu beiden Urteils-
kraft. Zum Erhabenen gehört kein Geschmack, denn nur die Ur-
teilskraft vom Schönen ist Geschmack. Alles, was durch die Man-
nigfaltigkeit die Tätigkeit unseres Gemüts in Bewegung setzt,
gehört zum Schönen und zum Reize. Was aber dem Grade nach die
Tätigkeit des Gemüts befördert, ist erhaben. Das Erhabene er-
regt Achtung und grenzt an Furcht. Bei allem Erhabenen wird die
Seele ausgedehnt und die Nerven werden gespannt. Das Schöne er-
regt Liebe und grenzt an Verachtung, denn was bloß schön ist,
erregt Ekel. Beim Reize ist man zur Abstechung geneigt, denn
alles ist uns zuwider was uns lange voreilt. Alles aber, was
den Menschen reizt, zwickt ihn. Das Schöne aber reizt, und da-
her wird der Mensch durch beständiges Drillen endlich ermüdet.
Überhaupt kann man keiner Sache eher überdrüssig werden, als wo
alles auf Schönheit angelegt ist. Daher auch die süßen Herren,
die voll von Höflichkeit und Geschmack sind, zuletzt unerträg-
lich werden. Was das Erhabene betrifft, so spannt es die Ner-
ven aus und schmerzt, wenn es stark angegriffen wird. Ja, man
kann es bis zum Schrecken und zur Atemlosigkeit treiben. Alles
Wunderbare ist erhaben und daher angenehm, wenn man es in Ge-
sellschaft erzählt, in der Einsamkeit aber schreckt es. Ja,
selbst der gestirnte Himmel, wenn man sich bei dessen Anblick
erinnert, daß dies alles Weltkörper und Sonnen sind, die wie-
der eine ähnliche Menge Weltkörper um sich drehen lassen, als
unsere Sonne, erregt ein Grausen und ein Schrecken in der Ein-
samkeit, weil man sich einbildet, daß man, als ein kleines
Stäubchen in einer unermeßlichen Menge von Welten, nicht ver-
dient von dem allmächtigen Wesen bemerkt zu werden. Alle diese
Bewegungen nun, wie das Schöne und Erhabene laufen zuletzt auf
etwas sehr Mechanisches hinaus, und alle diese Tätigkeiten be-
fördert das Leben im Ganzen.
/|P_306
/ ≥ Vom Wohlgefallen und Mißfallen in Ansehung der
Gegenstände, insofern sie als gut oder böse
abgesehen werden. ≤
/ Nachdem wir nun geredet haben von dem, was in der Emp-
findung und Erscheinung gefällt, so gehen wir nun zur dritten
Abteilung und reden von dem, was im Begriffe gefällt oder was
gut ist. Die Gründe des Wohlgefallens beim Vergnügenden und
Schönen sind subjektiv, beim Guten und Bösen aber objektiv.
Der Grund von dem, was in der Erscheinung gefällt, ist zwar
zum Teil auch objektiv, aber nur in Ansehung der Sinnlichkeit.
Was angenehm oder unangenehm ist, versteht ein jeder geradezu.
Wenn aber jemand etwas beschreibt, z. B. Der Apfel ist mit
einer farbigen Röte umgeben und liebkoset gleichsam dem Auge,
so redet er von einer Erscheinung. Nun erscheint zwar dieselbe
Sache nicht allen auf die nämliche Art, aber es ist doch in
jeder Sache etwas, was allgemein gefällt oder mißfällt. Und
es sind mithin alle Beurteilungen in Ansehung des Wohlgefallens
oder Mißfallens nach Gesetzen der Sinnlichkeit auch objektiv.
Folglich muß mein Urteil von dem, was schön ist, wenn ich etwas
schön zu nennen Recht habe, auch für andere gelten, da im
Gegenteil mein Urteil über die Annehmlichkeit nicht für je-
dermann gilt. Streiten also zwei über etwas Schönes, so kann
nur einer Recht haben. Hingegen wenn der Streit Annehmlichkei-
ten betrifft, so können beide Recht haben. Alle Urteile des Ge-
schmacks sind allgemein gültig nach Gesetzen der Sinnlichkeit.
Reiz und Rührung sind subjektiv und gehören also fürs Gefühl.
Daher kann ein Urteil von einem Gedicht, daß es reizend sei,
nicht allgemein gelten. Denn es gibt keine allgemeinen Gesetze
in der Empfindung. Und wenn ja einige darin übereinkommen, so
geschieht es zufälligerweise. So weiß man vom Zucker und von
der Süßigkeit überhaupt, daß es allen Tieren gut schmeckt,
allein dies rührt aus uns unbekannten Gründen her. Es gibt
aber auch gewisse allgemeine Gesetze der Sinnlichkeit, die ich
a priori vor aller Anschauung und Erfahrung erkenne, und dies
ist Raum und Zeit. - Nur allein die Musik ist imstande, bei
uns ein Wohlgefallen zu erregen, das aus dem bloßen Spiele
der Empfindung herrührt. Denn das bloße Klopfen der Luft auf
der Ohrtrommel kann uns nicht so sehr vergnügen, sondern die
vielen Bebungen der Luft in einer bestimmten Zeit und die Pro-
portion der aufeinander folgenden Töne erregt bei uns das Ver-
gnügen. Denn eine einzige dieser Empfindungen würde nicht ver-
gnügen, obzwar ein einziger Ton schon vergnügt, welches aber
daher kommt, weil auch ein einziger Ton schon ein Spiel un-
serer Empfindungen verursacht. Es ist bekannt, daß
ein Ton 500 und mehr Bebungen in einer Sekunde macht. Das Ver-
hältnis des Mannigfaltigen in der Zeit ist das Spiel. In der
Zeit gefällt also das Spiel, im Raum aber die Gestalt, d. h.
die Qualität in der Einschränkung des Raumes. Die Größe im
Raum gefällt eigentlich gar nicht, sondern sie gehört zur Rüh-
rung - also zum Erhabenen, wenn sie gefällt. Schön bleibet
schön, aber erhaben bleibt nicht erhaben, wenn ich es gewohnt
bin. So sagt man, daß die nogaischen Tataren, wenn sie einen
von unsern Officiers sehen, die Hände ausstrecken, um ihre
Größe zu messen, da wir hingegen gleichgültig dabei sind.
Werde ich durch die Größe nicht affiziert, so ist die Sache
auch in Ansehung meiner nicht erhaben und mithin gehört die
Größe gar nicht zum objektiven Urteil. Die Menschen können
sich also in Ansehung des Erhabenen widersprechen, aber
in Ansehung des Schönen nicht, ohne daß einer Unrecht hat.
/|P_307
/Denn man kann etwas schön nennen, ohne davon gerührt zu wer-
den. Die Urteile über Schönheit sind also allgemein für Men-
schen. Die Urteile über das Gute und Böse sind aber allgemein
für alle vernünftigen Wesen, sie mögen sein, was sie wollen,
Engel oder vernünftige Geschöpfe in andern Planeten. Das Schöne
hingegen darf ihnen nicht gefallen, denn sie können andere Ge-
setze der Sinnlichkeit haben. Das Erhabene kann mit zum Gefühl ge-
rechnet werden. Das Schöne gehört aber zum Geschmack. Einiges
ist zwar so erhaben, daß man sicher rechnen kann, es werde für
alle erhaben sein. Z. B. der Ozean oder die Unermeßlichkeit
der Weltkörper. Allein so geht hier ebenso als wie mit der
angeführten Empfindung der Süßigkeit. Es scheint eine allgemein
größere Gültigkeit zu haben und für den Geschmack zu gehören.
Es kommt aber nicht auf Proportion, sondern lediglich aufs Ge-
fühl an und auf die Größe des Affekts. Was wohlgefallen kann,
ohne daß es allgemeinen Regeln untergeordnet ist, darf auch
nicht nach allgemeinen Gesetzen gefallen. Mithin gehört alles
Urteil vom Erhabenen zum Subjektiven. Ein Engländer sagte:
Eine lange Linie ist ein mittlerer Umfang. Z. B. der Ozean ist
erhaben, eine größere Höhe, ein größerer Fels ist noch erha-
bener, aber eine große Tiefe am erhabensten, denn eine große
Tiefe gewähret uns am meisten den Schrecken. Ein französischer Arzt
schrieb, daß er niemals den Eindruck des Erhabenen vergessen
würde, den er auf dem Berge Aetna empfunden, da er die ganze
Insel Sizilien mit ihren Städten, Neapel, das adriatische Meer
habe übersehen können. Beim Felsen kommt's nicht auf das Ver-
hältnis, sondern auf den letzten Affekt, den ich davon habe, an.
Was nicht auf Verhältnis geht, kann nicht für andere zur Regel
dienen, und was also auf den Eindruck geht, kann nicht als allge-
meinen Regeln untergeordnet sein. Nur bloße Verhältnisse sind
einer Regel fähig. Der Ozean ist erhaben, aber nicht mehr für
einen Seefahrer, der schon einmal in Indien gewesen ist. Das
Schöne aber gefällt jedermann. Ein Stieglitz z. B. muß wegen
seiner vortrefflichen Farben und ganz besonderen Proportion je-
dermann gefallen, weil sich die Proportion unter allgemeine
Regeln bringen und durch den Verstand erkennen läßt. Man wird
das Schöne zwar gewohnt, es ist uns aber nie gleichgültig. Denn
Ordnung und Ebenmasse mit Mannigfaltigkeit verbunden, wo mehr
Abstechung der Vorstellungen ist, erleichtert das Spiel der
Sinnlichkeit. Obgleich hier allgemeine Regeln sind, so dürfte
es doch oft schwer fallen, sie herauszuklauben. Wenn mir etwas ge-
fällt und ich sehe, daß es andern nicht gefällt, so halte ich
es für keine eigene Beschaffenheit des Objekts, sondern meines
Subjekts. Man würde gewiß keine Veränderung des Objekts auf
uns für wahr halten, wenn andere nicht übereinstimmen sollten.
Wenn mir etwas in den Ohren klingt und andere sagen: Es wird
gelautet, so halte ich meine Empfindung für wahr.
/ ≥ Bemerkungen über den Geschmack. ≤
/ Man hat bemerkt, daß es denjenigen Leuten, denen es an
einer Art von Geschmack fehlt, an allen Arten desselben fehle,
vorausgesetzt, daß es Leute sein müssen, die Umgang und also Gele-
genheit gehabt haben, ihren Geschmack zu kultivieren. Man sagt:
"der Mensch hat einen schlechten Geschmack" und dies ist ebenso-
viel als "er hat keinen". Denn Geschmack gefällt an und für
sich selbst, und man versteht darunter die Fertigkeit zu wählen,
was jedermann gefällt. Am Umgange, an der Kleidung lernt man den
/|P_308
/Geschmack kennen. Es gibt Menschen, die sich aus der Musik
nichts machen, und an solchen findet man zugleich, daß sie
gewöhnlich auch nichts von einer schönen Schreibart und von
Poesie halten, ja, daß sie wohl gar gegen die Reize der Natur
ganz gefühllos sind. Eben die Singularität, die jemand in Klei-
dung und Umgang beweist, hat er auch in andern Sachen. Man
kann immer glauben, daß man aus eines Menschen Schreibart
wohl urteilen könne, wie er auf der Strasse geht, steif oder
flüchtig, und wie er in Gesellschaft sich bezeigt. In anderer
Art kann man aus der Wahl der Farben, die ein Mensch in einer
Reihe von Jahren getroffen hat, schließen, was er für eine
Gemütsart habe. Das alte Sprichwort: Noscitur ex foro etc.
möchte also hier eintreffen, denn im Geschmack offenbaren sich
die übrigen Gemütszüge des Menschen sehr deutlich. Ob jemand
ein Heuchler oder ein Aufrichtiger, ob er stolz oder eitel sei,
kann man schon aus einem Briefe erkennen.
/ Es findet zuweilen aber auch eine große Geschick-
lichkeit ohne Geschmack statt. So gibts Tonkünstler ohne allen
Geschmack. Diese ersetzen den ihnen mangelnden Geschmack durch
die ihnen eigentümliche Kunst. Allein man vermißt in ihrer Mu-
sik doch das Gefällige.
/ Wenn einem etwas nicht gefallen will, so sagt man "er
versteht es nicht". Freilich um zu wissen, ob eine Sache schön
sei oder nicht, muß man wissen, was die Sache vorstellen soll.
Aber man braucht den Ausdruck gewöhnlich, wenn jemand eine Sa-
che, die künstlich ist, nicht zu schätzen weiß, wenn sie gleich
an sich nicht schön ist. Es gibt Leute, die bloß die Kunst be-
wundern, z. B. daß jemand die Haut bois spielen kann, daß sie
den Tod einer Flöte verrät. Allein solche Leute gehören in die
Klasse derjenigen, denen eine Sache ihrer Seltenheit wegen ge-
fällt. Der Geschmack am Künstlichen ist, wie der Geschmack am
Seltenen, gar kein Geschmack. Ein mit großen Kosten angelegter
Garten oder eine prächtige Tafel, wo lauter Aufwand herrscht,
gefällt also nicht. Denn mit wenigen Kosten etwas so einzurich-
ten, daß es gefällt, dies ist für den Geschmack. Die Pracht
ist also dem Geschmack ganz entgegen, denn Magnificence und Ge-
schmack sind unterschieden, obgleich auch Geschmack einigermas-
sen Magnificence sein muß. Als Zeuxis eine von einem Andern
mit vielen Perlen, Gold und Silber gemalte Venus sah, sagte
er: "Da Du sie nicht hast schön malen können, hast Du sie reich
gemalt".
/ Das Spiel in Gesellschaft zeigt keinen Geschmack, sondern
es muß nur als Notmittel der langen Weile vorzubeugen gebraucht
werden, und alsdann, wenn die Gesellschaft eine Monotonie be-
kommt. Es ist insoweit gut, weil bei demselben ein beständiger
Wechsel von Leidenschaften stattfindet. Das Gemüt hat Motion,
allein es ruht sich auch aus. Das Spiel befreiet uns in et-
was von der beständigen Höflichkeit, weil ein jeder sein ganzes
Recht dazu braucht, dem Andern zu schaden sucht und ihm Masken
macht. Es vergnügt deshalb, weil durch die Leidenschaften das
Prinzip des Lebens auf alle Art gezwickt wird. Sartorius sagt,
daß man beim Spiel am mehresten transpiriere. Eine Gesellschaft
ist nicht complet, wenn kein Frauenzimmer dabei ist. Denn diese
müssen als Richterinnen in der Erscheinung des Schönen angese-
hen werden. Es sind demnach die Gesellschaften Schulen des Ge-
schmacks. Besonders tut der Umgang einer Mannsperson mit dem
Frauenzimmer hierin sehr viel. Es ist aber sonderbar, daß der
Umgang des Frauenzimmers mit Mannspersonen für erstere keine
Schule des Geschmacks ist, sondern die ist ihnen vielmehr der
/|P_309
/Umgang mit anderen Damen. Die Frauenzimmer haben nur darum das
männliche Geschlecht nötig, weil ihre Talente von demselben auf-
gefordert werden, nicht aber wegen der Ausbildung des Geschmacks.
Ein Frauenzimmer putzt sich nicht für Mannspersonen, denn es
weiß, daß es diesen im Négligé oft besser gefällt, als im
Putz, sondern es putzt sich bloß für andere Frauenzimmer, deren
Musterung durchzugehen nichts Leichtes ist.
/ ≥ Vom Geschmack verschiedener Nationen. ≤
/ Wenn wir den Geschmack bei den Völkern betrachten, so
finden wir in Europa eine Nation, die etwas Eigentümliches in
Rücksicht aller Nationen in der Welt an sich hat. Dies ist die
französische. Wir wollen hier ihren Wert nicht untersuchen,
weil die Urteile verschieden ausfallen würden. Diese Nation
scheint sich schon seit Caesars Zeiten im Geschmack herfürgetan
zu haben. Im alten Griechenland aber findet man mehr, als bloß
Geschmack. Es herrscht bei der französischen Nation eine beson-
dere Fröhlichkeit und eine glückliche Art von Leichtsinn, vermöge
dessen sie die wichtigsten Dinge en bagatelle traktiert und
hingegen Kleinigkeiten zuweilen sehr erheben kann. Daher kommt
es, daß ein sicheres Kennzeichen bei ihnen ist, wenn eine Sa-
che im großen Ansehen steht, daß sie ihrem Untergang nahe ist,
und daß im Gegenteil eine Sache, die ganz heruntergekommen zu
sein scheint, eben deshalb ein Schicksal zu erwarten hat, wel-
ches sie bald emporbringt. Und in der Tat gehört auch für den
Geschmack ein beständiger Wechsel. Ein sehr munterer Geist
macht diese Nation zum wahren Muster des Geschmacks, welches
sie wohl auch nicht dürfte aufhören zu sein, wenn nicht eine
besondere Regierungsart dies bewirkte.
/ Die alten Griechen hatten noch etwas außer dem Ge-
schmack, dem man aber keinen Namen geben kann, weil bei ihnen
nicht nur die Leichtigkeit, sondern eine Art von Proportion
und ein wahres Wohlgefallen nach Gesetzen der Sinnlichkeit
statthatte. Die Franzosen haben eine durchgängig, selbst bis
auf die niedrigern Klassen, eine gute Erziehung, so daß die
Tochter eines Handwerkers eben die Conduite hat, als eine vor-
nehme Dame, und dies erstreckt sich auch selbst bis aufs männ-
liche Geschlecht. Bei uns hingegen ist hierin eine erstaunli-
che Gradation, und doch findet man oft auf der obersten Stufe
plumpe Leute. Dasjenige, was bei den Franzosen nur allein zu
tadeln ist, ist der unbändige Leichtsinn der Jugend. Sie ha-
ben die sittsamsten Ohren und sind doch selbst nicht sittsam.
Indes besitzen sie doch keine wahre Höflichkeit, und die
Deutschen sind eigentlich viel höflicher, als sie. In Gesell-
schaft des Frauenzimmers binden sie sich an keine Reinlichkeit
im Ausdruck und in der Aufführung. Sie besitzen wegen des Be-
wußtseins, daß sie sich in alle Gestalten schicken können,
hardiesse, aber keine Höflichkeit. Wenn sie aber zu Jahren
kommen, so haben sie eine besondere Annehmlichkeit, die sie
bis ins späte Alter behalten. Gegen Fremde ist man in Frank-
reich sehr höflich, aber man bittet sie niemals zu Gaste, da
hingegen die Gastfreiheit in Deutschland im wirklichen Sinne
herrscht. Im Geschmack möchten die Deutschen wohl nie original
werden. Hingegen haben sie in Ansehung des Methodischen vie-
les vor andern voraus, und der Geist der Disposition, der
Ordnung, Genauigkeit usw. ist ihnen ganz eigen. Ihre Schriften
sind wie ein menschlicher Körper, dem die Haut abgezogen, wo
zwar viele Zusammenstimmung in den Muskeln und Nerven herrscht,
der aber nie in solcher Gestalt fällt.
/|P_310
/ Der Geschmack ist noch von der Reinlichkeit verschieden.
Ob wohl ersterer ohne letztere nicht bestehen kann? Wir finden
Nationen, wo zwar Geschmack herrscht, aber keine Reinlichkeit,
welches man von Italien zu gestehen pflegt. Es ist daselbst
ein recht hoher Geschmack, aber der Reinlichkeit befleißigt
man sich nicht sonderlich, sowie auch in verschiedenen Gegen-
den Frankreichs. (Siehe britt. Museum 2ter Teil.) Die Unrein-
lichkeit, wenn sie ja beim Geschmack ist, muß nicht in die
Augen fallen. Denn der Geschmack geht bloß auf das in die
Augen Fallende. Die Holländer sind die reinlichsten und haben
keinen Geschmack. Der Geschmack unterscheidet sich vom Vergnü-
gen in der Empfindung. Denn der Appetit wählt das, was ihm ge-
fällt. Die Reinlichkeit und besonders Zierlichkeit findet nur
unter mehreren Menschen statt, wo einer die Musterung des an-
dern passieren muß. Von einem Menschen aber, der ganz isoliert
auf einer wüsten Insel lebt, wäre es lächerlich, wenn er sich
erst die Haare kräuseln wollte, ehe er aus der wüsten Insel
heraustritt. Dies zeigt aber offenbar, daß der Geschmack sich
nur auf Äußere des Menschen beziehe.
/ Was die englische Nation betrifft, so zeigt sie in ihren
Verrichtungen Sentiment an. Man hat aber im Deutschen kein gutes
Wort, was dem Sinn desselben genau anpaßte. Wollte man es
durch "innere Empfindung" übersetzen, so zeigt "Sentiment" mehr
an. Sentiment muß gleichsam das Augenmaß sein über alles,
was vollkommen und gut ist und nach der Vernunft wohlgefällt,
so wie Geschmack das Augenmaß ist von dem, was in der Er-
scheinung gefällt. Man sagt von einem Menschen, er sei ver-
nünftig, wenn er durch eine willkürliche Anwendung der Ver-
nunft den Wert und Unwert der Dinge unterscheiden kann. Wenn
aber Menschen, die nicht studiert haben, eine ganz praeme-
ditierte Vernunft in ihren Reden äußern, so gefällt solches
noch mehr. Wenn z. B. jemand einen andern aus der Not geholfen
und letzterer ihm hernach das Geld wiedergeben will. Wenn er
sich aber erst vorgenommen hatte, es nicht wiederzunehmen,
und sagt: Ich hatte schon, da ich Ihnen das Geld gab, im Sinne
es Ihnen zu schenken, und ich muß also das Versprechen, das
ich mir selbst getan habe, halten usw.. Dies kommt daher, weil
die Sentiments-Urteile über intellektuale Sachen so gefällt
werden, wie die Urteile durchs Gefühl. Das Sentiment ist auch
noch so beschaffen, daß derjenige, der es hat, auch noch eine
Art von Gefühl der Erkenntnis des Guten und Bösen beweiset.
Die Menschen sind oft gleichgültig gegen das, was gut und böse
ist. So schätzt der Lasterhafte oft die Tugend, aber sie ver-
gnügt ihn nicht. Ein Menschenfreund kann für seine Person
einem andern ganz gleichgültig sein, obwohl objektiv die Men-
schenfreundlichkeit an ihm geschätzt wird. Aber alsdann hat
der Andere kein Gefühl und kein Sentiment. Es gibt viele Leh-
rer, die die Tugend unablässig lehren, aber selbst gleichgül-
tig gegen sie sind. Sie sind den Wegweisern nicht unähnlich,
die zwar immer den Weg zeigen, aber nie sich selbst von der
Stelle bewegen. Der Grund hiervon ist schwer einzusehen. In-
des ist soviel gewiß, daß es keine große geistige Regung
sein kann, indem es eine contradictio in adjecto wäre, sich
eine solche zu denken, da alles Wohlgefallen bei dem Menschen
vom Körper herrührt. Die Ursache also ist, weil kein Gefühl
die Urteile der reinen Vernunft über das, was gut und böse
ist, begleitet. Wie es aber zugeht, daß die Billigung des
Guten und Mißbilligung des Bösen mit Gefühl begleitet wird,
mag vielleicht daher kommen, daß wir uns in die Person des
guten Menschen setzen und alsdann die Billigung des Guten auf
/|P_311
/uns applizieren. Epikur schon behauptet, daß alles Vergnügen
körperlich sei. Ein Mann, der moralisch Gefühl hat, hat Sen-
timent.
/ Die Engländer haben eigentlich gar keinen Geschmack,
aber ein Analogon des Geschmacks und Sentiment. Man bewundert
billig die Richtigkeit und Vollkommenheit in ihren Arbeiten,
die die Gegenstände der Sinne betreffen. Bei einem Gegenstand
sind bonitas und pulchritudo so nahe verwandt, daß man sie
kaum unterscheiden kann. Die Engländer gehen immer auf die
bonitas, auf die Vollkommenheit und aufs Zweckmässige der sinn-
lichen Gegenstände. Der Richtigkeit halber, deren man sich in
England befleißigt, läßt die französische Regierung auch
alle ihre astronomischen Instrumente daselbst verfertigen,
und diese Richtigkeit erstreckt sich auch auf große Arbeiten.
Allein sie haben nicht soviel Geschmack, ob wir gleich alle
unsere Sachen verpfuschen. Indes ist auch nicht zu leugnen,
daß dasjenige, was richtig ist, auch gewissermaßen schön
ist, weil die Vollkommenheit und Schönheit stark aneinander
grenzen.
/ Was die Schriften betrifft, so ist die Hauptabsicht der
Franzosen die Verschönerung derselben. Sie suchen nicht Gründ-
lichkeit, nicht Einsicht, sondern frappanten Witz, den sie
nicht allein in der Mathematik und Experimentalphysik, sondern
auch sogar in der Metaphysik spielen lassen. Sie halten nur
das für fruchtbaren Boden, worauf sie Blumen des Witzes streu-
en können. Sie gehen in ihrem Tändeln so weit, daß jetzt schon
alle Gründlichkeit bei ihnen wegfällt, und daß man außer
Metaphysik und Physik nichts aus ihren Schriften lernen kann,
die bloß zum Vergnügen und nicht zum Unterricht sind. Die
Engländer zeigen in ihren Schriften ein Analogon des Geschmacks
und eine Art von Sentiment oder Genie. Das Genie liefert Stoff,
Materialien zur Erkenntnis, die sowohl im Verhältnis der Sinn-
lichkeit und der Vernunft gefallen sollen. Der Geschmack ist
davon unterschieden. Denn er disponiert und ordnet diese Ma-
terialien so, daß sie in der Erscheinung gefallen. Es ist
hier ungefähr so, wie mit einer Tafel, worauf alles mögliche
Essen ist, wo aber einer die Suppe, der andere den Braten
ißt, und wo alles in Anordnung gesetzt ist, so daß sich die
Seele sogleich ein Bild davon entwerfen kann. Aber selbst sol-
che Schriften, die witzig sein sollen, haben nicht sowohl Ge-
schmack als Empfindungen. Man könnte die Sentiments der Eng-
länder den hohen Geschmack nennen. Denn selbst ihre größten
Autoren, Young, Pope, Addison, haben mehr Hohes, als Gefal-
lendes in ihren Schriften. Hume selbst gesteht dies von seiner
Nation. Beim Geschmack kommt es nicht darauf an, ob die Sache
was wert sei. Voltaire hat gewaltig viel Geschmack, aber kein
Mensch wird von ihm was lernen.
/ Aus dem Geschmack einer Nation kann man leicht auf
ihren Nationalcharakter schließen. Ist jener prächtig, so
zeigt er den Stolz an, wie z. B. bei den Spaniern. In Italien
findet man den sogenannten edelen Geschmack, der auf Empfin-
dungen geht. In der Malerei, Baukunst, Musik zeigt er sich be-
sonders. Ihre besten Maler, als Raffael, Michelangelo, zeigen
einen recht hohen Geschmack und haben die Empfindungen unnach-
ahmlich ausgedrückt. Und so auch in der Musik und Bildhauer-
kunst. Unerachtet des vorzüglichen Geschmacks, der bei den
Franzosen herrscht, vermißt man doch die Empfindung, beson-
ders in der Musik. Dies gilt auch in ihrem Umgang mit den
Frauenzimmern. Sie sind ungemein artig, aber dabei ohne Emp-
findung. Man findet viele Komplimente, Galanterien, Koketterien,
/|P_312
/aber nichts für die Empfindung. Dies zeigen auch ihre Gebäude.
Selbst in Versailles, ihrem Meisterstück, findet man viel
Prächtiges, aber nichts Frappantes. Dagegen frappieren in Eng-
land die großen Parks sehr, worin sie den Geschmack der Chi-
nesen angenommen haben. Auch sind die englischen Gärten die
besten, worin sie ebenfalls die Chinesen nachahmen. Daß wir
in unseren Gärten nichts Unterhaltendes haben, kommt daher,
weil wir die Sorge dafür gemeinhin einfältigen Leuten überlas-
sen. Ein gewisser Autor hat von den chinesischen Gärten ge-
schrieben, und man findet auch in der Bibliothek der schönen
Wissenschaften Nachricht davon.
/ In Asien ist keine Nation, die Geschmack hat, außer
der persischen. Die Perser sind die Franzosen von Asien. Wo
aber das tatarische Blut hingekommen ist, da hat es die Nation
grob und ohne Geschmack gemacht. Die Türken sind weit von al-
len feinen Empfindungen entfernt. Ihre Musik ist bis zum Me-
leancholischen traurig und schwerfällig. Sie lieben lauter
Gaukelspiele und haben gar keinen Geschmack. Sie tun nichts
als Tabak rauchen und Kaffee trinken, und wenn sie verstohle-
nerweise Wein trinken, so schweifen sie aus. Dahingegen besit-
zen die Perser einen weit feineren Geschmack. Sie sind gute
Dichter, besonders in Fabeln. Sie sind witzig, scherzhaft,
satirisch und gegen die Religion sehr leichtsinnig, wie die
Franzosen. Ihre Verse sollen gut klingen, wenn man sie auch
nicht versteht. Doch sind sie nicht so gravitätisch in ihrem
Umgange, wie die Türken. Die Perser trinken in ihren Moscheen
auch Kaffee, plaudern und sagen zuweilen ihrem Prediger: "Ja, ja,
Du hast ganz recht", dahingegen die Türken von einer ganz
unglaublichen Ernsthaftigkeit sind. Wir finden im .......
Passage, wo ein Türke erzählt, daß ein Franzose mit dem Teu-
fel auf dem Wege zusammengekommen, worauf sie Gesellschaft
gemacht und die Bedingung unter sich eingegangen wären, daß
einer den andern wechselweise so lange auf den Achseln tragen
sollte, als der Getragene würde singen können. Darauf soll
sich der Franzose zuerst draufgesetzt und sich Triller vor-
gesungen haben und sich auf diese Weise immerfort haben tra-
gen lassen. Darauf fügte der Türke die Anmerkung hinzu: Wer
sich mit den Franzosen in Singen einließe, wäre übel dran.
/ China scheint einen Privatgeschmack zu haben, der nur
alsdann gefällt, wenn man sich eine Zeitlang da aufgehalten
hat. Man bemerkt dies an ihren Gebäuden, die alle nur eine
Etage haben, aber doch sehr bequem gebaut sind. Unter den
alten Nationen verdienen die Griechen in Ansehung des Senti-
ments oder des edlern Geschmacks den Vorzug. Die Indier von
Hindostan scheinen die ersten zu sein, die Künste und Wissen-
schaften aus der rohen Natur gezogen zu haben. Die Griechen
haben alles, was zum Geschmack gehört, nur zur Vollkommenheit
gebracht. Sie trugen die Musik zuerst als eine Theorie vor.
Pythagoras machte den Anfang und entwarf canones musices,
nach ihm Aristoxenos von Tarent. Die Römer, die ihre Schü-
ler waren, brachten es nie soweit, am wenigsten in den Wer-
ken des Geschmacks. Die Griechen trafen beinahe in der Bild-
hauerkunst, die sie nur roh aus Ägypten bekamen, die zum
Grunde liegende Idee. Aber es ist auch wahr, daß die mysti-
sche Religion viel zur Vollkommenheit derselben beigetragen
hat, sowie überhaupt eine bilderreiche Religion, die am Sinn-
lichen klebt, zur Beförderung der Künste viele Vorteile gibt.
Sie hatten viele Götter, also auch viele Urbilder, einen
/|P_313
/Donnergott, einen Bacchus, der aber in einer sehr schönen Ge-
stalt präsentiert wurde und nicht wie heutzutage, eine Bellona
(die kriegerische Wut), Minerva (die kriegerische Klugheit),
Juno, Venus (übertraf alle an Schönheit), lauter verschiedene
Ideale. Sie hatten drei Weltalter angenommen: 1. die Zeit des
Saturn, da das goldene Zeitalter war, 2. die Zeit des Jupiter,
das silberne, da Gewalttätigkeiten im Schwange gingen, 3. das
eherne, die Zeit des Bacchus, wo die Menschen fröhlich und
guter Dinge sein sollten.
/ Daß man es heutzutage in der Malerei etwas weitergebracht
daran ist die Erfahrung der Perspektive und der Ölfarben, von
denen die Griechen nichts wußten, die Ursache. Man hat ge-
wisse alte Gebäude, als die Nerisden in England u. d. m., von
denen man sagt, daß sie in gotischem Geschmack gebaut wären.
Man findet viel Edles in der Bauart, und es ist daher wohl
nicht einer so rauhen Nation zuzuschreiben, daher auch einige
die Mauren für deren Verfertiger halten. Man sagt, die Barba-
ren hätten den Geschmack verwüstet. Allein er war schon vor-
her zugrunde gegangen. Der orientalische Geschmack ist von
ganz anderer Art und man muß ihn in keinem Stück nachahmen,
auch nicht im Schreiben. Die vielen Bilder in der Sprache zei-
gen ihre Unwissenheit an. Die englische Sprache ist auch von
dieser bilderreichen Beschaffenheit. Ein Bild, das einen Begriff
anschauend macht, ist fürtrefflicher, als eine richtige Ver-
gleichung. Das Bild aber muß als eine Folge der Idee angese-
hen werden. Die Vernunft braucht die Sinnlichkeit so wie
große Herren ihre Bedienten. Allein die Morgenländer setzen
die Sinnlichkeit an die Stelle der Vernunft. Je weniger Begrif-
fe man hat, desto mehr braucht man Bilder und Ähnlichkeiten.
Je länger eine Nation im rohen Zustande ist, desto bilderrei-
cher ist sie. Denn sie lernt nicht abstrahieren. Daher kommt
es, daß die Wilden in lauter Bildern reden. Sie sind wie
Leute, die viel mit den Händen fechten, aber mit dem Munde
nicht zurechtkommen können.
/ ≥ Noch etwas von der vernünftigen Urteilskraft. ≤
/ Die Beurteilung, ob etwas vollkommen oder unvollkommen,
gut oder böse ist, das Urteil dieser vernünftigen Urteilskraft
muß für alle gelten, daher man auch gute und böse Maximen,
d. h. Principia der Beurteilung a priori geben kann. Um aber
zu bestimmen, was schön oder häßlich ist, müssen wir viele
Erfahrungen haben, d. h. wir müssen es a posteriori herleiten.
Etwas ist vollkommen entweder in Beziehung auf einen andern
Zweck oder für sich selbst. Jenes macht die mittelbare Bonität
oder die Nützlichkeit, dieses die unmittelbare Bonität aus.
Es ist die Tugend im ganzen betrachtet immer nützlicher, als
das Laster. Denn ich bin versichert, daß wenn ein jeder
Mensch 100 Jahre leben möchte, alle Schelme zuletzt an den
Galgen kämen und alle Tugendhaften zuletzt zu Ehren kommen
möchten. Da nun aber ihre Lebenszeit kürzer ist, so kommen
sie nicht an den rechten Mann, der die Tugendhaften zu beloh-
nen und die Lasterhaften zu stürzen suchen möchte. Außer der
Nützlichkeit hat die Tugend einen innern Wert, eine unmittel-
bare Bonität und ist achtungswert. Die Dinge außer dem Men-
schen sind unmittelbar gut. Das Gute, was wir beurteilen sol-
len, kann gut sein entweder nach logischen Regeln, d. i. wahr,
oder nach praktischen Regeln, d. i. brauchbar, es dient zur
Vollkommenheit. Weil unsere Vernunft nichts desto weniger
/|P_314
/wirkt, ob wir uns gleich ihrer Tätigkeit nicht bewußt sind,
so kommt es, daß wir bisweilen durch Vernunft urteilen, wo
wir durch Sinnlichkeit glauben geurteilt zu haben und es an-
zuschauen gedenken. Dies nennt man Sentiment. Wir haben also
auch ein Sentiment der gesunden Vernunft, welches man an
Voltaire am meisten bewundern muß. Das Sentiment ist in An-
sehung des Guten das, was gustus in Ansehung des Schönen ist. Bei
Dichtern fordert man ein Urteil, was neben der Sinnlichkeit
ist. Die Franzosen haben nicht soviel Sentiment, als die Eng-
länder. Das Sentiment gehört nicht zur Vollkommenheit des Ge-
schmacks.
/ NB. Der dritte Teil der Elementarlehre handelt von
Begehrungsvermögen.
/ ≥ Drittes Stück: Vom Begehrungsvermögen ≤
/ Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch Gegenstände
Ursache zu unseren Vorstellungen in uns zu bekommen. Es ist
das Vermögen durch seine Vorstellungen zu erkennen, daß Ge-
genstände die Ursache zu unsern Vorstellungen sind. Z. B. bläst
jemand in ein Posthorn, so ist dieser Gegenstand die Ursache zu
unserer Vorstellung. Die Vorstellungen bestimmen unsere tätige
Kraft zur Hervorbringung des Gegenstandes und dann das Begeh-
ren. Alle unsere Begierden beziehen sich auf Ähnlichkeiten,
und die nicht dahin abgezielt sind, werden Wißbegierde oder
leere Begierde genannt. Das Begehrungsvermögen ist also die
Bestimmung einer Kraft gewisse Gegenstände hervorzubringen. Es entstehen
daher Wünsche und Sehnsüchte. (Wenn ein Wunsch im Affekt geschieht,
so heißt er Sehnsucht.) Nichts erschöpft das Gemüt so
sehr, als leere Wünsche und Sehnsuchten, bei denen wir bewußt
sind, daß wir die Kraft nicht haben, uns den Gegenstand zu
verschaffen. Sie machen das Herz welk, besonders in Ansehung
der Zukunft. Z. B. jemand hat ein Los in der Lotterie. Nun
wünscht er immer, bald einen Gewinn zu erhalten, obgleich er
weiß, daß die Post darum nicht eher als gewöhnlich ankom-
men kann. Hierher gehören die Wünsche der künftigen Zeit. Die
leere Reue kommt sehr damit überein. Der Wunsch, daß etwas
ungeschehen sei, ist ein leerer Wunsch. Dennoch brüten gute
Personen über der Reue.
/ Durch phantastische Objekte werden leicht Sehnsuchten
erregt. Mit Recht würden sie unsere Begierde hervorbringen,
wenn es möglich wäre, sie zu erreichen. Dies ist aber nie bei
phantastischen Vorstellungen möglich. Phantastische Vorstel-
lungen bringen Dinge hervor, die nie geschehen können. Das
weibliche Geschlecht hat viele leere Sehnsuchten. Die Romane
sind nichts als leere Wünsche und das Herz welk machende
Sehnsuchten. Denn man findet kein Adaequat der Idee, immer
ein unerreichbares Hirngespinst. Es gibt vage und unbestimmte
Begierden, da uns immer unser Zustand verdrießlich ist, und
wir in einen andern übergehen wollen. Gewöhnlich kommt dies
aus der Langeweile oder aus dem Zustande des abgestumpften Ge-
nusses, des Ekels und Überdrusses an Gegenständen. Diese
Langeweile beherrscht die vornehmen Weiber unter dem Namen
vapeurs. Sie wünschen in solchem Zustande etwas und wissen
nicht wozu. Sie sind so wie die kleinen Kinder, wenn sie grin-
sen, und sollten wie jene die Rute bekommen. Die Langeweile
bringt eine Menge von Ausschweifungen hervor. Der Mensch, der
immer genießen will, kann nicht der Langeweile entrinnen.
/|P_315
/Der Mensch muß sich pflichtmäßige Geschäfte auflegen las-
sen, nicht sich selber auflegen. Denn er muß in Zwangsge-
schäften sein. Von den willkürlichen kann man sich selber
lossprechen. Die erste Wirkung der Langeweile ist Spiel,
weil es durch den Wechsel der Gegenstände die Zeit vertreibt
durch Zerstreuungen. Zweite Wirkung: die Gewohnheit zu star-
ken Getränken, Tabakrauchen, Gesellschaften, Kaffeehäusern
usw. Mittel wider die Langeweile kann man auf die Art Arz-
neimittel für die Krankheiten des Gemüts nennen.
/ Wenn die Begierden von der Art sind, daß sie uns den
Gegenstand als entbehrlich vorstellen, so heißen sie freie
Begierden. Wir nennen die Begierden Neigungen, wenn wir im-
mer in ihren Fesseln sind. Neigung ist habituelle Begierde.
Z. B. Ein Mensch hat Neigung zu Blumen, zu Musik, Komödie
ist ihm unentbehrlich geworden, so ist er, wenn er sich gar
nicht ohne eine solche Sache behelfen kann, ein Sklave der-
selben, und dies macht ihn natürlicherweise sehr oft unglück-
lich. Finden wir aber an dergleichen Dingen dergestalt Ver-
gnügen, daß wir sie auch entbehren können, so ist dies ein
Zusatz zu unserm Glück.
/ Manche Menschen befinden sich in einem Zustande, wo sie
sich keiner Empfindung bewußt sind. Sie sind capable viele
Stunden lang am Fenster zu stehen, die Leute vorbeipassieren
zu sehen und eine Pfeife Tabak zu rauchen. Nicht selten brin-
gen sie ihr ganzes Leben so hin, ohne sich desselben bewußt
zu sein. Diese Leute glauben recht ordentlich zu leben und
wissen nicht, daß das Leben gar nicht allein darin besteht,
daß man seinem Körper die nötigen Nahrungsmittel reicht.
Dagegen gibt es andere Charaktere (die besonders den Reichen
eigen sind). Diese sind voller Sehnsucht, unruhig und voller
Verdruß, ohne zu wissen, was sie begehren. Sie sind voller
Grillen. Demnach ist der Zustand der erstern, die glückliche
Gedankenlosigkeit, besser als der Zustand der letzteren.
Diesen Zustand der üblen Laune nennen die Franzosen vapeurs
beim Frauenzimmer.
/ Die Menschen sind so beschaffen, daß manche sich an
Einförmigkeit, andre an Wechsel, noch andre an Genuß gewöh-
nen. Ein Mensch aber, der sich an eine immerwährende Ab-
wechselung des Vergnügens oder an eine unermüdete Geschäf-
tigkeit gewöhnt hat, und auf einmal in die Einsamkeit gerät,
der wird nicht allein durch Langeweile, sondern auch
durch beständige Wünsche ohne Gegenstand gequält. Der Mensch
kann sich an alles gewöhnen, doch aber hat er auch einen
Hang zur Einförmigkeit oder auch zur Abwechselung, daher
auch einige, wenn sie zu Hause sind, und nicht Abwechselung
haben, unruhig sind. Es zeigt aber schon eine Krankheit an,
wenn der Mensch wünscht und es fällt ihm nicht ein, wonach
er sich sehnt. Dies ist der grillige Zustand, der sehr ge-
fährlich ist. Die desperaten Selbstmorde sind oft Wirkungen
dieses sehnsuchtsvollen Zustandes gewesen. Es haben sich
Menschen das Leben genommen, weil ihre Fähigkeit zu ge-
nießen, unerachtet alles Vermögens sich Genuß zu verschaf-
fen, stumpf geworden. Daher sagt ein gewisser Autor: der
Engländer hänge sich auf zum Zeitvertreibe. Wenn der König
von Persien eine gewisse Prämie auf die Erfindung eines
neuen Vergnügens setzte, so ist dies gewiß Zeichen eines
Unglücks. Ein Lord in England erschoß sich und man fand
auf seinem Tisch ein Billet folgenden Inhalts: Alle Tage
/|P_316
/spielen, schmausen, reiten, in Kutschen fahren, Maitressen
karessieren, auf Bälle und in Komödien gehen, ist immer die-
selbe Abwechselung in der Welt. Man muß in eine andre gehn
und neue Abwechselung suchen. Diese Abwechselung hätte man
ihm auch nicht verdacht, wenn er nur wiedergekommen wäre.
/ Wenn die Fähigkeit zu genießen matt wird, woher bei
manchen Leuten die Zeit zwischen der Mittags- und Abendmahl-
zeit verlorengeht, so ist diese Krankheit nicht anders zu
heilen, als durch Geschäfte, wenn man sie auch mit Zwang tut.
Wird dies Mittel nicht gebraucht, so verliert der Mensch
endlich allen Geschmack an Vergnügen. Das Lesen füllt den
Raum auf keine Weise aus, wenn man nicht eine Absicht dabei
hat. Ein jeder Mensch hat die Aussicht, erst was zu lernen,
um ein Amt zu bekommen, hernach eine Frau zu nehmen und sich
dann zur Ruhe zu begeben. Faulheit ist also die letzte Aus-
sicht, die ein Mensch intendiert. Derjenige, der sich selbst
Arbeit auflegt und soviel arbeitet als ihm beliebt, der ar-
beitet gar nicht, sondern das heißt nur occupatio in otio.
Es muß demnach ein jeder Mensch zur Arbeit gezwungen sein
und folglich muß seine Bemühung eine beschwerliche sein und
auf eine solche folgt Ruhe des Gemüts. Daher kann ein Kaufmann
nach dem Posttage, da er vormittag viel zu tun hat, den Nach-
mittag am vergnügtesten zubringen. Ein Mensch mag studieren,
wie er will, er kann doch nicht vergnügt sein, wenn er nicht
eine zweckmässige Arbeit hat. Denn da wir durch die Arbeit
unsere Gefäße vom Nervensaft ausleeren, so werden selbige
bei unserer Ruhe wieder gefüllt, welches eben das Vergnügen
herfürbringt. Man wünsche sich also nie in die Ruhe und Muße,
sofern man sich nicht dabei eine gezwungene Arbeit zum voraus
besorgt. Denn sonst verfällt man in den verzehrenden Zustand
der Grillen und Sehnsucht. (Der launische Zustand, von dem
wir vorhin geredet haben, ist voll von Sehnsucht.) Die täti-
gen Begierden, die den müßigen (leeren) entgegengesetzt wer-
den, gehen darauf, das, was in meiner Macht ist, zu erlangen.
Die müßigen Begierden werden gereizt 1. durch ein vorgemal-
tes Idealglück, 2. durch Beschäftigung mit einem wahren
Ideal. Dies geschieht von denjenigen, die von nichts als von
Vollkommenheit und Tugend reden und schreiben, aber niemals
bemerkt haben, wie groß der Grad der Tugend sei, dessen ein
Mensch fähig ist. Hierin hat Gellert gefehlt. Denn er bläht
das Herz gleichsam mit moralischer Würde auf und redet von
nichts als von Wohlgewogenheit, Menschenliebe, Mitleiden und
von einer aufsteigenden Träne bei Erblickung eines Notleiden-
den. Aber er bemerkt nie, ob seine Forderung auch dem mensch-
lichen Vermögen angemessen ist. Man setze nun einen Menschen in die Welt,
der von allem diesem unterrichtet ist, und man wird finden, daß
man einen solchen Charakter zwar bewundert. Allein er häsi-
tiert, wenn es zur Ausübung kommt. Solche Menschen sagen
gemeiniglich: Wenn ich viel Geld hätte, wie gerne wollte ich
es mit den Armen teilen! und mit welchem Vergnügen wollte ich
die Armen unterstützen! Kommen sie aber zum Vergnügen, so
heißt es: Es wird mir niemand verargen, daß ich gemächlich
leben will. Ich muß Wagen, Pferde usw. kaufen, und dann
bleibt für die Armen nichts übrig. Erlangt er weitläuftige
Landgüter, so denkt der Reiche sich in den Grafenstand er-
hoben zu sehen, und hier fordert es freilich die Ordnung,
daß man anständig leben muß, und wo will da für die Armen
/|P_317
/etwas bleiben. O, die hartherzigen Reichen! Gellert flößt
also Bewunderung solcher mitleidigen Charaktere, aber nicht
wahre Menschenliebe ein. Im Hamburger Magazin findet sich
eine schöne Anekdote dieser Art. Sie wird von zwei Vertrau-
ten erzählt, die sich von der niedrigsten bis zur höchsten
Stufe emporgeschwungen und dennoch in allen ihren Lebensum-
ständen geklagt hätten, daß sie nicht mit genugsamen Lebens-
gütern versehen wären. Um also eine komplette Bequem-
lichkeit zu bewirken, nahmen sie als Räte zu Betrügereien und
Bänken ihre Zuflucht, die sie auch wirklich zufrieden stell-
te. Allein man schlage nur verbotene und gesetzwidrige Wege
ein, so wird die Verräterei nicht fern sein. Der Ausgang
zeigt es. Sie wurden entdeckt, und sie mußten den Rest ih-
rer Jahre im Zuchthause zubringen. Hier zeigte es sich, daß
sie genug zu leben hatten. Die Menschen werden durch ihre
müßigen Begierden oft hintergangen, z. B. in Ansehung der
Frömmigkeit, und halten sich oft, durch den Wahn betört, für
wirklich gute Menschen. Da der Mensch überzeugt ist, daß
ein Gott sei, und daß es sich gezieme ihn zu ehren, und
fürchten zu können, so wünscht er dies recht inniglich, ja
er äußert es wohl mit Worten, die dem Anschein nach aus
gutem Herzen fließen, und nun bildet er sich schon ein, er
fürchte Gott, geht an seine anderweitigen Geschäfte und
glaubt nun schon genug getan zu haben. Aber der beste Pro-
bierstein hiervon ist, daß man auf sein Leben sehe, und
dies wird uns seinen Seelenzustand schon sichtbar machen.
Denn gemeiniglich sind solche Leute nicht zu Hause, wenn es
auf Gehorsam gegen Gott, Beobachtung seiner Gesetze und
darauf ankommt, daß er seinen Nebenmenschen diene. Dieser
Unterschied zwischen tätigen und müßigen Begierden ist
sehr wichtig. Denn man hat schon gemeinhin eine große Mei-
nung von sich, wenn man auch nur bloße Wünsche nach etwas
Gutem nährt, und hält gute Wünsche schon für guten Willen,
da doch gute Wünsche nur ein Verlangen nach gutem Willen
sind. Auch bringt das Wort schon viele leere Wünsche her-
für. Es ist daher besser, standhaft, zufrieden und hart zu
sein, als ein gar zu weichliches Herz zu haben. Ich verlange
nicht, daß andere Leute mit mir Mitleiden haben, sondern
ich werde mein Unglück und Elend schon allein zu tragen suchen.
Will mir jemand seine Affekte zeigen und mir helfen, so neh-
me ich's freudig an. Kann er also, so muß er helfen, ohne
zu weinen. Kann er es aber nicht, so trifft die Meinung der
Stoiker ein: Sei nicht ein Spiel der Empfindungen anderer,
sondern suche deinem Freund zu helfen, geht's nicht an, so
kehre dich um und sei hart. Menschen, die müßige Begierden
nähren, sind gemeinhin verdrießlich. Sie wünschen und
nichts ist ihren Wünschen gemäß. Da nun aber in der Welt
nichts unseren Wünschen entspricht, so ist's am besten,
daß man seinen Willen nach dem Lauf der Dinge zu richten
und zu stimmen suche. Denn volentem fata ducunt nolentem
trahunt. Der Lauf der Dinge wird durch unsern Willen nicht
gehemmt, er reißt uns mit, wenn wir uns ihm gleich wider-
setzen. Ein hartnäckiges Wollen aber zerreißt das Herz
mit leeren Begierden, und dies sind eben die heftigsten,
weil wir unser Unvermögen fühlen. Denn wir sind nie mehr
aufgebracht, als über einen Menschen, dem wir nicht schaden
/|P_318
/können, weil wir zu unvermögend dazu sind und dennoch wollen.
Die desideria der Alten bedeuten eine wunderbare Sehnsucht
nach Dingen, die schon geschehen. Nos omnes cepit desiderium
defuncti. Ein Mensch kann begehren und doch zufrieden sein,
wenn er seine Begierden nur für entbehrlich hält.
/ Wir können unsere Begierden in sinnliche oder niedere
und in intellektuelle oder obere einteilen. Die sinnlichen
entspringen aus der Vorstellung des Angenehmen und Schönen.
Sie sind unwillkürlich und heißen Triebe. Die intellektuellen
entstehen aus der Vorstellung des Guten und Bösen. Die sinn-
lichen entspringen also aus der Art, wie man affiziert wird.
Hang ist keine wirkliche Begierde, sondern ein Grund, warum
eine sinnliche Begierde beim Menschen entstehen kann, und
woraus eine Neigung bei ihm entspringt. Daß Menschen Instinkt
haben, ist nicht ihre Schuld. Aber wegen der Neigungen haben
sie sich selbst anzuklagen, da man doch nach Grundsätzen han-
deln sollte. Alle Neigungen setzen mich in Sklaverei, und
ich habe immer die Hände voll zu tun, um meinen Neigungen zu
widerstehen. Triebe werden nicht zur Neigung außer durch
Nachsicht und Mangel des Verstandes. Sie sind aber deshalb
nicht zu verwerfen, sondern gleichsam ein Wink der Natur, wo-
durch sie uns zu etwas einladet. Auch zum Guten muß man Nei-
gung haben. Man muß aber den Urteilen des Verstandes und
nicht den Neigungen folgen. Einige Menschen fassen geschwind
zu etwas Neigung. Aber sie verliert sich auch bald. Denn ein
Baum, der lange Zeit währen soll, muß lange wachsen. Derje-
nige, dem kein Ding einen Trieb verursacht, heißt unempfind-
lich. Man sagt dies besonders von den Indianern in Nordameri-
ka und von den Negern. Es ist aber gut, daß der Mensch emp-
findsam ist. Denn alles ladet ihn zum Gebrauch der Dinge ein,
die um ihn liegen. Aber er muß der Vernunft folgen und diese
Triebe nicht zu Neigungen werden lassen, sondern wie Feinde
seiner Freiheit fliehen und an keiner Sache aus Neigung kleben.
Die Menschen trauen sich in Ansehung der Grundsätze wenig zu.
Daher wünschen sie sich Neigungen. Wenn man aber auch einen
Menschen hochschätzt, der nach Grundsätzen handelt, so ist
man doch wenig mit ihm zufrieden, wenn er nie aus Neigung
handelt. Wie würde sich z. B. eine Frau gebärden, wenn sie
wüßte, daß der Mann ihr bloß darum beiwohnte, um
den Stand der Ehe zu erfüllen, nicht aber aus Neigung. Indes
bestätigt doch die Erfahrung, daß diejenigen Ehen, die einige
bloß einer regelmäßigen Wirtschaft wegen eingegangen
sind, viel dauerhafter, als alle enthusiastischen sind. Denn
solche enthusiastischen Flammen sind allemal Vorboten einer
unglücklichen Ehe gewesen. Ein Mann hingegen, der der Wirt-
schaft wegen heiratet, erzeigt seiner Frau die gebührende
Achtung, und mit der Länge der Zeit findet sich auch Neigung
ein. Indes wünscht man immer die Neigung, weil man die Tier-
heit am Menschen für stärker hält, als das Intellektuelle.
Bei den Begierden finden folgende Stufen statt: Hang, Instinkt,
Neigung und Leidenschaft.
/ 1. Der Hang ist eigentlich nur eine Rezeptivität (Emp-
fänglichkeit) einer Begierde, er ist der Neigung fähig, wenn
nur die Umstände danach wären, es fehlt nur an Gelegenheit.
Der Mensch hat oft einen Hang zu etwas, wozu er noch keine
Neigung hat. Z. B. Wilde Nationen, als die Grönländer, da sie
in ihren Ländern nichts haben, was berauschen kann, haben
dennoch einen Hang sich zu berauschen. Denn wenn sie einmal
kosten, so entspringt der Hang und der Hang wird zur Neigung.
/|P_319
/Alle Menschen haben einen Hang zum Herrschen. Bei Kindern ist
oft der Hang zum Bösen, wenn sie auch keine Neigung dazu ken-
nen, und solche Kinder kann man daher unschuldig nennen, in
Ansehung des Facti, aber nicht des Charakters. Diesen Hang
rechnet man mit zum Temperament. Man kann ihn aber bei frühe-
ren Jahren zurückhalten und auf Gegenstände von Wichtigkeit
lenken. Jedes Geschlecht hat einen Hang zum andern. Man sagt
aber unrecht: Der Mensch hat eine Neigung zum Bösen. Denn er
hat nur Hang dazu, und wenn ihm wäre vorgebeugt worden, so
könnte die Neigung abgehalten werden. Die heißt soviel: Se-
hen wir den Menschen in manchen Umständen, so können alle Tu-
genden, sie mögen so groß sein, als sie wollen, gestürzt
und die größten Laster erweckt werden. Wie wenig Ursache hat
also ein Mensch, sich über andere zu erheben! Denn daß einer
zum Galgen geführt wird, der andere die höchste Ehrenstufe
erreicht, kommt vielleicht bloß von der Erziehung her, indem
der erstere Gelegenheit gehabt, seinen Hang zum Bösen in Aus-
übung zu bringen, da er hingegen beim letzteren erstickt wor-
den ist oder auch anders gelenkt ist. Denn der erste Hang des
Menschen ist jederzeit tierisch, er muß zum wahren Zweck ge-
lenkt werden. Der Hang ist eine hypothetische Möglichkeit zur
Begierde, denn man hat zu derselben noch keine Empfindungen.
/ 2. Der Instinkt (Trieb, stimulus) ist eine wirkliche Be-
gierde, aber zu einem Gegenstande, den wir noch nicht kennen,
wo uns aber die Begierde antreibt ihn zu suchen. Z. B. der
Naturtrieb zum andern Geschlecht. Die Enten gehen nach dem
Wasser, ohne daß sie das Wasser weiter kennen. Instinkt also
der Grund der Begierde, der der Kenntnis des Gegenstandes vor-
angeht. So hungert einen Menschen, wenn er gleich nie Essen
gesehen hat. Der Trieb ist der Grund des Ursprungs einer sinn-
lichen Begierde und durch den Trieb (Instinkt) wird der Mensch
zur Begierde gereizt, aber man begeht noch nichts. Die Gründe
von dem Instinkt sind also Subjekte. Die Triebe sind beim
Menschen oft wegen Mangel der Vernunft sehr nötig. Aber die
Natur gibt uns Triebe, wo die Vernunft vielleicht zu schwach
ist, den Menschen zu überreden. Wenn wir z. B. bei der Ge-
schlechtsneigung nicht Triebe hätten, wie wenig würde die Welt
bevölkert sein! Alle Triebe zusammengenommen machen das
Fleisch, die Bewegungsgründe der Vernunft aber den Geist aus.
Diese streiten oft widereinander. Da nun aber alle Triebe
blind sind, so müssen sie von der Vernunft im Zaum gehalten
werden. Die Natur hat uns Triebe zur Fortpflanzung unseres
Geschlechts und ebenso den Eltern für das Wohl ihrer Kinder
zu sorgen gegeben (man könnte wohl sagen Neigung, aber es ist
wirklicher Instinkt, denn die Neigung hängt nicht von der Er-
kenntnis ab), aber nicht umgekehrt. Die Kinder haben Triebe
für ihre Eltern, es sind nur Triebe der Reflexion, der Dank-
barkeit. Ebenso ist es auch bei den Tieren. (NB. schon oben
ist die harte Meinung des Helvetius, warum Großeltern ihre
Enkel mehr als ihre Kinder lieben, angeführt.)
/ 3. Neigung ist eingewurzelte habituelle Begierde, die
den Gegenstand (da er zu unserer Zufriedenheit un-
entbehrlich wird) zur Notwendigkeit (Bedürfnis) macht, und
zwar im kleineren oder größern Grade. Neigung ist ein Grund
von dauernden Begierden. Ein Antrieb ist keine Neigung, son-
dern dadurch, daß man diesem Antrieb oft folgt, bekommt man
/|P_320
/erst einen habitus und so entsteht Neigung. Neigung in dem
Begehren ist ein sinnliches Begehren, indem wir abhängig
vom Gegenstande werden. Z. B. Liebe ist Neigung zum Wohl-
wollen gegen eine Person. Sie kann aber entweder intellek-
tuell, bloß Erkenntnis und Wohlgefallen des Gegenstandes
oder sensual sein, wenn auch der Genuß damit verbunden ist.
Man könnte jene die theoretische, diese die praktische Liebe
nennen. Die Liebe gegen Arme beruht auf Denkungsart, die
Liebe der Eltern gegen ihre Kinder auf Neigung oder gar In-
stinkt. Ein Bedürfnis ist ein Verlangen nach etwas, dessen
Abwesenheit uns unzufrieden macht. Wenn man aber etwas in
der Form des Entbehrlichen begehrt, so ist dies keine Nei-
gung. Denn durch Neigung wird man gefesselt. Und es ist da-
her ratsam, daß kein Mensch, am wenigsten ein Philosoph,
sich durch Neigung an eine Sache hänge, sondern lediglich
durch Bewegungsgründe. Es kann eigentlich keine Neigung auf
etwas Gutes gehen, obgleich unsere Neigung auf etwas gerich-
tet sein kann, was auch gut ist, denn sie ist doch nie auf
die Bonität gerichtet. Die Vernunft allein enthält die
Gründe, wodurch wir zu etwas Gutem bewogen werden. Zum Guten
müssen wir vernünftige Maximen haben. Aber es ist auch oft
zuträglich, daß wir uns das Gute in einem sinnlichen vorteil-
haften Lichte vorstellen und zugleich die Neigungen excitieren,
weil wir nicht bloß Vernunft, sondern auch Neigungen haben,
die befriedigt werden wollen. Es kann aber der Mensch nicht
nur ohne, sondern auch wider die Neigung handeln. Ja er re-
flektiert zuweilen darüber und wünscht andere zu haben. Die
Neigungen sind also kein Fundament des menschlichen Begeh-
rungsvermögens, ob sie es schon vom tierischen sind. Eine
Frau aber würde mit ihrem Manne nicht zufrieden sein, der
sie aus Pflicht - die, wie man sagt, ohne Affektion ist -
lieben und ehren wollte, sie verlangt eine blinde Neigung.
Denn wenn er durch Vernunft urteilt, so bemerkt er zu leicht
ihre Fehler und Unvollkommenheiten und ist zu scharfsichtig.
Und eben daher ist er nicht so gut zu regieren, wie einer,
der durch die Neigungen blind ist. Ein Kind sollte man so
gewöhnen, daß es weder zum Frühstücksessen noch zum frühen
Schlafengehen noch zu sonst etwas Neigung hätte, sondern
bloß natürlichen Trieb, damit es im Alter nicht durch Nei-
gungen regiert würde. Denn diese unterjochen den Menschen
und schränken die Macht seiner vernünftigen Beweggründe ein.
Und in der Tat macht nicht der Mangel der Sachen, sondern
die Neigung zu Dingen, deren man nicht habhaft werden kann,
den Menschen unzufrieden. Die Neigung ganz von Erkenntnis
entblößt ist appetitus brutalis, und es ist daher wunder-
lich, daß einige Moralisten Neigung zum Guten annehmen.
/ Jede Neigung, die so groß ist, daß sie uns unfähig
macht, ihr Verhältnis mit der Summe aller Neigungen zu ver-
gleichen ist.
/ 4. Leidenschaft. Denn beim Wohlbefinden kommt es dar-
auf an, daß man einen Gegenstand mit der Summe aller Neigun-
gen vergleiche. Bei der Leidenschaft aber folgt man bloß
einer Neigung. Z. B., man liebt ein Frauenzimmer nicht wegen
ihrer Schönheit oder etwas Andern, sondern um sie zu besit-
zen. Ein Mensch kann lieben, ohne verliebt zu sein, und
diese Liebe, obwohl sie kaltblütig zu sein scheint, ist ge-
meinhin die dauerhafteste. Denn sie erlaubt uns reife Über-
legungen über die Vorzüge oder Mängel der Person, d. h. ob die
/|P_321
/Person in guten Umständen sei, von guter Familie herstamme,
ob sie gefällig, aufrichtig, tätig und keine von den schmach-
tenden Romanschönen sei, ob sie eine gute Wirtin und ver-
nünftige Mutter sein werde usw. Schon in dem Begriff
eines Verliebten liegt die Torheit desselben. Es gibt auch
eine Rachbegierde von der Art, da der Mensch noch Zeit zur
Überlegung hat, ob es auch in seiner Gewalt stehe, den An-
dern seinen Zorn empfinden zu lassen, oder ob er auch selbst
Gefahr laufe zu unterliegen. Insofern liegt aber die Torheit
eines Verliebten schon in terminis, daß er eben dadurch
seine Torheit für nichts achtet, oder sie gern verliert, wenn
er seine Schöne nicht heiraten kann, und daß er alle unge-
reimten Befehle seiner Geliebten, bloß um ihr zu gefallen,
ausübt. Denn blind oder in Leidenschaft sein ist einerlei.
Pope hat hierüber eine hübsche Komödie geschrieben. Sie ist
betitelt Januarius und Maja. Hier weiß die Frau dem Mann
(welche mit eigenen Augen gesehen hatte, wie seine Frau einen
andern Liebhaber karessiert) das Ding so auszureden, daß er
schon zweifelte, ob er mehr seinen Sinnen oder den Worten sei-
ner Frau trauen sollte.
/ Die Leidenschaft wird oft mit dem Affekt verwechselt,
so groß auch der Unterschied ist. Der Affekt ist eine Ge-
mütsbewegung und der Einfluß einer Vorstellung, ein Gefühl
des gesamten Lebens zu erwecken. Affekt ist die Gemütsbewe-
gung, welche macht, daß wir nicht in unserer Gewalt sind,
die uns außer Fassung bringt. Es ist die Empfindung, welche
das Gemüt außerstand setzt, das Gefühl mit der Summe alles
Gefühls zu vergleichen. Wie es zugeht, daß der Mensch in
Affekt kommt, ist nicht zu erklären, aber wohl zu beschrei-
ben. Anmerk. In den Nerven liegt unser körperliches Gefühl.
Manche Nerven haben Knoten, besonders die, welche zu den Mus-
keln und der Lebensbewegung hingehen. Die Knoten halten die
Nervenbewegung auf. Daher scheint es, daß der Affekt durch
die Knoten bricht, und wenn dies sehr plötzlich geschieht,
capable ist, die ganze Maschine über den Haufen zu werfen.
/ Wenn wir hier vom Affekt reden, so reden wir vom Gefühl
und nicht vom Begehrungsvermögen. Wir reden von ihm an die-
sem Orte, weil er hierher am besten paßt, indem er mit Nei-
gung und Leidenschaft zu vergleichen ist. Leidenschaft ge-
hört aber zur Begierde. Affekt ist gleichsam eine Bewegung
wie im Sturm oder eine Überschwemmung und Durchbruch eines
Damms. Leidenschaft aber ist wie ein Strom, der auf abschüs-
sigem Boden immerwährend fortfließt. Der in Affekt sowohl als
der in Leidenschaft ist, kann sich nicht regieren. Aber der
letztere kann wohl alles überlegen. Wenn das Böse bei einem
zur Leidenschaft wird, so ist es eingewurzelt und
von Dauer. (Z. B. der Geiz - da brütet der Geizige über der
Erhaltung seines Vermögens.) Was aber der Affekt nicht in
der Geschwindigkeit tut, tut er gar nicht. Wenn der Mensch
beim Zorne beredt schimpft, so ist er nicht so sehr zornig,
als der welcher abgebrochen spricht. Wenn der Zornige sich
setzt, dann ist gute Zeit. Er kann nicht mehr so zornig sein,
als wenn er steht, indem er gleichsam nicht in der rechten
Positur zum Schlagen ist. Wenn man also seinem Rasen ein Ende
machen will, darf man ihn nur höflich zum Sitzen nötigen.
/|P_322
/Mancher mag gern nach dem Essen schelten und zürnen. In
manchen Fällen scheint der Zorn wegen der innern Motion heil-
sam zu sein. Läßt man nämlich den Zürnenden so recht aus-
reden, so freut er sich ordentlich über seine gewählten Aus-
drücke, bekommt auch wohl gar eine Wohlgewogenheit gegen den
andern, wenn er ihm nicht widerspricht, sobald aber dies ge-
schieht, wird der Zorn schädlich. Der Zornige ist bald ver-
söhnt, der Rachbegierige spät. Die Leidenschaften sind grä-
misch, brütend, grübelnd, die Affekte stürmisch. Wo viel
Affekt ist, ist wenig Leidenschaft, und große Leidenschaften
verstatten keinen Affekt. Die Inder haben mehr Leidenschaft
als Affekt. Die Franzosen umgekehrt (bei ihnen wenig Liebe,
viel Galanterie). Eben daher aber scheint in Hindostan viel
Selbstbeherrschung zu sein, nämlich aus Mangel an Affekt.
Der Affekt ist gleichsam ein Rausch, den man ausschla-
fen kann, von dem man aber Kopfweh bekommt. Ira furor brevis
est. (Zorn ist eine kurze Raserei.) Die Leidenschaft ist ein eingewurzelter Wahnsinn. Der
Affekt macht blind, Leidenschaft sehend - aber nur in Anse-
hung eines Einzigen. Ein Affekt läßt sich nicht verhehlen.
Leidenschaften verhehlen sich aber gern. Affekte sind so be-
wandt, daß sie eine Wiederholung desselben Affekts hinter
sich lassen. Sich ärgern heißt einen Unwillen worüber emp-
finden (dessen Nachgefühl schmerzlicher als die Empfäng-
lichkeit selber ist), der auch nachher bis ans Herz dringt
und ein unangenehmes Gefühl hinter sich läßt. Man kann zür-
nen, ohne sich zu ärgern, betrübt sein, ohne sich zu grämen.
Lebhaftigkeit muß unterschieden werden vom Affekt. Das, was
bei den Franzosen Affekt ist, ist bisweilen Lebhaftigkeit.
Die französischen Schauspieler exzellieren in Aufführung von
Tragödien, die englischen hingegen zeichnen sich bei Komö-
dien aus. Dies kommt daher, weil der Schauspieler bei der
Vorstellung nie in Affekt sein muß, weil der Affekt die
Äußerung in Worten hindert. Und beide Nationen können wegen
ihres Temperaments agieren (nämlich die Franzosen Tragödien,
die Engländer Komödien), ohne das, was sie sagen, innerlich
zu fühlen. Man kann schelten, ohne zornig zu sein, karessie-
ren, ohne verliebt zu sein, traurig, ohne betrübt, scherzen,
ohne lustig, in summa rühren ohne gerührt zu sein, und diese
Talente muß ein acteur haben, wenn er es weit bringen will.
/ Das Gemüt in Bewegung fühlt sich seiner Meinung nach
stark, wenn die Bewegung aber vorbei ist, desto schwächer.
Gewöhnlich sind Affekte wacker, einige erhebend, verzwei-
felnd und niederschlagend. Wenn man fragt: Kann man einen
seines Affekts wegen tadeln? so kann man antworten: Eher dar-
über, daß er in Affekt geraten ist, als darüber, was er im
Affekt tut. Hitzig nennt man den, der leicht in Affekt kommt.
Man glaubt solche Leuchte entschuldigen zu müssen. Auch haben
sie gewöhnlich mehr Aufrichtigkeit, als die Gleichgültigen,
die gerne verhehlen mögen. Im ganzen genommen wird doch aus
Übereilung viel Böses getan. Was hat es mit der Apathie für
Bewandtnis, d. h. mit der Affektlosigkeit der Stoiker? Jeder
Hund (?) im Affekt tut weniger. Beim Menschen ist's ebenso. Hier muß man
gestehen: Die Natur will, daß wir uns disziplinieren. Die
Vernunft muß Meister über uns werden. Man muß den Ernst
nicht mit dem Affekt verwechseln.
/|P_323
/ Die Einteilung der Affekte in Affekte der Freude und
Affekte der Betrübnis ist aus der Vorstellung des Angenehmen
und Unangenehmen hergeleitet. Es gibt einen Affekt, der
bloß aus der Vernunft zu entspringen scheint. Er heißt En-
thusiasmus (Begeisterung). Es kann also das Wort nicht bei
körperlichen Dingen gebraucht werden. Z. B. Man kann nicht
sagen: Er ist enthusiastisch im Gelderwerben. Enthusiasmus
ist eigentlich die Bewegung des Gemüts durch die Vorstellung
des Guten, d. h. aus der Vernunft. Wenn die Vaterlandsliebe
soweit geht, daß sie Affekt wird, nennt man sie den partrioti-
schen Enthusiasmus. Die enthusiastischen Patrioten sind sol-
che, die dem Vaterlande allein wohlwollen, übrigens aber Men-
schenfeinde sind. Enthusiasmus ist die Vorstellung des Guten
mit Affekt. Enthusiasmus ist blind, weil er Affekt ist, und
da kann mir mein bester Freund, indem er glaubt, mir einen
großen Dienst zu erweisen, den ärgsten Possen spielen. Und
dies kann schon deswegen geschehen, weil ein enthusiastischer
Freund ein Feind aller andern ist, er nutzt aber seinem
Freunde dadurch wenig.
/ Der Affekt wird bewegt durch die Vorstellung des Vergan-
genen, Gegenwärtigen und Künftigen. Das Künftige ist's aber
eigentlich, was interessiert. Denn das Gegenwärtige ist vor-
übergehend und das Vergangene schon vorbei. Und das Vergangene
und Gegenwärtige können uns nur in Affekt setzen durch den
Prospekt ins Künftige. Affectus ex praesenti vel
futuro ex consequentia. Das Vergangene unterrichtet in der
Art, weil wir künftige Folgen voraussehen. Hoffnung und
Furcht sind eigentlich die aufs Künftige gerichteten Affek-
te. Ist alle Furcht und Hoffnung Affekt? Hoffnung kann Affekt
werden, wenn sie das Gemüt aus der Fassung bringt. Z. B. der
Prospekt ein Amt zu bekommen. Aber nicht jede Hoffnung, so
auch nicht jede Furcht und Bekümmernis ist Affekt. Der Mensch
im Affekt kann nicht im Selbstbesitz, nicht in Genügsamkeit
sein. Die Affekte der Furcht und Hoffnung taugen insgesamt
nichts. Traurigkeit ohne Hoffnung ist Verzweiflung. Zufrie-
denheit ohne Hoffnung und Furcht ist eine Gemütsstärke. Wir
können sie Männlichkeit nennen. Bei Übeln des Lebens ist
der Wechsel der Furcht und Hoffnung über denselben Gegenstand
der Standhaftigkeit des Gemüts weit gefährlicher, als wenn
das Übel schon gewiß ist. Z. B. ein Deliquent gewinnt
Stärke, wenn er sein Urteil hört. Ein Kranker wird durch die
Zweideutigkeit des Arztes in einen noch üblern Zustand versetzt.
Die Menschen, die mit Furcht und Hoffnungen hingehalten werden,
sind sehr Krankheiten ausgesetzt. Denn bald steigen sie, bald
sinken sie. Auch gibt es Menschen, die sich mit Hoffnungen
nähren können. Man kann betrübt sein, ohne Traurigkeit. Denn
nur über einen unersetzliche Verlust ist man traurig, allein Betrübnis ist
vorübergehend, man begiebt sich. Traurigkeit ist gänzliche
Ergebung in Betrübnis, im Brüten darüber, welches beharrlich
ist. Dies ist gar nicht gut. Der Mensch muß sich dergleichen
Dinge, die schon einmal nicht zu ändern sind, bald aus dem
Gemüt schlagen. Z. B. Traurigkeit über den Tod der Eltern,
der Eltern über den Tod ihrer Kinder, beides kann nicht ge-
ändert werden. Fröhlich zu sein ohne sich kindisch zu freuen,
bedeutet den Zustand eines schmerzlosen Gemüts. Niederge-
schlagenheit ist eine solche Betrübnis, die sich nicht wie-
der aufrichten kann. In den Reisen von Moor (ein recht
gutes Buch!) ist hierüber eine Geschichte von einem Matrosen.
/|P_324
/ Die Verzweiflung können wir einteilen:
/ 1. in schwermütige Verzweiflung aus Gram und Niederge-
schlagenheit,
/ 2. in wilde Verzweiflung aus Entrüstung.
/ Die erste kann auch feige Verzweiflung genannt werden.
Manche urteilen: Alle Selbstmörder sind zaghaft. Dies nicht
immer, sie sind nur ungeduldig. Sie halten das Leben nicht
für wert, es länger zu genießen.
/ Man kann sich in der Fröhlichkeit üben, so daß man
gute Laune sogar in allen Übeln des Lebens bekommt. Daher
rät man in der Erziehung der Töchter gelind zu sein, damit
sie beständig in dieser Disposition, die ihnen vorzüglich
eigen ist, künftighin ihr Leben hinbringen und den Mann auf-
heitern. Zu dieser Fröhlichkeit oder Laune kann sich
der Mensch selber stimmen. Die Furcht eines Menschen wird
oft durch Scherz zerstreut. Z. B. Hannibal und Hanno, eine
bekannt Anekdote (doch kein einziger unter den Feinden, wel-
cher Hanno heißt, sagte ihm Hannibal), Furcht ist eine Art
von kränklichem Zustand - Bangigkeit - Angst, Traurigkeit -
Grauen - Entsetzen sind Ausbrüche der Furcht. Beim Entsetzen
hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verloren. Wenn man
glaubt, daß Herzhaftigkeit und Mut einerlei sei, so irrt man
sich. Eigentlich ist Herzhaftigkeit die Stärke (Eigenschaft)
des Gemüts, über ein Übel nicht zu erschrecken, und depen-
diert vom Temperament. Aber Mut ist die Stärke (Eigenschaft)
des Gemüts, sich vor keinem Übel zu fürchten und dependiert
von der Vernunft und Grundsätzen. Also kann ein solcher, der
Mut besitzt, zwar anfangs erschrecken, aber bald
seine Stärke sammeln und dann mit Entschlossenheit dem Übel
Trotz bieten, dagegen der Herzhafte leicht ohne alle Überle-
gung handeln kann. Herzhaftigkeit scheint auf die Reizbarkeit
der Nerven zu gehen. Mut aber mehr auf den Charakter.
Verzagtheit ist ein Mangel des Muts. Sobald aber dieser Man-
gel des Muts ehrlos wird, nennt man es Feigheit - poltronne-
rie. Poltron kommt von pouce und trone, d. h. der sich den
Daumen abgehauen, damit er nicht in den Krieg ziehen könne,
weil damals man mit Bogen die Pfeile abschoß und der Daumen
unentbehrlich war. Der, den man für einen ehrlosen Feigen
hält, ist poltron. Dies ist das beste Wort, womit man einen
ehrlosen Feigen ausdrückt. Ein Offizier muß nicht allein Mut,
sondern auch Herzhaftigkeit haben. Bei diesen beiden Eigen-
schaften scheint vieles auf körperlicher Konstitution zu be-
ruhen. So sagt man, daß Menschen, die eine breite Brust ha-
ben, unerschrocken sein sollen, z. B. Friedrich_II. Der Grund
liegt darin: das Herz und die Lunge können sich besser bewe-
gen, der Mensch wird nicht so leicht aus der Fassung gebracht.
Dagegen sollen Menschen von kleiner Brust gemeinhin furchtsam
sein. Selbst Männer von geprüftem Mut haben bisweilen Hang
zur Furchtsamkeit. So erzählt man von Aldermann, einem tap-
fern holländischen General, daß er einmal in der Schlacht
ganz außer Fassung gebracht wurde und das Kommando einem
andern übergeben mußte. Ein Mensch, wenn er angezogen ist,
besonders Stiefel anhat, ist mutiger und herzhafter, als wenn
er in Pantoffeln und im Schlafrock ist. Anmerk. Erschrecken
bringt Ausleerungen hervor. Dies ist ein Trieb der Natur,
sich zu erleichtern und so zur Gegenwehr zu bereiten, daher
/|P_325
/man es allerdings nicht für Verzagtheit annehmen kann. Z. B.
die Soldaten auf dem Kriegsschiffe machen gewöhnlich, indem
es zur Schlacht geht, alle in die Hosen. Auch den Vögeln und
andern Tieren geht es ebenso, wenn sie in Angst geraten. U.a.
geschieht es bei Reiherjagd, und die Jäger müssen sich wohl
hüten, daß sie nicht unter dem verfolgten Reiher stehen.
(NB Sie möchten nämlich sonst ziemlich besalbt werden.)
/ Geduld wird eine weibliche und Mut eine männliche Tugend
genannt. Geduld ist eine Gewohnheit ein Übel zu ertragen,
eine Ergebung. Mutige Leute sind gewöhnlich ungedul-
dig. Der Mutigste ist immer ungeduldig. Verzweiflung ist auch nur die auf den höchsten Grad ge-
spannte Ungeduld. Ein Verzweifelter kann ungeduldig sein, ohne
daß ihm deshalb Mut fehlt. Die Herzhaftigkeit hat Laune, das
macht die Säure im Magen, und dependiert also sehr vom kör-
perlichen Zustande. Es war einst ein großer General, wel-
cher, sobald er Säure im Magen hatte, Poltron wurde. Man sagt:
der Mensch ist perplex, wenn er durch unvorhergesehene Dinge
überrascht, in eine gewisse Unschlüssigkeit oder Verlegenheit
gebracht wird.
/ Einige Affekte sind wacker, andere weibliche oder schmel-
zende, welche aus Schwachheit entspringen. Der Zorn ist ein
rüstiger, die Scham ein niederschlagender Affekt. Der Neid ist
im Grunde die Niedergeschlagenheit des Muts durch Anderer Vor-
züge, ist also kein rüstiger Affekt. Mitleid ist ein wackerer
Affekt, wenn ich dem Leidenden beistehe, als praktische Teil-
nehmung an Anderer Leiden. Mitleid kann aber auch nur patho-
logischer Affekt sein, wenn es nämlich nicht tätig, sondern bloß
schmelzend ist. Scham ist ein besonderer und einer der stärk-
sten Affekte. Denn man hat Beispiele, daß Personen für Scham
gestorben sind. Zorn bringt Blässe, Scham aber Röte hervor.
Vor dem, der beim Zorn errötet, hat man sich nicht so sehr zu
fürchten, als vor dem, welcher blaß wird, denn er schämt sich
wirklich im Grunde. Der Mensch wird durch Beschämung inner-
lich sehr lädiert. Denn Scham ist Besorgnis der Verachtung,
und der Mensch scheut die Verachtung mehr, als den Haß. Dies
kommt daher, weil, wenn man gehaßt wird, man nur relativ hassens-
würdig ist, also wird auch nur der relative Wert abgespro-
chen. Wird man aber verachtet, so wird uns der absolute
(deutlicher: der innere) Wert abgesprochen. Der Gehaßte wird
doch manchmal noch hochgeachtet. Manchen muß man, obgleich
man in haßt, doch achten. Beschämung macht untüchtig, das
Übel abzuhalten. Scham ist eine besondere Eigenschaft, über
die man noch nicht genügend Reflexionen angestellt hat. War-
um hat die Natur in uns diesen Trieb gelegt? und noch dazu,
daß sie den Menschen dabei ohnmächtig, untüchtig und unge-
schickt macht? Ein Mensch, der sich schämt, glaubt den Anderen
unvorteilhaft in die Augen zu fallen und dadurch macht er es
eben, daß er in die Verwirrung gerät und beschämt wird.
Überhaupt, glaube ich, Scham ist ein Affekt, ein Geheimnis zu
verraten, welches die Natur verdeckt hat. Was für ein Geheim-
nis? wird man fragen. Nichts Anderes als Lügen. Aller Wahr-
scheinlichkeit nach ist Scham deswegen in uns gelegt worden,
damit wir dadurch dasjenige, was wir nicht sagen wollen,
durch unser Erröten verraten, oder kürzer gefaßt, damit wir
nicht lügen sollen. Es wäre also anzuraten, daß man Kinder,
welche lügen, nur mit Verachtung bestrafte, sie würden alsdann
/|P_326
/einen innern Abscheu davor bekommen und, sobald sie eine
Lüge sagen wollen, rot werden, sich also eben dadurch selbst
verraten. Im Lügen liegt eine Nichtswürdigkeit. Alle Lügner
sind ganz unbrauchbar, besonders in Gesellschaft. Die wenig-
sten lügen zum Schaden Anderer, die meisten bloß, um sich
die Zeit zu vertreiben, und eben deswegen sind sie zu ver-
achten. Ärgernis ist nicht mehr Affekt, sondern schon eine
Art von Rachbegierde. Eine Empfindung, die auch nicht zum
Affekt gehört, obgleich sie ebenfalls körperlich ist, ist der
Ekel. Man kann ihn physisch, auch moralisch betrachten: 1.
moralisch. Wenn ein Mensch eine Geschichte oder seine witzigen
Einfälle oft wiederholt, so sagt man: es ist zum Ekel, er
treibt's bis zum Ekel. 2. körperlich betrachtet ist der Ekel
ein Instinkt der Natur, etwas, das für uns Nahrung werden wür-
de, auf dem leichtesten Wege von uns abzuwenden. Auch hierin
hat die Natur sehr weise gehandelt. Wir können leicht bei ge-
wissen Vergleichungen Ekel bekommen. Z. B. wollte man den Ka-
viar mit einem galligten Schleim vergleichen, so könnte man
ihn nicht mehr essen.
/ Die Scham soll eigentlich das Lügen abhalten. Dazu scheint
die Natur sie in uns gelegt zu haben. Hiermit sind folgende
Stücke verwandt:
/ 1. Verschämtheit, bei Frauenzimmern Verzunftheit, wenn
sie sich in der Gesellschaft nicht zu betragen wissen, 2.
Verlegenheit, 3. Blödigkeit. Man kann zweierlei Arten von Mut
in Ansehung des Wetteifers annehmen. Derjenige, welcher soviel
Zutrauen zu sich hat, daß er nie befürchtet, im Verhältnis
gegen Andere in einem geringeren Lichte zu erscheinen, (daß
er so gut wie jeder Andere von Andern beurteilt werde), hat
den rechten Grad der Freimütigkeit. Von ihm sagt man: er ist
sans gêne (ungeniert). Dies ist entgegengesetzt der Dreistig-
keit, die man richtiger Dräustigkeit schreiben sollte, weil
es eigentlich von Dräuen herkommt. Man kann einen
dräusten Menschen nicht leiden. Er ist unangenehm, wenn er
auch nicht spricht. Denn schon in seinem Blick besorgt man
immer eine Grobheit und Verachtung. Solche Dräustigkeit kann
nur ein Mann von großem Stolz haben. Er glaubt die Urteile
aller anderen übersehen zu können. Dagegen ist auch Blödig-
keit nicht gut, bei welcher man den andern zuviel einräumt.
Alle Menschen sind gleichsam berufene Richter des Betragens
anderer und deshalb sind wir geniert. Wir besorgen dann
(wenn wir geniert sind) keine andre Gefahr, als die zu miß-
fallen. Diese Verlegenheit äußert sich darin schon, daß
man nicht weiß, wo man die Hände lassen soll. Die Frauenzim-
mer helfen sich durch ihre Fächer, Männer mit der Ta-
bakdose. Es zeigt dies immer Rohigkeit an. Nur ein Mensch von
großem Stolz kann die Dräustigkeit haben, daß er glaubt,
er könne gar nicht mit Andern in Vergleich gestellt werden,
der alle Urteile zu übersehen glaubt. Oft schämt man sich
darüber, daß man sich schämt. Man kann zum Teil die Selbst-
zuversicht, welche einige Dräustigkeit nennen, nicht erlan-
gen. Viele, welche die Gabe der Unverschämtheit haben, kön-
nen es mit wenig Talenten weit in der Welt bringen. Dagegen
war David Hume, sonst ein so großer Kopf, von einer solchen
Blödigkeit, daß man ihn gar nicht zu öffentlichen Unterhand-
lungen gebrauchen konnte. Daher sagt er auch: Ja, wer die
glückliche Gabe der Unverschämtheit hat, kann noch etwas in
der Welt ausrichten. Ein Mensch, der sie besitzt, hat in
allen Reden sehr was Zuverlässiges und Imposantes,
$kat$ $exochen$ (vorzugsweise) ist Unverschämtheit mit Stolz
verwandt. Schüchternheit ist nur eine Art von Verlegenheit
/|P_327
/und beruht auf der Wirkung der Blicke. Wir können nur dann
verlegen sein, wenn wir den Blicken Anderer ausgesetzt sind,
und eben daher kann ein Blinder nie in solche Verlegenheit
kommen. In der Finsternis wird aus demselben Grunde der Blö-
deste dreist.
/ Das Wort dummdreist wird nicht ganz durch étourderie
ausgedrückt. Warum? Weil dergleichen Charaktere nur immer in
einer Nation sind, sowie es auch nur in Frankreich petits
maîtres gibt. Ein étourdi wäre z. B. der, welcher die gnädi-
ge Frau fragt: Wie alt sind Sie? Er will alles wissen. Dies
ist sehr grob. Denn ein Frauenzimmer will niemals alt sein.
/ Bescheidenheit kann man nicht künsteln. Denn sonst nimmt
sie nicht ein. Für den aber, der sie besitzt, ist sie sehr vor-
teilhaft. Der Bescheidene ehrt den Andern, indem
er sich sehr um seinen Beifall bewirbt und wenn dies nicht
übertrieben wird, empfiehlt es. Bescheidenheit ist eine Art
von Gelindigkeit in Ansehung der Ansprüche Anderer. Der
größte Teil der Menschen will kommandiert sein, d. h. sie
wollen, daß man ihnen Sittsamkeit gebiete. Die Bescheiden-
heit muß nicht mit der Blödigkeit verbunden werden.
/ Nun kommen wir zu einer ganz besonderen Bewegung des Ge-
müts, die man selbst nicht füglich zu den Affekten rechnen
kann, sondern nur zu deren Ursachen, nämlich Fröhlichkeit und
Traurigkeit. Die Gemütsbewegung selbst ist
/ Lachen und Weinen
/ NB Hiervon ist oben schon ausführlicher geredet worden,
daher auch jetzt nur sehr in Kurzem.
/ 1. Beim Lachen findet ein starkes Ausatmen mit Interval-
len statt, beim Weinen hingegen ein oft unterbrochenes Ein-
atmen und Schluchzen. Der Maler kann mit einem Zuge aus einem
lachenden Gesicht ein weinendes machen, denn es sind fast
dieselben Gesichtszüge beim Lachen und beim Weinen. Dies
kann man auch daraus sehn, daß man bei recht heftigem La-
chen in der Tat weint. Eigentlich ist Lachen eine plötzlich
abgepannte Erwartung dadurch, daß sie sich in nichts ver-
wandelt. Z. B. Jemand sucht seinen Hut und hat ihn unter dem
Arm - nun lacht er über sich selbst. Einige sind von der Art,
daß sie wegen der Dummheit belacht werden. Ein Prediger pre-
digt über die Vorsehung und sagte: wir könnten der Vorsehung
nicht genug danken, daß sie den Tod an das Ende und nicht
an den Anfang des Lebens gesetzt hätte, denn sonst würde man
des Lebens nicht froh werden. Wenn jemand eine Ungereimtheit
begeht, so liegt in dem Lachen nicht eine Freude. Denn wer
wird sich darüber freuen, daß er nicht so stockdumm ist, als
ein anderer recht stupider Kopf. Es beruht alles darauf,
wenn die Erwartung in nichts verwandelt wird. Z. B.
Ein Entrepreneur von den Bällen beschwerte sich, daß der
erste Ball nie voll wäre. Dies hat nun seinen guten Grund.
Denn die Leute wollen nicht immer die ersten sein. Sie set-
zen darin ein Verdienst. Nun denken sie: es werden nicht
viele hingehen. Sie schicken wohl sogar jemand hin, um zu
wissen, ob schon einige da sind. Also wartet immer einer auf
den Anderen, und am Ende bleibt der erste Ball immer leer.
Da antwortete ihm jemand: "Höre, ich will Dir einen guten Rat
geben" (nun war man voller Erwartung über diesen Rat), und
sagte: "Warum gibst Du den zweiten Ball nicht zuerst?" Hier
liegt das Lächerliche in der Dummheit des Einfalls. Die Eng-
länder haben ein besonderes Sprechen, worüber gelacht wird,
wenn ein Mensch so spricht, daß er sich selbst widerspricht,
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/und das heißt einen Bull machen. Im Deutschen merkt man es
nicht. Die Irländer sind Erzbullenmacher. Einer sagte z. B.
da jemand die Sonne lobte: Ich lasse Euch die Sonne, die Ihr
habt bei hellem Tage entbehren können, und lobe mir den
Mondschein, der mir oft bei stockdüstrer Nacht, daß man
nicht eine Hand vor Augen sehen konnte, nach Hause geholfen
hat. Dinge, die etwas unerwartet kommen, werden belacht.
Z. B. Da König Carl II. in England den Rektor Busby in London besuchte,
der eine pedantische Autorität gegen seine Schüler bewies,
so war er in Gegenwart der Schüler gegen den König sehr
grob. Denn wie der König hereintrat, so sagte er "guten Tag"
und ging immer die Stube auf und ab. Nachher, wie er mit dem
Könige allein war, so bat er höchlich um Verzeihung wegen
seiner Grobheit. Denn, sagte er, wissen die Jungen erst,
daß noch einer da ist, der ein größeres Ansehen hat, als
ich, so habe ich keine Achtung und würde gar nicht mit ihnen
fertig werden können. Das Lachen über einen Andern, wenn der
Andere nicht mitlacht, ist ein boshaftes Lachen. Das geschieht
beim Raillieren. Der Mensch lacht, wenn einer fällt, und be-
sonders, wenn einer so fällt, daß er selbst, sein Hut, seine
Perücke, sein Stock, alles apart liegt und er es wieder auf-
suchen muß. Dies ist dem Menschen eine wahre Freude. Es
kommt ihm als eine Erniedrigung vor, daß der Andere unter
ihm ist. Deswegen freut man sich über den Fall des Andern,
wenn man sich unter ihm erniedrigt glaubt. Ein Mensch, der
sich seines Werts bewußt ist, läßt gerne über sich lachen.
Z. B. Als Terrasson mit der Schlafmütze auf dem Kopf, mit
der Perücke unter dem Arm, übrigens aber sehr galant mit dem
Degen an der Seite, über die Straße ging und wie man leicht
erachten kann, deswegen ausgelacht wurde, sagte er nachher
in einer Gesellschaft: Ich habe heute den Parisern ein Ver-
gnügen gemacht, das mir und ihnen nichts kostete. - Ein Va-
ter, der seinem Ende nahe war, vermachte seinen Söhnen das,
was er im Vermögen hatte. Er teilte es unter die beiden älte-
ren, welche ihm dann zur Antwort gaben: Gott erhalte uns
unsern Vater, auf daß er noch lange davon Gebrauch machen
könne. Dem dritten und jüngsten wollte er, weil er nicht gut
sparen konnte, nichts vermachen, gab ihm aber doch einen
Schilling (dies ist in England Gesetz, daß Väter, wenn sie
ihre Kinder enterben, ihnen wenigstens einen Schilling hin-
terlassen müssen) mit dem Zusatz, daß er sich einen Strick
dafür kaufen könne. Der Schalk antwortete ihm: Gott erhalte
uns unsern Vater, auf daß er noch selber davon Gebrauch ma-
chen könne. - Abélard fuhr mit einem Geistlichen in einer
Kutsche. Auf einmal sagt der Geistliche: Sehn Sie, da fliegt
ein Ochs. Abélard sah schnell zum Kutschenfenster hinaus,
jener aber fing aus vollem Halse an darüber zu lachen, daß
ein so großer Philosoph so was glauben konnte. Abélard
antwortete ihm: Ich glaubte eher, daß ein Ochs fliegen, als
daß ein Geistlicher lügen könnte. - Das Lachen ist keine
Freude, die auf dem Begriff beruht, sondern die Wirkung,
wenn das Gleichgewicht der gespannten Fasern aufgehoben wird.
Denn z. B. wenn jemand was erzählt, so ist man aufmerksam,
man hält ordentlich den Atem an sich und spannt dadurch die
Fasern gleichsam wie eine Saite, und alsdann, wenn diese
Spannung auf einmal aufgehoben wird, so werden die Fasern
wie eine herabgelassene Saite hin und her bewegt, und das
ist das Lachen. Erzählen, raisonieren, scherzen kommt bei
/|P_329
/der Tafel vor, und zwar macht der Scherz den Beschluß, ist
das Dessert, verursacht, daß die Menschen mit Wohlbehagen
aus der Gesellschaft gehen. Das Lachen entspringt aus dem Ge-
fühl des körperlichen Wohlbefindens, z. B. beim Kitzeln. Diese
oszillatorische Bewegung bringt mehr Umlauf im Geblüt zuwege
und ist der Gesundheit vorteilhaft. Zu vieles Lachen ermüdet.
/ Shaftesbury sagt, das Lächerliche wäre ein Probierstein
der echten Wahrheiten und Ungereimtheiten, besonders in der
Religion, nämlich: dasjenige, was die Angriffe durchs Lächer-
liche aushalten kann, habe echte und innere Würde, das aber,
was lächerlich werden kann, habe wirklich keinen inneren
Wert. Z. B. Die Raillerien über eine Wahrheit als das Dasein
Gottes usw. werden niemanden zum Lachen bewegen, sondern je-
der hört mit Ernst zu. Lachen scheint mehr eine männliche und
Weinen mehr eine weibliche Eigenschaft zu sein.
/ 2. Weinen hat mit dem Lachen Ähnlichkeit, indem es auch
Erschütterung - Erleichterung ist. Denn der Mensch, der im
größten Grad des Schmerzes ist, kann nicht weinen. Wer aber
noch weinen kann, lindert dadurch seinen Schmerz - es liegt
in dem Bewußtsein sich ohnmächtig zu fühlen. Z. B. Jemand
strebt nach etwas und er muß auf einmal nachlassen, so bringt
dieser Rückfall die Bewegung des Weinens hervor. Das Frauen-
zimmer, wenn es zornig ist, fühlt seine Ohnmacht und weint
daher auf der Stelle. Es kommen einem Tränen in die Augen,
wenn man eine Handlung von außerordentlichen Großmut ausü-
ben sieht oder auch nur auf dem Theater vorstellen sieht oder
im Buche liest, weil man wünscht in einen ebensolchen Fall
zu kommen, um auch so großmütig handeln zu können. Es ist
also eine Wehmut eines dankbaren Vermögens und das Bewußtsein
des Unvermögens oder Demut eines dankbaren Gemüts, aus Be-
wußtsein des Unvermögens, die Wohltaten zu erwidern. Es gibt
gewisse Empfindungen, welche man nicht erklären kann. So
bringen z. B. gewisse Vorstellungen Schauer und Gräuseln
hervor. Das letztere geht aufs Schreckhafte und ist vom er-
steren unterschieden. Reizbarkeit der Nerven ist schon
Schwäche.
/ Der Affekt widerstreitet der Weisheit, Neigung aber der
Klugheit. Wir können hier eine schöne Gradation merken:
/ 1. Jede Neigung widerstreitet der Klugheit,
/ 2. der Affekt widerstreitet nicht nur der Klugheit,
sondern auch der Weisheit.
/ Um dies zu beweisen, bemerke man:
/ I. Die Moralität besteht darin, daß man bei allen Vor-
schriften der Sinnlichkeit seine Handlungen doch nach Beweg-
gründen der Vernunft dirigiere. Wer nun aber aus Neigung han-
delt, gibt nicht den Beweggründen der Vernunft, sondern der
Sinnlichkeit Gehör. Und da wir zu allen sittlichen Handlungen
durch Beweggründe angespornt werden, so sind wir desto mehr
gebunden, je sinnlicher wir sind. Die Griechen verordneten
deshalb, daß ihre Areopagiten im Finstern richten mußten,
weil einmal eine verurteilte schöne Witwe durch Abnehmung ih-
res Schleiers Recht erhielt. Nur allein die Neigungen machen
arm. Sie sind gleichsam viele Mäuler, die alle gefüllt sein
wollen. Sie sind Schreihälse, die dem Menschen keine Ruhe
lassen. Daher ist der Mensch der größte Tor, der sich mit
Neigungen belastet. Überhaupt ist es nicht gut und weise,
sich Bedürfnisse notwendig zu machen, ehe man auf Mittel geson-
nen hat sie zu befriedigen.
/|P_330
/ II. Die Fähigkeit, die besten Mittel zur Glückseligkeit
zu wählen, ist die Klugheit. Die Glückseligkeit besteht aber
in der Befriedigung aller Neigungen. Um sie also wohl wählen
zu können, muß man frei sein. Der Klugheit aber ist alles
zuwider, was uns blind macht. Der Affekt macht uns blind
und also ist er der Klugheit zuwider.
/ III. Der blinde Affekt ist diejenige Stärke des sinnli-
chen Triebes, daß er den Verstand hindert selbst auf die Be-
friedigung des einzigen Triebes, der ihn blind macht, zu
denken. Und so kann der starke Trieb selbst sein eigenes Ziel
nicht erreichen. So weiß man, daß ein heftiger Zorn stumpf
wird, und derjenige, der da recht zürnet, weiß selbst nicht,
was er dem Beleidiger für empfindliche Worte sagen soll.
Überhaupt scheint uns der Affekt in den Zustand der Stupidi-
tät zu versetzen. Der blinde Affekt verstummt. So ist's mit
Verliebten. Der Heftigste kann keine Worte finden, weiß
nichts zu sagen, wodurch er sich insinuieren einschmeicheln konnte. Dagegen
ist der Gesprächigste gewiß immer derjenige, der am wenigsten
empfindet. Auch ist der Ehrgeiz von der Art, welcher für
bloße Titel wahre Vorteile dahingibt, da doch die Hochach-
tung für ihn nicht im geringsten wächst. Da nun aber die Ge-
schicklichkeit in der Kunst besteht, Mittel zu allen mögli-
chen Endzwecken ausfindig zu machen, so widerstreitet der
blinde Affekt dem Geschmack oder der Schicklichkeit. Einige
englische Schriftsteller machen einen Unterschied zwischen
Affekt und Passion. Sie sagen: der Affekt ist eine so starke
Regung des Gefühls, daß man sich dabei der Summe aller Re-
gungen nicht bewußt sein kann, Passion aber ist eine so
starke Begierde, daß man sich der Summe aller Begierden
nicht bewußt sein kann. Dieser Unterschied scheint richtig
zu sein. Denn der Affekt ist ein Gefühl, das uns unfähig
macht, die Summe aller Gefühle zu Rate zu ziehen. Alle ban-
denlose Lustigkeit macht uns unfähig auf andere Quellen des
Vergnügens zu denken und vergnügt weniger... Ein dauerhaftes
Vergnügen des Menschen besteht nicht darin, daß man es
durch alle Organe empfinde. Das Gemüt muß zu allen Vergnü-
gungen offen stehen. Wir finden daher, daß die Befriedigung
einer Neigung jederzeit Unruhe und Verdrießlichkeit nach
sich zieht, weil alle Organe gleichsam in Tätigkeit gesetzt
worden sind. Jede Neigung, die sehr vergnügt, wird erschöpft,
dahingegen Mäßigkeit die Sinne für Vergnügen anderer Art of-
fenhält. Das gefühlsvolle Gemüt mit Ruhe verknüpft ist des
größten Vergnügens fähig. Nichts ist absurder, als eine Ta-
felmusik. Denn man hat weit feinere Arten des Vergnügens bei
der Tafel. Die Musik füllt nur den leeren Raum der Gedanken-
losigkeit aus, und kann höchstens etwas zur Verdauung beitra-
gen.
/ ≥ Von den Leidenschaften ≤
/ Leidenschaft ist der Zustand des Gemüts, welcher uns un-
fähig macht, über unsere Neigungen herrschen zu können, d. h.
er verursacht, daß wir die Gegenstände nicht nach der Summe
aller Begierden wählen können. Die wahre Leidenschaft ist
die, deren Neigungen bis zu dem Grad gehen, daß sie ihre
eigene Befriedigung unmöglich machen. Der Mensch opfert da-
bei allemal etwas von seinem Zustande auf. Bei der Leiden-
schaft aber oder einer heftigen Begierde opfert er etwas von
seiner Tätigkeit auf. Man nennt einen solchen Menschen einen
Sklaven, weil er den Leidenschaften dient. Einige Leidenschaf-
ten sind so beschaffen, daß sie ein anderer billigt, weil
man mit ihm sympathisiert, z. B. die von einer Beleidigung
/|P_331
/kommt, weil Beleidigung eine allgemeine Sache ist. Wenn aber
jemand bestohlen wird, so findet das nicht so leicht statt,
weil der Dieb öfters der Person nichts tun will, wenn er nur
Geld bekommt. Ist aber jemand beleidigt, so denkt man mit dem
Chremes im Terenz: homo sum et nihil humani a me alienum esse
puto. Brutus, der den Caesar ermordet hatte, sah den toten
Körper desselben vor der Türe des Sulla liegen und fragte: Ist
denn keiner, der dies rächen will? Man antwortete: Nein! und
er sagte: So reicht mir den Degen. Er konnte die Beleidigung
des Volkes nicht ertragen.
/ Wir billigen Leidenschaften: 1. wenn sie uns vorteilhaft
sind, 2. weil kein genugsamer Ernst da zu sein scheint, wo
keine Leidenschaft ist.
/ Freilich ist der Affekt wohl der beste Beweis vom Ernste.
Allein darum zeigt der Mangel des Affekts noch nicht den Man-
gel des Ernstes an. Vielmehr ist der überlegte Ernst von län-
gerer Dauer. Es ist nicht gut, wenn man sein Glück zu hoch
auf einmal treibt, so daß man es nicht mehr steigern kann.
Denn hat uns einmal eine Sache sehr stark gerührt, so miß-
fällt uns hernach die mittlere Rührung. So tut man einem kei-
nen Gefallen, wenn man ihn mit den größten Lobsprüchen über-
häuft. Denn verdient er sie hernach nicht ganz komplett, so
mißfällt er schon, weil man ihn sonsten für einen geschickten
Mann gehalten und andere sich in ihrer gespannten Erwartung
betrogen finden. All unser Wohlgefallen, wenn es in Abnahme
gerät, zeigt uns schon den herannahenden Verdruß. Daher müs-
sen wir es nie zur Abnahme kommen lassen. Haben wir nun unsere
Empfindsamkeit auf einmal zu hoch gespannt und treiben es in der Emp-
findsamkeit zu weit, so können wir sie nicht lange aushalten.
Kommts aber zum Abnehmen, so ist Ekel, Verdruß und Kummer
da, weil wir die höchste Empfindung zum Maßstabe annehmen.
Wie gut wäre es also, wenn man sein Leben so einrichtete,
daß man immer seinen Zustand steigern kann. Denn dies ist
das einzige Mittel zur Glückseligkeit.
/ Oft glaubt ein Mensch betrogen zu sein und betrügt sich
selbst. Wenn jemand in seiner frühesten Jugend aus seinem
Vaterlande reiset und in seinem Alter wiederkommt, so glaubt
er gemeinhin, daß sich vieles seit der Zeit verändert habe.
Allein er hat sich selbst verändert. Wie kann er jetzt das
Vergnügen empfinden, welches er damals empfand, als er da
Ball spielte? So denkt auch ein Verliebter in seiner Trunken-
heit, daß seine Geliebte der schönste Gegenstand in der Welt
sei. Genießt er sie und die Funken brechen in Flammen aus
und verlodern endlich, so glaubt er fest, wenn er sie hernach
minder reizend findet, betrogen zu sein, da er sich doch in
diesem Falle selbst betrogen hat. Beim Heiraten ist der Mann
doch mehrenteils besorgter, als die Frau. Der Grund davon
ist, weil die Frau dadurch ihre Freiheit gewinnt, der Mann
aber etwas davon verliert. Der fromme, heilige Affekt ist
unter allen der ärgste. Denn je erhabener der Zweck ist, um
dessenwillen man eifert, desto größer ist der Zorn. Denn der
Zorn bekommt hier eine Art von Beschönigung. Daß aber die
Natur Leidenschaften in uns gelegt hat, kommt daher, weil sie
allemal den sichersten Weg wählt, zu ihrem Zwecke zu gelan-
gen. Der sicherste Weg aber ist bei Menschen die Rührung der
Sinnlichkeit. Man kann aber dadurch die Leidenschaften nicht
rechtfertigen. Denn wir haben dazu die Vernunft, daß wir die Leiden-
schaften im Zaum halten können. Die Natur hat uns nur provisorio
/|P_332
/den Weg gegeben, weil man oft nur zu spät zum Gebrauch seiner
Vernunft kommt. Sie sind also einem Hofmeister gleich, der
einem Kinde so lange gehalten wird, bis es zur Überlegung
kommt und durch Vernunft geleitet werden kann. Z. B. konnte
die Natur ihre Hauptzwecke, die Erhaltung und Fortpflanzung
der Art nicht der Vernunft, dieser für den Menschen so uner-
läßlichen Führerin anvertrauen. Gleich in der zarten Kind-
heit hatte die Natur zur Absicht, den Menschen zu ihren Zwek-
ken zu führen. Dieses aber konnte durch die erst angehende
Vernunft nicht so gut geschehen, als durch Keime zu Affekten.
So ist z. B. der Zorn eine Verteidigungsneigung. Wird aber
die Neigung reif, so muß der Mensch den Affekten weiter kein
Gehör geben, als nur insofern, daß er sich von ihnen an die
Zwecke des Lebens erinnern läßt. Es ist aber doch sonderbar,
daß beim Affekt der Teil der Bedürfnisse wirklich die Summe
aller Bedürfnisse überwiegt.
/ Alle Neigungen können zu Affekten werden, aber die Nei-
gung selbst, wenn sie gleich sehr stark ist, behält doch im-
mer eine Klarheit, die im Affekt vermißt wird. Es gibt täti-
ge Affekte, die mit der Unternehmung von Handlungen verbunden
sind und den müßigen entgegengesetzt werden. Man sollte den-
ken, die Chinesen und andere ostindische Nationen hätten kei-
ne Affekte, weil sie sie im allgemeinen sehr zurückhalten.
Denn wenn ein Europäer z. B. Seide von ihnen kauft und sie
den Unterteil des Fasses mit einer andern leichten Materie
vollgefüllt und die Seide daraufgestopft haben, welches der
Europäer entdeckt, so fällt ein jeder auf die Vermutung, daß
der ganze Zorn des Käufers darüber entbrenne und in die wü-
tendsten Ausdrücke ausbrechen werde. Aber was erhält man vom
Chinesen für eine Antwort darauf? Er sagt: Nun, warum seid
Ihr so böse? Euer Mäkler sagte, daß Ihr die Seide nicht bese-
hen würdet. Obgleich die Chinesen hierin die Europäer zu
übertreffen scheinen, so haben sie doch eben dieselben Affek-
te. Allein aus Furcht und damit sie sich mit mehr Überlegung
aus der Sache ziehen können, sind sie so sehr zurückhaltend.
/ Wir können alle Neigungen einteilen
/ 1. in formale, insofern sie allgemeine Bedingungen aller
Neigungen sind, welche man die Neigungen in abstracto nennen
könnte.
/ 2. in materiale, insofern die Objekte der Neigungen ein-
geteilt sind.
/ Die allgemeine Bedingung aller Neigungen ist Freiheit.
Freiheit bedeutet den Zustand, worin man seinen Neigungen ge-
mäß leben kann, wo uns nichts hindert in der Wahl und in der
Befriedigung unserer Neigungen. Dies ist die erste formale
Bedingung und gewiß auch die größte. Lächerlich ist es da-
her, wenn ein Gutsherr seine Erbuntertanen nach seiner Weise
behandelt und sie nach seiner Idee von Glückseligkeit zu le-
ben zwingt, dabei aber zur Raison (zum Grunde) angibt, solche
Leute wüßten nicht, was ihnen diene. Dieser Zustand ist für
den Erbuntertanen der schrecklichste. Denn man ist nur glück-
lich, wenn man seinen Neigungen gemäß leben kann. Man darf
daher einen Regenten nicht als Landesvater rühmen. Denn wir
sind keine Kinder mehr, die einen Vater brauchen, die bei der
Nase herumgeführt werden müssen. Wir müssen Freiheit haben,
sonst haben wir kein Eigentum. Ohne Freiheit haben wir kein
Eigentum. Das Unglück des Menschen ohne Freiheit ist unabseh-
bar.
/|P_333
/ Die formale Neigung zur Freiheit heißt negativ. Der
Mensch verlangt nichts zu erwerben, er will nur seine Nei-
gung befriedigen. Die formale positive Neigung heißt das
Vermögen, im Besitz der Mittel zu sein, um seine Neigungen
befriedigen zu können.
/ Es gibt zweierlei Arten von Freiheiten: 1. die wilde,
tierische, gesetzlose Freiheit. Dies ist die natürliche.
2. die bürgerliche Freiheit. Diese ist immer einem gewissen
Zwange unterworfen, sie sichert uns aber dafür auch vor Übel
denen wir im Naturstande nicht entgehen können. Aber es gibt
dennoch kein Beispiel, daß ein Wilder nicht sein Leben dem
Leben unter Gesetzen vorziehen sollte. Die bürgerliche
Freiheit ist sehr künstlich. Ihr Reiz besteht darin, daß
der Mensch alles tun kann, wenn es nicht den Gesetzen wider-
streitet. Diese Freiheit hat großen Nutzen. Sie veredelt
nicht allein die Bürger, sondern auch nur die Meinung der
Freiheit tut dies. Der Regent, der diese Meinung dem Volke
benimmt, benimmt ihm auch zugleich jeden Sporn zu edeln und
guten Handlungen. Alle Nationen, je mehr sie der gesetzlosen
Freiheit genießen, desto stolzer sind sie und verachten die
Andern. Man hat viel Beispiele von kanadischen Wilden, die
schon Offiziere geworden waren, daß sie lieber in ihre Hüt-
ten zurückkehrten, als noch länger unter Subordination stan-
den. Überhaupt achtet der Wilde nichts, was unter Herr-
schaft steht. Die nomadischen Araber in den Wüsten reden mit
Verachtung von den Arabern in den Städten. Die Grönländer
schätzen alle dänischen Matrosen, darum weil sie sich befeh-
len lassen, so gering, daß sie nicht einmal mit ihnen spre-
chen, welche Ehre sie lediglich dem Kapitän erweisen. Und
die Missionare bitten sich aus, daß der Schiffskapitän
keine Autorität über sie blicken lasse, weil man sie sonst
als nichtswürdig betrachten möchte. Die Araber, die unter
einem Scheik stehen, wenn sie übel behandelt werden, so gehen
sie gleich unter einen andern Scheik. Menschen je näher sie
der Freiheit kommen, desto stolzer sind sie. Dies zeigt sich
im folgenden: Wenn der Tunguse, der ein Jäger ist, jemandem
Unglück wünschen will, so sagt er: Daß Du Dein Vieh erzie-
hen magst! der Russe aber: Daß Du Dein Brot beim Weberstuhl
wie ein Deutscher verdienen magst!
/ Zu der negativen formalen Neigung muß noch hinzukom-
men die positive formale Neigung. Diese betrifft den Besitz
des Vermögens, seine Neigungen zu befriedigen. Denn man lasse
einen Erbuntertanen laufen. Wenn er kein Geld, kein Ansehen,
keine Fürsprache hat, so wird ihn zwar nichts an der Be-
friedigung seiner Neigungen hindern, allein er wird sie
doch nicht befriedigen können. Dies positive Vermögen ist
also die Kraft, wodurch man etwas, welches unserer Willkür
gemäß ist, zustande bringen kann und schränkt sich also auf
folgende drei Mittel ein:
/ 1. Ehre - durch diese habe ich Einfluß auf andere Men-
schen in Rücksicht auf ihre Furcht.
/ 2. Gewalt - durch dieses Mittel habe ich Einfluß wegen
der Ohnmacht Anderer.
/ 3. Geld - dadurch habe ich Einfluß wegen des Interesses
und des Eigennutzes der Menschen. Man kann also auf dreier-
lei Art Einfluß haben. Das Sicherste ist Geld! Nichts kann
die Neigungen mehr überstimmen, als Geld. Es ist das kräftig-
ste Mittel, andere Menschen zu seinem Werkzeug zu brauchen.
/|P_334
/Z. B. die Anekdote, da der Brama allen seinen Untertanen
Erlaubnis gab, sich etwas von ihm auszubitten, so fand es
sich am Ende, daß alle mit einander ohne Ausnahme - Geld
baten. Ja, wer Geld hat, kann sich gewissermaßen Verstand anschaffen. Denn
man sagt: Ein guter Vorrat von Büchern ist Ersetzung des Ver-
standes.
/ Man hat bemerkt, daß die Stärke, Andere zu überwältigen,
mit ein Gegenstand der menschlichen Neigung sei. Bei allen ro-
hen Nationen ist die Tapferkeit die größte Tugend. Unter den
gesitteten Nationen sind die Disputationen der Gelehrten ein-
geführt, die in der Tat ein wahres Hahngefechte sind. Zum Ver-
mögen kann man auch Dräustigkeit rechnen. Denn sie macht den
Menschen fähig, etwas zu unternehmen, was ein Anderer unter-
lassen muß. Diese Dräustigkeit kann man nicht erler-
nen. Der Mangel davon schränkt unser Vermögen ein und macht
uns schwach. Dräuste Menschen haben gemeiniglich keinen Mut,
sondern wie Homer sagt, das Gesicht eines Hundes und das Herz
eines Hirsches. Leute, die schon durch ihr Gesicht Dräustig-
keit anzeigen, sind unleidlich. Wenn dieses aber keine verrät
und der Mensch hat sie doch, so kann sie sehr vorteilhaft sein.
Das Vermögen sich glücklich zu machen, ist ein unmittelbarer
Gegenstand unserer Neigung. Geschicklichkeiten sind nur Fähig-
keiten einen vorgelegten Zweck auszuführen, und diese Ge-
schicklichkeiten werden oft höher geschätzt, als alle End-
zwecke. So ist die Tapferkeit ein Mittel, die Menschen zu si-
chern. Allein sie gefällt uns auch unmittelbar. Auch die Ehre
vermehrt unser Vergnügen, weil wir dadurch mit vielen Menschen
bekannt werden, und unser zeitliches Glück hängt mehrenteils
von der Gunst und dem Ansehen unter den Menschen ab. Sonderbar
ist es, daß der Geizige sich gemeinhin hitzig bezeigt, Mittel
zu erwerben. In Ansehung der Zwecke aber ist er ganz gleich-
gültig. Denn er sucht nur Geld zusammenzuscharren, wenn es auch
mit Unrecht geschehen sollte. Auf die Anwendung desselben denkt
er gar nicht. Die Erklärung der Möglichkeit von dieser Unge-
reimtheit liegt darin, daß bloß das Vermögen schon ein idea-
lisches Vergnügen ausmacht. Denn ausgegebenes Geld hat nur
einen einzigen Nutzen, der in den gekauften Sachen liegt.
Vielleicht auch darum, weil man sich gewöhnt hat, sich keinen
Genuß zu verschaffen, um desto mehr sammeln zu können. Das
Geld aber hat einen allgemeinen Gebrauch. Allein diese Allge-
meinheit muß man so betrachten, daß man sich zwar für das
Geld alles anschaffen kann, aber nicht alles zusammen, son-
dern nur eins von allen, und durch diese Allgemeinheit be-
kommt das liegende Geld einen Vorzug vor dem ausgegebenen.
/ Ehre bringt immer einen Widerstand hervor. Denn sobald
man welche erwirbt, so geschieht dies auf Kosten der Achtung
anderer. Z. B. Jede Ehre ist ein Vorzug, den wir andern vor
uns geben. Wenn sie auch nicht aufgehoben wird, so wird sie
doch vermindert. Daher widersetzt sich jeder gern, denn Vor-
züge räumen wir nicht gern ein. Wer Anspruch auf Ehre macht,
tut gleichsam Unrecht, indem er will, daß der Andere von sei-
ner Ehre abstehen soll. Und darum, weil wir keinem den Wahn
lassen wollen, daß er Vorzüge vor uns haben soll, ist man
auch so teuer mit Titeln. Wenn ich mir Gewalt erwerbe, so
kann ich natürlicherweise Widerstand von Andern erwarten. Das
Einzige, wobei dies nicht stattfindet, ist das Geld. Denn wenn
ich welches habe, so lieben Andre dies, und zwar darum, weil
sie selber vielleicht davon Nutzen ziehen können.
/|P_335
/ In allen Begierden kann man sich etwas Konstinuierendes
vorstellen, und diese konstinuierliche Begierde nennt man
Sucht. So gibt's Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht. Diese grün-
den sich auf die drei formalen positiven Vermögen (Ansehen,
Gewalt und Geld) und werden alle drei unter dem nach engli-
scher Art geformten Worte Selbstsucht begriffen. Diese Sucht,
welche vom Affekt deshalb unterschieden ist, weil sie konti-
nuierlich ist, macht, daß der Mensch auf den geringsten Grad
seines Vermögens erpicht ist. Ein Geldgieriger ist nicht alle-
mal habsüchtig; denn ein Habsüchtiger läßt auch nicht den ge-
ringsten Vorteil aus den Händen, durch den er sein Geld ver-
mehren kann. Ein Ehrsüchtiger läßt sich auch gern vom Narren
loben. Wir wollen also nach der Reihe durchgehen:
/ I. Ehrsucht. Ehrliebe muß jeder haben. Wir verlangen sie
von jedermann und sind nie darüber eifersüchtig. Aber Ehrsucht
ist mehr. Ehrsucht oder Ehrbegierde beleidigt andere. Dies tut
Ehrliebe nicht. Ehrliebe ist negativ, ein bloßer Abscheu,
nicht die Verachtung anderer sich zuzuziehen. Daher kann ein
ehrliebender Mensch verlangen, nicht bekannt zu sein, und
wenn er gekannt wird, so will er nicht so gekannt sein, daß
er ein Objekt der Verachtung ist, sondern so, daß er sich
nicht schämen darf und Ehre davon hat. Ein Ehrliebender
flieht oft die Gesellschaft, damit er verhindere, daß er
sich eine Verachtung zuziehe. Ohne Ehrliebe ist keine Tugend,
und der nicht ehrliebend ist, ist nicht tugendhaft, er ist
deshalb untugendhaft, weil er sich selbst zum Gegenstand der
Verachtung macht. Von der Ehrbegierde aber redet jeder. Ehrbe-
gierig sein, heißt mit Andern um den Vorzug streiten, wodurch
man natürlicherweise Andere offendiert. Denn indem dieser will
vorgezogen sein, verliert der Andere und so entsteht Eifersucht.
Ein Ehrbegieriger sucht die Gesellschaft, um auch durch die
geringsten Kleinigkeiten seine Ehre vergrößern zu können.
Die Ehrbegierde wird endlich zur Ehrsucht, wenn man die Ehre
zum Hauptgegenstand seiner Neigungen macht, und zu Ehrgeiz,
wenn man auf die geringsten Kleinigkeiten bei der Ehre sieht.
Ehrbegierde und Ehrgeiz sind Leidenschaften, die erhöht werden
können. Es liegt in der Ehrbegierde das Ungereimte, daß eben
durch die große Bestrebung nach Ehre sie ein Gegenstand der
Verachtung wird. Jemand kann bereitwillig sein, einem Andern
Ehre zu erweisen und dies macht ihm selber Ehre, aber es muß
dieses frei geschehen, er muß nicht Anspruch darauf machen.
Ehrbegierde als Selbstsucht ist Hochmut (superbia). Hochmut
ist nicht ambitio. Denn ambitieuse Leute können sehr höflich
sein, indem sie bei Andern durch Willfährigkeit eine vorteil-
hafte Meinung von sich, also Ehre erwerben wollen, welches
auch wohl schon beleidigend ist. Je mehr ein vornehmer Mann
auf seine Ehre Verzicht tut oder keinen Anspruch
zu machen scheint, da nämlich, wo er es könnte, desto mehr
erwirbt er sich willkürliche Ehre. Hochmut ist die Meinung
von dem Vorzuge, wodurch man Andere im Verhältnis gegen uns
zu erniedrigen sucht. Der Hochmütige will, daß der Andere
sich gegen ihn gering schätze, und dies ist beleidigend, und
er wird zuerst gehaßt und zweitens wird er ein Narr, weil er
gerade seinem Zweck entgegenhandelt. Je mehr einer arrogant
ist und sich brüstet, je mehr weigern andre sich ihm Achtung
zu erweisen. Sobald er sich aber mit Andern in Gleichheit
setzt, beweist man ihm weit lieber Achtung. Hochmut führt auch
/|P_336
/gewöhnlich Niederträchtigkeit mit sich. Man glaubt bemerkt
zu haben, daß der Hochmütigste, wenn er unter einen Mächtigern
kommt, zugleich der Niederträchtigste ist. Dies ist auch sehr
natürlich. Wie könnte er dieses sonst einem Andern zumuten,
wenn er selber nicht von der nämlichen Denkungsart wäre. Hoch-
mut ist vom Stolz verschieden. Stolz ist ein Ausdruck auf die-
jenige Achtung anderer, die er jedem andern auch erweisen will,
eine gewisse Halsstarrigkeit, die darin besteht, daß man sei-
nen Wert nicht schmälern lassen will. Der edle Stolz fordert
nur Gleichheit und alsdann ist er an sich billig. Er hat aber
auch einen Zug des Tadels bei sich, weil er gleichsam eine
Sorgfalt anzeigt, nichts von der Achtung, die er von andern
fordert, etwa abzulassen, und er kann eher mehr Achtung for-
dern, indem er jederzeit bereit ist, auch mehr Achtung zu er-
weisen. Es ist dies eine Art von Präzision und gewissermaßen
eine Krankheit.
/ II. Herrschsucht. Diese ist ungerecht, die verlangt nicht
nur Gewalt, sondern auch ein vorzügliches Vermögen über Andre.
Es entsteht die Frage: Kann der Mensch eine Neigung zum Herr-
schen haben? findet Herrschsucht als unmittelbare Neigung
statt? Ja, alle Menschen mögen gern herrschen. Doch liegt das
stets im Geheimen zum Grunde, daß sie ein großes Mittel ist,
seine Zwecke und Absichten durch Beihilfe anderer zu erreichen.
Selten hat ein Fürst die Regierung niedergelegt (resigniert),
und wenn er es tat, so tat es ihm auch nachher leid. Z. B.
Kaiser Carl V. und der König von Sardinien. Wenn man bloß Wi-
dersetzung vermutet, so ist es nicht angenehm. Viele mögen des-
wegen nicht herrschen, weil sie Hindernisse voraussehen, auch
wohl oft deswegen, weil sie beherrscht kommoder eben. Viele
geduldige Ehemänner sind kommode und wollen lieber beherrscht
werden, als herrschen. Die gewöhnlichen Herrscher werden be-
wundert.
/ III. Habsucht. Es gibt eine mittelbare Habsucht, da man
nämlich deswegen viel zu haben verlangt, um viel genießen zu
können, und eine unmittelbare Habsucht, die keinen andern
Zweck vor sich sieht, als bloß um zu haben, ohne etwas davon
zum Genuß zu bestimmen. Daher haben wir karge und gewinnsüch-
tige Geizige. Der karge Geizige will gar nichts verlieren. Ein
Mensch, der viel hat, kann vielen nützen und dadurch er-
langt er ein großes Ansehen. Es ist nach den Nationen ver-
schieden, wie sie sich ausdrücken. Z. B. Der Holländer sagt:
der Mann kommandiert eine Million. Der Engländer sagt: der
Mann ist 100_000 %.Pfund Sterling wert. Der Deutsche sagt bloß:
der Mann besitzt so und soviel Geld.
/ Diese drei Begierden sind gewöhnlich nur Neigungen des
Wahns, welche ohne Rücksicht auf den Zweck bloß auf die Mit-
tel gehen. So ist's mit der Ehrbegierde. Ehrbegierig sein,
bloß um Ehre zu haben. Die mehresten Monarchen setzen den
Wert unmittelbar in Herrschaft, also darin, was nur Mittel zum
Zweck ist. Geld hat nur als Mittel Wert und wer darin einen
unmittelbaren Wert setzt, bei dem ist es Wahn. Die Leiden-
schaften, die im bloßen Wahn bestehen, schlagen doch am tief-
sten Wurzel, deshalb weil sie die ungereimtesten sind, und de-
sto schwerer sind sie auszurotten. Es liegt eine recht wunder-
bare lächerliche Komplikation in den Handlungen eines kargen
Geizigen.
/|P_337
/ ≥ Von den verschiedenen Objekten unserer Neigungen
und Leidenschaften. ≤
/ Ruhe und Genuß sind die Hauptobjekte, wovon die Ex-
treme: Faulheit und Üppigkeit. Jeder Mensch hat große Nei-
gung zur Ruhe, daß nämlich nichts wider seinen Willen sich
bewegen soll. Er liebt Gemächlichkeit. Die größte Ungemäch-
lichkeit ist wohl der Zwang unter die Befehlshaberschaft
eines Menschen, besonders dann, wenn dieser Befehlshaber den
Naturgaben nach (in Absicht der Kapazität) dazu noch unter
uns steht, so daß wir ihn im Herzen verachten und ihm doch
gehorsam sein müssen. Man kann doch frei und ungemächlich le-
ben, wie z. B. die Wilden. Denn die Freiheit versüßt alles
und alle finden in der Unabhängigkeit die Ersetzung alles ih-
res Ungemachs. Indessen haben sie doch alle einigen Hang zur
Gemächlichkeit. Gemächlichkeit begleitet fast alle Begierden
und schwere Dinge werden uns deshalb unangenehm, weil sie
der Gemächlichkeit widerstreiten. Indessen gibt es doch Perso-
nen, die ein desto größeres Vergnügen empfinden, je größere
Schwierigkeiten sie zu überwinden haben. Man kann aber gewiß
glauben, daß solche Leute wiederum in andern Sachen ihre Ge-
mächlichkeit suchen. Werke der Kunst mißfallen uns oft bloß
deshalb, weil sie zuviel Schwierigkeit und Peinlichkeit ver-
ursachen. Ebenso wie eine Rede, wo man merkt, daß die Aus-
drücke mit großer Mühe herbeigeholt worden sind. Die große
Neigung zur Ruhe nehmen wir hier als Abneigung zur Arbeit.
Arbeit ist eine Beschäftigung, die an sich selbst unangenehm
ist, aber durch den Zweck angenehm wird. Spiel hingegen ist
eine Beschäftigung, die an sich selbst angenehm ist, aber
durch den Zweck unangenehm wird. Z. B. Jagen, Angeln sind
Beschäftigungen, die an sich selbst angenehm sind. Unter al-
len diesen occupationibus in otio (nicht per negotium) ist
das eigentliche Spiel zu bemerken. Der Hang zum Kartenspiel
ist ein Hang zur Beschäftigung in der Muße. Von Natur ist
der Mensch faul. Nur um einen Zweck zu erreichen, kann er
sich zur Arbeit bequemen. Aus Neigung arbeitet man nicht.
Wohl spielt man aus Neigung. Alle Menschen scheinen Hang zum
Spiel zu haben. Die Chinesen können nicht müßig gehen, nicht
daß sie immer beschäftigt sind, sondern sie lieben das Spiel.
Dies geht soweit, daß sie Haus und Hof, Weib, Kind, ja am
Ende sich selbst verspielen und geduldig in die Sklaverei ge-
hen. Der Spieler kennt keine andere Leidenschaft, als die
seinige, er ist stumpf gegen die Liebe. Sonst können mehrere
Leidenschaften zusammen bestehen. Das Gemüt scheint durch
den unaufhörlichen Wechsel des Glücks gefesselt zu sein. Jede
Beschäftigung, mit welcher Glück verbunden ist, macht, daß
die, welche sie treiben abergläubisch sind, so z. B. Spieler,
Jäger, Fischer, Bergleute. Man sagt nicht: Er spielt falsch
oder nicht gut, sondern er hat kein Glück.
/ Wie tief die Neigung zur Gemächlichkeit in der mensch-
lichen Natur liegt, kann man schon daraus sehen, weil der
Mensch nur darum arbeitet, indem er sich im Prospekt Ruhe
und Gemächlichkeit mit vorstellt und ausmalt. Nur der Sporn
der zukünftigen Ruhe treibt ihn zur Arbeit. Kann man diesen
Hang zur Gemächlichkeit unter dem Namen der Faulheit als ein
Laster ausgeben? Oft ist der Hang zur Gemächlichkeit ein
wohltätiger Wink der Natur, seine Kräfte zu schonen, um sie
nicht zu erschöpfen. Und dann ist es nicht ein Fehler. Z. B.
die Habsucht würde viele Menschen antreiben, ihre Kräfte bis
zur Überspannung anzustrengen und sie zu zerstören.
/|P_338
/ Der Hang zum Genuß ist zweierlei: 1. Hang zum Leben,
2. Hang zum Geschlecht.
/ Im erstern Fall genießt der Mensch sich selbst, im letz-
tern einen andern Menschen. Voltaire sagt: beide Neigungen
wird keine Kunst ausrotten. Sie sind die Fundamentalneigungen.
Die Neigung zum Leben wächst mit den Jahren. Dies kommt daher,
weil die Kräfte abnehmen und der Mensch schwächer wird. Daher
kommt es, daß Jünglinge oft mit weit mehr Mut und Resignation
sterben, als Alte. Die Neigung zum Geschlecht nimmt mit den
Jahren ab. Dies gründet sich auf das Unvermögen.
/ Die Furcht vor dem Tode ist unterschieden von der Liebe
zum Leben. Denn man kann den Tod fürchten, ohne das Leben zu
lieben. Die Ursache ist diese: Der Mensch fürchtet den Tod
aus physischem Abscheu, indem er nichts vor sich sieht. Der
Grund liegt in der Imagination. Denn man stellt sich immer
vor, man würde sich bewußt sein, in der Erde im Sarge zu
liegen. Das Grab ist eigentlich schauerlich. Daß man den Tod
fürchtet, ist tierisch. - Beide Neigungen werden überhaupt
getadelt als erniedrigend für die Würde der Menschheit, weil
sie Ähnlichkeit mit tierischen Neigungen haben. Eben deswe-
gen hat man auch in allen Religionen nur die für heilig ge-
halten, die gar keinen Hang zum Geschlecht zeigten. Phanta-
sten verlangen, daß man beide Neigungen nicht habe. Eine
Art davon nennt man Puristen, weil sie sich in diesem Punkt
so gerne vom Menschen losmachen wollten.
/ Was den Genuß des Lebens betrifft, so ist es gut, daß
die Natur etwas Feigheit und Zaghaftigkeit in uns gelegt hat.
/ Die Liebe zum Geschlecht ist oft nicht so groß, als man
angibt. Es steckt etwas Feinheit und Großmut darin, und man
affektiert damit. Die Liebe zum Leben affektiert man nicht,
wohl aber die Geringschätzung desselben. Die Neigung zum Ge-
schlecht nennt man Liebe, man muß sie eigentlich Geschlechts-
liebe nennen, und sie hat nichts mit der moralischen Liebe zu
tun. Denn sie besteht im Genuß und ist also nicht die Liebe,
die in Moral und Wohlwollen besteht.
/ Die Natur hat mancherlei Instinkte zu großen Zwecken in
uns gelegt. Der kultivierte Mensch muß also diese Anlagen
als Triebfedern von großen Handlungen zu guten Zwecken ge-
brauchen. Je mehr wir unsere Neigungen befriedigen, desto
mehr multiplizieren sie sich. (Man hat bemerkt, daß auch das
große Laster, was unter den Menschen so gewöhnlich ist, die
Falschheit, bei allem Schaden, den sie mit sich führt, doch
auch einigen Nutzen stiftet, nämlich den, daß sich Menschen,
welche böse Absichten haben, um dessen willen nicht so leicht
vereinigen können.)
/ Unser Autor teilt die Leidenschaften nach unserer Emp-
findsamkeit in Schmerz und Vergnügen. Es gibt aber eigentlich
nur angenehme und unangenehme Affekte, weil jenes Gefühle,
dieses aber Begierden sind. Beim Affekt wird unser Zustand
affiziert, und wir sind passiv, daher auch der Affekt seinen
Namen hat. Es gibt also nicht angenehme und unangenehme Lei-
denschaften. Jeder angnehme Affekt ist Freude und jeder
unangenehme ist Traurigkeit. Ein jeder Mensch aber, der ru-
hig ist, ist in keinem Affekt. Auch der nicht, der fröhlich
ist. Denn die Fröhlichkeit ist bloß das Vermögen, alle Vor-
fälle des Lebens aus dem Gesichtspunkte zu betrachten, der
uns auf irgend eine Art in den unangenehmen Vorfällen
Vergnügen verschafft. So wie Epikur der Philosophie des fröh-
lichen Gemüts, nicht aber ein Philosophie der Wollust war.
/|P_339
/Denn die Alten haben nur aus Versehen das Wort voluptas durch
Wollust übersetzt. Dies sieht man auch daraus, daß Epikur
seine Gäste in seinem Garten, den er ihnen als den Ort des
Vergnügens anpries, mit polenta (einer Art schlechter Grütze)
aufnahm.
/ Jede Annehmlichkeit muß, um Freude zu heißen, bis zum
Grade des Affekts steigen. Nicht jeder Schmerz ist eine Trau-
rigkeit, wenn man ihn bis zum Gemüt dringen läßt, und alle
Philosophie zweckt dahin ab, daß der Mensch kein Vergnügen,
keinen Schmerz bis zu seiner Seele dringen lasse, außer dem
Schmerz wegen Übertretung seiner Pflicht. Und da es der
Mensch wirklich soweit bringen kann, so sehen wir daraus,
daß uns die Natur nicht so gemacht hat, daß wir dem Affekt
der Traurigkeit unterworfen sein sollen. Aber ebensowenig
sollen wir uns das Vergnügen bis in die Seele dringen lassen.
/ Der Qualität nach gehören alle Affekte entweder zur
Freude oder zur Traurigkeit. Dem Grade nach aber sind sie
sehr unterschieden, ob es gleich zum Affekt gehört, daß die
Neigung so hoch steige, daß sie das Gleichgewicht der Summe
aller übrigen Neigungen aufhebe, d. h. alle andern verdunkele
und vertilge. Man verachtet gemeinhin alle Menschen, die im
Affekt sind. Aber doch hält man einige Affekte dem Menschen
zu gut, z. B. den edeln Zorn, da jemand für die Rechte der
Menschheit eintritt und zürnet, wenn etwa ein unschuldiger Ar-
mer unterdrückt wird. Jeder Affekt ist eine Degradation der
Menschheit, weil der Mensch nicht mehr sein eigener Herr ist,
und die obere Willkür nicht mehr disponiert, sondern vielmehr
die Torheit prävaliert, und der Mensch nicht mehr nach Über-
legung über seinen ganzen Zustand disponiert.
/ Eine ausgelassene Freude ist kindisch, außer wenn sie
aus der Bonität und dem Glücke der ganzen Menschheit entspringt.
Alle Tiere sind der angenehmen Empfindung fähig, aber nicht
der Freude darüber, sowie der unangenehmen Empfindung, aber
nicht der Traurigkeit darüber. Denn letzteres entspringt aus
der Vergleichung des jetzigen Zustandes mit dem vorigen, die
ein Tier anzustellen nicht vermögend ist. Daß also die Men-
schen durch ihre Torheit etwas vergnügt und ergötzt werden
und daß sie Schmerz empfinden, kann ihnen nicht verdacht
werden. Daß sie aber über etwas freudig und traurig oder be-
trübt werden, steht ihnen nicht an. Der Affekt gehört zum Ge-
fühl, die Leidenschaft zur Begierde. Die Empfindsamkeit muß
man aber sehr vom Gefühl unterscheiden. Die Empfindsamkeit
ist auch unterschieden von der Reizbarkeit, die man bei den
Affekten verspürt, und die eben in dem baldigen Ursprunge
einer Begierde besteht. Die Empfindsamkeit ist eine Feinheit
in der Untersuchung, vermöge welcher jemand leicht bemerken kann,
was gefällt und nicht gefällt oder mißfällt. Sie dient also
zum Urteilen und steht jedem Menschen gut. Das Gefühl aber
entsteht, wenn diese Empfindsamkeit in eine Begierde versetzt
wird, und dann schickt sie sich für keinen Mann. Es kann je-
mand ein Zartgefühl oder Delikatesse z. B. bei der Ehre haben,
d. h. er kann durch den geringsten Umstand beleidigt werden.
Dies Gefühl aber ist unerlaubt. Hingegen ist eine zarte Emp-
findung erlaubt. Das zarte Gefühl ist eine Verwandlung der
Empfindsamkeit in eine Begierde. Der Mann muß aber nicht ver-
zärtelt oder weibisch sein.
/|P_340
/ Das Frauenzimmer hält ungemein viel auf Vorzüge und ist
in Ansehung des Ranges und der Ehre sehr delikat. Die Frau
verlangt jederzeit, daß der Mann die Ungemächlichkeiten über
sich nehmen soll. Die Ursache ist, weil sie ein starkes Gefühl
hat oder verzärtelt ist. Sehr reizbar sein, ist eine sehr
große Schwäche. Aber die Empfindsamkeit oder Zärtlichkeit in
Untersuchung ist gut. Wer viel Empfindsamkeit hat, wird in Ge-
sellschaft bei einem Scherze, der persönlich gemacht wird,
doch immer so sprechen, daß er keine, besonders kein Frauen-
zimmer beleidige. Denn man muß wissen, daß ein Frauenzimmer
am leichtesten sich in Ansehung der ihm gebührlichen Achtung
beleidigt findet. Die Ursache ist dies, weil alle Menschen in
Ansehung des Punktes, der ihnen streitig gemacht werden könnte,
am alleraufmerksamsten sind. Ist ein Ausdruck zweideutig, so
bleibt man desto leichter bei ihm stehen, weil man glaubt,
daß man beleidigt sei. So geht's dem Frauenzimmer. Denn der
Grund der Achtung derselben ist zweideutig genug, weil sie
doch ebensoviel Achtung verdienen sollten, als eine Mannsper-
son, und eben deswegen sind sie in diesem Punkte so delikat.
Allgemein kann man also anmerken, daß man auf einem Punkt,
über den noch gestritten wird, ungemein sehr hält und auf einen
Vorzug desto mehr erpicht sei, je zweideutiger er ist. Die
Frauenzimmer aber haben keine eigentlichen Vorzüge weder durch
Gelehrsamkeit noch Staatsmaximen, und keine rechten Verdien-
ste, gegen die man Hochachtung haben sollte. Daher sind sie
so eifersüchtig auf ihre Ehre. Die zärtliche Liebe besteht
nicht in der Größe des Affekts, sondern in der Feinheit und
Beurteilung alles dessen, was einem Andern im mindesten unan-
genehm sein könnte. Also ist die Zärtlichkeit sehr weit von
der Verzärtelung unterschieden. Denn man kann zärtlich lie-
ben und eben deshalb die größte Ungemächlichkeit übernehmen.
Es können bei jemanden starke Affekte herrschen, aber sie sind
darum noch nicht heftig. Denn die Heftigkeit besteht nicht im
Grade der Affekte, sondern in dessen Überraschung. Menschen,
die feig sind, haben gemeinhin große Leidenschaften, aber
sie sind deshalb nicht auffahrend, heftig und ungestüm, sie
lassen sie auch nicht ausbrechen, weil sie ihr Unvermögen zu
satisfazieren kennen. Beim Zorn sowohl als beim Haß liegt
ein Unwille gegen einen andern zum Grunde. Sie unterscheiden
sich aber dadurch, daß der Haß dauernd, der Zorn aber nicht
dauernd und dennoch heftig ist. Wahre Leidenschaften entsprin-
gen nur aus dem Verhältnisse gegen Sachen, ausgenommen wenn
man das Tierische in der Liebe beim Menschen betrachtet. Denn
hier hat gleichsam der Mensch Appetit zur Sache, zum Genuß,
und er sieht den Menschen vom anderen Geschlecht bloß als
eine Sache an, die man brauchen kann. Diese Liebe enthält auch
keinen Affekt des Wohlwollens, sondern ein Mensch macht sich
nichts daraus, den andern Menschen, wonach er als nach einer
Sache Appetit hat, den er hier nur als Sache zum Gebrauch be-
trachtet, aber dadurch (durch den Gebrauch) unglücklich zu
machen. In regula aber scheint es doch, als wenn es gegen Sa-
chen von keiner Wichtigkeit wäre, sondern dies nur insofern
einen Wert habe, als es auf den Menschen eine Beziehung hat.
/ Nun können wir in Ansehung des Menschen noch folgendes
merken:
/ 1. Der Zustand anderer Menschen ist ein Grund der Sympa-
thie, und diese ist ein großer Grund der Regemachung unserer
Affekte. So heitert z. B. der lustige Gesellschafter, der mit
Scherz ins Zimmer tritt, die ganze Gesellschaft auf.
/|P_341
/ 2. Alle Neigungen gehen entweder auf Menschen oder auf
Sachen, letztere aber sind bloß Mittel, unser Verhältnis ge-
gen die erstern zu erhöhen. Denn die Sache scheint an und für
sich selbst keine Wichtigkeit für uns zu haben, sondern sich
nur den Menschen und dem Zustande derselben zu widmen. Die
Urteile der Menschen sind bloß die Ursachen unserer Neigun-
gen. So ist Ehrliebe die Neigung bei andern in gutem Ruf, in
guter Meinung zu stehen. Aber eigentlich ist sie keine Nei-
gung, sondern nur eine Art von Billigung. Sie ist die vorzüg-
lichste Neigung und liegt allen Affekten wenigstens indirecte
zum Grunde, ausgenommen bei dem tierischen Triebe nicht, wo
bloß eine Neigung auf den Genuß der Person, als Sache be-
trachtet, geht. Mit der Ehrliebe hängen alle Neigungen zusam-
men. Man ist nicht mit seinem angenehmen Zustande zufrieden,
sondern wir wollen noch in der Meinung anderer in Ansehung
unserer Person und unseres Zustandes eine vorteilhafte Stelle.
Es läßt sich die Ehrliebe nicht nur mit der Tugend verglei-
chen, sondern auch vereinigen. Daher nimmt man die Redensar-
ten: Er ist ein Mann von Ehre oder ein tugendhafter Mann in
einerlei Bedeutung.
/ 3. Die Menschen haben einen gewissen Hang zur Gemeinheit,
da wir die Dinge bloß nach dem Maße schätzen, als sie von
andern gebilligt oder geschätzt werden. Denn einer will, daß
das, was ihm gefällt, auch andern gefallen soll. Die Vorsicht
hat hierdurch unsre Neigungen vom Interesse des Ganzen abhän-
gig machen wollen. Keiner verbirgt die Wissenschaften. Denn
er sieht den Wert derselben im allgemeinen Beifall, und die
Wissenschaften vergnügen uns also bloß wegen dieses Hanges.
/ 4. Es gibt ferner eine gewaltige Rechtsliebe, sowohl in
Ansehung der Sachen, als auch der Personen, und im letztern Fall
ist sie am heftigsten, d. h. wir haben einen Affekt an dem
Moralischen oder an den Urteilen über Recht und Unrecht. Wir
geraten oft in einen Affekt, nicht weil wir durch das Faktum
eines Andern großen Schaden gelitten, sondern weil uns dadurch
Unrecht geschehen. Es wird durch das Unrecht entweder das
Recht an der Sache oder das Recht, so der Person anhängt,
beleidigt. Letzteres bringt den Affekt zuwege und wird mit
der größten Empfindung aufgenommen.
/ Gewisse Affekte bekommen ihren Namen nicht vom Objekt,
sondern von der Art, wie sie entspringen. So sind Zorn, Haß
und Erbitterung nicht dem Objekte nach, sondern nur dem Grade
nach voneinander unterschieden. Daher man einen Menschen, der
leicht zürnt, aber auch leicht wieder besänftigt wird, eher
duldet, als einen, der langsam zum Zorn bewegt wird, dessen
Haß aber auch hernach desto langwieriger ist. Wir lieben und
billigen aber keinen Zorn um deswillen, weil er ohne Überle-
gung geschieht, obgleich er bald vergeht. Und es ist ein jäh-
zorniger Mensch, der durch die geringste Kleinigkeit in Har-
nisch gebracht wird, darum unleidlich, weil das ein habitueller
Zustand ist. Denn obgleich ein solcher Mensch wegen kurz vor-
her angetaner Beleidigung abbittet, so ist man doch keinen
Augenblick sicher, daß er nicht wieder Grobheiten sagt. Diese
Irritabilität des Zorns nennt man auch Empfindsamkeit, und
diese ist höchst verwerflich. Die Ursache aber davon
liegt mehrenteils in der Erziehung und Menschen sind heftig
und auffahrend, weil sie in der Jugend keinen Widerstand ge-
funden haben. Fast alle Geographen führen von den Kreolen -
/|P_342
/welches Leute sind, die in Amerika von europäischen Eltern
geboren sind - an, daß sie ungestüm, stolz, auffahrend,
zornig sein sollen. Indessen sagt ein anderer Autor von ih-
nen, daß sie die besten Leute wären und auch vielen Verstand
hätten. Die Ursache ihres Ungestüms ist, weil sie von ihrer
Kindheit an mit einer Menge von Negersklaven umgehen, die wie
Pudelhunde abgerichtet sind, und schon für das bloße Geschrei
der Kinder ohne Untersuchung abgeprügelt werden. Wenn bei uns
die jungen Herren so erzogen werden, so können sie ebenfalls
solche Kreolen werden. Der Mensch aber ist ein Tier, das
Disziplin nötig hat.
/ Die Romane erregen Affekte, unterhalten auch Leidenschaf-
ten. Es ist gefährlich, eine Leidenschaft zu nähren, denn sie
führt immer weiter und wächst. Der Affekt ist nur ein vorüber-
gehender Sturm. Was das Schauspiel betrifft, so wird hier der
Affekt durch Vorstellungen des Lebens erhalten. Komödien er-
regen nicht Leidenschaft, sondern nur Affekt. Auch Lachen ist
Affekt. Daß Komödien nur veredeln, kann man nicht sagen,
wohl aber, daß sie unsere Urteilskraft kultivieren. Alle
Romane werden kalt, wenn sie in die Ehe kommen, und man kann
sagen, das Ende der Liebespein ist das Ende der Liebe. Bü-
cher, die die Grenzen überschreiten, kann man einteilen in:
kopfbrechende, herzbrechende und halsbrechende. Der größte
Teil der Romane gehört unter die Klasse der Herzbrechenden
und ist bloß chimärische Sache.
/ Das Benehmen in der theatralischen Vorstellung ist un-
terschieden von dem Benehmen des Konversationstons, und daher
ist es albern, wenn man vorgibt, daß durch die Aufführung
der Komödien, z. B. der Kinder bei den Geburtstagen ihrer El-
tern, die Sitten kultiviert werden. Denn es ist etwas Anderes
agieren und mit Menschen umgehen. Die jungen Leute, die oft
agieren, nehmen gemeinhin einen theatralischen, affektierten
Ton an, der sich im gemeinen Leben nicht schickt. Komödien
haben kein weiteres Interesse, ihre Unterhaltung währt nur so
lange, als die Aufführung des Stücks. Daß Trauerspiele jun-
gen Leuten besser gefallen, als Komödien, kommt daher, weil
die Affekte stark werden, steigen, aber auch bald verschwin-
den. Dies ist nicht der Fall bei Lustspielen. Sie gefallen
der Jugend nicht so sehr, als den Alten, weil diese dabei
sich zu erholen suchen, hingegen mögen sie wieder nicht gerne
Trauerspiele sehen, weil bei ihnen die Eindrücke lange haften,
welches bei dem jugendlichen Alter nicht stattfindet. Komö-
dien dienen zur Bewegung des Gemüts, aber nicht zur Besse-
rung.
/ Romane sind ganz zu tadeln, weil sie - die Ver-
schwendung der Zeit abgerechnet - das Gedächtnis außerordentlich
schwächen. Und dieses deswegen, weil wir die Romane immer
nur in futuram oblivionem lesen. Kommen wir nun an wichtigere
Dinge, und lesen sie auch mit ganzem Ernst, so können wir sie
doch nicht behalten. Der Mensch entwöhnt sich attent zu sein.
Noch ein großer Schade ist der, daß wir uns durch das
Romanlesen ganz in eine Feenwelt versetzen und Ereignisse,
die nie geschehen können, für leicht und möglich halten. Da-
zu kommt, daß wir indem wir einen Roman lesen, wir selbst
noch immer einen neuen dazu machen, indem nach unserer Mei-
nung manche Begegenheiten ganz anders hätten sollen erzählt
werden. Wenn man zu einem von beiden raten soll, so sind die
Komödien ratsamer, weil sie mit Laune und allerhand Art von
/|P_343
/Ideen aus dem wirklichen Leben angefüllt sind.
/ Die Bewegungen der Affekte, wenn sie heilsam sind, können
stattfinden in der Konversation, und diese Art von Gemütsbewe-
gung geschieht zwiefach:
/ 1. durch Gespräche,
/ 2. durch Spiel.
/Zur Gesellschaft, aber nicht zur Konversation gehörig ist:
/ 1. Musik,
/ 2. Tanz - sozusagen stumme Gesellschaften.
/ Das Spiel ist erstens eine heilsame Unterhaltung, weil es den
Affekt bewegt, zweitens eine gesellige Unterhaltung, es ver-
hindert nicht nur die Langeweile, sondern auch viele unange-
nehme Empfindungen und Unterhaltungen, besonders skandalöse,
drittens eine Unterhaltung, die sehr zur Kultur beitragen kann.
/ Das Gespräch wird am besten bei der Tafel kontinuiert. Die
Engländer haben zwei Stücke von der Art. Denn sie rühmen: 1.
den geselligen Kamin, 2. den geselligen Tee.
/ In dem Tee schwelgen sie bis zum Übermaß. Dies sieht
man schon daraus: Es kommen jährlich 17_000_000 Pfund Tee nach
Europa und davon nehmen die Engländer allein 10_000_000 Pfund.
Sie trinken ihn außerordentlich stark und schwächen dadurch
ungemein ihre Nerven. Sie suchen aber den Gebrauch des Tees
dadurch zu verbessern, daß sie viel dabei essen. Jemand sagte,
Tee wäre sehr schädlich, 1. weil die Gedärme der Schweine,
die warme Getränke zum Saufen bekämen, nicht zum Wurstmachen
taugten, indem sie gleich entzweirissen, und 2. weil die Men-
schen, die in den Teemagazinen arbeiten, gewöhnlich ein Zit-
tern in den Gliedern haben.
/ Durch beide Geschlechter wird die Konversation am besten
gehalten oder sie ist nicht angenehm. Der Ton, der zur Zeit-
kürzung und Aufweckung dient, ist der, wenn die Konversation
kein Geschäft, sondern ein Naturspiel oder dergl. ist. Auch
deswegen müssen bei solchen Unterhaltungen keine wichtigen
Geschäfte abgehandelt werden, weil die Frauenzimmer keinen
Teil daran nehmen. Und ihre Gegenwart ist deswegen auch bei
der Tafel notwendig, weil dadurch die Rechthaberei der Männer
im Zaume gehalten wird. Das sieht man bei den Tafeln der Eng-
länder, wo sich die Damen gegen das Ende der Mahlzeit entfer-
nen, alles abgenommen wird, und die Männer nun allein die
Bouteille noch vornehmen, denn sobald dies geschehn, herrscht in
der Gesellschaft gleich eine gewisse Rohigkeit. Bei Tisch muß es
scheinen, als wenn das Essen nur Nebensache wäre. Lord Chester-
field sagt: Eine Tischgesellschaft muß nicht unter der Zahl
der Grazien, aber auch nicht über die Zahl der Musen sein.
Die Menschen müssen sich alles kommunizieren. Dies geht aber
in einer großen Gesellschaft nicht füglich an. Und es ist
in der Tat beleidigend, wenn in einer Gesellschaft sich zwei
ins Ohr zischeln. Zwei Personen sind entweder alle beide
still oder sie haben keine rechte Unterhaltung oder es müßte
denn sein, daß einer mit dem Andern Geschäfte abzumachen
hätte. Eine Gesellschaft, die größer ist als neun, heißt
ein Gelag, wo man zum Teil fremd ist, und jeder redet wie
und wenn er Lust hat. Man hört in einer solchen Gesellschaft
nicht darauf, was jemand spricht, und man antwortet oft das
Gegenteil. Daher kommt der Ausdruck "ins Gelag hinein reden".
Solche Gelage, wenn sie bei Solennitäten gegeben werden,
heißen Fêten, Schmause. Man nennt sie auch mit Recht biswei-
len "Abfütterungen", weil es da nur ums Essen zu tun ist.
/|P_344
/Denn Unterhaltung ist höchstens nur unter zwei Personen
möglich.
/ Das Vergnügen bei der Mahlzeit ist das solideste, denn
/ 1. es kann mehr als einmal des Tages,
/ 2. es kann auf lange Zeit,
/ 3. es kann zugleich mit Kultur genossen werden.
/ Es gibt auch stumme Mahlzeiten, nämlich die, wo die so-
genannte Tafelmusik ist, und auch öffentlich stumme, die
große Herren im Garten geben, wo alle Menschen zusehen kön-
nen, wie z. B. der König von Spanien. Der genannte König sitzt
alsdann ganz allein an einer Tafel, ebenso auch seine Gemahlin.
Indes befinden sich die Adjutanten, welche das sogenannte
Corps diplomatique ausmachen, im Zimmer.
/ Die Unterhaltungen bei der Tafel sind: 1. das Erzählen,
2. das Raisonieren, 3. das Scherzen.
/ Was das Erzählen anbetrifft, so kommt man zuerst auf die
Witterung, dann auf die Stadtneuigkeiten, Landneuigkeiten, zuletzt
auf die, so ganz Europa betreffen usw. Dann geht's ans
Raisonieren. Unter allen Raisonnements scheint keines inter-
essanter zu sein, als das über die Handlungen und Leidenschaf-
ten der Menschen. Das Raisonieren kommt dann, wenn der erste
Appetit gestillt ist, und zuletzt kommt der Scherz. Eine
Mahlzeit, wo immer gescherzt werden soll, ist unerträglich.
Daß eine Gesellschaft animiert wird, beruht darauf, weil ein
jeder mitreden kann, indem er gleiches Interesse hat. Mancher
präpariert sich auch bisweilen darauf, was er in Gesellschaft
sprechen will. Jemand las z. B. allemal, ehe er in Gesell-
schaft ging, eine Seite aus Wolffs Naturrecht und wußte es
dann hernach immer auf die Materie hinzuleiten, wo er mit-
sprechen konnte. Es ist recht gut, wenn man eben vorher die
neueste Zeitung vorliest. Denn das gibt immer einen Stoff zum
Anfange. Solche interessanten Mahlzeiten gefallen nicht al-
lein, wenn man sie genießt, sondern auch nur die bloße Erin-
nerung daran gewährt schon Vergnügen. Übel ist es, wenn eine
Gesellschaft stockstill wird. Es wagt nämlich alsdann keiner
das Gespräch wieder anzufangen, denn er glaubt, alle werden
nun auf einmal auf ihn sehen. Wenn eine Materie auf die Bahn
gebracht wird, so muß man sie kontinuieren suchen und
nicht unterbrechen mit dem "Erlauben Sie doch, vergessen
Sie doch nicht Ihr Wort u. dgl.". Es zeugt von großer Ge-
schicklichkeit, wenn jemand das Herz hat, die Gesellschaft
aus der Stille zu bringen. Denn ist das Räderwerk nur erst
aufgezogen, dann geht es von selbst fort. Man kann wohl Ma-
terien zum Goutieren geben, aber wenn sie nicht gefallen,
auch nicht weiter daran denken, sonst bestände das Gespräch
aus lauter Fragmenten, die den Kopf verwirren. Die Rechthabe-
rei ist im Discours unerträglich. Um so profitabler ist für
die Gesellschaft die Willfährigkeit, womit einer dem Andern
seine Behauptungen zugibt. Manchmal hat ein Mensch Recht in
der Sache, aber nicht im Tone, weil er zu apodiktisch spricht
und dies ist tadelnswert. Die Franzosen haben bei einem Wider-
spruch die Gewohnheit, den Andern um Verzeihung zu bitten,
damit sie ihm kein Dementi geben. Ein solches ist z. B. die
Ausforderung der alten Ritter: So oft du dies gesagt, noch
sagst und sagen wirst, hast Du gelogen, lügst und wirst in
Deinem Hals lügen. Der Konversationston ist in Frankreich der
vollkommenste. Hier wurde auch zuerst das Frauenzimmer in Ge-
sellschaft gebracht.
/|P_345
/ Wir haben jetzt die Elementarlehre geendigt, worin alle
innern Bestandteile des Menschen constitutive betrachtet wur-
den. Nun wollen wir zum zweiten Teil der Anthropologie gehen.
Dieser ist die Methodenlehre oder eigentlich generaliter
/ ≥ Die Charakteristik ≤
/ Sie handelt davon, wie wir den Menschen beurteilen sol-
len, in Beziehung aller Eigenschaften. Dies ist die Anwendung
der Elementarlehre. Charakter zeigt immer dasjenige an, woran
man ein Ding erkennen kann. Der Charakter des Menschen ist
zwiefach: 1. der Charakter des Menschen als Naturwesen.
/ 2. der Charakter des Menschen als freihandelndes
Wesen im engsten striktesten Verstande, insofern er
die Denkungsart des Menschen nach festbestehenden Grundsät-
zen anzeigt. Naturwesen und freihandelndes Wesen ist das All-
gemeine. Wir werden nun folgende Teile des Charakters der Reihe
nach durchgehen: I. den Charakter der Person, II. den Charak-
ter des Geschlechtes, III. den Charakter des Vol-
kes, IV. den Charakter der Rasse, V. den Charakter der Gat-
tung.
/ Wir werden jetzt auch von alledem Gebrauch machen, was
bisher teilweise erwogen worden ist.
/ I. Charakter der Person.
/ Der Charakter des Menschen enthält folgende drei Stücke:
/ 1. Naturell - Talent, Naturanlage, geht auf das Erkennt-
nisvermögen.
/ 2. Temperament - Sinnesart, geht auf das Gefühl der Lust und
Unlust.
/ 3. Charakter - Denkungsart, geht auf das Begehrungs-
vermögen.
/ 1. Von dem Naturell, das im Talent gesetzt ist.
/ Im Talent sind zwei Stücke, nämlich: 1. das Naturell oder
die Fähigkeit und das Vermögen des Menschen zum Lernen, eine
gewisse Empfänglichkeit, Rezeptivität, 2. Geist oder
das Vermögen, was schlechterdings nicht gelernt werden kann,
was die Weise angibt, wie wir etwas aus eignen innern Quellen
lernen können.
/ So sagt man: der Mensch hat ein gelehriges Naturell,
wenn er Fähigkeiten gelehrt zu werden oder auch Begierde zum
Lernen hat. Ferner kann man sagen: der Mensch hat ein sanftes
oder ungestümes Naturell, denn es besteht in den Gemütskräf-
ten. Ein rohes Naturell nennt man das, was immer in Wider-
sprüche ausbricht. Was das Naturell in Ansehung des Vermö-
gens betrifft, so sagt man: der Mensch hat ein Naturell zur
Dichtkunst, Geschichte usw. Ein Lehrer erforscht das Naturell
seiner Zöglinge, die Eltern das Naturell ihrer Kinder, Herren
das Naturell ihrer Diener. Das Naturell besteht gleichsam in
der Lenksamkeit. Daher erforschen umgekehrt die Zöglinge das
Temperament ihres Lehrers, die Kinder das Temperament ihrer
Eltern und Diener das Temperament ihrer Herren. Es ist kein
Bedienter, der nicht das Temperament und die schwache Seite
seines Herrn sollte auszuspähen suchen, wenn er etwas Kopf
hat. Findet er z. B., daß der Herr furchtsam ist, so malt er
ihm bei jeder ihm unangenehmen Unternehmung die dabei zu über-
stehenden Gefahren usw. Auch Kinder sind schlau genug zu be-
obachten, wie sie Einfluß haben können. Wenn wir nehmen das
Naturell eigentümlich, so haben die Russen am mehrsten Natu-
rell. Denn sie ahmen gern und mit vieler Genauigkeit nach.
/|P_346
/Sie machen alles selber und daher kann keine Kunst große
Fortschritte bei ihnen machen. Daher brauchen sie auch so
wenig Städte, weil sie die Handwerker ganz entbehren können.
Es sind auch in dem russischen Reich verhältnismäßig außer-
ordentlich wenig Städte. Es fehlt den Russen an den ersten
Grundbegriffen und Prinzipien, daher sie nie Lehrer werden
können. Denn man lehrt nie gut, wenn man so lehrt, als man
selber ist unterrichtet worden, nur mechanisch. Sie besitzen
kein Genie, ziehn auch daher immer auswärtige Gelehrte ins
Land. Denn ein Gelehrter muß nie ohne Genie sein. Die Fä-
higkeiten in Ansehung des Kopfes heißen Talente, das Vermö-
gen desselben in Ansehung des Verstandes und Gedächtnisses
heißt Genie.
/ Beim Talent wird hauptsächlich auf Geist gesehn. Geist
ist das Vermögen der Erkenntnis, was nicht gelernt werden
kann. Geist bedeutet das Prinzip des Lebens, und daher nennen
wir alles, was belebt, Geist. Der Geist ist zwiefach: 1. ein
gewisser eigentümlicher Geist, 2. ein eigentlicher Geist.
/ Das Wort "Geist" wird hier in dem Verstande genommen, wo-
rin es z. B. von einer Unterredung oder einem Buche genommen
wird, wovon man sagt: Es ist ohne Geist, wenn etwa zwei gründ-
liche, aber alltägliche Sachen ohne Geist vorgetragen sind.
Nun bedeutet das Wort "Geist" eigentlich das Prinzip des Le-
bens. Geist in einem Buche nennt man eine Ingredienz, wodurch
das Gemüt gleichsam einen Stoß bekommt und bewegt wird, oder
alles, was unsere Gemütskräfte durch große Aussichten, Ab-
stechung, Neuigkeit usw. erregen kann. Daher muß jedes Bon
mot etwas Überraschendes und Unerwartetes oder einen Geist
enthalten. Das Genie ist ein Geist, aus dem der Ursprung der
Gedanken herzuleiten ist, und erfordert also einen eigentüm-
lichen Geist, der dem Geist der Nachahmung entgegenge-
setzt ist. Solche Genies sind selten und ob man gleich in
einigen Wissenschaften z. B. in der Mathematik ohne Genie fort-
kommt, weil man hier nur nachahmen darf, so sind die erstern
doch vorzuziehen. Das Genie findet man vorzüglich bei den Fran-
zosen, Engländern und Italienern, doch ist das wahre und
eigentümliche Genie nur bei den Engländern, weil sowohl bei
ihnen als auch bei den Italienern die Freiheit und Regierungs-
form viel beiträgt es zu begünstigen, wo es keiner für not-
wendig halten darf, sich dem Hofe, den Vornehmen oder irgend
einem Andern zu akkommodieren. Denn wo schon der Hof allzu
gewaltig und furchtbar ist und sich alles nach einerlei Mu-
ster bildet, da muß zuletzt alles einerlei Farbe bekennen.
Bei den Deutschen findet man größtenteils den Geist der Nach-
ahmung sowohl in großen als in kleinen Sachen, woran unsere
Schriftsteller viel Ursache haben. Es besitzt zwar jeder et-
was Eigentümliches. Allein die gegenwärtigen Schulanstalten,
wo alles zur Nachahmung genötigt wird, verhindern die Ent-
wicklungen des Genies. Es ist in keinem Lande der Schulzwang
größer als in Deutschland. In England treibt man die Kinder
nicht sonderlich zum Lernen an. Allein bei jeder Gelegenheit
weist man sie an, etwas zu profitieren. Die Laune gehört zum
Eigentümlichen des Naturells und das Genie zum Eigentümlichen
des Talents. Der Unterschied zwischen dem Naturell und Genie
ist, daß wir leidend sind in Ansehung des Naturells und tä-
tig in Ansehung des Genies.
/|P_347
/ Wir wollen jetzt vom Geist abbrechen, da schon beim
Genie davon gehandelt worden ist, und die Einteilung des Men-
schen vornehmen in:
/ Kopf und Herz. So ganz richtig ist sie nicht. Es sollte
noch das Gemüt dazwischen gestellt werden. Denn wir unter-
scheiden auch noch Gemüt und Herz. Wenn man sagt: der Kopf
ist gut und das Herz ist böse, so teilt man den Menschen in
zwei Teile ein. Es ist aber nicht richtig. Denn man sagt
auch: er hat ein gut Gemüt, hier ist also noch kein Bezug
aufs Herz. Wenn es heißt: Er ist ein guter Mensch, da ist
ordinär nicht viel dahinter. Das gute Gemüt gehört zum Gefühl
der Lust und Unlust, dahingegen ein gutes Herz zum Begehrungs-
vermögen. Der Mensch, der ein gut Gemüt hat, hegt keinen Groll,
hat keine Nachempfindungen und vergißt leicht das ihm ange-
tane Unrecht. Überhaupt sagt man von dem, der sich alles ge-
fallen läßt und niemandem Widerstand leistet, er habe ein
gutes Gemüt.
/ Gutherzig ist aber ganz etwas anderes. Es heißt soviel
als: er hat Wohlwollen. Ein wahrhaft gutes Herz hat bei der
Austeilung seiner Wohltaten gewisse feststehende Prinzipien.
Das ist noch nicht Gutherzigkeit, wenn man niemand etwas ab-
schlagen kann und zwar deswegen, weil man nur durch Sprechen
von einem solchen etwas erlangen kann. Denn schriftlich schla-
gen sie es gewiß immer ab. Dies liegt an einer gewissen
Weichmütigkeit. Es ist in der Art ein Wohlwollen, daß er
nur nicht andere über sich mißvergnügt sehen kann. Jeder
muß seinen eigenen Sinn, d. h. feste Grundsätze haben, und
sich nicht nach den Wünsche eines jeden andern stimmen lassen.
(Denn ein solcher würde sich ja lediglich wegen dieser Eigen-
schaft zu jeder Missetat ebenso als auch zu bessern Handlun-
gen verleiten lassen.) Dies ist lobenswert und notwendig.
Sehr tadelnswert aber sind die Eigensinnigen, die den Grund-
satz haben, andern nie zu folgen. Gemeinhin ist hierbei viele
Pedanterie und Affektation. - Man hält die Engländer im gan-
zen für solche Leute.
/ ≥ 2. Vom Temperament ≤
/ Das Temperament oder die Sinnesart kann man körperlich
oder psychologisch abhandeln. Der Arzt betrachtet das Tempe-
rament körperlich, und zwar: 1. der Konstitution nach.
Sie geht auf das Bauwerk. Ein Gelehrter muß eine starke Kon-
stitution haben. Denn das viele und tiefe Denken ist sehr an-
greifend, daher ein sehr schwächlicher Körper es selbst in
den Wissenschaften nicht weit bringen kann.
/ 2. der Komplexion nach. So nennt er die Mischung der
Säfte. Daher sagt man: Der Mensch ist von feuchter oder trock-
ner Komplexion. Dieser Unterschied kommt bloß von der Lage
und dem Sprung der Fasern her. Allein diese Materie gehört
ganz zur Medizin, und wir wollen hier vom Temperament nur
psychologisch handeln.
/ Die Gemütsbeschaffenheit, insofern sie sich auf Komplexion
bezieht, heißt Temperament. Unter dem Gemüte versteht man
nicht das Vermögen der Seele, sondern nur die Kraft sich die-
ses Vermögens zu bedienen, und mithin die Beschaffenheit der
Neigungen und Affekte, die aus seiner Komplexion fließen.
Man zählt gemeiniglich vier Temperamente. Wir wollen um meh-
rerer Deutlichkeit willen die Gemütsbeschaffenheit bei herr-
schenden Neigungen auf eine zwiefache Weise unterscheiden.
/|P_348
/Zuerst wollen wir die Temperamente auf zwei Gattungen reduzieren
und hernach jeder Gattung zwei Temperamente zuordnen. Der
Unterschied zwischen Gefühl und Begierde ist oben festge-
setzt worden. Hieraus aber folgern wir, daß Menschen zuwei-
len gleiche Empfindungen haben und doch in Ansehung ihrer
Begierden ganz unterschieden sein können. Das Temperament
der Seele besteht also in Gefühlen und Triebfedern und wird
eingeteilt:
/ I. in das der Empfindung nach. Dies geht auf das Wohl-
und Uebelbefinden, auf Fröhlichkeit und Betrübnis, und ist
zwiefach:
/ 1. das sanguinische, als Hang zur Fröhlichkeit, 2. das
melancholische, als Hang zur Betrübnis.
/ II. in das der Tätigkeit nach. Der Mensch hat Triebfe-
dern zur Tätigkeit, und dies zuweilen, noch ehe er etwas be-
gehrt. Man sieht dies schon an Kindern, welche, wenn man ih-
nen gar keine Arbeit gegeben, etwas Böses tun, z. B. Schaber-
nack u. dgl. Auch dieses Temperament ist zwiefach:
/ 1. das cholerische, als eine Triebfeder zur raschen Tätig-
keit, 2. das phlegmatische, als eine Triebfeder zur sauren,
aber behenden Tätigkeit.
/ Man sieht leicht, daß sehr viel auf den Zustand
und die Beschaffenheit des Menschen ankomme, und daß er viel
von der Seite tun kann, von der er die Dinge der Welt betrach-
tet. Der Mensch kann nicht verhindern, daß ihn etwas vergnü-
ge oder schmerze, aber Traurigkeit und Freude stehn in sei-
ner Gewalt und Disposition. Die Benennungen, deren wir uns
jetzt bei den Temperamenten bedienen, sind von den Ärzten
hergenommen, die damit die körperlichen Temperamente bezeich-
nen. Sanguinisch heißt leichtblütig, melancholisch heißt
schwerblütig (eigentlich bedeutet es schwarzgallig), chole-
risch heißt warmblütig, phlegmatisch heißt kaltblütig. Wir
bekümmern uns gar nicht um das Blut, obgleich vieles im Kör-
per liegt.
/ I. Die Temperamente der Empfindung nach.
/ Sanguinisch ist der, bei dem ein Hang zur Fröhlichkeit,
noch ehe er Grund dazu hat, stattfindet. Dies setzt Gesund-
heit voraus. Es gibt Leute von der Art, welche bis auf den
letzten Odem spaßhaft sind. Ein auffallendes Beispiel hier-
von gibt ein Mensch, der, als er in den letzten Zügen lag,
gefragt wurde, wie es denn mit ihm stände, zur Antwort gab:
Ach, nicht zum Besten, denn soeben hat man mir die Stiefeln
geschmiert. Damit wollte er anzeigen, daß er schon die
letzte Ölung bekommen habe. In unserm ganzen Körper ist
doch ein Organ, wo Lebenskraft ist, welches das Wohlbefinden
herfürbringt. Der Hang zur Fröhlichkeit ist eine Wirkung von
etwas, das wir nicht erklären können. Der Sanguinische wird
leicht und stark affiziert, es dringt aber nicht tief ein
und daher dauert die Empfindung nicht lange. Er verspricht
leicht, hält aber schwer Wort. Es geschieht keinesweg aus
Falschheit. Das macht, weil er gutmütig ist. Er denkt nicht
an die Beschwerlichkeit. Denn er ist voll Hoffnung. Er ist
leichtsinnig, legt keiner Sache eine große Wichtigkeit bei,
macht sich daher auch so leicht keine Sorgen. Die geringste
Art des Vergnügens nimmt ihn gleich ganz ein. Die französi-
schen Autoren haben eine gewisse Frivolität, die darin be-
steht, wichtige Sachen klein und kleine Sachen wichtig zu
nehmen. Sie können nicht leiden, wenn eine Sache sehr wichtig
/|P_349
/gemacht wird. Sie bringen dann, ihre Meinung zu behaupten,
unbeträchtliche Dinge vor, denen sie für den Augenblick Wich-
tigkeit geben. Sie besitzen den Esprit de bagatelle vorzüg-
lich, obgleich er wohl allen Menschen eigen ist. Der Sangui-
nische ist scherzhaft, aufgeräumt, gesellschaftlich, er wird
sich nicht grämen. Er wünscht keinem etwas Böses, wird gleich
gut nach einer Beleidigung, und tut er etwas Böses, so redet
er auf die Art: Nun ist es auch zum letztenmal, dann zum
ganz letztenmal, und zum allerletztenmal usw. Bei ihm ist
Seichtigkeit, aber auch unterhaltende Leichtigkeit des Den-
kens. Ein sanguinischer Mensch, der in der Welt nichts für
wichtig ansieht, hat die beste Situation, da ein melancholi-
scher es nicht so bequem hat. Die Franzosen sind unter allen
Nationen am meisten sanguinisch. Diese Nation hat die Quellen
aller Freuden in sich selbst, ist beständig lustig und hei-
ter. Die Lyonischen Weiber, die alle Tage vom Morgen bis
zum Abend am Webstuhl sitzen und arbeiten müssen, freuen
sich auf den Sonntag, um in seidenen Strümpfen zu erscheinen
und ein Mädchen, das ebenso stark hat arbeiten müssen, an
der Hand führen zu können. Überhaupt machen es die meisten
Fabrikanten so. Sie arbeiten die ganze Woche und essen
schlecht, damit sie nur etwas sammeln und Sonntags ausge-
putzt und mit einem Degen gehen, tanzen und sich lustig ma-
chen können.
/ Die nordischen Nationen sind in Ansehung des Vergnügens
ganz passiv. Sie können nicht anders vergnügt sein, als bis
sie sich berauschen. Unsere Vorfahren machten es ebenso. Sie
suchten ihr größtes Vergnügen im Essen und Trinken. Die
Fröhlichkeit aber, die im bloßen Genuß besteht, erschöpft
wirklich unsere Kräfte und ist nicht dauerhaft, sowohl wenn
er in der Anwendung eigener Kräfte, als auch in der Überla-
dung besteht. Bei der Tätigkeit empfindet man sein Leben am
meisten.
/ Der Geschmack des Wirts zeigt sich darin, daß er seine
Gäste so placiere, daß einer den andern vergnügen und unter-
halten kann. Der eine hat Hofkenntnis, der andre hat Bücher-
kenntnis, der dritte versteht die Landwirtschaft. Nun kommt
es nur darauf an, daß diese Köpfe gut geordnet sind. Denn
hier hat jeder Gelegenheit seine Talente zu zeigen und dem
Beisitzer ein Vergnügen zu machen. Es gibt Personen, die be-
sonders dazu aufgelegt zu sein scheinen, einen Discours
rege zu machen und den allgemeinen Anteil zu merken, der
einem Gegenstand zufallen könnte, und die Gesellschaft, die
im Discours lässig geworden, wieder dazu aufzuwecken. Man
muß aber erforschen können, was für eine Materie wohl fä-
hig wäre, das Gespräch in Bewegung zu setzen. Der Effekt
einer solchen Gesellschaft ist, wie Sartorius, der in Anse-
hung des menschlichen Körpers alles nach Maß und Gewicht
bestimmt, anmerkt, eine gute Transpiration. Man fühlt sich
darauf wie neugeboren, wenn man aus einer solchen Gesell-
schaft nach Hause geht. Ärzte sollten hier genau
Rücksicht nehmen.
/ Ein Sanguineus findet immer Verlangen nach etwas Neuem,
hingegen beschwert ihn die Einerleiheit, wenn einerlei Organ
auf ein und eben dieselbe Art beschwert werden. Er ist mo-
disch und kann die Dinge nach Belieben verwandeln, auch
einem schlechten Spiel eine gute Wendung geben. Daß aber
die Einerleiheit beschwere und der Wechsel erleichtere, se-
hen wir an der französischen Nation. Die Einförmigkeit der
/|P_350
/Kleidung zeigt wohl etwas Erhabenes an, aber sie muntert
nicht auf. Der Sanguineus geht in seiner Unzufriedenheit
über das Einerlei so weit, daß er oft das Gute mit dem
Schlechten verwechselt. Wenn man zum Objekt des Sanguini-
schen die Wollust rechnet, so muß man dies von der epiku-
reischen verstehn.
/ Der Melancholische ist in Traurigkeit, er ist der, bei
dem eine Empfindung zwar schwer und langsam, aber auch desto
tiefer eindringt und tiefern Eindruck macht. Und darauf be-
ruht es eben, daß ein solcher Mensch vorzüglichen Hang zur
Traurigkeit hat, er hat wenig Wechsel. Er verspricht nicht
leicht, aber hält das, was er verspricht. Denn ehe er es tut,
bedenkt er immer schon alle Schwierigkeiten und Hindernisse,
die sich bei Ausübung der Sache finden möchten, und dies
geht so weit, daß man solche Leute gewöhnlich Diffikultä-
tenkrämer nennt. Er ist sehr hartnäckig und eigensinnig in
seinen Vorsätzen. Er ist dabei kein seichter, sondern tiefer
Denker. Das melancholische Temperament enthält Quellen der
Dauerhaftigkeit, Schwierigkeit und Verbindlichkeit etwas zu
übernehmen und das Übernommene beständig zu verfolgen. Der
Melancholische ist ordinär voll Verdacht, mißtraut, tut
sich nicht leicht Genüge. Bei ihm ist Haß, Feindschaft und
Unwillen gegen Andre schwer zu vertilgen. Dagegen ist auch
die Freundschaft, die mit einem melancholischen Temperament
verbunden ist, weit dauerhafter und reeller, als beim sangui-
nischen. Denn bei letzterem erlischt die Freundschaft leicht.
Überhaupt ist der Melancholische enthusiastisch in Religion,
in Freundschaft und Vaterlandsliebe - fanatisch - wenn er
mehr Einbildungskraft, als Verstand hat. Insofern die Ein-
bildungskraft eines Enthusiasten zügellos ist, wird er Phan-
tast, insofern sie aber regellos ist, wird er ein Schwärmer
genannt. Wer seinem eignen Zweck zuwider handelt, ist ein
Narr, wer gar keinen oder einen sehr dummen Zweck hat, ist
ein Tor. Wir sehen aber doch noch nicht ein, daß achtungs-
würdige Charaktere jederzeit in Ingrediens von Melancholie
haben müssen. Denn eine jede Achtung, die sich der Mensch
erwirbt, beruht auf einem starken Zusatz von Melancholie. So
sieht ein patriotisch gesinntes Gemüt diese Welt nicht als
einen Schauplatz des Spiels, sondern vielmehr als einen Ort
an, der zu ernsthaften, großen und wichtigen Sachen bestimmt
ist. Man fordert, daß selbst in der Geschlechtsliebe eine
melancholische Zärtlichkeit sein müsse, indem sie von einer
weit größeren Delikatesse erscheint, als eine Lustigkeit im Leben. Der
Melancholische brütet über Chimären, d. h. über Dinge, die
nicht wirklich sind. Er ist entweder irreligiös oder beharr-
lich in seinen guten Grundsätzen. Wenn wir hier den Unter-
schied zwischen einem melancholischen und sanguinischen
Menschen aus der Komplexion herleiten wollten, so würden
wir uns zu tief in die Medizin wagen, wo es uns an genugsa-
men Kenntnissen fehlen dürfte. Soviel ist indessen gewiß,
daß das Gefühl des gesamten Lebens eine Disposition zu al-
lem Vergnügen sei, daß dies Gefühl aber auf der Spannung
der Adern und Fasern beruht, die jede Bewegung anzunehmen
fähig sind, und es hierbei auf ein verdünntes Blut an-
kommt, das recht transpiriert. Auch läßt sich leicht ein-
sehen, daß eine Spannung der Adern und Fasern und ein ver-
dünntes Blut den Menschen ein weit größeres Leben empfinden
läßt, dahingegen dickes Blut und eine schlechte Spannung
des Nervensystems ein großes Hindernis ist, das Leben zu
fühlen. Die Verschiedenheit des Temperaments beruht eigentlich
/|P_351
/darauf, daß bei dem einen die Eindrücke länger haften, als
bei dem andern, und aus der Verschiedenheit des Bluts und
der Spannung der Nerven entspringt die Lust oder Unlust. Der
Melancholische hat die Quelle der Annehmlichkeit und des
Mißvergnügens oder der Traurigkeit in sich. In der Art der
Empfindung ist zwischen einem Melancholischen und Sanguini-
schen kein Unterschied, aber wohl in Ansehung der Aufnahme
der Empfindungen. Die Traurigkeit entspringt aus der Reflexion
über schmerzhafte Eindrücke. Denn ein Melancholicus sieht im-
mer auf die schlechten Folgen zum voraus. Ein Sanguinicus
aber sieht auf dieselben gar nicht. Der Melancholicus sieht
alles für wichtiger an, als es ist, dahingegen der Sanguinicus
des Epikurs Wollust oder ein fröhlich Herz zum Objekt hat.
Der Melancholische soll nach einigen Autoren den Geiz und die
Ungeselligkeit zum Objekt haben. Allein es gibt geizige Leute,
die gar nicht melancholisch sind, sie sind zum Teil großmü-
tig. Hingegen sind viele von den Sanguineis geizig, welches
man besonders an den Franzosen sieht. Denn diese sind zwar
gegen den Fremden höflich, aber zu Gaste bitten sie ihn nicht.
Hingegen sind die Deutschen, die vom sanguinischen Tempera-
ment weit entfernt sind, viel gastfreier. Vasuel in der Be-
schreibung von Corsica erzählt von einem Offizier, daß er
sich mit Vergnügen der Gastfreiheit der Deutschen erinnert
habe. Ein Melancholicus ist der Natur nach standhaft, zur
Rache, aber nicht zum Zorne geneigt. Er verfällt gemeinhin
auf ernsthafte Sachen.
/ Die Engländer sind mehr melancholisch, als sanguinisch,
und ihr Witz hat immer etwas Tiefes. Ihre Arbeiten haben eine
gewisse Genauigkeit und Dauerhaftigkeit und ihre Schriften
sind nicht wie die französischen Papillons, die herumfliegen,
aber bald verschwinden und in Abnahme geraten. Ein Melancho-
licus hat gemeinhin misanthropische Vorstellungen, er sieht
die Menschen beständig als Feinde an und ist daher mißtrau-
risch. Das Schicksal der Menschen stellt er sich als traurig
vor und wird dadurch öfters erhaben, weil er allein Dinge,
die wichtig sind, zu übernehmen imstande ist, und daher trägt
er viel zum Besten menschlichen Geschlechts bei. Indes
ist derjenige doch glücklicher, der allen Sorgen ihre schein-
bare Wichtigkeit zu benehmen weiß. Denn für den Menschen
ist auch wirklich nichts Wichtiges in der Welt. Wir müssen
um unserer Bedürfnisse willen etwas besorgt sein, aber die
Bedürfnisse müssen sich nie in Sorgen verwandeln. Das Physi-
kalische vom Temperamente ist schwer zu determinieren und die-
jenigen irren, die es von der Beschaffenheit des Bluts her-
leiten. Denn obgleich Melancholie soviel heißt als schwarze
Galle, so findet man doch, daß ein Sanguinicus ein mit
Galle vermischtes hat. Und obwohl ein lustiges Temperament
dünnes Blut voraussetzt, so findet man doch auch Melancholi-
sche und Schwermütige, die ein dünnes Blut haben. Das Physi-
kalische des Temperaments ist uns überhaupt sehr unbekannt,
indes aber muß der Unterschied eher von den festen als
flüssigen Teilen herrühren, weil diese vermittelst jener
bewegt werden. Diejenigen, die das Temperament nach den Nei-
gungen einteilen, irren gleichfalls. Denn die Menschen kön-
nen gleiche Neigungen und doch verschiedene Temperamente
haben und sie differieren bloß in der Art, wie sie ihren
Neigungen nachhängen.
/|P_352
/ ≥ Wir kommen jetzt
/ II. zu den Temperamenten der Tätigkeit nach. ≤
/ Der Cholerische ist affektvoll, d. h. er hat Triebfedern
zur Tätigkeit, die rasch, aber nicht anhaltend sind. Der
Phlegmatische ist nicht affektvoll, d. h. er hat Triebfedern
der Tätigkeit, die nicht rasch, aber anhaltend sind. Der
Cholerische ist wirksam, der Phlegmatische emsig. Denn Emsig-
keit ist sehr unterschieden von der rüstigen Tätigkeit. Man
trifft gewöhnlich bei den Cholericis eine völlige Gesundheit
und eine Rezeptivität zu allen Empfindungen an. Man fühlt
sein eigenes Leben dadurch, daß man in sich selbst die Re-
zeptivität zu allen Eindrücken findet. Bei einem solchen
Menschen sind alle Fasern zur Geschäftigkeit gespannt, und
er muß also immer etwas zu tun haben. Er geht daher immer
gewissen Zwecken nach und überwindet gern Schwierigkeiten.
Denn er läuft nicht des Vergnügens wegen der Arbeit nach,
sondern um etwas zu tun zu haben. Eine Folge aus diesem Tem-
peramente ist die Tätigkeit, daher man es auch das Tempera-
ment der Tätigkeit sowie das Phlegmatische das Temperament
der Untätigkeit nennen kann. Der Melancholische ist vieltuend,
aber nicht fortsetzend. - Vieltuerei $polypragmosyne$. So fing Lessing sehr viele Arbeiten
an. Wahrscheinlich aber würde er alle diese Fragmente in
Ewigkeit nicht vollendet haben. Denn er wurde alles in kurzer
Zeit überdrüssig und fing dann wieder etwas Neues an usw.
Der Cholerische wird leicht, aber stark, der Phlegmatische
schwer, aber nicht stark bewegt. Der Cholerische hat einen
Hang zum Zorn, wie der Phlegmatische zur Ruhe, wenn diese
nicht rasche Bewegung erfordert, und zum Geiz, da er langsam
brütet zum Zweck.
/ Jedes Temperament hat ein Hauptobjekt.
/ So hat der Sanguinicus zum Objekt Geschlechtsliebe, über-
haupt Genuß, Wollust.
/ Der Melancholische hat zum Objekt den Geiz, das Geldsam-
meln, Reichwerden.
/ Der Phlegmatische hat zum Objekt die Ruhe, Gemächlichkeit,
er empfindet bei allen Arbeiten Ungemächlichkeit, und die An-
strengung seiner Kräfte erweckt bei ihm den größten Widerwil-
len. Daß ein solche Phlegma öfters eine Ursache habe, die
im Körper steckt und die Fähigkeiten desselben bindet, be-
zeugen viele wilde Tiere, die gar keine Lust haben, ihre
Kräfte anzustrengen, z. B. das Faultier.
/ Der Cholericus hat zum Objekt die Ehre. Denn der Antrieb,
der der Empfindung am wenigsten nahekommt, erfordert die
größte Tätigkeit. Nun aber ist die Ehre ein solcher Antrieb,
welcher der Empfindung am wenigsten nahekommt, und also
muß der Mensch, der durch Ehre bewegt wird, die größte Tä-
tigkeit haben. Überhaupt paßt das cholerische Temperament
der Tätigkeit immer mehr auf die Ehre, als auf andere Triebe,
weil man in Ansehung anderer Zwecke es nicht so sehr in un-
serer Gewalt hat, ihn zu erreichen, als bei der Ehre. Die
Ehre ist daher der Reiz, durch welchen cholerische Menschen
angetrieben werden. Denn der Ehrgeizige kann sozusagen seinen
Endzweck allenthalben aufstecken.
/ Der Cholerische ist auffahrend, übereilend, geschäftig
mit abwechselnden Arbeiten. Der mischt sich in alle Händel,
die ihn nichts angehen. Er ist unternehmend zu großen Dingen.
Er handelt gern en gros, ungern en détail. Er ist herrsch-
süchtig und daher Rival von allen. Die mehresten Male ist er
/|P_353
/ordentlich. Dies gehört aber mit zu seinem befehlshaberischen
Wesen, weil alle Ordnung immer mit einem gewissen Anstande
verbunden ist. Er liebt keine Abgemessenheit, sondern Zier-
lichkeit. Er ist nicht fleißig oder anhaltend tätig, aber
ordentlich und schickt sich sehr gut zum Kommandieren, welches
er auch sehr gerne mag. Er scheint ordinär klüger zu sein, als
er es gewöhnlich ist. Er sucht mehr Pracht wie Genuß, er
kann aus Parade wohltätig sein. Gemeiniglich ist er zur Heu-
chelei und Verstellung geneigt und dabei steif und geschroben.
Dies kann man schon aus seinem steifen Gange und Tone beobach-
ten. Ist er ein Geistlicher, so ist er allemal orthodox, weil
Orthodoxie selten was anders als Religionsmeinung der herr-
schenden Kirche ist, und er immer herrschen will. Er glaubt
sich allerwärts beobachtet. Er denkt sogar, wenn er auf der
Straße geht, daß die Leute aus den Fenstern auf ihn sehen.
Er ist nicht filzig, aber desto habsüchtiger, und seine Hab-
sucht ist ungerecht. Ist er also liberal, freigebig, höflich, so ist es
lediglich, um es andere sehn zu lassen, eine bloße Zeremonie.
Er hat keinen Konversationston. Denn wenn er konversieren
soll, so kommandiert er. Weil er immer herrschen will, so
sucht er einen Zirkel um sich, der unter seinesgleichen ist,
damit er hier kommandieren und seine Geistessuperiorität
zeigen kann. Zwei Cholerici passen nicht zusammen. Sie können
nicht in einer Gesellschaft sein. Denn sie können sich wegen
ihrer Herrschsucht nicht vertragen. Der Cholericus ist in allem,
was er tut, in seinen Werken des Geistes usw. methodisch und
dadurch glänzt er. Er erobert sich eine Scheinachtung, und
dies ist das Nachgeben. Er ist ehrsüchtig - denn er verlangt
geehrt zu sein - aber nicht ehrliebend. Ehrliebe ist negativ.
Sie hütet sich nur vor der Verachtung anderer. Sie ist für
alle Menschen Pflicht. Jeder Mensch muß sie haben, sonst
gibt's keine Tugend.
/ Der Phlegmatische ist kaltblütig. Er hat einen Mangel
der Triebfedern zur Tätigkeit. Einen Menschen kann man noch
nicht darum, weil er Phlegma hat, phlegmatisch nennen. Das
ist soviel als: er hat einen Hang zur Faulheit. Denn die Tem-
peramente werden nach dem betrachtet, was im Objekt nicht als
Objekt liegt. Man kann sagen, das Phlegma besteht in der Af-
fektlosigkeit, wenn das Gemüt nicht leicht bewegt wird, aber
in der Bewegung lange anhält. Es kann eine gute Mischung der
Sinnesart sein. Der Choleriker wird leicht, der Phlegma hat,
schwer, der Phlegmatische aber gar nicht in Affekt gesetzt.
/ Das phlegmatische Temperament als Schwäche betrachtet,
besteht in einer Art von Leblosigkeit oder Hang zur Ruhe. Das
gewöhnliche Laster desselben ist Geiz, eine ruhige Emsigkeit
in Vermehrung seines Vermögens. Der Phlegmatische läßt es
gern beim Alten (so wie der Sanguinische immer fürs Neue ist),
weil das Neue auch eine neue Anwendung der Kräfte erfordert.
Er ist zufrieden mit dem niedrigsten Genuß, wenn er sich nur
nicht bemühen darf. Er wird unnütz, weil er immer nach Ruhe
strebt und zum Schlafe geneigt ist. Wer Ehrtrieb hat, ist im-
mer mehr zur collera geneigt. Der Ehrbegriff fordert immer
eine rasche Tätigkeit. Der Phlegmatische hat keine Triebfedern
zur Tätigkeit. Also hat er auch einen Mangel des Ehrtriebs,
und daraus entsteht oft Niederträchtigkeit. Ihm ist Gleich-
gültigkeit in Ansehung seiner und anderer Schicksal eigen.
Reizbarkeit mangelt ihm fast gänzlich und eben darum hat er
auch weit weniger Ehrsucht, als der Cholerische.
/|P_354
/ Phlegma als Stärke betrachtet besteht in der Kaltblü-
tigkeit, wenn einer alles überlegt, ehe er etwas tut, um
sich nicht zu übereilen. Diese Kaltblütigkeit ist dem Men-
schen sehr vorteilhaft. Denn er bleibt dann noch in der
Überlegung und kann Anschläge fassen, wenn ein andrer in
der übereilten Hitze die Sache schon lange getan. Zu einer
richtigen Urteilskraft wird Phlegma erfordert. Alle Bewegung
des Gemüts eines Kaltblütigen ist wie ein Körper, der sich
mit mehr Masse, aber auch desto größerm Erfolge bewegt. Z. B.
eiserne (cholerische) und bleierne (phlegmatische) Kugeln
zusammengehalten - die letztern sind die wirksamsten. Ein
kommandierender General muß Phlegma haben, damit er sich
nicht übereile, sondern Zeit gewinne, lange über seine Ent-
würfe zu deliberieren, ehe er sie zur Ausführung kommen läßt.
Vom gemeinen Soldaten aber fordert man collera, damit er,
ohne nach der Ursache zu fragen, gleich zuschlage, wenn es
ihm befohlen wird.
/ Wer sich so fassen kann, daß er überlegt, ob er mit
Recht zürne, besitzt sich ganz. Ein Zorniger ärgert sich,
wenn der, über den er zürnt, gar nicht in Affekt gesetzt
wird, und je weniger dieser Kaltblütige erschüttert wird, je
unerträglicher wird er dem Zornigen, weil dieser in dem Fall
sich tief unter ihm fühlt.
/ Leute, die Phlegma haben, lassen sich keine Zeit ver-
drießen, wenn es auch lange dauern sollte, bis ihr Plan
vollführt wird, und dann haben sie auch nicht leicht etwas
zu bereuen, weil sie sich nicht übereilt haben. Ein gutes
Phlegma ist ein Glück und vertritt oft die Stelle
der Weisheit. Beim Phlegma ist wenig Eitelkeit. Wer Phlegma
hat, kommt gut fort, denn er widerspricht nicht immer, son-
dern läßt manches gut sein, und deswegen wird der Hitzige
gegen ihn lächerlich. Er ist sozusagen dreihörig, d. h. er
hat den Schalk hinter den Ohren. Er wird selten in seinem
wahren Wert erkannt. Denn er mag nicht schimmern und strebt
nach keiner Rivalität, sondern begnügt sich mit seiner Stelle.
Er befindet sich in der besten Situation. Wenn er liebt, so
ist er nicht verliebt, also auch kein Tor. Ein Phlegmatischer
genießt, wenn er nichts tun kann, sich selbst.
/ Dies alles ist angeführt, damit man vom phlegmatischen
Temperamente das Phlegma unterscheide, und mit dem letztern
nicht den Begriff der Geringschätzung verbinde, sondern es
als eine gute Beimischung zu allen Temperamenten ansehe.
Einem Manne steht jederzeit ein Phlegma wohl an, obgleich
nicht ein phlegmatisches Temperament, weil es alsdann nicht
mehr in seiner Gewalt steht, wie lange er es über den Ent-
schluß einer Sache will anstehen lassen. Hingegen ist es
kein Lobspruch fürs Frauenzimmer, wenn es Phlegma hat. Denn
man will, daß sie alle cholerisch sein sollen.
/ ≥ Generalvergleichung zwischen den Temperamenten ≤
/ Eine habituelle Disposition der Gefühle und Triebfedern
muß unterschieden werden vom Temperament. Sie rührt von der
Erziehung, Lebensart und Gewohnheit her. Z. B. Bei Seeleuten
findet sich gemeinhin durch die lange Seefahrt das Phlegma
ein, ihr Temperament mag auch so beschaffen sein wie es will.
Die Ursache ist, weil sie auf ihrem Schiffe teils niemals
weitergehen können, als die Schiffslänge ist, teils weil sie
sich in Absicht ihrer Speisen und ihres Umganges an eine
/|P_355
/große Einförmigkeit gewöhnen müssen, teils auch weil sie
alle Entschlüsse und Ordres, die sie geben, zuvor wohl über-
legen müssen. Die Seefahrer haben gemeinhin Laune. (Peregrine
Pickle ist ein launiger Roman und sehr angenehm zu lesen.)
Das Seefahren ist für den Cholericum eine rechte Schule. Die
Bramanen in Hindostan erzählen in ihrer Theogonie oder Theo-
logie, daß der Gott Brama, der die Menschen erschaffen, die
vier Temperamente ausgeteilt hätte. Er habe nämlich den Solda-
ten cholerisch, den Geistlichen oder Bramanen melancholisch,
den Handwerker (Sudra) sanguinisch, den Kaufmann (Banian)
phlegmatisch erschaffen. Wenn man die Funktion dieser Leute
bemerkt, so wird man finden, daß die Temperamente vortreff-
lich ausgeteilt sind. Sonst drückt man durch das Wort "chole-
risch" bloß den Zorn aus, weil der Zorn nichts anders ist,
als das Bewußtsein einer großen Tätigkeit. Auch ist mit dem
Cholerischen gemeinhin die Polypragmosyne (Vielgeschäftigkeit)
vereinbart, indem ein cholerischer Mensch seine Hand in alles
mischen mag. Das Cholerische steht mithin einem Geistlichen
am wenigsten an. Überhaupt können wir sagen, je mehr die
Menschen Anlaß haben, große Leidenschaften zu entwickeln,
desto mehrere Besorgnisse entspringen, weil sie nicht alles richtig
einsehen. Hingegen sind diejenigen am lustigsten, welchen es
leicht wird, ihre Nahrung zu finden. Beim Soldaten trifft es
gleichfalls ein, weil er zornig sein muß. Dieses entspringt
aber aus dem Bewußtsein des Vermögens. Beim Kaufmann ist es
am besten ausgeteilt. Er muß beständig Phlegma haben, wenn
er sich nicht durch die Traurigkeit der Sache will trügen
lassen, um sie über ihren Wert zu bezahlen. Er muß nicht
hitzig auffahren, wenn er betrogen wird, sondern bedenken,
daß er es ins Künftige wohl dreifach bei Gelegenheit wieder-
bekommen kann.
/ Zusammensetzung. Es ist fast allgemein, daß man den
Menschen nicht ein einziges, sondern ein zusammengesetztes
Temperament beimißt. Man pflegt die Temperamente zusammenzu-
setzen. Nach unserer Einteilung derselben in Temperamente der
Empfindsamkeit und Begierde ist nur eine vierfache Zusammen-
setzung möglich. Denn die sich entgegengesetzten Temperamente
können in keinem Menschen vereinigt werden. Ein sanguinisch-
melancholisches Temperament, ein cholerisch-phlegmatisches
Temperament sind am Ende doch Undinge. Die vier Zusammenset-
zungen sind:
/ 1. Das melancholisch-cholerische Temperament. Dies bringt
allerlei Hirngespinste, große und blendende Handlungen her-
für. Es ist der englischen Nation eigen und hat zu vielen Re-
volutionen und Schwärmereien Anlaß gegeben.
/ 2. Das sanguinisch-phlegmatische Temperament. Dies ist
keiner Sache so sehr als dem Wohlleben ergeben. Ein solcher
Mensch ist wie eine Milchsuppe, der sich mit allen verträgt.
Er tut nichts Böses, aber auch nichts Gutes, denn beides in-
kommodiert ihn. Er ist imstande den ganzen Tag am Fenster zu
stehen und Leute vorbeigehen zu sehen. Er hängt zwar auch
dem Vergnügen nach, aber es muß nicht so lebhaft sein.
/ 3. Das sanguinisch-cholerische Temperament. Dies ist ein
sehr nützliches Glied im gemeinen Wesen, benimmt allen Dingen
die Wichtigkeit und betrübt sich über nichts, sondern sucht
in allem Vergnügen.
/|P_356
/ 4. Das phlegmatisch-melancholische Temperament und end-
lich wenn man auch noch das Sanguinische mit dem Melancholi-
schen vermischt, so scheint es zwar ein Widerspruch zu sein.
Allein es will nur soviel sagen, daß sie gemäßigt sein und
alle Temperamente sehr aneinander grenzen können.
/ Überhaupt genommen hat die Zusammensetzung doch nicht
so rechten Grund. Z. B. bei dem Sanguinisch-cholerischen. Denn
den, der große Triebfedern zur Tätigkeit hat, kann man nicht
sanguinisch nennen, also auch nicht füglich zusammenstellen.
Das Kombinieren taugt daher nicht viel. Auch wollen die mei-
sten Menschen gern für Sanguinisch-cholerische gehalten sein,
und zwar aus Eigenliebe. Eigentlich sollte man nie mehr als
eins, und zwar das hervorstechendste nennen. Am besten schickt
sich die Zusammensetzung des melancholisch-phlegmatischen Tem-
peraments. Und dies wäre wohl auch gewiß das unglücklichste.
/ In der Religion ist der Sanguinische ein Spötter, der
Melancholische ein Schwärmer, der Cholerische orthodox, aber
mehrenteils ein Heuchler, der Phlegmatische indifferent, der
alles für gut hält, und mehrenteils abergläubisch. Die Ursache
davon ist: Der Sanguinicus ist der Freigeisterei ergeben. Die
Religion scheint ihm eine Mode zu sein, und weil er gar zu
ungeduldig ist, sich an Religion zu binden, so gibts auch eine
moralische Freigeisterei. Diese finden wir bei den Franzosen.
Denn bei ihnen ist überhaupt der Gebrauch alles dasjenige, was
die Leute mit vieler Ernsthaftigkeit traktieren, lächerlich
zu machen, und hingegen Kleinigkeiten eine anscheinende Wich-
tigkeit zu geben. Sie behandeln alles mit einem gewissen
Leichtsinn, und daher findet man bei ihnen viel Conversation
ohne Freundschaft, aber doch auch ohne Falschheit. Ihre Sache
ist sich an nichts zu hängen, und doch glauben sie, daß ihre
Frauenzimmer sehr zur Freundschaft aufgelegt sind. Die
Engländer haben bemerkt, daß bei den Franzosen in Ansehung
der Conduite nicht der mindeste Unterschied zwischen den Vor-
nehmsten und Geringsten sei, und daß des Handwerkers Tochter
ebenso manierlich zu reden wisse, als die Prinzessin. In
England ist hingegen die Kenntnis der Wissenschaften bis auf
den geringsten Mann verbreitet und die Zeitungen daselbst sind
so eingerichtet, daß sie vom gemeinsten Mann mit Nutzen kön-
nen gelesen werden.
/ Der Melancholicus ist ein Schwärmer. Denn er sieht alles
für wichtig an, traktiert alles ernsthaft. Die größte Ernst-
haftigkeit nähert sich aber der Schwermut. Bei dieser fällt
er in eine heilige und vermessene Kühnheit. Wenn er sich nun
solchergestalt Gott mit den allerdevotesten und zuver-
sichtlichsten Wörtern nähern will, artet er fast in eine
Blasphemie aus, wo er sich oft solcher Ausdrücke bedient, die
eine ganze ungeziemende Vertraulichkeit mit Gott anzeigen.
/ Der Cholerische ist orthodox. Obgleich man keine Nation
nennen kann, die cholerisch wäre, so muß man doch vom Cho-
lerischen merken, daß er die Triebfedern zur Tätigkeit hat.
Er muß immer beschäftigt sein und steigt daher gerne zu
Ämtern, wo er viel zu reden und zu ordnen hat. Er weiß sich
ein Ansehen zu geben, als ob er andächtig und verständig
wäre, ob er gleich weder Andacht noch Verstand hat. Da er un-
gerne beschäftigt ist, so mag er auch gern die Regeln der Re-
ligion stricte befolgen und andre zur genauen Observanz derselben an-
halten. Daher er auch Ketzer macht, wo keine sind.
Der Aberglaube besteht in einer gewissen Indulgenz und ent-
steht aus der Untätigkeit, die man bei dem Phlegmatischen fin-
det. Denn weil er selbst nicht gern denken mag, so hört er
/|P_357
/auch gerne Wunderdinge erzählen, denen er bald Glauben beilegt.
Die Vernunft inkommodiert ihn und er muß ihr gleichsam Ferien
geben, um seinen Neigungen nachhängen zu können.
/ Die Temperamente äußern sich auch in Ansehung der Schreib-
art. Also als Autor ist der Sanguinische witzig und populär.
Der Cholerische geht auf Stelzen und ist methodisch, ordent-
lich z. B. Haller. Der Melancholische dringt immer in die Tie-
fen und Dunkelheiten der Dinge ein. Er holt seine Ausdrücke
aus dem Innersten der Wissenschaften und ist ganz originell.
/ Anmerkung. Es ist artig, daß kein Leser sich Dinge gar zu
deutlich machen lassen will, er hat es gern, wenn noch etwas
bleibt, was er erraten kann, und freut sich, wenn's getroffen
ist.
/ Der Phlegmatische ist peinlich und mühsam. Man hat den
Deutschen vorgeworfen, daß sie ihre meisten Werke in großen
Folianten schrieben, und daraus auf ihr phlegmatisches Tempe-
rament geschlossen.
/ Der Sanguinicus wählt das Gefallene in der Erscheinung,
überhaupt das Schöne. Daher sind auch die sanguinischen Natio-
nen Meister im Geschmack. Bei den Deutschen findet das Metho-
dische in der Schreibart statt. Daher haben ihre Schriften
das Schulmäßige an sich und dies ist ihrem Phlegma angemessen.
Die Ordnung, die bei ihnen herrscht, kommt von der Collera
her. Denn die cholerischen Nationen sind gemeinhin sehr or-
dentlich. Das Wort Phlegma bedeutet sonst das Wasser, das man
zu einem Getränk hinzugießt, hier bedeutet es aber als
phlegmatisches Temperament nur den Mangel an Lebhaftigkeit.
Die nördlichen Nationen sind überhaupt mit viel Phlegma
affiziert, daher sie auch in ihrem Anstande eine gewisse Sitt-
samkeit haben. Eben deshalb wird auch ein deutscher Acteur
nie die Vollkommenheit des Franzosen erreichen. Denn dieser
wird schon sozusagen als Acteur geboren. Denn es ist ausge-
macht, daß die Engländer ein Lustspiel weit besser vorstel-
len, als ein Trauerspiel, und die Franzosen ein Trauerspiel
besser, unerachtet der Engländer als Trauerspieldichter und
der Franzosen als Lustspieldichter fertiger ist. Die Ursache
ist diese, wie wir schon öfters erwähnt haben. Ein Mensch,
der eine Person, die diesem oder jenem Affekt ergeben ist,
recht vorstellen will, muß selbst nicht affiziert sein, und
dies ist der Fall bei den Franzosen. So muß auch z. B. ein
Herr, der seinen Bedienten recht ausschelten will und also
die Rolle eines Zornigen macht, wenig affiziert sein. Denn
ist er es, so wird er bloß reden wollen, aber wenig Worte
finden, und der Bediente sieht also, daß sein Herr zornig
ist, aber er hört es nicht. Ebenso muß der, welcher die Rolle
eines Verliebten gut spielen will, selbst nicht verliebt sein.
Denn ist er es, so wird er sich zwar zärtlich und demütig
stellen, allein er wird dabei verstummen, rot werden und
sich wohl gar pöbelhaft aufführen. Da nun die Engländer so
wenig lustig sind, so ist nicht zu besorgen, daß sie
bei der Vorstellung des Lustspiels in Affekt der Lustigkeit
geraten werden. So haben sie Zeit genug, sich die Person
eines Lustigen bei der Aktion recht vorzustellen und also gut
nachzuahmen. Hingegen sind auch die Franzosen so weit von der
Traurigkeit entfernt, daß sie bei einem Trauerspiel gewiß
nicht in Affekt geraten werden und daher sind sie Meister in
Aufführung des Trauerspiels.
/|P_358
/ Im Amte ist der Sanguinische zerstreut, übereilt, un-
ordentlich, abwechselnd. Ein jeder hat noch überdies gewöhn-
lich ein Steckenpferd. - Anmerkung. Eine Stelle aus dem Tristram
Shandy: Laß doch jeden auf seinem Steckenpferd die Straßen
auf- und niederreiten, wenn er dich nur nicht nötigt, hinten
aufzusitzen usw.
/ Der Melancholische ist ordentlich und skrupulöse.
/ Der Cholerische ist herrschsüchtig und behält in seiner
Ordnung den Geist der Formalitäten. Selbst mag er eben nicht
viel tun, doch sehr gerne herrschen. Anhänglichkeit an Forma-
litäten ist Pedanterie. Sie findet vorzüglich bei ihm statt,
z. B. auf seinem Bücherschaff stehn viele herrliche Bücher
mit schönen Titulaturen, doch selber liest er nichts davon...
/ Der Phlegmatische ist mechanisch, und wenn er etwas
Außerordentliches zu besorgen hat, ein Ja-Herr, der -
alles gehen läßt, so wie es geht. -
/ Im Umgange ist der Sanguinische scherzhaft, unterhält
mit lustigen Einfällen. Der Melancholische ist vernünftelnd,
grübelnd, liebt grause und schauervolle Begebenheiten. Der
Cholerische ist vernünftig, geht auf Erzählung von Geschäften,
ist also eben nicht der amüsanteste.
/ Der Phlegmatische erzählt nichts Komisches, lacht aber
selber zu allem.
/ Was den Punkt der Ehre betrifft, so verdient dies nach
Verschiedenheit der Länder und Temperamente auch verschiedene
Bemerkungen. In Frankreich hält man es für die größte Ehre,
am Hofe gewesen zu sein und in England macht man sich nichts
draus. Ein Franzose will in Gesellschaft für nichts lieber,
als für einen Mann von gutem Ton angesehen werden. Ein jedes
Temperament kann eine Ehre besitzen. Zuletzt ist noch anzu-
merken, daß man nicht jede starke Neigung gleich Temperament
nennen muß. Die Ernsthaftigkeit grenzt z. B. sehr an Melan-
cholie, sie ist aber nicht immer Melancholie.
/ Nun wollen wir handeln von der Unterscheidung der Men-
schen aus ihrem Äussern ins Innere oder
/|P_359
/ ≥ Von der Physiognomik ≤
Die Menschen haben eine erstaunend große Begierde, jemanden
von dem sie eine Beschreibung gehört haben, persönlich kennen-
zulernen. Wäre es auch der boshafteste Mensch, so wünscht man
ihn doch zu sehen, als wüßte man zum voraus, daß in den
Augen eines solchen Boshaften das bösartige Herz zu lesen wäre
und daß man bei einem solchen lernen könnte -, andere zu
zu fliehen, die mit ihm einerlei Gesichtsbildung haben. Über-
haupt wollen sie dem Menschen das Außerordentliche ansehen,
gleichsam aus den Augen lesen, und ehe sie ihn kennenlernen,
zum voraus wissen, was er tun wird. Woher aber kommt diese
starke Neigung mit seinen Augen die Gesinnungen andrer
Menschen auszuspähn? Die Natur hat viel in das Äußere des
Menschen gelegt, woraus man nach natürlichen Gesetzen auf das
Innere schließen kann. Daher lehrt die Erfahrung, daß man
einem Fremden starr unter die Augen sieht und ihn von oben
bis unten betrachtet, um ihn kennenzulernen. Daher mögen
wir auch gerne einen Delinquenten, der zum Richtplatz geführt
wird, in die Augen sehen, gleich als ob wir bemerken könnten,
was in demselben vorgeht. Kurz wir wollen einen Menschen, der
wichtig ist, zum voraus kennenlernen und trauen seinen Ge-
sichtszügen mehr, als seinem künftigen Betragen. Wir hören
weniger auf seine Worte, als wir ihm unter die Augen sehen.
Wir sehen also, daß die Natur dem Menschen diesen Instinkt
schon gegeben, um mehr seinem Gesichte, als seinen Reden zu
trauen. Der Ausspruch: loquere, ut te videam (sprich, damit ich dich sehe), zielt nur darauf,
daß wir aus den Reden eines Menschen seine Talente erkennen
können. Was aber seine Gesinnungen die aus dem Temperament
entspringen, und seinen Gemütscharakter betrifft, so trauen
wir hierin mehr unsern Augen, als seinen Reden. Die Natur
führt uns also schon darauf auf seine Gestalt Achtung zu geben.
Es hat aber mit der Physiognomik oder den Mitteln, aus dem
Anblick die Gesinnungen des Andern kennenzulernen, eine
solche Bewandtnis, daß man es hierin nie zur sichern Regel
bringen kann. Ja die Vorsehung scheint absichtlich verhindert
zu haben, daß dies nie zu einer Kunst geworden. Denn ließen
sich davon allgemeine Regeln angeben, so würden sich die Menschen
oft hassen, ehe sie sich noch beleidigt hätten. Und da doch
fast jeder Mensch etwas hat, das mißfällt, so würde das Zu-
trauen fast gänzlich wegfallen. So würde die Einigkeit bald
aufgehoben und die menschliche Gesellschaft würde getrennt
werden. Indes hat die Vorsicht doch wirklich eine gewisse
Maske in die Züge der Menschen gelegt, damit man sich vor
solchen Leuten in Acht nehmen könnte. Allein das Urteil
darüber ist ungewiß. Denn wie man bei der Uhr nicht nach dem
Gehäuse das Innere erkennen kann, so ist es auch mit der
Physiognomik. Wir wollen aber doch soviel hiervon sagen, als
sich sagen läßt.
/ Die Physiognomik ist die Geschicklichkeit oder Kunst aus
Äußern das Innere zu erkennen, aus dem äußern Anblick des
Menschen auf das Innere zu schließen. Das Äußere besteht: 1. in
der Gestalt, wenn der Mensch nichts tut, 2. im mechanischen
Gebrauch seiner Organe, wenn er in Aktion ist, z. B. dem Ton
seiner Sprache, 3. aus seinen Gebärden, z. B. Gang usw. Unter der
Physiognomie versteht man den Bau des ganzen Körpers, seine
ganze Manier, den Geschmack in Kleidung und überhaupt das-
jenige, was wir mit den äußern Sinnen an den Menschen be-
merken können.
/ Zuerst wollen wir von der Physiognomie insofern reden, als
/|P_360
/man den gegenwärtigen Zustand des Menschen beobachtet. Ein
Mensch kann sich sehr vergnügt anstellen und dennoch erkennt
man in seinen Augen die Traurigkeit. Oft stellt einer sich frei
und in seinen Augen liest man doch die Verlegenheit. Einige
Menschen grinseln nur, wenn der andere uns zu lachen macht. Man
kann aber denen, die so lächeln, an ihren starren Augen ansehen,
daß es nicht ihr Ernst ist. Cholerici sind dieser Verstellung
am fähigsten. Denn sie sind ohnehin sehr tätig, ihre Fasern
stark gespannt und daher kommt ihre Äquilibrität, vermittelt
welcher sie ihre Muskeln alle am mehrsten in ihrer Gewalt haben.
Sie gehen ordinär steif oder steigen vielmehr. Ihre Sprache
klingt etwas hoch über die Brust, und den Kopf tragen sie
grade, dahingegen der Sangnineus an seinen mannigfaltigen, un-
ruhigen Stellungen zu erkennen ist. Der Cholericus kann den
Ton eines Lobredners annehmen und jemandem sehr große Achtung be-
zeugen, allein es ist alles verstellt. Er hat einen guten An-
stand, aber er ist gekünstelt. Seine Muskeln sind immer in
seiner Gewalt, daher er auch, wenn er unwillig ist, gar selten
die Mienen verzerrt. Die Fasern haben bei ihm eine große Spann-
ung und daher gerät er leicht in Zorn. Es gibt einige Gesichter,
die gar nichts bedenken und anzeigen, woraus man den Zustand der
Seele erraten könnte, wie z. E. die Phlegmatici in Ansehung der
Rührungen. Von andern kann man nicht urteilen, ob sie vergnügt
oder traurig sind, wie dies hauptsächlich von den Cholericis
stattfindet. Oft aber kommt man auch dann nicht sonderlich zu-
rechte, wenn man Mienen annimmt, welche die Gesinnungen ver-
bergen sollen. Wenn man z. E. lachen will bloß jemandem zu ge-
fallen, so ist dies nur ein Grinsen, wo die Mienen zwar ver-
zogen werden, die Augen aber ganz starr bleiben, und dies sieht
häßlich aus. Überhaupt ist alsdann die wahre Gemütsbeschaffen-
heit am leichtesten zu erkennen, wenn einer sich vergnügt stellt
da er es doch nicht ist. So auch, wenn sich jemand freundschaft-
lich stellt. Niemand kann wohl so leicht sich so freundschaft-
lich stellen, daß ein forschendes Auge es nicht merken sollte.
Nach Lavater bedeutet auch der Gang des Menschen etwas und
trägt viel dazu bei, den Menschen zu erkennen, wovon oben schon
etwas gesagt wurde. Ein Cholericus ist an seinem fast be-
ständig steifen und steigenden Gange, der Sanguineus aber an
seiner unruhigen Stellung zu erkennen. Mancher Mensch muß
immer gestikulieren, wenn er spricht, oder den Mund aufhalten,
wenn er in Ruhe ist. Beides sind große Fehler, die man ja ver-
meiden kann. Nach Lavater soll man sogar den Menschen aus den
Schriftzügen seiner Hand (ob sie nämlich fest oder ungleich
usw. sind) erkennen können. Doch ist diese sehr zweifelhaft.
Auf diese Weise kann man einem ungefähr aus dem Gesichte lesen,
ob er verdrießlich, mutwillig, traurig oder zornig ist usw.
Am öftesten beurteilt man den Gesunden und den Kranken, den
Vergnügten und Mißvergnügten aus der Farbe des Gesichts und der
Helligkeit der Augen. Dies gehört vorzüglich für die Ärzte.
Wenn das Weiße des Auges trocken ist (welches überhaupt bei
großer Hitze zu geschehen pflegt) und die Farben des Regenbogens
wohl determiniert und scharf abgeschnitten sind, so pflegt
der Mensch wohl disponiert zu sein. Fließen die Farben am Rande
aber unmerklich zusammen, oder es vermischt sich dieser Rand
mit dem Weißen, so ist es ein Zeichen von Krankheit und Traurig-
keit. Sind die Augenlider stark geöffnet, so ist man gesund,
wenn nicht, so ist man krank. Sind die Farben im Regenbogen
heller wie sonst, z. E. blauer, schwärzer, so ist man gesund, sind
sie dunkler, so ist man traurig und krank. Wenn man aber auch
den gegenwärtigen Zustand aus dem Äußern beurteilen kann, so
differiert doch dieser Zustand von dem habitus in der Gemüts-
/|P_361
/art. Denn ein Mensch der jetzt vergnügt ist, kann dessen un-
geachtet sonst immer schwermütig sein. Man kann auch aus
dem Anblick der Komplexion den Menschen beobachten. Diese ist
aber die Beschaffenheit seiner Natur und die Einrichtung, z. E.
ob ein Mensch schwach, stark, gesund oder lebhaft ist. Hierauf
pflegen besonders die Mannspersonen, wenn sie heiraten wollen,
bei ihrer künftigen Frau zu regardieren. Z. E. die von phleg-
matischer Komplexion wird sich gern aufwarten lassen. Auch
sieht darauf ein Herr, der Sklaven kauft oder Bediente an-
nimmt. Man sollte ebenfalls bei Anwerbung der Soldaten auf
ihre Komplexion sehen, wenn man nicht bei Umständen eine große
Anzahl braucht, ob sie z. E. strenge Lebensart, rauhe Witterung
ertragen könnten, auch auf ihr Naturell, wozu sie fähig sind,
und was sie zu tun vermögend sein werden. Oft haben aber
Leute, die sehr hager sind die stärkste Komplexion, denn es
kommt nur auf die Stärke der Elastizität und Muskeln an, be-
sonders wenn die Muskeln im Gesichte stark sind. Man kann
auch aus dem Äußern das Naturell eines Menschen erkennen. Die
Fähigkeiten aber lassen sich nicht so leicht daraus beurteilen.
Die Talente will man wenigstens ausspähen können. Denn man
sagt z. E.: der Mensch sieht nicht verständig aus, oder diesem
Menschen sieht man den Witz an, er sieht fein aus, usw.. Allein
man kann sich hier erstaunend irren, besonders wenn man ihm
die Talente des Muts ansehen und aus der Blödigkeit, der Sanft-
heit und dem Edeln der Mienen schließen will. Es geht hier
wie Homer sagt: Mancher hat das Gesicht eines Hundes und das
Herz eines Hirsches. Denn wenn solche Leute, die blöde scheinen
mit ihrer Blödigkeit und Sanftmut nicht durchkommen, so
bieten die der Gefahr die Spitze und dann zeigt sich der Mut
der sich auch nicht bald entkräften läßt. Der Mut kommt nicht
allein vom Bewußtsein der körperlichen Stärke her, sondern er
ist auch eine natürliche Folge des Bewußtseins des Besitzes
der Vernunft, die kaltblütig ist und des festen Entschlusses,
auf alles resignieren zu können, wenn der Versuch nicht anders
in Ausübung gebracht werden kann. Man weiß aber wohl, daß ein
Mensch, der den schwächsten Körper hat, dennoch Mut haben kann
und daß nicht allemal Stärke des Körpers zum Mute gehöre. Denn
was braucht er einen starken Körper, wenn er auf sein
Leben resignieren kann? Einem solchen Menschen sieht man den
Mut nicht an, dagegen sich eine ungestüme Tapferkeit stark in
der Stimme äußert und auch sehr bald in Frechheit verwandelt
wird. Da im Gegenteil ein Mut von der ersten Art dauerhaft
ist. Man glaubt auch einem Menschen den edlen Stolz ansehen
zu können, allein man irrt darin. Denn man kann ihm wohl den
Stolz ansehen, aber nicht den edlen, denn dieser ist be-
scheiden und äußert sich nicht im mindesten, äußert er sich aber,
so ist er nicht mehr edel. Wir bemerken, daß wenn z. E. ein
Bauer von Königen oder Kaisern reden hört, er sich dieselben
als Leute vorstellt, die nicht durch die Türe durchkommen
können, und bei deren Anblick man in die Knie sinken möchte.
Sollte er sie aber zu sehen bekommen und wohl gar gebrechliche
Körper an ihnen finden, so würde er sich nicht überreden
können, einen König oder gar Kaiser in ihnen zu erkennen. Indes
geht es uns auch so, wenn wir einen Autor, der viel Schönes
geschrieben, gelesen und seine Kenntnisse und Gedanken be-
wundert haben, endlich aber seinen Kupferstich zu sehen be-
kommen, so kommt es uns unglaublich vor, daß diese kleine
und gebrechliche, hypochondrische Figur solche guten Ge-
danken soll gehabt haben. Überhaupt schadet die Anwesenheit
/|P_362
/viel, weil man sich in der Einbildung ein sehr vorteilhaftes
Bild formiert. Dies beweist, daß man nicht aus den Gesichts-
zügen auf die Talente des Menschen schließen kann. Die
Natur hat gewollt, daß sich alle Menschen für solche ansehen
sollen, die eine gesunde Vernunft besitzen. Was aber weit
übers Mittelmaß geht, pflegt die Natur zu maskieren. So kann
man einem erzdummen Menschen seine Dummheit und einem außer-
ordentlichen Gelehrten seinen Verstand nicht leicht ansehen.
Alle unsere Affekte bringen Mienen hervor, und umgekehrt, wenn
man die Miene dessen, der im Affekt ist, wohl nach macht, so
gerät man in denselben Affekt. Überhaupt ist Physiognomik
eine Geschicklichkeit, die keine Regeln hat. Man kann sie sich
durch Umgang, Menschenkenntnis und Erfahrung erwerben, keines-
wegs aber darf man sie als eine bloße Chimäre ansehen. Die
Pantomimensprache übertrifft noch die Wörtersprache. Sie ist
die allgemeinste. Denn im Gesicht liegt überhaupt die ganze
Prägung des Körpers, auf den doch die Seele einen Einfluß hat.
Es wird also die Gesichtsbildung der Beschaffenheit des Ge-
müts, mehrenteils konform sein. Wer zu einem Affekt eine Neigung
hat, der wird auch seine Miene dazu bilden. Wenn wir einen be-
lauschen wollen, der ruhig ist, der an nichts denkt, was sein
Gemüt in Bewegung setzen kann, so liegen die Muskeln bereits in
der Lage, die seinen Hauptneigungen gemäß ist. Es ist aber kein
einziger Mensch ohne Mienen, und wenn man diese auslegen kann,
so weiß man die Denkungsart des Menschen. So hat einer eine
spöttische, höhnische, der Andere eine neidische, bittere Miene
und die behalten sie auch dann, wenn sie in Ruhe sind. Man kann
sogar einem seine Grobheit an den Mienen ansehen, und einen
solchen Menschen sieht man nicht immer gern lange an, weil man
immer besorgt ist, von ihm beleidigt zu werden, wenigstens in
Ansehung seiner Eitelkeit. Der Mensch ist aber immer zu der
einen Neigung aus dem Affekt mehr, als zu der andern aufgelegt,
und hiernach richten sich seine Mienen. Sie liegen aber im
menschlichen Gesichte schon lange präpariert, so wie der Hang.
Man könnte sich davon immer mehr belehren, wenn man sich mit
verschiedenen, die man ausholen wollte, in ein Gespräch ein-
ließe. Allein dies ist nicht allemal ratsam, denn man be-
leidigt beständig einen, wenn man sich in eine gar zu genaue
Kritik über einen einläßt, und übereilt sich auch im Schließen.
Gewisse Gesichter haben gar keine Mienen, aus denen man etwas
abnehmen könnte und auch keine Fähigkeit, Mienen anzunehmen.
Aber selbst diese Unbiegsamkeit ist wieder eine besondere Miene
und zeigt, daß der Mensch gar keinen Charakter habe. Andere
hingegen haben viele Mienen und können auch viele annehmen und
dies hält man für ein Zeichen des Witzes. Wenn sich das Spiel
dieser nachgeahmten Pantomimen nur in Schranken hält und in
keine Karikaturen oder Grimassen ausartet, die seine eigene
Person lächerlich machen, so macht es beliebt. Solche Leute
können sich auch gemeiniglich in allerlei Gestalten schicken
und haben sozusagen nichts Beständiges an sich. Hierzu können
auch diejenigen gerechnet werden, die einen poetischen In-
stinkt oder Kitzel in sich empfinden, ob sie gleich keine
Talente dazu haben, die der Apollo gleichsam reitet. Solche
Leute können alle Charaktere nachahmen, ob sie gleich keinen
eigentümlichen haben. Von unserm Poeten Pietsch erzählt man,
daß er, als er den Prinzen Eugen habe vorstellen wollen, mit
großen Reitstiefeln in einer Art von Wut herumgegangen sei,
in einer solchen Miene sich niedergesetzt habe, so daß ihn
diese Miene auf gute Gedanken und Ausdrücke gebracht habe, denn
eine solche passende Miene ruft alles herbei. Da nun ein Mensch
sehr heftige und viele Neigungen haben kann, so werden sich auch
solche in seinen Mienen ausdrücken. Wenn man also aus dem
/|P_363
/ganzen Zuschnitt des Gesichts und dem Porträt diejenigen, so
besonders herfürstechen, also die Hauptneigungen bemerken
will, so muß man den Charakter des Menschen so spalten lernen,
wie Newton die Farbe des Lichts durchs Prisma. Bei einem
jeden Menschen aber, der von Natur zu einem Charakter ge-
stimmt ist, findet man auch in dem Zuschnitt seines Gesichts
das Porträt. Die Mischung der Mienen kann unschuldig aussehen
und alle Menschen sehen alsdann gleich aus, allein bei dem
einen sticht dies, beim andern jenes herfür. Im Gesicht ist das
Gepräge des Menschen und die Miene äußert also den Charakter.
Das Herz unterscheidet sich vom Temperament und die Gestalt
von den Mienen. Wenn man auch gleiche Gestalten annimmt, so
kann doch das eine Gesicht ländlich, das andere städtisch aus-
sehen und dieser Unterschied findet gewiß unter den Menschen
statt. Es geht dies ganz natürlich zu. Diejenigen die auf dem
Lande sind, sind der Luft mehr exponiert. Die Landluft bringt
lange nicht so wie die Stadtluft die Delikatesse und das Feuer
in den Muskeln des Gesichts herfür. Die Ursache ist, weil man
auf dem Lande beständig in die Weite sieht: da man hingegen
in der Stadt gewohnt ist nur in einem engen Bezirk zu sehen,
wodurch die Augen eine andere Bewegung bekommen. Die Stadt-
leute haben jederzeit etwas sanfteres in ihren Zügen, als die
Landleute. Der Grund davon ist, weil die Landleute nicht immer
wie Städtische mit Vornehmern zu tun haben, als sie selbst
sind, denn sie haben nur mit Niedrigen, z. B. Knechten, Pferde-
jungen zu tun, wobei sie sich eine gebieterische Miene ange-
wöhnen. Ob also gleich die Proportion des Gesichts eine und
dieselbe sein kann, so ist doch bei der ländlichen Bevölkerung
nicht eine solche Biegsamkeit der Mienen.
/ Selbst die Stände geben eine unterschiedene Miene. So be-
merkt man bei den Fleischern etwas Frostiges und Kühnes, weil
sie ihr Vieh vom Lande zu holen haben, und beim Ein- oder Ver-
kauf oft ein Gezänk anstellen müssen, wo sie es mit den schle-
chtesten Leuten zu tun haben, denen sie vorpochen und vorlärmen
müssen. Überdies hat auch ihr Handwerk etwas Mannhaftes an
sich. Ein Schneider hingegen hat etwas Geschmeidiges und Bieg-
sames in seinem Gesichte. Wenn der Geistliche eine heilige
Hitze affektiert, so kann man ihm das Beate und Selbstzu-
friedene in seinem Gesicht ansehen. Sie wollen in ihrem Gesicht
etwas Verhimmeltes anzeigen. Wenn sie bloß so aussehen, so
glauben sie die wahre Religion zu haben, und wer kann auch ver-
gnügter sein, als er die wahre Religion hat. Vor Alters
prätendierte man von ihnen eine vorzügliche Traurigkeit, da
doch die, welche wahre Religion besitzen, die größte Ursache
haben, vergnügt zu sein, weil jeder wünschte mit ihnen etwas
zu tun zu haben.
/ Oft verursacht auch schon die Geburt und das Herkommen, daß
ein Mensch eine besondere Miene hat, vorzüglich beim weib-
lichen Geschlecht. Sie haben etwas Frostiges in ihren Augen,
weil sie jeden starr ansehen, ohne etwas Übles von ihm zu
vermuten. Wir wenden aber gemeiniglich die Augen von einem
weg, der uns starr ansieht, weil wir beständig befürchten, wir
möchten Händel mit ihm bekommen.
/ Mancher große Mann hat schon eine Miene, die jeden zurück-
hält. Man sieht aber auch oft einen vornehmen Mann und sagt
dabei: der hat auch ein recht gemeines Gesicht. Dies ist auch
wohl wahr, wie jedes seinen Grund hat, was allgemein beurteilt
wird, obgleich es schwer ist, den Grund ausfindig zu machen.
Die Raison von obigem Urteil ist: die Manieren mancher Menschen
schlagen in das Platte ein und dies liegt schon mit in ihrem
/|P_364
/Naturell. Sind diese Züge nicht recht stark exprimiert oder auch
gedrückt, so ändert die Erziehung sie in andere, aber die vorigen
mischen sich doch mit ein. Mancher sieht vornehm aus und ist
es nicht. Bei dem einen schlagen die Manieren ins Platte, beim
andern ins Freie. Die Erziehung aber kann beide ändern. Das
Platte ist, wenn einer zu seinen Manieren nicht fein genug ist.
Der Charakter des Menschen läßt sich schwer aus den Gesichts-
zügen ziehen, weil man hier nicht nur die Temperamente, sondern
auch das Herz untersuchen muß, welches vom Temperamente ganz
unterschieden ist. Der Charakter aber betrifft bloß das Herz,
und der Ausdruck gilt also nicht vom Temperament, nicht von der
Gestalt noch auch von den Talenten. Es ist mithin eine große
Feinheit denselben aufzusuchen und die Art der Gesinnungen
erforschen zu können. Und doch sieht man in einer Gesellschaft
am meisten darauf. Wenn man indes in einer Gesellschaft ist, wo
man nicht alle kennt, so sucht man nur soviel als möglich ist
mit seinem Auge das Herz des Menschen auszuspähn, damit man sich
einen wählen kann, mit dem man sich unterhalte. Man adressiert
sich alsdann gerne an einen, dem man etwas Gefälliges und Gut-
herziges ansieht und der Talente verrät. Das Allermeiste aber,
was sich in dem Charakter des Menschen äußert, ist die Gut-
herzigkeit, nach welcher man nicht gerne etwas tut, was einem
mißfällt, und leicht über einen Ausdruck erröten möchte. Außer
diesem verlangt man von seinem Gesellschafter auch Offenherzig-
keit und Feinmütigkeit, denn dadurch nähern sich die Menschen
am meisten und fassen ein wechselseitiges Zutrauen zu sich,
indem man keinen für böse ansieht. Er muß aber auch nächstdem
noch Tugend besitzen, damit man wisse, ob er verschwiegen sei,
wenn man ihm etwas anvertrauen will, oder wenn man ihm Geld
lehnt, ob er auch Wort halte und es zu bestimmter Zeit wieder-
gebe. Was die Bücher betrifft, die von der Exegesis der Mienen
handeln, so können zwar darin viele richtige Bemerkungen sein.
/ Allein es läßt sich doch nichts mit Gewißheit sagen.
Eine Bemerkung ist anzuführen, die ihre völlige Gewißheit hat.
Es gibt zuweilen Augen, die ganz unruhig sind, und man
kann sicher behaupten, daß ein Mensch, der sonst nicht
schielt, es aber bei der Erzählung einer Sache tut, gewiß lügt.
Das Rot- und Blaßwerden ist zweideutig, und geschieht zuweilen
aus verschiedenen Ursachen. Der eine wird rot, weil er sich des
Vergehens, dessen man ihn beschuldigt, bewußt ist, der Andere
wird deswegen rot, weil er sich schon dadurch beleidigt findet,
daß ein Anderer einen Verdacht auf ihn hat. Solche Leute sind
gemeiniglich sehr empfindlich. Mancher General, der vor der
Batterie nicht erschrickt, wird rot, wenn er öffentlich reden
soll, weil dies einen Ehrenpunkt betrifft. Wenn ein Mensch sich
so in seiner Gewalt hat, daß er sich durch nichts stören läßt
und sich an eine gewisse Fermeté gewöhnt hat, die ihn weder schon
noch blaß werden läßt, so hat er ein groß Geschenk der Natur,
muß er ein so vortreffliches Talent nicht mißbrauchen, sondern
gut anwenden. Artet aber diese Fermeté in eine dumme Dreistig-
keit aus, so ist sie unausstehlich. Man ist gemeinhin furchtsam,
wenn man in einer Gesellschaft öffentlich reden soll. Indes gefällt
auch die Blödigkeit sehr oft und Cicero stellte sich bei seinen
Reden blöde, ob er es gleich nicht war. Denn Zuhörer haben als-
dann, wenn der Redner nur nicht stecken bleibt, eine gewisse
Nachsicht gegen ihn, weil er aus Respekt gegen sie blöde ist.
Auch empfiehlt sich die Blödigkeit, weil sie unser Mitleiden
rege macht. Überhaupt ist eine furchtsam angefangene und dreist
geendigte Rede sehr einnehmend. Wer aus Vorsatz blöde tut,
handelt großmütig.
/|P_365
/ ≥ Der Mensch kann gebildet werden: ≤
/1. nach seinem Temperament. Dies geschieht durch die Disziplin.
Denn der Mensch ist ein Tier, das Disziplin nötig hat. Wer ohne
Disziplin aufwächst, ist einem wilden Tiere nicht unähnlich.
Hierin hat Rousseau wohl gefehlt, daß er glaubt, daß die
Disziplin aus der Natur des Menschen fließe und daß die Menschen
von selbst gut und böse würden.
/2. nach seiner Komplexion, so daß er in Ansehung seines Körpers
alles ertragen lernt, und dies geschieht durch die Erziehung.
/3. nach seinem Naturell. Dies geschieht durch die Information.
Allein solche Information haben wir selten, wo das Kind nicht
nur in Wissenschaften unterrichtet, sondern wo auch sein Naturell
ausfindig gemacht und wenn man sie demselben einen Keim des
Genius findet, solches exkoliert (ausgebildet) wird. Indes kann
ihm doch dadurch Geschicklichkeit beigebracht werden.
/4. nach dem Charakter, und dies geschieht nur durch Beispiele.
Denn dadurch, daß man ihm aus der Moral sagt, was rechtschaffen
gut und tugendhaft heiße, lernt ein Mensch wohl von allem ge-
lehrt reden. Allein nur Beispiele können ins Herz dringen.
/ Unsere Eltern bilden aber nicht einmal die Komplexion des
Kindes. Sie pflegen und vertändeln es, und wissen nicht, daß sie
das Kind dadurch unglücklich machen. Bei Bildung des Temperaments
wird den Kindern der Willen gelassen, damit sie nicht etwa von
Ärgernis krank würden. Die Information und Bildung des Herzens
möchte nicht das Einzige sein, wofür sie sorgen, ob man sich auch
gleich nicht viel darum bekümmert. Man bringt dem Lehrlinge alle
Wissenschaften bei und geht sie alle durch, ohne zu untersuchen,
wozu er insbesondere Neigung und Fähigkeit hat. Man wählt auch
nicht eine solche Methode, wobei sich das Genie entwickeln kann.
Die Beispiele, die man den Kindern zur Bildung ihres Charakters
gibt, sind öfters schlecht genug. Einige Menschen sind sehr auf-
gelegt auch die schwächesten Empfindungen und Veränderungen wahr-
zunehmen, die in ihrem Gemüt vorgehen. Andere hingegen sind gar
nicht geschickt dazu und auch nicht vermögend Andere zu beobachten.
Wenn nun erstere die Verbindungen der Mienen, die sich in diesem
oder jenem Fall bei ihnen äußern, merken und solche bei sich auch
andere wahrnehmen, so kann sich oft mit vieler Zuversicht die
Gemütsart des einen und andern verraten und man mag auf diese Art
in der Physiognomik weit kommen. Je mehr sich ein Mensch ver-
feinert, desto redender wird seine Miene. Je kleiner der Umgang mit artigen
Menschen ist, desto weniger Ausdrücke hat die Miene. Und an einem, der seine
Zeit in der Einsamkeit mit einem Handwerk, aber in einem gedanken-
losen Zustand zugebracht hat, kann man fast nichts bemerken. Diese
physiognomischen Kennzeichen kann keiner dem andern mitteilen,
weil er ihm das Feine in der Erziehung nicht geben kann. Manches
Gesicht erweckt Zutrauen, ein anderes Mißtrauen. Jedoch können
dies einige gar nicht bemerken. Es wollen zwar einige bei Erratung
des Charakters den ganzen Bau des Körpers und nicht allein
die Mienen in Anschlag bringen. Aber man kann aus dem Bau nur
die Komplexion und einen Teil des aus dem Bau fließenden
Temperaments erraten. Was aber den Charakter oder das Herz und
die Gesinnungen des Menschen betrifft, so können solche allein
nur aus dem Gesicht gelesen werden. Indes will man doch be-
merkt haben, daß große Leute sanfter sind, als kleine; welches
auch von allen Tieren gelten soll. Der Grund ist, weil bei einem
jeden Tier die Bewegungskraft der Muskeln und die Spannung der
Fasern nach Proportion ihrer zunehmenden Größe abnimmt, wie solches
Galilaeus mathematisch bewiesen hat.
/ Man kann auch ferner den Menschen beurteilen aus seinem ganzen
äußerlichen Betragen und aus der Art der Kleidung, aus der Wahl
der Gesellschaften, aus seinen Lieblingszerstreuungen. Derjenige,
der weiße Wäsche, die er aber wenig sehen läßt, an seinem Körper
trägt, will für einen ordentlichen Menschen gehalten werden.
/|P_366
/Man kann also die Richtigkeit des Geschmacks eines Menschen
schon an der Kleidung erkennen. Nur muß man viele seiner
Kleider sehn, die er selbst sich gewählt hat. Bei dem, der das
Harte in der Farbe liebt, kann man kein Mittelmaß in der
Abstechung seiner Denkungskraft und hingegen viele wider-
sprechende Eigenschaften in seinem Charakter vermuten. Endlich
will man sogar am Gange das Temperament des Menschen erraten.
Ein Cholericus geht gemeiniglich steif, und das Hüpfende im
Gange des Sanguinischen zeigt auch das Flatterhafte im Denken an.
/ Es ist die Frage, ob das Regelmäßige in der äußern Bildung
des Menschen auch sein Inneres anzeigt, auf gleiche Beschaffen-
heit zu seinem Innern deutet. Zum Teil kann man es so annehmen,
denn eine völlige Regelmäßigkeit in der Bildung zeigt immer
einen mittelmäßigen Menschen an. Das Mittlere ist gewöhnlich
alltäglich, also ist auch der Mensch alltäglich. Alle Männer
von großem Genie haben immer eine gewisse körperliche Unregel-
mäßigkeit, z. E. Pope. (Hay, der bucklig war, hat ein Buch von
der Häßlichkeit geschrieben, wo er die Vorteile derselben
aufführt, welches ihn von einer guten Seite zeigt.) Die größten
Genies haben eine bizarre Bildung, und der Grund liegt darin,
weil, Genie zu sein, schon selbst Bizarrerie ist - eine große
Proportion der Talente, wo eins vorzüglich vor dem andern her-
vorsticht ist Disproportion, ihre Größe geht immer auf Kosten
eines andern und die Disproportion ihrer
körperlichen Organe ist so groß, als die ihres Gemüts.
/ Ist Häßlichkeit und Mißgestalt einerlei? Nein, ein Mensch kann
mißgestaltet und doch nicht häßlich sein, er kann groteskisch
oder wahnschapig sein, wie der Holländer sagt, das heißt in
Wahn geschaffen.
/ Ein Charakter in der Übertreibung ist Karikatur. Häßlich-
keit macht es nicht aus, wenn nicht Züge der Bösartigkeit da
sind oder was Ekelhaftes im Gesichte oder ästhetisch Häßliches
ist, Häßlichkeit ist immer relativ. Dies beweist das schon
oben angeführte Beispiel vom Heidegger, einem Musicus in London.
Es ist ein Unterschied zwischen Gesichtsbildung und Gesichts-
zügen. Gesichtsbildung ist bleibend. Gesichtszüge sind im Ge-
sicht das, was sich verändert, aber auch noch von den Mienen
unterschieden. Die Gesichtsbildung sieht man am besten im Pro-
fil. Das Profil ist die leichteste Art die Gesichtsbildung zu
zeigen. Wenige Menschen wissen, wie sie en profil aussehen,
wenn man ihnen ihr Bild zeigt, und dies kommt daher weil sie
nie Gelegenheit haben, ihr Bild von der Seite zu sehen, über-
haupt ist doch noch dabei Zusammenhang nötig. Das nämliche
Geschlecht unterscheidet sich im Gesichte vorzüglich dadurch,
daß es flache, dieses aber kugelichte Bildung der Stirn hat.
Es gibt Nationen deren Stirnen mit Haaren bewachsen sind. Über-
haupt sollen kleine Stirnen, d.h. wenn die Haare tief hin-
eingehen, Eingeschränktheit der Gemütsfähigkeiten anzeigen. Man
hielt vor kurzen kleine Stirnen für schön, daher man die Haare
überkämmte wie pony. Von den Menschen, die einen Hiebel auf
der Nase (nasum Rhinocerotis) haben, behauptet man, sie wären
Spötter. Große und weite Ohren bedeuten nach Lavater einen
schwachen Menschen, einen Menschen ohne Festigkeit. Wenn aber
der Knorplige mehr zusammen gezogen ist, soll es Festigkeit
anzeigen. Auch die Augenbrauen sollen Einfluß haben. Sie
heißen eigentlich Augenbramen und sind dazu, daß der Schweiß
nicht in die Augen läuft. Es gibt einige Menschen, bei denen
die Zähne des untern Kinnbackens über die des obern hervorragen,
aber nicht die angenehmste Gesichtsbildung. Sie sind zwar auch
bei uns anzutreffen, doch in Europa nur selten. Dagegen soll
/|P_367
/dieses in China und der dortigen Gegend ganz allgemein sein.
/ Baptista Porta hat die Menschen mit Tiergestalten verglichen.
Ein stolzer Mensch hat solch eine Nase wie der Schnabel des
Adlers oder Habichts. Der Mensch muß Karikatur sein, wenn er
Ähnlichkeit mit den Tieren haben soll. Es kann Nationalbilder
geben. Doch bleibt es immer schwer sie darzustellen. So z. B.
die alten Griechen und Römer sollen alle so etwas charakterist-
isches gehabt haben, erstere nämlich, daß bei ihren Stirn
und Nase ohne Einbug in gerader Linie fortging, letztere, daß
sie lauter krumme Nasen gehabt. Noch hat die italienische
Nation etwas eigentlich charakteristisches.
Anmerkung. Durch die Silhouetten verlor die Kupferstecherkunst
sehr viel. Es ist zwar etwas daran zu erkennen. Doch fehlt das
Beste.
/ Gesichtszüge können wir ansehen als in Spiel gesetzte Mienen.
Miene ist eine Form des Gesichts, insofern sie in Bewegung ge-
setzt wird. Gesichtszüge könnte man nennen fixierte Mienen.
Dadurch daß man den Gesichtszug eines andern nachahmt, kann
man bei sich die Empfindung oder den Reiz zu derselben bemerken
und daraus könnte man schließen, was jener bei dem Gesichts-
zug, den wir nachzuahmen suchen, empfunden haben mag.
Dieses Mittel ist nicht zu verwerfen. Miene bedeutet in der
ganzen Welt einerlei und der Mensch hat auf die Art durch die
ganze Welt eine Sprache. Mienen können zur Sprache hinzu-
kommen, um sie verständlicher zu machen.
/ Zur Mitteilung gehört: 1. die Artikulation der Laute oder
die Kunst zu sprechen, 2. die Gestikulation, worunter auch
Mienen verstanden werden, vorzüglich Gebärden. Die Kunst in
Rücksicht der Mienen allein heißt Mimik. 2. Modulation, die
Kunst, mit der gehörigen Manier, dem passenden Ausdruck und Tone
zu sprechen. (Accent von accinere, singen.) Durch bloße
Modulation hat man noch nie versucht sich verständlich zu machen.
Man könnte aber auf folgende Art den Versuch machen. Es müßte
eine Komödie in einer ganz fremden Sprache bei herabgelassenem
Vorhange aufgeführt werden, so daß da man nicht die Sprache
versteht und auch nicht gestikulieren sieht sich vermuten
läßt, daß man dennoch aus der Modulation der Stimme viel er-
raten würde.
/ Die Züge des Gesichts sind zu merken, die etwas charakter-
istisches haben. Es fragt sich, ob die Gesichtszüge vor den
Mienen gehen oder umgekehrt. Züge werden die Teile des Gesichts
genannt, die mit den Gemütsbewegungen in Harmonie stehen. Jeder
Affekt ist mit einer Miene begleitet. Hat also ein Mensch ge-
wisse Affekte, so macht er oft die damit verbundenen Mienen,
woraus zuletzt stehende Gesichtszüge werden. Mädchen soll man
mit Gelindigkeit erziehen, weil alsdann in ihrem Gesichte
eine Munterkeit und Fröhlichkeit bleiben wird. - Man kann
einen Hang zur Niederträchtigkeit im Gesichte bemerken.
Als ein Vater seinen Sohn auf die Akademie reisen ließ, sagte
er ihm beim Abschiede: Junge, bring mir das Gesicht wieder,
- eine herrliche moralische Lehre. - Wahrscheinlicherweise
würde ein solcher Mensch, der selbst sein Gesicht verdorben
hat, es mit der Zeit wieder verbessern können, wenn er wieder
nämlich ganz moralisch lebte. Allgemein kann man es doch
nicht sagen, weil einige Menschen gewisse unvorteilhafte Züge
in der Kindheit haben. Menschen, die speziell miteinander umgehen,
nehmen gewisse Züge voneinander an, z. B. Eheleute, die sich sehr lieben und
gemeinhin heiratet der Mann ein Frauenzimmer, das er mit sich
zum Teil ähnlich findet. Das, womit ein Mensch sich beschäftigt,
/|P_368
/läßt einen gewissen Ausdrucke im Gesichte zurück. Z. E. Landleute
haben einen Ausdruck, der eigen ist. Gewöhnlich hat das Gesicht
etwas Steifes an sich und das sowohl bei Männern als bei Frauen.
Der Grund liegt darin: sie genieren sich unter sich nicht im
mindesten, sie finden gar nicht nötig eine Geschmeidigkeit anzu-
nehmen, und spannen daher nie die Muskeln des Gesichts.
Dies geht bis auf den Verwalter und Amtmann zu. Die Menschen in
Städten hingegen werden genötigt eine Stellung anzunehmen,
um den andern Höflichkeit zu erzeigen. Die devote Gemütsver-
fassung, welche ein Mensch sich mit Fleiß aufdringt, zeigt sich
gemeinhin in solchen Ländern, wo man ein Geschäft daraus macht,
und drückt sich in den Gesichtern ab. Nicolai nennt sie ge-
benedeiete Gesellen. Die Abbildungen der Heiligen hat immer
etwas Absurdes, wenn sie mit schmachtenden Augen vorgestellt
werden, als wenn sie jemanden sehen.
/ Die starken Beschäftigungen der Gedanken bringen auch Mienen
hervor, die beharrlich sind. Wenn Könige, Fürsten gewisse Maje-
stät haben, so kommt es daher, weil sie keinen Widerstand finden.
Ihnen wird die Majestät habituell, bloß weil sie die hohe
Würde bekleiden. Es gibt eine gewisse Gesichtsform, die habituell
wird und ein Naturfehler ist. Dies ist das Schielen. Es kommt
daher, weil das eine Auge, welches schwach ist, sich versteckt
damit das andere desto besser sehen kann. Wenn ein Mensch schielt,
wenn er spricht und sonst nicht, so ist es immer gelogen. Nun
fragt sich überhaupt 1. inwieweit kann man sich auf Physiognomik
verlassen? 2. läßt sie sich als wissenschaft behandeln? d. h.
kann sie gelehrt und gelernt werden? 3. oder ist sie nur bloß
ästhetisches Urteil? Nun kann man sagen, ganz ohne Grund ist
Physiognomik nicht. Ein physiognomisches Urteil ist uns natürlich.
Lavater führt sogar an, daß auch Pferde und Hunde Physiognomie
haben. Man legt sich aber nicht darauf, sie zu
beobachten. Bei einem lebenden Wesen ist immer doch etwas in
dem Auge, was seinen innern Zustand anzeigt. Hat der Mensch Züge
welche mit den Mienen, die einen Affekt hervorbringen, ähnlich
sind, so hat er auch Anlagen dazu. Manche Menschen haben ein
glückliches Gesicht. Jedermann traut ihnen gleich. Ein glückliches
Gesicht ist das beste Empfehlungsschreiben. Was kann man aus der
Physiognomie sehen? Man glaubt Verstand, Witz, das Nachdenken,
Gründlichkeit und auch die Dummheit zu bemerken. Eigentlich
ist das Temperament zu sehen. Physiognomik kann nie Wissenschaft,
aber Kunst werden. Die Charaktere zu malen, die Gemütsverfassung
in dem Gesichte, in den Mienen zu zeigen, dazu gehört viel Kunst
und es wird kaum erreicht. Denn ein Maler kann wohl einen malen
als zornig, fröhlich usw., aber gewiß nicht so leicht einen, der
zum Zorn geneigt ist. Eine Kunst kann die Physiognomik also
werden. Nur Regeln können dabei nicht gegeben werden. Denn man
kann nur das, was nicht gefällt wegstreichen. Ob es ratsam ist,
physiognomische Urteile zu fällen? Eigentlich soll ein jeder
in seinen Busen sehen. Im allgemeinen gehts wohl an, aber nicht
speziell. Denn ein jeder nimmts übel, wenn sein Gesicht be-
merkt wird, und er nimmt wirklich alsdann eine andere Miene an
und die Ausspähungssucht verfehlt also ihren Zweck, denn sie
kann nicht die Menschen bemerken, wie sie wirklich sind. Gibts
auch eine Nationalphysiognomie? Ja, wenn man viele Kupferstiche
von ihnen gesehen hat, so kann man leicht unterscheiden, und
vorzüglich den Franzosen. Hübsch aussehen hat zweierlei Be-
deutung: 1. eine physiologische, 2. eine moralische. Z. B. die
Marquise de Brinvillier, eine berüchtigte Giftmischerin, die
Vater, Mutter, Brüder usw. vergiftet hatte, sah außerordentlich
schön aus, aber nur physiologisch, nicht moralisch. Denn ein
Benediktiner, der nie etwas von ihr gehört, sah in einer Bilder-
galerie unablässig auf dasselbe Bild (es war das Bild der ge-
/|P_369
/nannten Marquise. Als ihn nun seine Begleiter um den Grund seines
Erstaunens befragten, gab er zur Antwort: Wenn je eine solche
Person gelebt hätte, so müsse sie der Teufel gewesen sein,
sie verriete im Gesichte bei aller ihrer außerordentlichen
Schönheit einen schwarzen Charakter. Bösewichter von Profess-
ion sind gewöhnlich knochichte Leute und haben im Gesicht ein
Ausdruck von Stärke. Also sind solche, die sich ihrer Über-
legenheit bewußt sind und eben nicht die besten Grundsätze
haben, stets in großer Versuchung. Wenn so einer ins Verhör
gebracht wird, so antwortet er nicht leicht, sondern sieht
immer den andern starr an oder verrät eine große Dummheit. Das
Menschen, die Bösewichter waren, nach dem Tode gutmütig
aussehen, kommt daher, weil ihre Muskeln nachlassen und sie
also ein ganz anderes Gesicht bekommen.
/|P_370
/ ≥ Vom Charakter der Person ≤
/Der Charakter ist das Kennzeichen des Menschen als frei-
handelndes Wesen. Es scheint Widerspruch zu sein, ist es
aber nicht. Ein freihandelndes Wesen muß so handeln, daß
es immer Maximen zum Grunde hat, und sich diese Maximen
beharrlich, so ist dies sein Charakter. Wir sind uns unserer
Maximen nicht immer bewußt, handeln aber danach. Charakter
ist das innere Prinzip aller Anlagen, wonach einer handelt
und hat auf Temperament und alles Einfluß. Der Charakter ist
nicht angeboren, sondern er ist Inbegriff der Grundsätze,
die sich ein Mensch macht und wird also erworben. Daß aber
ein Mensch nicht wie der andere ist, und einer solchen
Charakter, der andere solchen hat, ist wider unser Wissen.
Die Willensbestimmung des freien Wesens, daß einer schlecht,
der andere gut handle, geht nach einem Gang, den wir nicht
erklären können. Ein Mensch kann ein unglückliches Tempe-
rament, aber einen guten Charakter haben. Der Charakter
bezieht sich auf die Complexion des Körpers und besteht im
Eigentümlichen der oberen Kräfte des menschlichen Gemüts.
In jedem Menschen liegen zwar große Zurüstungen und Trieb-
federn zu allerhand Tätigkeiten, allein es liegt auch noch
ein anderes Prinzip in ihm, sich aller der Triebfedern und
Fähigkeiten zu bedienen, Empfindungen aufzufordern und zu
hemmen. Die Beschaffenheit dieser obern Kraft macht den
Charakter aus. Es kommt also bei Bestimmung der menschlichen
Charaktere nicht auf ihre Triebe, Begierden, Fähigkeiten und
Talente an, sondern bloß auf die Art, wie einer dieselben
modifiziert und gebraucht. Wir fragen demnach, wie der
Mensch seine Kräfte und Vermögen gebrauche, zu was für einen
Endzweck er sie zuwende. Um also den Charakter des
Menschen bestimmen zu können, muß man die in seine Natur
gelegten Zwecke kennen, und alle Endzwecke wissen, die seine
sämtlichen Handlungen dirigieren. Alle Charaktere sind
moralisch. Denn die Moral ist eben die Wissenschaft von allen
obern Zwecken, die durch die Natur des Willens festgesetzt
werden, und welche den objektiven Gesetzen des Willens vor-
schweben und nach denen wir also unser Vermögen richten und
anfangen. Der Charakter ist eine gewisse subjektive Regel
des obern Begehrungsvermögens, die objektiven Regeln des-
selben enthält die Moral, und mithin macht das Eigentümliche
des obern Begehrungsvermögens den menschlichen Charakter aus.
Jeder Wille aber oder das oberste Vermögen ist besonders
geartet und hat seine subjektiven Gesetze, welche eben den
Charakter konstituieren. Die Charaktere sind schwer zu be-
stimmen. So betrachtet mancher Mensch alles aus dem Gesichts-
punkt der Ehre. Ein anderer hat einen liebreichen Charakter
des ganzen obern Begehrungsvermögens, der aufs Wohltun hin-
aus läuft. Da oft viele Zwecke in der Natur des Menschen
liegen, so ist sein Charakter oft sehr ungemein verwickelt.
Alsdann muß man aber die Hauptzwecke absondern und daraus
seinen Charakter bestimmen. In den Jugendjahren ist er noch
nicht kennbar und selbst ein Mensch von 16 bis 17 Jahren
kann seinen Charakter noch nicht kennen lernen, weil sich
vielleicht noch kein Fall ereignet hat, wo sich sein
Charakter könnte sehen lassen. Dann aber bildet sich sein
Charakter aus. Man sagt: der Mensch hat seinen Charakter
verbessert oder verschlimmert, allein es ist falsch; denn
man kann zwar den Hang, den man zu etwas hat, mildern und
/|P_371
/lenken, aber einen bessern Charakter kann man nicht be-
kommen. Wer einen bösen Charakter hat, wird niemals den ent-
gegengesetzten erlangen, weil der wahre Keim fehlt, der zu
dem Ende in unsere Natur gelegt sein muß. Mancher hat ein
unglücklich Temperament, aber einen guten Charakter. Man kann
nicht sagen, er hat einen glücklichen Charakter. Denn der
Charakter hängt nicht von der Geburt, oder vom Zufall ab, sondern
lediglich von uns selbst. Charakter ist was uns selbst zu-
gehört. Der gute Charakter übertrifft alles, geht über alles.
Er hat ein glücklich Temperament, ist viel gesagt, aber, er
hat einen guten Charakter, ist alles gesagt. Denn das Tempe-
rament ist angeboren und nicht seine Sache. Talent bestimmt
den Marktpreis. Ein solcher Mensch wird alsdann wie ein Werk-
zeug angesehen, das zu allem gebraucht werden kann, weil
er Geschicklichkeit hat, auch zum Bösen. Wo nichts weiter als
Talent ist, findet nur Brauchbarkeit statt. Geschicklichkeiten
werden als Früchte des Talents angesehen. Temperament macht
den Affektionspreis aus. Wenn er auch keinen Nutzen schafft,
so mag man doch gerne mit ihm umgehen. Hier kommt es sehr auf
Liebhaberei an. Bald wählt man einen von dem, bald vom andern
Temperament. Charakter fixiert den Begriff, den man sich von
einer Person macht. Darin besteht der ganze Wert und ein guter
Charakter muß jedermann gefallen. Charakter ist der ganze Wert.
Überall muß der Mensch irgendeinen Charakter haben und nicht
nach Launen oder Anwandlungen, sondern nach Grundsätzen handeln.
Dem Engländer kommt ein Mensch, der gar keinen Charakter hat,
sondern nach Laune handelt, unerträglich vor. Er sagt wohl gar:
aut Brutus aut Catilina. Aus dem Grunde ließ Choiseul einen
Kopf, der Voltaire vorstellt, oben auf einen Wetterhahn setzen,
damit er sich auch hier stets nach dem Winde richten könnte. Das
Kapital also ist Charakter. Der Mensch muß 1. überhaupt einen
Willen (und nicht Laune) haben, 2. einen eigenen Willen (aber
nicht Eigensinn), d.h. auf Grundsätzen gebauten, den hat der
Lügner nicht, 3. einen eigenen und beständigen Willen. Diese
drei Stücke machen den bestimmten Charakter des Menschen aus.
Mit Unrecht nennt man diejenigen, die nur einen bestimmten
Charakter haben, eigensinnig. Vom wirklichen Eigensinn hat man
viele desperate Beispiele, vorzüglich unter den Engländern,
z. E. Ledgard. Der Lügner hat gar keinen Charakter, denn Lügen
erfordert Veränderlichkeit. Es nimmt keine Grundsätze an. Also
muß der Lügner nach Umständen lügen. Wahrhaftigkeit ist die
erste Grundlage zum Charakter. Dazu gehört ferner Beharrlich-
keit und "nichts aufschieben". Freiheit und Festigkeit des Vor-
satzes determiniert alles beim Menschen. Das Aufschieben der
Besserung und Geschäfte ist eine innere Lüge, indem der Mensch
sich vornimmt, es doch nicht zu tun. Daher ist es eine gute Regel
beim Briefschreiben, daß man nicht eher den Brief aufbricht,
als bis man sich mit der Feder in der Hand hingesetzt hat,
damit man ihn sogleich beantworte. Es ist sehr gut, wenn man
sich selbst als einen solchen kennt, der unverbrüchlich Wort
hält. Man kann dann versichert sein, daß man den einmal fest
gefaßten Vorsatz auch in Ausübung bringen wird. Des Gemüts und
Herzens wegen lieben wir den Menschen, seiner Talente wegen
schätzen wir ihn, aber seines Charakters wegen verehren wir ihn.
Gutartig ist der Mensch wegen seines Temperaments, gut wegen
seines Charakters. Gutartigkeit des Temperaments gleicht einem
Gemälde mit Wasserfarben. Güte des Charakters einem mit Öl-
farben. Ein steifer Sinn ist ein Analogon des Charakters. Er
sieht so aus wie Charakter, ist es aber nicht und gehört also
eigentlich nicht zum Charakter. Man fand ihn bei Karl_XII.
/|P_372
/Von ihm muß man ja nicht glauben, daß er ein Sonder-
ling war oder affektierte. Der, welcher nachäfft, zeigt einen
gänzlichen Mangel des Charakters. Der steife Sinn hat Ähnlich-
keit mit dem festen Charakter. Sulla hatte einen Charakter
der böse war. Aber man bewundert doch die Größe seiner
Maximen, als er resignierte. Denn auch bei einem bösen
Charakter bewundert man die Größe und Standhaftigkeit der
Maximen, obgleich der Mensch selbst nicht hochzuachten ist.
So auch Cato von Utica. Erst durch Maximen bekommt das Gemüt
Festigkeit. Der Schade, welcher entspringt, wenn wir unsern
Vorsatz nicht ausüben, ist groß und der Festigkeit unseres
Charakters schädlich. Man muß lieber sich selbst nichts vor-
nehmen, wenn man voraussieht, daß man es nicht halten kann.
/ Vom guten Charakter. Was den guten Charakter betrifft, so
können nur Züge angebracht werden. Die Bedingungen solches
Charakters sind immer negativ. Der gute Charakter bedeutet
das Minimum, was man vom Menschen annehmen kann, d.h. er soll
aus Grundsatz gut sein. In der Tat ist ein guter Charakter
das Minimum der Menschheit.
/Das erste Merkmal ist: die Wahrheit zu reden. Er darf nicht alle Wahrheit reden. Denn dies wäre
nicht immer ratsam. Aber alles, was er redet, muß wahr sein.
Alle Lügenhaftigkeit setzt den Menschen herab. Kann man dabei
versteckt sein, dissimulieren? Es gehört freilich zur Be-
fugnis eines Menschen und man muß sich oft verhehlen. Das ge-
hört zum Ruhm eines jeden, wenn er sich nicht unvorsichtig
offenbart, wenn er Dinge verhehlt, die er aus besondern Ver-
bindungen nicht eben sagen darf, indem er andern dadurch sehr
schädlich werden könnte. Verstellung bleibt eben darum in
jedem andern Fall schädlich. Das zweite Merkmal ist: im Ver-
sprechen Wort zu halten. Dies ist die Treue, welche im ge-
meinen Wesen für sehr wichtig angesehen und anerkannt wird.
Menschen von Charakter versprechen nicht leicht, weil sie immer halten
und daher zuvor alle Beschwerden bedenken und genau prüfen.
Bei den Orientalen ist keine Tugend seltener als die Wahrhaftig-
keit. Man kann gerecht sein nicht allein im Versprechen,
sondern auch in der Äußerung aufrichtiger Meinungen. Man muß
nicht allein im Versprechen, sondern auch in der Äußerung
von aufrichtigen Meinungen Wort halten, und nicht das, was man
einmal öffentlich bekannt hat, widerrufen. Das dritte Merkmal
ist: man muß es dahin bringen, daß man selbst seine Meinung
nicht widerrufen darf. Das vierte Merkmal ist: nicht zu
affektieren. Sobald einer affektiert, so weiß man schon, er
macht nicht seine Rolle, sondern agiert im buchstäblichen
Sinne die Rolle eines andern. Affektation ist immer eine Art
von Falschheit. Ein Mensch, der etwas Plumpes, Ungeschicktes
hat, verliert lange nicht so viel, als der, welcher affektiert.
Einer tuts z. B. im Lieblichsein, in süßen Manieren, er will
lauter Gutherzigkeit sein und dann besitzt er sie gewiß am wenigsten.
Auch Autoren affektieren in der Schreibart. Die Reden in der
französischen Nationalversammlung sind voll Affektation. Sie
fangen immer von Dingen an, die gar nicht zur Sache gehören.
Sie wollen große Belesenheit verraten. Das fünfte Merkmal ist
nicht nachzuäffen, wie z. B. manche Kandidaten. Das sechste
Merkmal ist edle Simplizität. Ein Zug von gutem Charakter ist
immer Einfalt, die dem Geziere entgegengesetzt ist. Je mehr
Simplizität, desto edler ist er. Überdies hängen die Ver-
zierungen von dem so veränderlichen Geschmack ab. Simplizität
ist nichts weiter als die Abgemessenheit zum Zwecke, wenn der
Mensch nicht mehr sagt als nötig ist. Die Quäker gehen ganz
außerordentlich auf Simplizität. Doch ist bei ihnen
/|P_373
/der sonderbar Widerspruch einer affektierten Simplizität. Sie
sagen "Du" auf jeden und nehmen für keinen den Hut ab, wollen nie
Krieg führen, auch nicht dazu geben. Sie beweisen viel Festig-
keit im Charakter. Sie haben den Ruf der Zuverlässigkeit. Das
siebente Merkmal ist: nicht ausplaudern. Wer immer ausplaudert
ist ein Mensch von keinem Charakter. Er kommt immer in den Fall
zu lügen. In einer Gesellschaft muß Freiheit der Mitteilung der
Gedanken sein. Wenn dieses nicht stattfindet (welches der Fall
bei den holländischen Gesellschaften sein soll), so ist sie un-
angenehm. Ein Mensch, der immer alles herumträgt, der erzählt, es
habe jemand dies und jenes Übles von ihm gesprochen, verdient die
größte Strafe, denn er erregt beim andern einen innern Widerwillen
gegen jenen. Durch das Ausplaudern ist der Bund jeder Gesellschaft
zerrissen. Der Diskrete muß unterscheiden, was er andern erzählen
und was er in sich selbst verschließen muß. Der Mensch geht nur in
Gesellschaft, um sich mitzuteilen und nicht einander anzusehen.
Ein Mensch, der sich zurückhalten muß, ist nicht in Gesellschaft,
sondern für sich allein, denn er kann nicht alles sprechen, was
er will. Daher ist ein Freund, dem man sein Herz ausschütten kann,
überaus schätzbar. Hume sagt: der ist ein böser Gesellschafter,
der nicht vergißt. Denn eine Torheit muß vergessen werden, um der
andern Platz zu machen.
/ Das achte Merkmal ist Freundschaft. Sie muß, wenn sie gleich
schon sollte erloschen sein, dennoch respektiert werden, und man
muß keinen Haß blicken lassen. Im Zerreißen der Freundschaft
steckt immer etwas Niederträchtiges, weil ihr Begriff so sehr viel
Edles mit sich führt. Der mit dem ich Freundschaft mache, muß nie
mein Feind werden können.
/ Das neunte Merkmal ist Ehrliebe. Sie gehört ganz notwendig
zum guten Charakter. Sie strebt nicht wie die Ehrbegierde darnach,
von allen gekannt zu sein, sondern hütet sich nur wenn man von
andern gekannt wird, durch seine Handlungen ihre Verachtung
zu verdienen. Ehrliebe ist die unzertrennliche Begleiterin der
Tugend. Sie ist die höchste weibliche Tugend. Bei Männern kann sich
die Idee ihres Wohlverhaltens bloß auf ihre Pflichten gründen.
/ Das zehnte Merkmal ist: es muß kein Kriechen vor Mächtigen
und Vornehmen stattfinden. Es verträgt sich nicht mit dem guten
Charakter. Denn dieser ist in seinem werden, der andere bleibts.
/ Das elfte Merkmal ist: kein Mensch muß ein Abzeichen haben,
d.h. man muß keinen Wert in Titel, Orden usw. setzen, oder durch
absurde Mienen und Gebärden sich von andern unterscheiden. - Oder
wenn er manchmal den Hut aufs eine setzt pp.. Kein Titel verändert
seine Person. Mit seinesgleichen soll man umgehen. Wer mit Narren
umgeht wird selbst dafür erkannt, und ist auch ein Narr. Noscitur ex socio qui non
cognoscitur ex se (gekannt wird aus dem Genossen, wer nicht aus sich erkannt wird).
/ Das zwölfte Merkmal. Man muß sich nicht an die Reden anderer
kehren, wenn man erst seiner Grundsätze gewiß ist. Es ist auch
dem Charakter gar nicht gemäß, in Grundsätzen zu schwanken. Ein
Mensch, der immer fragt: was werden die Leute davon sagen, oder:
tun das auch andere, was ich tue? hat keinen bestimmten Charakter.
Man muß sich insofern an das Urteil anderer kehren, daß man
ihnen kein Skandal gibt, und nicht nach ihren Einfällen.
/ Das dreizehnte Merkmal. Man muß in Empfindungen nicht süß und
schmelzend sein. Durch diese Eigenschaft verraten sich eigen-
liebige Menschen. - Die Religion des Kultus ist a) Religion des
Aberglaubens, b) Religion der Schwärmerei, alles zu tun aus
Liebe zu Gott. (Der Mensch kann sich keine Vorstellungen von der
Stärke einer Triebfeder machen, als wenn sie große Hindernisse
hat überwinden können.) - Die eigentliche moralische Religion ist
auf die Idee der Pflicht und nicht ursprünglich auf die der Liebe
gebaut. Denn Gott lieben heißt nichts anderes, als willfährig
/|P_374
/seine Gebote halten, dem göttlichen Willen gemäß seine
Pflicht tun. Also besteht die Religion nicht allein in der
Liebe Gottes, sondern vielmehr in der Furcht Gottes, aber
auch nicht in der Furcht vor Gott.
/ Anmerkung. Es wird erzählt, daß man einst eine Frau mit einer
Schaufel voll Kohlen und einem Eimer Wasser angetroffen, und
als man sie um die Ursache ihres Aufzugs befragt, soll sie ge-
antwortet haben: Ich gehe das Paradies zu verbrennen und die Hölle
auszulöschen, damit man Gott nicht mehr aus Lohnsucht oder aus
Furcht vor Strafe diene.
/ Das vierzehnte Merkmal. Aus der Religion des Menschen kann
man mit Gewißheit erkennen, ob er Charakter habe oder nicht.
/ Das fünfzehnte Merkmal. Verschiedene Geschäfte des Menschen
haben Einfluß auf ihn selbst und verhindern oft den Charakter.
Z. B. Poeten, Komödianten müssen sich in einen andern Charakter
finden können. Sie haben selbst selten einen bestimmten
Charakter. Auch mit Musicis ist es größtenteils so. Von spekula-
tionen Gelehrten pflegt man anzunehmen, daß sie einen guten
Charakter, wenigstens keinen bösen haben. Hume sagt: er ist
immer ehrlich. Es sollte sagen: redlich. Denn er könnte das
erste aus Dummheit sein. Das sechzehnte Merkmal. Offenheit der
Denkungsart gehört auch zum guten Charakter. Der gute Charakter
wird erworben. Der böse Charakter wird zugezogen wie eine
Krankheit. Ein jeder Mensch muß sich in der Folge durch eigenes
Nachdenken immer selbst noch einmal erziehen. Dies geschieht
durch öftere Selbstprüfung unserer Handlungen. Gewöhnlich sind
die Menschen bei dem besten Willen ihrer Erzieher doch verkehrt
erzogen. Aus Grundsätzen ehrlich sein heißt redlich sein. Bei
Erziehung des männlichen und weiblichen Geschlechts ist die
Methode verschieden. Bei dem ersten muß man stets auf Ehre, bei
dem letzten auf Grundsätze sehen. Nie müssen Eltern es leiden,
daß sich ihre Kinder zu Delateurs von den Handlungen anderer
gebrauchen lassen, denn das zeugt von Bösartigkeit des Charakters.
/ Wann erwirbt man den Charakter? Selten vor dem
40sten Jahre, weil der Mensch alsdann schon vielerlei Situation
des Lebens durchgegangen ist und jetzt einen Überschlag davon
machen kann. Erst jetzt wird er sich von sehr vielen Dingen
einen richtigen Begriff bilden können.
/ Es gibt Menschen, die eine zwiefache Gestalt in ihrem Charakter
haben, nämlich einen publiquen und einen Privatcharakter. So
war Mirabeau ein Mann, der im ersten viel Gewissenhaftigkeit
bewies, im letzteren aber nichts weniger als das tat. Jeder
Mensch ist Patriot aus Eitelkeit. Es aus Grundsätzen zu sein
ist Pflicht.
/|P_375
/ ≥ Vom Charakter des Geschlechts. ≤
/ Man glaubte, es käme nur auf Erziehung an, so könnte
man bei der großen Gleichheit, die die Natur in unsere bei-
den Geschlechter gelegt, es auch dahin bringen, daß ihre
Denkungsart von gleicher Beschaffenheit würde. Viele glauben,
es wäre kein Unterschied in Ansehung des Charakters zwischen
dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht. Aber obgleich
es scheint, als wenn die Natur sie gleich gemacht, so gibts
doch große Unterschiede. Das weibliche Geschlecht nennt man
allgemein Frauenzimmer. Das Wort "Weib" scheint ganz abge-
kommen zu sein. Wie unterscheidet sich Frau vom Weibe? Frau
gegen Weib ist so wie Herr gegen Nicht-Herr. Frau ist Herrin.
Ich müßte alsdann auch sagen "Bauerherr" wie "Bauerfrau".
In Ansehung der Titelsucht findet sich viel Absurdes in Europa.
So ist man im Gebrauch der hier vorkommenden Wörter sehr
peinlich. Man ist immer verlegen, ob man Sie, Ihr, er sagen
soll usw. Die Griechen hatten eine $gynaikonitis$ (Zimmer
für Frauen) im Innern des Hauses, wohin kein Fremder kommen
durfte, und die Männer aßen auch bei Tische allein. In Eng-
land ist beinahe noch eine ähnliche Gewohnheit.
Denn die Frauenzimmer entfernen sich gleich nach Tische,
und alsdann fangen erst die Männer an zu trinken und recht
lustig zu sein. Vermutlich ist diese Gewohnheit zuerst durch
die Franzosen abgeschafft worden. Die ersten Deutschen lies-
sen Komplimente an das Frauen-Zimmer machen und hernach
nahm man die Personen dafür und endlich zuletzt wurde auch
eine "Frauenzimmer" genannt. Es ist überhaupt absurd und
läuft ins Schale hinaus, und es käme nur auf die
Hardiesse einiger beliebter Autoren an, dies Wort zu ver-
werfen, und dem Worte "Weib" die Achtung, welche es ver-
dient, wieder zu verschaffen. So gibt es noch mehr Wörter:
Jungher, Junker und Frau Jungfrau, immer das Diminutivum.
Die Franzosen sind bei ihrem Demoiselle geblieben.
/|P_376
/ ≥ Der Charakter des weiblichen Geschlechts. ≤
/Vorläufig und allgemein genommen fragt sich nun: Welches Ge-
schlecht soll man studieren? Man kann sagen: das weibliche.
Denn bei dem weiblichen Geschlecht unter den Menschen, wel-
ches die größte Schwäche bei sich führt, in dessen Organi-
sation die wenigste Dauerhaftigkeit und die mindeste Stärke
ist, kann man sicher die mehreste Kunst voraussetzen, so wie
bei kleinen Maschinen, welche mit wenig Kraft eine Wirkung
hervorbringen, nicht die Dauerhaftigkeit der großen, je-
doch aber mehr Kunst angetroffen wird. Überhaupt kann man
bei der schwächsten Organisation immer die meiste Kunst vor-
aussetzen. Der Mann hat mehr Kraft und daher mehr Simplizi-
tät, aber nicht so viel Kunst. Daraus folgt, daß man das
weibliche Geschlecht studieren müsse und vorzüglich darum,
weil das Weib noch obendrein die Kunst hat, seine Kunstanla-
gen zu verbergen. Das Wort "Mensch" bezeichnet das Genus,
"Mann" und "Weib" aber die Species. Im Englischen und Fran-
zösischen ist es nicht so. Da bezeichnet ein Wort die Begrif-
fe von Mann und Mensch. Der Mann ist für die Natur, das Weib
für den Mann gemacht, d. h. der Mann ist zu herrschen, das
Weib zu regieren gemacht oder den Mann zu ihren Zwecken zu
gebrauchen. Die Natur zu seinem Zweck zu gebrauchen, dazu
gehört nicht viel Kunst. Da es aber weit künstlicher ist,
kleine Maschinen so einzurichten, daß sie große in Bewe-
gung setzen, als wenn große kleine in Bewegung bringen sol-
len, so muß auch der natürliche Charakter eines Weibes, das
den Mann bewegen soll, eine angelegte Kunst sein. Daraus
sieht man schon, daß in dem natürlichen Charakter eines
Weibes viel List liegt. Es ist bestimmt, den Mann zu regie-
ren, und es muß also auch künstlich eingerichtet sein. Mit-
hin besitzt das weibliche Geschlecht mehr Kunst, die den
übrigen Mangel ersetzt. Dies sind die allgemeinen Betrach-
tungen, die uns zu dem Beweise vorbereiten, daß vom weib-
lichen Geschlecht alles durch die Kunst und unter einem ge-
wissen Schein ausgerichtet werden müsse.
/ Grundsätze. Alles, was in der Natur liegt, ist gut,
indem es seinen gehörigen Zweck hat. Auch haben wir keinen
andern Maßstab fürs Gute und Böse, als die Natur selber.
Wie entdecken wir nun die Naturanlagen? Alles zusammengenom-
men, was das Weib vom Manne unterscheidet, nennt man die
Weiblichkeit. Dies ist eine besondere Anlage. Denn wenn man
die Weiblichkeit wegnimmt, so ist Männlichkeit da. Männlich-
keit ist aber nicht eine besondere, sondern - die menschli-
che Anlage. Wir müssen daher das Subjekt so betrachten,
wenn es von der Kunst entfernt ist. Wir dürfen aber nicht
darum das weibliche Geschlecht unter den Wilden studieren.
Denn wir suchen nicht auf die Roheit an ihnen, sondern die
Kunst, und diese finden wir ja nur im Zustande der Kultur
und des Luxus, wo das weibliche Geschlecht erst Gelegenheit
findet, seine Anlagen zu entwickeln. Also werden wir die
Natur des Weibes am besten im Zustande des Luxus erkennen
lernen. Dampier, einer der geschicktesten Reisenden, wel-
cher dreimal eine Tour um den ganze Globum gemacht, merket
auch an, daß bei allen rohen, unkultivierten Völkern der
Mann sich bloß mit den Waffen beschäftige, den Zug anführe
das Weib aber, welches das Geräte hinterher trage, nur als
Haustier betrachtet werde. Ganz im Gegenteil aber fingen
die Weiber im Stande der Kultur an, ein Obergewicht über
/|P_377
/die Männer zu bekommen. Nur durch Kultur können wir oft
die Mannigfaltigkeit der Natur kennen. Die Kunst macht
die Keime, die die Natur in die Dinge gelegt hat, erst
sichtbar. Die Eigentümlichkeiten dieses Geschlechts nen-
nen wir Weiblichkeiten und alle insgesamt heißen Schwächen,
welches sie doch nur im Verhältnis gegen die Männlichkeit
sind, weil wir die Männlichkeit als Menschlichkeit oder
Stärke betrachten, aber mit besonderer Kunst verbunden.
Allein durch diese Schwächen des Weibes kann die Natur
ihre Zwecke mit demselben erreichen. Diese beruhen nämlich
auf Erhaltung der Species, deswegen sie ihr liebstes Kleinod,
das Kind, dem Schoße des Weibes anvertraute. Um dasselbe,
nun sorgfältig zu erhalten, pflanzte sie Furcht in das Weib,
und je mehr Schwäche dieses zeigt, desto mehr kann es
auf den Mann wirken, welcher dann aus Großmut Schonung mit
ihr hat. Furcht ist auch eine Schwäche, die den Weibern sehr
gut ansteht. Daher affektieren sie sehr oft eine solche
Schwäche, z. B. in öfteren Ohnmachten. Das hat eine große
Wirkung auf den Mann. Je mehr sie sich stark erweisen, de-
sto weniger Einfluß haben sie auf den Mann. Sie können ihn
alsdann nicht zu ihren Zweck gebrauchen. Die Schwäche ge-
hört also mit zu den Kunstanlagen, durch welche sie über
den Mann herrschen. In der männlichen Seele liegt gleich-
sam ein Beruf der Natur, das Weib zu schützen. Der Mann hat
Anlagen zu Großmut und Beihilfe gegen das schwache Weib.
Es ist sozusagen dem Diplom der Menschheit zuwider, das Weib
mit harten Worten, vielweniger mit Schlägen anzugreifen,
und es wird daher einen Manne unmöglich mit dem weiblichen
Geschlechte rauh zu verfahren. Dies ist besonders bei ver-
feinerten Personen, wo überhaupt die Fähigkeiten am meisten
entwickelt sind, am besten zu bemerken. So scheint Großmut
mit der Stärke verbunden zu sein. Die affektierte Schwäche
fordert die Großmut der Männer auf. Solches sehen wir z. B.
vor allem, wenn Mann und Frau an ein Wasser kommen, welches
sie notwendig durchwaten müssen. Wenn auch hier der Mann
ebenso dünne Schuhe und Strümpfe angezogen hat, als die
Frau, so hilft es ihm doch nichts. Er muß die Frau auf die
Arme nehmen und durchtragen. Daß der Mann diese Beschwerde
über sich zu nehmen verbunden sei, weiß das Frauen-
zimmer so gewiß, daß bei ihm, dem Manne eine Beschwerde
verursachen, nur soviel heißt, wie ihm Gelegenheit geben,
seinem, ihm von der Natur aufgelegten Amte genug zu tun.
Überhaupt scheint es eine Gewogenheit gegen die Mannsper-
son zu sein, wenn ihnen das Frauenzimmer was aufträgt. Die
äußern Dinge sind dem Manne wegen seiner Stärke unterwor-
fen, dahingegen die Frau gemacht ist, ihn zu dirigieren (das
kann sie nur durch die Neigungen des Mannes), aber nicht
ihn zu beherrschen. Denn die Sachen gehören alle zum De-
partement des Mannes, die Frau kann ihm hierbei nur raten
und gewöhnlich wird er auch ihrem guten Rate ge-
mäß handeln. Wenn also eine Sache im Hause fehlt, so muß
der Mann für die Herbeischaffung derselben sorgen, allein
er muß doch hierin die Frau um Rat fragen und ihrem Willen
gemäß handeln. Die Frau besitzt also einen großen, oft
den größten Teil der Macht und mit viel Bequemlichkeit.
/|P_378
/ Ein bewunderungswürdiges Kunststück der Natur bemerken
wir an der Einrichtung, daß sie den Mann physikalisch stär-
ker als das Weib gebildet, ihn aber praktisch schwächer ge-
macht hat in Ansehung der Neigungen. Denn es ist gewiß, daß
die Neigungen der Männer gegen die Weiber die gegenseitigen
weit übertreffen, und dies ist es eben, was die Männer schwach
macht. Wir finden es sehr unanständig, wenn ein Ehemann seine
Frau schlägt, oder ihr auch nur eine gewiße Beschwerlichkeit
auflegt. Aus dieser Neigung, die das Weib immer auf eine be-
sondere Art unterhält, entspringt das blinde Zutrauen des
Mannes gegen das Weib und die Leichtgläubigkeit in Ansehung
dessen, was ihm das Weib sagt. Der Mann aber bezeigt darin
eine besondere Schwäche, daß er seiner Frau alle Geheimnisse
entdeckt. Ja die Frau glaubt, daß es eine Schuldigkeit des
Mannes sei, ihr alles geradezu zu glauben. Pope erzählt von
Januarius und Maja, daß als ersterer diese im Ehebruch er-
tappte, sie gesagt haben soll: "Ach, Verräter, Du liebst mich
nicht mehr, denn Du glaubst mehr dem, was Du siehst, als dem,
was ich Dir sage".
/ Die Natur wollte die vollkommenste Einheit beider Ge-
schlechter bewirken, zwischen ihnen die innigste Verbin-
dung errichten, welche nicht auf Willkür, sondern auf Be-
dürfnissen beruhte, die durchaus immer nur von dem andern er-
füllt werden könnten. Es gehört also zur Vereinigung zweier
Personen von verschiedenem Geschlecht nicht nur Einstimmung,
Einerleiheit, Ähnlichkeit, Gleichheit - denn wenn dies wäre,
so könnte zwar eine Person an der andern einen Gefallen haben,
sie könnten aber doch einander entbehren - sondern es wird
auch eine Unentbehrlichkeit bei dieser Vereinigung erfordert.
Denn ein Geschlecht kann sich unter sich nicht befriedigen.
Sie können sich aber nur unentbehrlich sein, wenn der einen
Person dasjenige fehlt, was die andere besitzt, so daß einer
wechselseitig die Bedürfnisse des andern ersetzen kann. Diese
wechselseitigen Bedürfnisse machen die größte Eintracht und
die dauerhafteste Verbindung, welche nicht stattfinden würde,
wenn die Natur nicht für diese Unentbehrlichkeit beider Ge-
schlechter gesorgt hätte, indem sie dem weiblichen Geschlechte
versagt, was sie dem männlichen gegeben hat und so umgekehrt.
Ein Mann kann mit einem andern Mann immer die Verbindung ein-
gehen, er wird aber doch immer das Geschlechtsbedürfnis füh-
len. Alle andern Bedürfnisse können wir befriedigen ohne Wech-
sel, nur nicht das Geschlechtsbedürfnis. Diese Verbindung
muß ganz innigst sein, aber auch moralisch und dauerhaft, weil nicht allein
ihre Art erzeugt, sondern auch erhalten werden soll. Die Ge-
schichte von den Amazonen hat gar keinen Grund. Anmerkung. Wenn
die Männer die Weiber kritisieren - es muß aber nicht bloß
Scherz sein - so hören die Weiber diese Satiren über ihre
Schwäche sehr gern. Denn dies ist eben der Faden, womit sie
sich hernach verwickeln, und sie selbst unter sich glauben
ein Recht zu haben, über ihre Schwächen zu spotten. Der Mann
ist hier einer Fliege nicht unähnlich, deren Erlösung, wenn
sie einmal ins Gewebe kommt und noch soviel flattert, dennoch
verwickelt ist. Die Weiber ziert die Männlichkeit ebensowenig,
als die Männer die Weiblichkeit. Schreck und Furchtsamkeit
steht dem weiblichen Geschlecht oft gut an, den Männern nie.
Das Weib hat besondre Furcht vor körperlichen Verletzungen.
Diese scheint ihm die Natur deswegen eingepflanzt zu haben,
damit die Furcht nicht Schaden leidet. Das zeigt sich vorzüglich
/|P_379
/in Prügeleien. Denn Weiber ziehen dabei alle sehr die Köpfe
zurück.
/ ≥ Gegeneinandersetzung des Mannes und des Weibes. ≤
/ Der Mann ist gegen das Weib schwach, weil er leicht zu
erforschen ist, und das Weib dagegen die Kunst sehr wohl ver-
steht, eigene Geheimnisse bei sich zu behalten, aber auch
nur eigne, fremde nicht so leicht. - (Misogyn heißt Weiber-
feind. - Bei der Gegeneinanderhaltung sehn wir, daß kein Ge-
schlecht Ursache hat sich vor dem andern besonders
zu rühmen.) - Der Mann ist leicht zu bereden. Die Frau, die
sich einmal einen Plan gemacht und etwas in den Kopf ge-
setzt hat, ist gar nicht davon abzubringen und dann muß der
Mann, welcher meistenteils den Hausfrieden erhalten will,
nachgeben. Dies ist bei den Weibern nicht so der Fall. Denn
sie lieben wohl gar bisweilen den Hauskrieg als eine Art von
Motion. Sie befinden sich nach einem solchen Hauskrieg recht
wohl. Der Mann, der im öffentlichen Stande ungesellig, hart
ist, pflegt gemeinhin ein verträglicher Ehemann zu sein. Noch
ein Mittel zur Schwächung des Mannes sind die Tränen, welche
dem Frauenzimmer stets zu Gebote stehen und mächtig wirken.
Frauen werden nicht sobald rot und die unschuldvollen Mienen,
die sie anzunehmen wissen, nebst den passenden Exklamationen
bei ihrer Verteidigung, alles vereinigt sich in ihnen, den
Mann zu unterwerfen, ihn zu entwaffnen und seine Großmut zu
exzitieren. Die Natur hat ihnen ferne zu ihrer Verteidigung
auch eine besondere Beredsamkeit (besser: Redseligkeit) gege-
ben, die eine eigene Anmut hat und die eine weise und vor-
treffliche Anlage ist. Denn dadurch erheitern sie den Mann,
und selbst die Kinder würden nicht so geschwind sprechen ler-
nen, wenn sie nicht von Weibern erzogen würden, wenn nicht
die Mutter oder die Amme immer mit ihnen tändelte und nicht
müde würde ihnen vom Morgen bis zum Abend vorzuplaudern.
Wenn sie auch nichts verstehen, so ahmen sie doch nach, wel-
ches sie beim Vater, der mit der Pfeife Tabak sich die Zeit
vertreibt, nicht lernen würden. (Anmerkung. Ein Autor
sagte bei dieser Gelegenheit, daß auch Christus nach seiner
Auferstehung zuerst den Weibern erschienen wäre, damit die
Nachricht desto schneller unter die Leute käme.) Frauen haben
eine besondere Fertigkeit sich von allen Dingen eine leichte
superfizielle Kenntnis zu verschaffen und darüber zu reden,
wenn sie es auch nur halb wissen. Sie verteidigen sich mit
vieler Lebhaftigkeit und ihre Beredsamkeit dient ihnen nicht
bloß die Männer zu zerstreuen, sondern sie verschafft ihnen
auch wirkliche Vorteile. Wenn z. B. ein Handwerker aufs Rat-
haus gehen soll, um die streitige Sache mit einem Nachbar ab-
zumachen oder etwas mit einem Vornehmen zu tun hat oder ein
großes Gezänk befürchtet, so schickt er seine Frau, weil
er mit der Sprache nicht so gut fortkommt. Denn im Disputieren,
wo es auf Gezänk ankommt, übertrifft wohl nichts das weibli-
che Geschlecht. Wenn Frauen auch über Kleinigkei-
ten einige Stunden gesprochen haben, so glauben sie doch noch
nicht alles gesagt zu haben. Denn sie plaudern überaus viel.
Die Geschwätzigkeit dient ihnen also zu einem doppelten End-
zweck, um sich gut verteidigen zu können und um den Mann von
seinen ernsthaften Geschäften ausruhen zu lassen.
/|P_380
/ In Ansehung der Neigungen ist das weibliche Geschlecht
nicht so schwach als das männliche. Denn die weibliche
Neigung ist allgemeiner und gegen einzelne Männer indifferen-
ter und hängt sich nicht so leicht an eine einzige Person.
Bei Männern ist's umgekehrt. Ihre Neigung hängt sich an einen
einzigen Gegenstand, wenn sie darauf verfallen. Und hierin
ist das Weib stärker und der Mann schwächer. Die Natur mußte
das Weib auch hierin stärker machen. Denn sonst wäre es, da
es physisch schwächer ist, als der Mann, eine völlige Sklavin
desselben geworden. Das Frauenzimmer ist in der Wahl und Be-
urteilung der Männer nicht so fein, als diese in der Wahl der
Weiber (d. h. im ganzen). Es hat hierin einen etwas derben
Geschmack, und es kann den einen Mann leicht vergessen, den
andern lieben, dahingegen Männer, besonders in der Jugend,
ehe sie zu rifer Überlegung kommen, wohl oft ihr ganzes
Vermögen aufopfern, um bloß einer Person, die ihnen gefällt,
habhaft zu werden. Die Ursache ist vielleicht diese, weil
die Männer nicht so schön gebaut sind als die Frauenzimmer,
wenigstens fehlen ihnen die feinen Gesichtszüge, die man bei
den Frauenzimmern bemerkt. Die Natur mußte daher den Frauen-
zimmern einen derben und minder zarten Geschmack in der Wahl
der Männer geben. Denn da alle Männer nicht recht schön sind,
würden die Frauenzimmer so leicht keinen lieben können. Hin-
gegen mußte die Natur den Männern hierin einen verfeinerten
Geschmack geben, damit sie nicht umsonst die feinen Gesichts-
züge am Frauenzimmer verschwendet hätte. Dieses ist daher
auch nicht bestimmt, Männer zu erwählen, sondern sich wählen
zu lassen. Und eben deshalb muß auch die Neigung desselben
allgemein und nicht auf einen Mann geheftet sein. Weiber
stellen sich gemeiniglich so, als ob sie nur deshalb den Mann
nehmen, weil er sie durchaus haben will, und es schon nicht
anders sein kann, und nehmen die Miene an, als ob sie die
Männer und ihre Caressen (Liebkosungen) höchstens nur dulden könnten. Äußert
sie eine starke Neigung gegen eine Mannsperson, so
würden sie sich schwach machen. Denn jeder, der einer Neigung
nachhängt, wird schwach. Mit vieler Weisheit hat daher die
Natur ihnen die Stärke mitgeteilt, gleichgültige Mienen an-
zunehmen, ob sie gleich oft vor Begierde brennen einen Mann
zu heiraten. Überdies geschieht es oft, daß ein Frauenzim-
mer den Mann, den es sich wünscht, nicht bekommt. Wäre nun
sein Geschmack nicht indifferent, so wäre es unglücklich,
und daher hat die Natur ihm eine allgemeine Neigung ge-
geben, die sich aufs ganze Männergeschlecht bezieht. In
regula kann das Weib alle Männer dulden, wenn sie auch
excessiv häßlich sind. Das Frauenzimmer soll auch, wenn es
gleich verheiratet ist, nicht aufhören zu gefallen, und des-
halb läßt ihnen die Natur die reizenden Gesichtszüge noch
im Ehestande. Man kann es den Frauenzimmern nicht übelnehmen,
wenn sie etwas kokett sind, wenn es nur nicht die Grenzen
der Bescheidenheit überschreitet. Denn sie sollen kontinuier-
lich gefallen, weil es leicht geschehen kann, daß ihnen der
Mann stirbt und sie keine Quelle des Unterhalts mehr haben
und also eines Beschützers bedürfen. Auch bemerkt man, daß
ein Frauenzimmer sich nicht sehr über den Verlust des Mannes
härmt, sondern bald einem andern zu gefallen sucht. Aus die-
sem allem leuchtet die weise Sorge der Natur für die Erhal-
tung der Art hervor.
/|P_381
/ Es ist aber diese philosophische Betrachtung über den
Geschlechtercharakter sowohl in Ansehung unserer künftigen
Führung als auch bei Erziehung der Kinder nützlich. Hume
führt in einer seiner philosophischen Untersuchungen an,
daß jedes Frauenzimmer, ja auch die älteste Jungfer, alle
Satiren und höflichen Spott über ihr Geschlecht verzeihen
kann, nur nicht über den Ehestand. Denn sobald auf diesen
losgezogen wird, bringt man sie außer Fassung. Vielleicht
weil sie weiß, daß der Mann alle Beschwerden des Ehestandes
mit Recht auf ihre Rechnung bringen könne? Die wahre Ursache
scheint diese zu sein, weil der Wert des Frauenzimmers in
der Tat nur darauf beruht, daß es die einzige Bedingung
ist, unter der das männliche Geschlecht in einer ehelichen
Verbindung leben kann. Ihr Wert besteht also bloß in der
Vereinigung mit den Männern, daß sich die Männer notwendig
in den Ehestand einlassen müssen und sie nur durch das männ-
liche Geschlecht leben sollen, da dies hingegen für sich
selbst lebt. Durch Aufhebung des Ehestandes möchte die ganze
Würde des weiblichen Geschlechts herabgesetzt werden. Außer
diesem, wenn die Ehen sollten aufhören oder seltener werden,
so würde das Frauenzimmer in wohlfeilerem Preise, also das
elendeste Geschöpf sein und ihr Wert würde gänzlich fallen,
wenn sie bloß dem Appetite der Männer würde zu Gebote stehen
müssen. Die Weiber aber bekommen durch den Ehestand die Herr-
schaft über die Dinge und der Mann verliert bei dieser Ver-
bindung einen Teil seiner Freiheit. Die Frau wird frei durch
die Ehe, indem ihr als einer verehelichten Person vieles
freisteht, was ihr im ehelosen Zustande unanständig war. Die
Freiheit ohne Vermögen ist auch von keinem Nutzen. Durch die
Verbindung aber bekommt sie die Macht dieses Vermögen zu
äußern. Wir finden, daß alle Frauenzimmer, sie mögen noch
soviel Geld haben, dennoch heiraten die Männer um desto mehr.
Das Vermögen des Frauenzimmers wird durch den Mann nachdrück-
lich.
/ Was das Hauswesen betrifft, so muß man hier die Regierung
oder Verwaltung wohl von der Herrschaft unterscheiden. Die
Herrschaft im Hause führt der Mann, die Regierung die Frau.
Der Mann sieht aufs Ganze des Hauses, schafft das Nötige
herbei, die Frau aber ordnet den Gebrauch und sieht darauf,
daß dasjenige, was schon zu Hause vorhanden ist, zu einem
vergnügenden und angenehmen Genuß verwandt wird. Indes fin-
det man nicht selten, daß die Herrschaft auf Seiten der Frau
ist. Hier kann man sich eine allgemeine Regel merken: Ein
junger Mann ist allezeit Herr über die ältere Frau und um-
gekehrt. Es zeigt sich hier ein guter Prospekt in Ansehung
dieser allgemeinen Regel und Erfahrung. Wir wissen nämlich,
daß jederzeit derjenige, der nicht zahlen kann, sehr höflich
ist. Man kann daher bei einem Kaufmann zwei Leute leicht
unterscheiden, wer von ihnen die Wahre bezahlt und wer sie
auf Kredit nimmt, jederzeit ist der letztere submisser. Eben-
so geht es mit den Ehen, und es ist kein Wunder, wenn
alsdann die Frau die Herrschaft führt, wenn der Mann nicht
zahlen kann. Hieraus sieht man, daß die vorhergehende Jugend
des Mannes das Mittel der Herrschaft im Hause sei. Derjenige
also, der ins künftige nicht ein Sklave seiner Frau sein und
nicht eine Gebieterin, sondern eine Gesellschafterin an ihr
haben will, muß in seiner Jugend alle Ausschweifungen ver-
meiden. Ob dies gleich keine Beobachtungen sind, so fließen
/|P_382
/sie doch ins künftige Leben. Führt aber die Frau wider die Natur
die Herrschaft im Hause, so geht alles verkehrt zu. Denn
wenn die Frau gleich einen großen Verstand hat, so ist er
doch von einer ganz anderen Beschaffenheit, als der männliche.
Die Frau ist immer geschickter Mittel zu einer
Absicht zu finden, der Mann aber besitzt mehr gesunde Ver-
nunft zu Erwählung eines Zweckes. Die Weiber sind erfinde-
risch, aber nicht so gut in der Exekution. Es ist aber in
der Tat die größte Unehre für einen Mann, wenn er von den
Einfällen seiner Frau abhängen soll. Das Frauenzimmer weiß
wohl, daß es in die Rechte des Mannes greift, wenn es sich
die Herrschaft anmaßt. Denn wenn die Frau den Mann ins Ver-
derben gestürzt hat, heißt es: Du bist Mann, das hättest Du
wissen sollen, was bin ich schuld.
/ Der Hauptendzweck des Frauenzimmers ist der Glanz, womit
sie andere ihre Geschlechts zu verdunkeln suchen, z. B. bei
Fêten. Die sind daher geneigt, im Innern, was nicht jedermann
sieht, zu klagen, so essen sie z. B. schlecht und speisen
auch den Mann schlecht ab. Allein er hat dafür den Vorteil,
daß alles desto prächtiger ist, wenn er eine Fête gibt. Über-
haupt ist das Frauenzimmer mäßiger, als das männliche Ge-
schlecht, aber nur für sich zu Hause. Bei der äußern Facon
der Glückseligkeit hingegen sparen sie nichts. Denn ihre
ganze Bemühung geht nur dahin, daß sie gut in die Augen fal-
len, und diesen Instinkt hat ihnen die Natur deshalb gegeben,
weil sie gewählt werden sollen. Sonderbar aber ist es, daß
sich das Frauenzimmer niemals für Mannspersonen, sondern nur
für andere Frauenzimmer putzt. Es betrifft dies seinen Ehren-
punkt in Ansehung anderer Frauenzimmer und ist schwer zu er-
klären. Indes scheint dies die wahre Ursache zu sein, weil
sie untereinander in einer beständigen Jalousie (Eifersucht) und einem
immerwährenden Kriege leben, besonders wenn sie schön sind.
Eine sucht alsdann die andere zu übertreffen, und ist es
erst recht was für sie, wenn sie einen Vorzug vor andern be-
kommen. Es hat daher kein Frauenzimmer an der andern eine
wahre Vertraute, denn sie sind sich einander Nebenbuhlerinnen,
sie trauen einander nie und keine gesteht der andern ihre
Leidenschaften und Triebe, wie man es bei Männern häufig
sieht. Sie sind beständig delikater auf die Titel und den
Vorzug, als die Mannspersonen, denen der Wert des Titels das
Wohlgefallen ihrer Frauen ist. Eine adlige Frau wird auf ih-
ren Adel weit mehr stolz sein, als ihr Gemahl ob er gleich von
den Männern geehrt wird. Die Ursache ist: je zweideutiger der
Unterschied zwischen zwei Ständen ist, desto erpichter ist
jeder auf Vorzüge. Die Grafen werden immer vertrauter mit
einem Bürgerlichen, als mit einem Edelmann umgehen, weil sie
glauben, daß dieser sich könnte eher einfallen lassen, sich
mit ihnen zu vergleichen, als jener. Der Unterschied des
Standes beim Frauenzimmer ist sehr klein, weil ihr Stand in
Ansehung der Erbfolge von keiner Wirkung ist. Die Mannsper-
son betrachtet sie nach ihrem unmittelbaren Wert, und daher
verdient auch ein schönes, artiges Frauenzimmer eher eine
Prinzessin zu werden, wenn sie auch vom niedern Stande ist,
als eine vom vornehmsten Stande, die sonst keine Verdienste
hat. Ein vernünftiger Mann wird auch bei seiner Vermählung
gar nicht auf den Rang des Frauenzimmers sehen, den er ihr
/|P_383
/überdies durch die Vermählung selbst geben kann. Auch schickt
sich das Frauenzimmer besser in alle Stände, als der Mann.
Ist sie aber auch einem gar zu niedrigen Stande, so verrät sie
durch ihre gar zu große Höflichkeit ihre Herkunft. Indes
kann ein wohlerzogenes armes Mädchen immer einen Vornehmen
heiraten. Da also das Frauenzimmer dem Range nach so wenig
unterschieden ist, ist seine jalousie um soviel stärker. Aber
auch hier hat die Natur ihre Absicht gehabt, weil sie gewollt,
daß jedes Frauenzimmer ihrem Manne allein anhängen soll.
Wäre diese jalousie unter ihnen nicht, so würden sie sich ver-
einigen und die Herrschsucht der Männer über sie wäre schwer.
Wir bemerken, daß das Frauenzimmer karger ist, als die Män-
ner. Daher nehmen sie gerne Geschmack an, wenn sie auch noch
so reich sind, weil sie durch Geschenke niemals obligiert (verpflichtet)
werden. Der Mann hingegen wird durch sie zu etwas verbunden.
Wenn die Sparsamkeit des Frauenzimmers nur nicht ausschweift,
so ist sie sehr nützlich, da der größte Teil selber nichts
verdienen kann. Das Geld, wofür sie sich Bänder kaufen, ist
ihnen gleichsam ans Herz gewachsen und sie geben es nur für
den Putz aus. Dem Manne hingegen steht die Freigebigkeit gut
an, ob man gleich heutzutage den einen guten Wirt nennt, der
karg ist. Diesen Namen kann man aber nur dem geben, der ande-
re gut aufnimmt, und wer ist denn wohl weniger ein guter
Wirt, als ein Karger, der sich selbst nicht einmal gut auf-
nimmt. Es ist eine plebejische und plumpe Art dadurch reich
zu werden, daß man es seinem Munde entzieht. Es aber so zu
machen, daß man ohne großen Aufwand doch gut lebt und an-
dere auf eben die Art gut aufnimmt, heißt gut wirtschaften.
Alles Frauenzimmer inkliniert zum Geize, und wenn sie ja et-
was geben, so ist es entweder etwas, das ihnen gar nichts ko-
stet oder das sie nicht brauchen können. Auch hier muß man
die vortreffliche Einrichtung der Natur bewundern, welche ge-
wollt hat, daß derjenige Teil des menschlichen Geschlechtes,
der nichts erwirbt, auch nicht freigebig sein soll, denn es
wäre ja lächerlich auf Rechnung eines andern freigebig zu
sein. Es ist so gut, daß der Mann freigebig und die Frau
karg ist, daß oft bloß dadurch ein Haus in Aufnahme kommt.
Es gibt eine doppelte Art zu wirtschaften, nämlich viel aus-
zugeben, wenn man viel erwirbt, und wenig auszugeben, wenn man
wenig erwirbt, oder daß man faul ist und spart. Das letzte
ist eine plumpe Art, Vermögen zu erwerben. Das Frauenzimmer
ist zum Verwahren mehr geneigt, daher sie auch weit mehr
Kästchen, Schachteln und Schlüssel haben, weil ihnen die
Ordnung im Hause anvertraut wird. Man sieht auch, daß
das Frauenzimmer dem Putz und der Reinlichkeit ergeben ist.
Es gibt aber hier einen modischen und persönlichen Geschmack.
Der persönliche Geschmack der Reinlichkeit ist dem Manne ei-
gen. Er sieht nicht viel darauf, ob es im Hause so reinlich
ist, wenn es nur auf seinem Leibe reinlich ist, daher auch
der Mann weit eher ein weißes Hemd anzieht, als wie die
Frau. Das Frauenzimmer hat den modischen Geschmack, es sorgt
nur dafür, daß äußerlich an ihrem Leibe und in dem Hause
alles reinlich ist, was in die Augen fällt, allein um das,
was keiner sieht, kümmern sie sich wenig. Überhaupt geht
beim Frauenzimmer alles auf den äußern Schein. Der Mann aber
sieht mehr auf Solidität und den wahren Besitz der Sache.
/|P_384
/ Beide, der Mann und das Weib, besitzen Ehrliebe und Ehr-
begierde. Aber alle Eigenschaften, die sie gemein haben, sind
doch ganz unterschieden. Denn der Mann sieht darauf, was man
von ihm denkt, die Frau darauf, was man von ihr sagt. Wenn das
Frauenzimmer nur versichert ist, daß man das was von ihnen weiß,
nur nicht sagen darf, so sind sie schon unschuldig und kehren
sich wenig daran, was man von ihnen denkt. Dies aber macht
eine große Verschiedenheit des Ehrenpunktes zwischen Mann und
Frau aus. Wie mag es kommen, daß das Frauenzimmer die Schmei-
cheleien des Mannes nach den Worten aufnehmen kann, und was
ist die Ursache dieses unaufhörlichen Tributs, den ihnen die
Männer erlegen müssen, da doch Schmeichelei ein Laster ist?
Dies ist es. Der Mann gibt sich selbst den Wert. Der Wert des
Frauenzimmers aber hängt von der Neigung der Manns-
person und von dem, was diese ihnen sagen, ab. Hätte aber das
männliche Geschlecht keine Neigung gegen das Frauenzimmer, so
wäre es die niedrigste Kreatur von der Welt und sehr zu be-
klagen. Es ist mithin eine Schuldigkeit des Mannes seine Nei-
gung durch Schmeicheleien zu äußern und dadurch den Wert des
Frauenzimmers zu bestimmen. Das Frauenzimmer weiß auch gut,
daß die Schmeicheleien ein Tribut sind. Sie sind sogar stolz
darauf. Die Männer billigen diesen Stolz auch so sehr, daß
ohne denselben ihre Neigung wegfallen würde. Wegen des Wertes
der Männer also, den sie schon von der Natur bekommen haben,
müssen sie diesen Tribut an das weibliche Geschlecht bezahlen.
/ Der Mann will beherrscht sein und dies ist eine Art von
Konvention. Denn da die Natur ihn zum Herrn gemacht hat, so
hat sie ihm zugleich die starke Neigung gegeben, welcher zu-
folge er dem Weibe unterworfen sein soll. Wenn man nun aber
einem recht schönen Frauenzimmer recht hochgetriebene Schmei-
cheleien vorsagt, worüber man insgeheim herzlich lachen
möchte, ist's möglich, daß sie von ihr im Ernste angenommen
werden? Man sollte glauben, sie nehmen sie ebensowenig im
Ernst auf, als die Komplimente im gemeinen Leben. Aber nein,
das Frauenzimmer glaubt sie gewiß, wenn ihnen der Spiegel
gleich das Gegenteil dieser Schmeicheleien zeigt. Denn weil
man doch keine Regel von dem hübschen Aussehen geben kann,
so glauben sie, daß sie vielleicht in den Augen desjenigen,
der ihnen schmeichelt, wirklich hübsch sind und gleichsam eine
Zauberkraft gegen ihn besitzen, und sie haben auch Grund dazu,
weil die Neigungen der Männer nicht können unter Regel ge-
bracht werden, und dem einen dasjenige schön ist, was der an-
dere häßlich findet, und mithin denkt sie, das könne wohl
eben die Mannsperson sein, die sie zu bezaubern imstande ist.
Diese Schmeicheleien nebst den Geschenken sind die beiden
Versuchungen, wodurch das Frauenzimmer so leicht verführt
werden kann. Denn indem es die Schmeicheleien glaubt, so denkt
es, daß es schade wäre, einen solchen Mann fahren zu lassen,
in deren Augen sie eine Göttin ist, und dann ist es gefangen.
Man bemerkt ferner, daß das Frauenzimmer die Verdienste nicht
nach dem innern Wert schätze, sondern nach dem Verhältnisse,
welches die Verdienste auf sie selbst haben. Sie wollen nicht
selber die Verdienste haben, sondern einen Mann, der sie be-
sitzt. Wenn sie z. B. die Freigebigkeit eines Mannes rühmen
hören, so denken sie: was hilft's, wenn er doch etwas gäbe!
Anders denkt der Mann. Denn wenn er z. B. mit seiner Frau
die Schilderung eines großmutigen Mannes (in einem Roman)
/|P_385
/liest, so wird er denken: ach, wärest du doch auch so, die
Frau aber wünscht nur einen solchen Mann zu haben, ist zu-
frieden, wenn sie von eines andern Verdienst profitieren kann.
/ Diese verschiedene Schätzung der Verdienste aber macht
eine große Verschiedenheit in Ansehung der Moralität der
Handlungen. Es ist aber dieser große Zwiespalt der Natur
bei den Geschlechtern sehr merkwürdig und wichtig, und die
Kenntnis davon hat im Umgang und in der Erziehung einen sehr
beträchtlichen Einfluß.
/ Ein Engländer sagt: eine gute Hausfrau muß sein wie drei
Dinge, aber auch nicht wie dieselben drei Dinge 1. sein wie
eine Schnecke, d. h. häuslich, nicht sein wie eine Schnecke,
d. h. sie soll nicht alles auf dem Puckel tragen oder nicht
zuviel Geld auf Putz verwenden, 2. sein wie eine Stadtuhr,
d. h. ordentlich, sie muß Ordnung halten, nicht sein wie
eine Stadtuhr, d. h. sie muß nicht gleich alles laut werden
lassen, daß es die ganze Stadt erfährt, 3. sein wie ein Echo,
d. h. sie soll nicht zuerst ihres Mannes Wort reden, nicht
sein wie ein Echo, d. h. sie soll nicht immer das letzte Wort
behalten.
/ Der beleidigte Mann ist leicht zu versöhnen, nicht so die
beleidigte Frau. Diese ist in den meisten Fällen gar nicht zu
versöhnen. Dies kommt von der Schwäche her. Man sagt, der
theologische und Weiberhaß sind unversöhnlich. Das Weib will
herrschen und sonderbar, der Mann läßt sich nicht allein be-
herrschen, sondern will auch beherrscht sein. Er sieht es sehr
gerne, wenn ihm seine Geliebte etwas aufträgt. Dieses findet
auch noch einigermaßen im Ehestand statt. Hierauf gründet
sich die Galanterie, die zur Zeit der Ritterschaft auf höch-
ste gestiegen war. Denn die Damen wurden außerordentlich ge-
schätzt, indem jeder mit seinem Nebenbuhler oder demjenigen,
der seine Dame beleidigt hatte, gleich die Lanze brach. Jeder
mußte eine Dame haben. Dieses brachte nachmals auch den be-
rühmten Don Quixote dahin sich eine Dulcinea von Toboso zu
wählen, wenn er einen echten Ritter vorstellen wollte, welches
er doch in seiner großen Narrheit zu sein glaubte. Die Rit-
ter standen zur Zeit der Chevallerie gleichsam im Dienste der
Damen. - Der junge Mann von 16 - 17 Jahren ist in einer Ge-
sellschaft verlegen, er glaubt als tölpisch, ungeschickt in
die Augen zu fallen. Das Frauenzimmer in den Jahren ist nicht
im geringsten verlegen, es glaubt im Selbstbesitze zu sein,
weil es schon heiraten kann. Überhaupt gelangt es eher zur
Reife. Wenn z. B. der Bruder noch kein Geld halten kann, so
kann man es der jüngeren Schwester anvertrauen.
/ Das Frauenzimmer rechnet auf jemandes Achtung durch die
Vorzüge ihres Geschlechts. Der junge Mann dagegen besorgt im-
mer, ihm werde die Achtung nicht zukommen, er habe sie nicht
erworben. Haller führt an, daß das weibliche Geschlecht nicht
den großen Hang zum männlichen Geschlecht habe, als das männ-
liche zum weiblichen; daher kommt es, daß sie sich so führen,
als wenn sie Anspruch auf unsere Gunst machen könnten. -
Verliebt tun ohne es zu sein, oder große Ergebenheit zu be-
weisen, ist Galanterie. Das weibliche Geschlecht hat einen
eigenen Stolz, das männliche liebt diesen Stolz, es betrachtet
ihn als Gunst. Einen Mann von Verdienst, sollte man glauben,
müsse das Frauenzimmer achten, aber sie sieht ihn wie ein
Spielwerk an, weil sie weiß, sie kann ihn mitsamt seiner
/|P_386
/Geschicklichkeit fangen, indem er nichts als Gunst und Liebe
verlangt. Der Jüngling ist geneigt sich phantastische Voll-
kommenheiten vom Frauenzimmer vorzustellen, und diese werden
durch Romane erweckt. Sie sieht auch lieber auf Kutsche und
Pferde. Wenn Rousseau sagt: die Kultur des männlichen Ge-
schlechts beruht auf der Kultur des weiblichen, so redet er
sehr wahr. Adone können sie nicht gut vertragen. In ihren
Augen mögen Mannspersonen häßlich sein. Eine übertriebene
abenteuerliche Art von Ergebenheit war die Galanterie zur Zeit
der Chevallerie.
/ Das weibliche Geschlecht nennt man das schöne. Aber es
ist noch eine große Frage, welches Geschlecht schöner ist.
Denn es ist gewiß, daß das männliche schöner ist. Aber unse-
re Begriffe von Schönheit sind mit Wollust verbunden, und wer
den Appetit hat, dem ist alles schön. Daher muß der Appetit
vom Begriff des Schönen abgezogen werden, sowie die Beurteilung
der Alten vom Schönen immer Regel des Geschmacks und mit kei-
ner Begierde verbunden war. Und eben diese Alten, die Griechen
und Römer, wenn sie eine schöne Figur darstellen wollten,
wählten stets die männliche Gestalt, indem sie dieser den gan-
zen Ausdruck von Kraft des Körpers und Geistes beilegen konn-
ten. Winckelmann hat am besten geschrieben von den Künsten der
Alten. Darin haben die Alten weit besser getan, indes die
Neuern, um eine Schönheit auszudrücken, sich immer des Ge-
schlechtsreizes bedienten, z. B. der Venus, welche die Alten
sittsam vorstellen, immer etwas Anziehendes beilegen. Man kann
aber die Weiber das schöne Geschlecht nennen wegen der mit
ihrer Schönheit verbundenen Nützlichkeit, weil sie nämlich
in der Tat das Mittel sind, wodurch alles in der Welt ver-
schönt wird. Der Männliche Verstand hat keinen andern Maßstab,
er nimmt alles aus sich selbst. Der weibliche Verstand rich-
tet sich nach dem Ton, Beispielen usw.. In der Religion schickt
sich nicht einmal, daß sie viel denkt. Vom Manne wird Selbst-
denken in der Religion erfordert. Die Frau aber, die dieses
tut, geht aus ihrem Kreise heraus. Sie wagt auf ihre Gefahr,
und dies ist wider ihre Geschlechtseigenschaft, die Behutsam-
keit. Eine freidenkerische Frau ist ein besonderer Kontrast.
In Ansehung der Sitten sind die Prinzipien anders. Das Weib
glaubt: was die ganze Welt tut, ist gut. Sittsamkeit ist ihre
Haupttugend und ganze Moralität. Sittsamkeit ist eine Angemes-
senheit mit dem Ehrenruf - zu dem, was andere rühmlich finden -
sie sind sittsam um des Ehrenrufs willen. Der Mann geht auf
wirkliche Ehre, d. h. Ehre zu erwerben und er nimmt sie von
der Tugend her. Das Weib geht darauf Ehre zu verdienen. Der
Mann kann sich über das, was von ihm gesagt wird, oft wegset-
zen, das Weib nicht. Der Schein bloß muß ihr nicht gleich
sein. Das Frauenzimmer hat den Kopf voll Intriguen. Dies rührt
von ihrer Schwäche her, die sie immer darauf denken läßt. Es
kommt darauf an, daß bei der Schwäche ihres Geschlechts mehr
Kunst angewendet wird. Der Mann hat Verstand für den Zweck,
das Weib für die Mittel. Sie können andere leicht zu ihren Ab-
sichten gebrauchen. Sie würden sich sehr gut zu Gesandtschaf-
ten schicken. Ihre Schwäche erfordert es, daß sie List und
Kunst anwenden. Man hat ein Beispiel von der Mademoiselle
d'Eon, die unter männlichem Namen mit so großem Glück Nego-
ciationen getrieben hat. Sie können weit leichter und besser
/|P_387
/reden, als die Männer, welches sie auch weit lieber tun.
Sie haben ein natürliches Rednertalent. Dies zeigt sich im
Briefschreiben, wenn sie auch nicht gelernt haben, wie sie
einen Brief schreiben sollen. Ihre Plauderhaftigkeit ist
auf eine angenehme Art, z. B. die Briefe der Sévigné. Sie
schreiben also recht nette Briefe, wenn sie auch nicht or-
thographisch sind.
/ Was die Empfindung anbetrifft, so könnte wohl die Zart-
heit von der Zärtlichkeit unterschieden werden, so wie die
Empfindsamkeit von der Empfindlichkeit. Von Frauenzimmern
sagt man, sie sind empfindlich, zärtlich, d. h. sie werden
in dem, was Leid und Freude betrifft, leicht affiziert. Dies
muß man aber von einem Manne nicht sagen können. Doch muß
er empfindsam und zart sein, damit er Feinheit genug besitzt,
seiner Frau Unannehmlichkeiten zu ersparen. Dies ist eine
Delikatesse, worin Großmut liegt. Jede Sehnsucht mit dem
Bewußtsein der Ohnmacht bringt Seufzen und Tränen hervor.
Für ein Frauenzimmer schickt sich nicht Rauhigkeit.
/ Der Mann hat Geschmacksneigung, das Weib nicht soviel
oder vielmehr gar nicht. Denn sie ist selber ein Gegenstand
des Geschmacks. Sie hat zwar ein Geschmacksurteil, aber aus
Neigung hat sie keinen Geschmack, und wenn sie ihn hat, so
ist es bloß zur Parade. Ihre gesamte Neigung geht immer
auf Eitelkeit. Dies kommt daher, weil sie sich selbst zum
Gegenstand des Geschmacks nimmt. Der Mann paradiert durch
seine Frau. Im Häuslichen ist des Mannes Wirtschaft - erwer-
ben, des Weibes Wirtschaft - ersparen. (Diese Ersparnis geht
in vielen Fällen so weit, daß sie nicht einen Bissen essen
oder alte Kleidungsstücke umkommen lassen.) Jedes Frauenzim-
mer nimmt für sein Leben gern Geschenke an, je mehr je bes-
ser, es gibt aber Männer, die keine annehmen. - Je weniger
Vermögen einer hat, desto mehr ärgert er sich über den Mäch-
tigern, besonders wenn er ihn überwältig. Hieraus erklärt
es sich auch, daß kleine Leute so karsch sind.
/ Der Mann ist eifersüchtig, wenn er liebt, die Frau selbst
dann, wenn sie nicht liebt, und was das Sonderbarste ist,
auch auf andre Frauen. Sobald eine andere Person bewundert
wird, ist dies für sie schon eine Art von Läsion. Auch wäh-
rend der Ehe sucht die Frau zu gefallen aus der Vorsicht,
daß sie, gesetzt der Mann stirbt, nicht sitzen bleibt. Die
meiste Zeit geschieht dies aber nicht in der Absicht, der
Person besondere Neigung für sie einzuflössen. Diese unauf-
hörliche Ausübung ihres Vermögens zu reizen, Leute ohne Ab-
sicht zu gewinnen, wird nicht übel durch - "erobern" - aus-
gedrückt. Ist diese Eroberungsbegierde sichtbar, so nennt
man sie Koketterie. Buhlerei ist dafür ein ungeschicktes
Wort, es zeigt schon ein gröberes Verfahren an. Die Koketten
sind oft die kältesten Personen, sie wollen nur gefallen,
erobern. Im Umgange bei wohlgesitteten Personen ist Koketterie
sehr angenehm. Es ist eine Art von Lebhaftigkeit. Die Männer
müssen immer eine Art von Huldigung leisten. Die Frau sucht
das häusliche Interesse - was bei der Frau noch hinzukommt,
als Gesellschafterin - der Mann wohl auch, aber im äußern
Verhältnis gegen andre als Bürger des Staats. Xanthippe und
Hiobs Weib verdienen nicht den Tadel, der ihnen so häufig zu-
teil wird. Sie suchten nichts weiter, als ihr häusliches In-
teresse. Xanthippe war nicht dafür, daß ihr Mann Änderungen
vornahm, denn sie litt dadurch mit ihren Kindern, Hiob war
wohldenkend, gesellig, wohltätig, sehr freigebig und daher
fröhlich. Weil er aber hernach selber in Armut geriet und
traurig ward, so machte sein Weib ihm Vorwürfe..
/|P_388
/ Einige Anmerkungen. Das Frauenzimmer bildet sich zum
Teil selbst in der Erziehung, und die Entwicklung ihres
Verstandes geht eher vor sich. Das männliche Geschlecht
reift langsam. Sie bekommen eher den Verstand für Umgang
und auch den Grad der Urteilskraft. Der Mann muß mit der
Natur und den Gegenständen derselben bekannt werden.
Sie studiert aber nur den Mann. Wissenschaften schicken
sich eigentlich nicht für Frauenzimmer. Sie haben die
Bücher sowie die Uhren, die selten aufgezogen sind, sie
haben sie nur um daß sie sie haben. Unter sich sind sie
immer rival und will immer eine die andere übertreffen.
Bei ihren Zänkereien werden sie nie ein Frauenzimmer zum
Richter nehmen, sondern sie haben gleich den Mann bei der
Hand. Denn der weibliche Richter ist immer sehr streng.
Ein Mann kommt den andern nicht ins Gehege. Das Frauenzim-
mer aber sucht dem ganzen männlichen Geschlecht zu gefal-
len. Sie putzen sich, wie bekannt, nicht für die Mannsper-
sonen, sondern für ihr Geschlecht. Denn wenn sie jeden ge-
fallen wollen, so kleiden sie sich nur ein geschmackvolles
Négligé und sind überzeugt, daß sie viel mehr Eindruck
machen. Die Vielweiberei im Orient zeigt den Mangel alles
Geschmacks. Die Weiber werden genötigt in den Harem sich
einsperren zu lassen, wo sie doch noch immer unter sich
lustig sein sollen, und dessen ungeachtet daß ihr Wert
so gefallen ist, herrschen sie doch auch. Den Spott über
ihr Alter vertragen die Weiber schlechterdings nicht, weil
sie alsdann nicht zum Zwecke taugen. Ein Frauenzimmer
hat nicht solche Feinheit des Geschmacks als der Mann. Denn
sie lieben auch häßliche. Da das Frauenzimmer nicht den
Antrag tun kann, so hängt es vom Schicksal ab, wer sie wählt.
Denn wenn sie auf Schönheit beim Manne sieht, so steht's übel
mit ihr. Die Ausschweifungen des weiblichen Geschlechts im
ehelosen Zustande setzt sie in keine Nachfrage. Beim Manne
findet diese nicht im geringsten statt. Wenn ein Frauenzimmer
also heiratet, so wird es frei. Der Mann verliert aber von
seiner Freiheit. Von Rechts wegen soll der Mann bei der
Verheiratung ein paar oder mehrere Jahre voraus haben. Wenn
der Mann jünger ist, so herrscht er über sie, und wenn sie
jünger ist, so herrscht sie über ihn. Es liegt in der Über-
legenheit des Geschlechtsgenusses. Denn der ältere Teil
kann allemal nicht so viel Geschlechtsgenuß erteilen auch
nicht mit der Annehmlichkeit, als wenn er jünger wäre, und
ist wohl mit zufrieden, aber nicht der jüngere Teil, der
mehr verlangt. Der Teil hat die großmütigste Zärtlichkeit,
der die Beschwerden übernimmt. Das Frauenzimmer klagt, daß
die Männer soviel Schmeicheleien zur Zeit der Erwerbung ih-
nen erweisen, nach der Hochzeit aber kalt würden. Man muß
ihnen hierauf sagen: es kann nicht anders sein. Denn im
Prospekt ist alles weit angenehmer, als hernach in der Wirk-
lichkeit, und die Frauen lassen auch nach in den Mitteln
zu gefallen. Der Mann ist traurig, daß er nicht durch die
Reize der Person mehr beherrscht wird. Wer soll Herr in der
Ehe sein? - Wir haben davon schon oben gesprochen - auf ga-
lante Weise aber kann auch die Frau herrschen (vermittelst
der Neigung, die sie einflößt) und der Mann regieren (weil
der Verstand immer regieren muß). Der Mann muß Neigung zur
Frau, die Frau muß Gunst gegen den Mann haben. Wer
/|P_389
/Gesetze gibt herrscht, wer sie aber anwendet, den Fall
dafür bestimmt und eigentlich zeigt, wie man handeln soll -
wozu mehr Klugheit gehört - regiert und dies kann nur der
Mann. Bei sehr verkehrten Herrschern, aber sehr klugen Re-
gierern, die das Gesetz zu modifizieren verstehen, kann der
Staat doch bestehen. Ebenso geht es auch im kleinen mit
der Wirtschaft. Der Mann muß mit Höflichkeit die Wünsche
der Frau zu lenken suchen, daß die Wirtschaft bestehen
kann. Es taugt nicht, wenn die Frau so eingeschränkt ist,
daß sie nicht einmal ihre Wünsche äußern kann. Ein blöder
Mann gefällt in Gesellschaft den Frauenzimmern nicht, weil
er der bewerbende Teil ist. Sie glauben, er habe nicht Geist
zur Erwerbung. Etwas Erdreistung ist ihnen angenehm und lieb.
/ Eifersucht ist entweder mißtrauisch oder sie kann bloß
Intoleranz sein. Ein Mann, der intolerant in der Ehe ist,
kann doch ohne Mißtrauen sein. Ein toleranter Ehemann ist
der, welcher wohl dulden kann, daß sich andere Liebhaber
finden. Es ist billig intolerant zu sein und man darf des-
wegen nicht mißtrauische Eifersucht haben. Es ist nur die
Verhütung, Vorsorge für die Möglichkeit des Mißtrauens.
Die Frauenzimmer spotten gemeinhin über die Intoleranz der
Männer. Es ist aber nicht ihr Ernst, daß sie nicht Intole-
ranz wünschen. Denn sie erkennen darin ihren Wert, den sie
in Ansehung des Mannes haben, weil er nicht Eingriffe in
seine häuslichen Rechte leiden will. Die Intoleranz ist die
Ursache von der Stiftung der Ehen.
/ Der Vater verzieht die Töchter und die Mutter die
Söhne und besonders, die am lebhaftesten und wildesten sind,
welche Eigenschaft das Frauenzimmer überhaupt gern an
Mannspersonen sieht. Es kommt vom Hange zum Geschlecht her.
Denn jedes Frauenzimmer sieht gern, wenn eine Manns-
person aufgeweckt ist. Der Vater sieht in seiner Tochter,
im Fall daß die Mutter stirbt, eine Hauswirtin, die Mutter
in ihrem Sohne nach des Vaters Tode einen Beschützer.
/ Daß die Fehler im ehelosen Zustande beim Frauenzim-
mer im Punkte der Ehre besonders schlechter ausgelegt wer-
den, als im Ehestande, kommt daher. Der Ehrenpunkt des weib-
lichen Geschlechts besteht nicht in Moralität, sondern da-
rin, daß sie keine üble Nachrede von sich tragen lassen.
Ein Frauenzimmer wenn es fällt, setzt herunter und belei-
digt das ganze Geschlecht, weil die Rechte des ganzen Ge-
schlechts dabei verlieren und wohl keine Nachfrage mehr sein
könnte. Die Ausschweifungen des Weibes in der Ehe sind nicht
von so großen Folgen, denn da werden nur die Rechte des
Mannes übertreten. Sie müssen sich vor der Ehe nicht wegge-
ben, denn dies ist nur die einzige Bedingung, unter der sie
einen Wert haben. Anmerkung. Weiber sind eitle, eingebildete,
abergläubische und neidische Geschöpfe, die gern brillieren
wollen, die sich bloß am Schein belustigen, in Kleinigkei-
ten Kabalen spielen, sich durch Nachäffung formieren, kei-
nen Charakter haben, Götter und Pfaffengunst durch geist-
liche Koketterie zu erschleichen suchen und, wie das Wetter
im April, bald sanft, bald gut, bald stürmisch und tiger-
mäßig grausam sind. Leucards Leben.
/|P_390
/ ≥ Vom Charakter des Volkes oder der Nationen. ≤
/Hume und viele andere haben völlig leugnen wollen, daß
es Nationalcharakter gebe, aus der Ursache, weil uns oft
etwas gleich zu sein scheint, wobei wir doch, wenn unsere
Erkenntnisse erweitert sind, viele Unterschiede bemerken.
So kann man in der Ferne ein paar Menschen für Brüder an-
sehen, weil sie sich ähnlich zu sein scheinen. Allein je
näher man ihnen kommt, desto mehr Unterscheidungszeichen
bemerkt man an ihnen. Es bleibt also die Frage: Hat jedes
Volk einen Charakter, etwas Allgemeines, Angeborenes, das
nicht von zufälligen Eindrücken oder gar von der Regierungs-
form abhängt? - Vorher wollen wir nur bemerken, daß unter
Nationalcharakter nicht verstanden werde, daß ein jeder
von dem Volke eben denselben Charakter haben müsse, son-
dern ob bei einem Volke nur etwas vorzüglich abstechendes
gefunden werde. Wenn wir aber wissen, daß durch den Cha-
rakter die Gesinnungen unseres Gemüts verstanden werden,
wobei viel aufs Temperament ankommt, denn (so kann ein
Mensch jähzornig sein, weil er sich tätig fühlt), daß fer-
ner das Temperament zum Teil aus der Komplexion herkommt
und diese nach Verschiedenheit der Blutmischungen, der Bil-
dung der mechanischen Teile des Körpers und der Reizbar-
keit der Nerven unter verschiedenen Klimaten auch sehr ver-
schieden sein kann, so ist es wohl nicht zu leugnen, daß
es einen Nationalcharakter gebe. Denn obgleich der Charak-
ter nur das Herz und die Gesinnungen angeht, so kommen
doch die Keime immer auf die Komplexion an. Der Englän-
der Lind behauptet in seinem Buche von den Krankheiten
der Europäer und in anderen Teilen der Welt, daß auch eine
korrumpierende Luft ganz besondere Wirkungen habe. Er
führt z. B. an, daß es unter den Negern, die häufig ge-
kauft und nach den amerikanischen Plantagen gebracht wer-
den, einige sehr witzige und einige sehr stupide und dum-
me Menschen gebe, je nachdem sie entweder auf den Bergen,
oder in den niedern Gegenden geboren und erzogen worden. -
Manche sagen, das Volk ist das, was die Regierung aus
ihm macht. Dagegen aber kann man einwenden: Woher kommt's,
daß ein Volk bei jeder Veränderung der Staatsverfassung
in Ansehung seines Charakters dasselbe bleibt? Die Be-
schreibung, welche Caesar von den alten Galliern und Tacitus
von den alten Germanen gibt, paßt noch heutigen Tages in
vielen Stücken auf die nunmehrigen Franzosen und Deutschen.
Wir müssen insbesondere bei der Verschiedenheit oder Ähn-
lichkeit des Charakters mehrerer Völker Rücksicht auf ih-
re Abstammung nehmen. Z. B. die Russen haben sonst einerlei
Klima mit den Schweden und doch ist ihr Charakter verschie-
den. Denn die Russen stammen von asiatischen Völkern ab,
die Schweden aber nicht. Die Deutschen haben sich unter
Franzosen, Italienern, Engländern, allenfalls auch Spaniern,
in Menge ausgebreitet - unter alle diese Länder hat der
Deutsche sich gemischt, sie erobert und dennoch den Schlag
/|P_391
/ihrer Bewohner fast gar nicht verändert. Sie selbst hin-
gegen scheinen immer von ihnen profitiert zu haben. Dies
sieht man zum Teil schon daraus, daß die Sprache der ü-
berwundenen Völker, welche doch gewiß zu ihrer Kultur
geschickter war, als ihre eigene, stets die herrschende
blieb.
/ Wir können sagen, daß, wenn viele Personen einer
Nation einen besonderen und unterschiedenen Charakter ha-
ben, die ganze Nation eigentlich keinen habe, wie dies
auch wirklich mit den Engländern der Fall ist. Bei den
Franzosen ist das Gegenteil. Jeder einzelne hat keinen
bestimmten Charakter. Alle sind variabel und daher hat
die Nation einen Charakter. Wir wollen also zuerst die
Franzosen nehmen, da sich von ihnen am meisten sagen läßt.
/ I. Frankreich. Die Franzosen haben außerordentlichen
Hang zur Geselligkeit. Ein jeder sucht immer die Form des
andern anzunehmen und ihn nachzuahmen. Und schon daraus
ersieht man, daß keiner einen Charakter hat, welcher ganz
und gar von dem eines andern unterschieden wäre. Man kann
Frankreich nennen das Land des Geschmacks, aber nicht so
in Ansehung der Sachen, als in Ansehung der Konversation.
Sie haben die meisten Anlagen das zu wählen, was in Gesell-
schaft angenehm ist. Ihre Gewandtheit, Munterkeit belebt
die Gesellschaft. In dem Konversationsgeschmack findet
kein Zeremoniell, sondern nur Höflichkeit statt, die zwar
nicht viel bedeutet. Diesen Konversationston zu lernen,
muß man notwendig in Frankreich gewesen sein. Denn alle
Länder sind darin nur Schüler. Die Franzosen sind gesprä-
chig, lebhaft, und bringen mit Interesse Kleinigkeiten her-
vor. Hierzu gehört einiger Leichtsinn. Frivolität ist die
Eigenschaft, kleine Dinge groß und große Dinge klein zu
machen, welche Eigenschaft bloß den Franzosen eigentüm-
lich ist. Wir haben dafür kein deutsches Wort. Der Kon-
versationston fordert Anständigkeit, denn sonst ist es
kein Geschmack. Die Franzosen beobachten diese Anständig-
keit sehr. Sie können die Gesellschaft animieren mit einer
Art von Leichtsinn. Die eigentliche Galanterie-Conduite,
die Art, sich wichtig zu machen, ist auch ganz Produkt der
Franzosen. Vom Franzosen sagt man: il veut toujour repré-
senter. Der Ausdruck "Petit maître" bezeichnet das eben
Gesagte vorzüglich. Sehr uneigentlich ist dafür das Wort
"Stutzer", der sich steif ausgeputzt hat. Denn zur Zeit
Ludwigs_XIV. verstand man unter petit maître einen, der
sich den Anschein gab, als hätte er einen großen Einfluß,
wüßte wichtige Geheimnisse usw.. Die Art sich wichtig zu
machen, ist also französisch.
/ Das Point d'honneur ist bei den Franzosen sehr groß.
Es geht bis auf den gemeinsten Soldaten. Daher sind auch
die Duelle so häufig. Dies beruht darauf, kleine Dinge
groß zu machen. Der hat ein Point d'honneur, der viel
auf Ehrenwort hält, und nicht, der ehrliebend ist. Es ist
eigentlich ein punctum juris oder casus conscientiae.
/ Man kann Frankreich das Land der Moden nennen. Mode
ist Manier sich zu zieren, ist ein Gegenstand der Nachah-
mung aus Geschmack, um des Geschmacks willen, ohne Gebrauch
zu werden. Denn sobald dies geschieht, ist es nicht mehr
Mode. Dann wäre es ein Gegenstand der nützlich ist, ein
Gegenstand des Interesse, nicht des Geschmacks. Ferner er-
/|P_392
/fordert die Mode das Veränderliche, welches etwas Wesent-
liches dabei ist. Ehedem setzte der Franzose darin die
größte Ehre, von seinem König gekannt zu sein, den er ver-
götterte, weil dieser alles und sie nichts vermochten.
Dieses hat sich aber seitdem gar sehr geändert, und jetzt
ist es fast das gänzliche Gegenteil, und dies läßt denn
wohl auch in verschiedener Rücksicht eine Veränderung im
Charakter des Franzosen vermuten. Gewiß wird es immer den
Franzosen charakterisieren, daß er einen äußeren Schein
um sich macht. Persönlich ist der Franzose durch seine Ma-
nieren beliebt, wenn er sich aber als Franzose denkt, so
ist er arrogant und verachtet jeden andern. In der Tat ist
er der größte Egoist, obgleich seine Sprache dem äußern
Scheine nach die teilnehmendste ist. Die étourderie, sich
mit Fleiß andern vorzuziehen, das air dégagé ist nur ihm
eigen. Er ist nicht skrupulös in Ansehung eines schmutzigen
Kleides, sonst übrigens mäßig. Er hat einen Hang zu Groß-
mut, ist aber nicht gastfrei. Das Spielen mit Floskeln, Ein-
fällen, Embellisements, auch in den wichtigsten Fällen, ver-
liert er nie. Bomots (im Deutschen etwa Witzprüche) sind
bei den Franzosen von der größten Wichtigkeit. Sie können
nie einen Mann beschreiben, ohne von ihm viele bomots an-
zuführen. Ihre Weiber sind nicht so schön, als sie angenehm
sind. Sie sollen mehr Solidität der Denkungsart haben, als
ihre Männer. Rousseau behauptet, sie wären vernünftig, wenn
auch nicht häuslich. Dieser Widerspruch ist mit ihrem Leicht-
sinn und ihrer Lebhaftigkeit gut zusammenzureimen. Ihre
Kriminalgerechtigkeit ist Härte. Davon zeugt die Bastille,
die ein Schrecken des Volkes war, das Schicksal des unglück-
lichen Calas, dessen Familie später rehabilitiert wurde usw.
Der Franzose hat eine Menge von Tugenden, aber aus andern
Prinzipien. Was andre aus Grundsätzen sind, ist er oft nur
aus Eitelkeit, nämlich höflich, gesellig, ehrliebend, pa-
triotisch usw.
/ II. Spanien. Die Spanier unterscheiden sich sehr von
den Franzosen, und sind dadurch schon unvereinbar. Die Spa-
nier in den Seehäfen sind verschieden von den Spaniern, die
mitten im Lande sind. In Kastilien muß man den echten Schlag
der Spanier suchen, und nicht in und um die Seehäfen. Ihre
grandezza ist air der Größe, ein Rang, der etwas sehr wich-
tiges vorstellt. Ihre große Ernsthaftigkeit scheint eini-
germaßen aus dem maurischen oder sarazenischen Blute her-
zustammen. Schon ihre Sprache hat Grandiloquenz - etwas
Hochtönendes, was ihnen gut ansteht. Der geringste Bauer
spricht ohne Verlegenheit mit dem Vornehmsten, ja selbst
mit dem Könige. Sie bleiben gern beim Alten und sind über-
haupt das Gegenteil von den Franzosen, auch in dem Punkte,
daß sie aus den wichtigsten Dingen Bagatellen machen.
Ein Charakterzug von einer Nation ist, wenn aus derselben
keine auf Reisen gehen. In Spanien gibt es wenige oder doch
nicht zu viel Reiche, nur diese sind es auch in außerordent-
lichem Grade, z. B. der Duc von Medina Sidonia. Sie reisen
fast nie außerhalb des Landes, lernen auch keine
fremden Sprachen. Letzteres tun die Engländer auch nicht,
/|P_393
/aber sie reisen desto häufiger. Gewöhnlich sind 10_000
Engländer außerhalb Landes auf Reisen. 1777 waren allein
zu Paris 3_000. Anmerkung. Andre Nationen, z. B. Hindostaner,
Perser usw. können nicht begreifen, warum Europäer so weite
Reisen tun, um z. B. eine Statue zu sehen o. dgl. und glau-
ben immer, daß eine andre Ursache zum Grunde liege, etwa
Schätze graben - man zeigt ihnen die leeren Hände -
dann erwidern sie, daß man es wohl verstehen würde, sie un-
ter die Erde fortzuschaffen. In den Wissenschaften sind
die Spanier sehr zurück. Alle ihre Literatur schränkt sich
auf Religion ein. Sie leben schlecht und stolz. Ob bei ih-
nen der Stolz die Faulheit oder diese Stolz verursacht, ist
unausgemacht. Doch könnte man wohl sagen, daß ihre Armut
auf Faulheit und diese auf Stolz beruhe. Man erstaunt, wenn
man hört, Spanien werde zu den ärmsten Ländern wie Polen ge-
rechnet. Allein sie müssen für Fabrikware ihre Schätze ge-
ben. Sie haben einen Hang zu Grausamkeiten, und zwar aus
Überlegung, und sind ein hartes Volk. Sie haben aber auch
rühmliche Eigenschaften, z. B. ungemein viel Ehrlichkeit.
Die ehrlichsten Kaufleute sind gewiß die spanischen. Wenn
die Musik ihres Fandangotanzes - er ist uralt und schreibt
sich von Mauren her - gehört wird, so ist nichts vermö-
gend, sie zu halten. Alles läuft hin. Alle ihre Freuden sind
immer mit Pomp verbunden. Also hat die Nation keinen eigent-
lichen Hang zur Lustigkeit.
/ III. Italien. Die Italiener haben eine vorzügliche Leb-
haftigkeit, aber mehr durch Klugheit geleitet, als die der Fran-
zosen. Sie zeigen viel Affekt und starken Ausdruck in den
Mienen. Zu Rom und Neapel findet man viel Mordtaten. Fast
jeden Tag ist ein Mord. Dies ist sehr natürlich wegen ihrer
außerordentlichen Heftigkeit, da über irgend einen unbedeut-
enden Streit sogleich ein Duell entsteht, und weil niemand
den Sibirren, die für halb unehrlich gehalten werden, ins
Amt greifen, d.h. die Mörder anhalten, will. Dazu findet
jeder Mörder im nächsten Kloster seine Zuflucht. Wie Rousseau
sagt, schlafen die Italiener in Ratzennestern. Ihre Konversa-
tionen sind an gewissen Tagen in der Woche. Sie leben fast
von Schokolade, wenn sie viel Visiten machen. Denn allent-
halben wird sie präsentiert. Ihre meisten und liebsten Be-
schäftigungen zwecken auf öffentliches Aufsehen ab. Davon
zeugen ihre Schauspiele, Carnevals, Maskeraden, Prozessionen,
Pferderennen, schönen Häuser usw.. Nirgend als in Italien
wird soviel auf Architektur verwandt. Man findet die präch-
tigsten und geschmackvollsten Gebäude und Paläste. - Cicisbei
eigentlich Flüsterer, eine Gewohnheit einzig in ihrer Art.
Es sind Mannspersonen, die die Führer der Frauen sind. Die
Italiener haben einen vortrefflichen Kunstgeschmack, sind
sehr überlegend und erfinderisch. Die Banken, Buchhandlun-
gen, Lotterien, Wechsel sind Erfindungen der Italiener.
Die italienische Buchhaltung ist eine besondere, sehr
wohl ausgedachte Ordnung. Sie haben systematische Verschla-
genheit oder tiefgelegte Schlauigkeit (vid. hierüber Pufen-
dorfs Geschichte. Pufendorf ist gut wegen der Religion zu
lesen). Die Gewohnheit durch Banditen oder gedungene Meu-
chelmörder andere aus dem Wege räumen zu lassen, und Gift-
mischereien sind recht zu Hause in Italien. (Keyßlers Reise-
beschreibung durch Italien u.a.m.) Wenn sie einmal auf Wis-
senschaften kommen, so beweisen sie darin viel Bedachtsam-
/|P_394
/keit und Gründlichkeit. In Frankreich hat der gemeine Mann
mehr Conduite, in Italien mehr Kunstkenntnis, als in irgend
einem andern Land.
/ Anmerkung. Diese Schilderungen sind nur als eine Art von
Vorspiel gegeben über die Methode, den Charakter kennenzu-
lernen, keineswegs als entschiedene Wahrheiten.
/ IV. England. (Großbritannien kann man nicht füglich
hier nennen, wegen des Unterschiedes zwischen England und
Schottland.) Die Engländer selbst sagen, daß, weil jeder
einzelne seinen eigenen Charakter hat (affektiert), die
ganze Nation keinen habe. Dazu trägt ihre Freiheit viel bei,
die ihnen persönliche Würde gibt. Jeder Engländer hat Anteil
an der Regierung oder glaubt ihn wenigstens zu haben. Er
darf sich nicht schmiegen, sondern kann auf seinen Kopf be-
stehen. Er darf sich nicht den Neigungen anderer abkommadie-
ren. Er kehrt sich nicht daran, wenn andere mit ihm im Ge-
schmack verschieden sind. Klima, Boden und Nahrung sind von
andern Gegenständen verschieden. Die Nahrung ist besonders
kraftvoll. Die Engländer essen das meiste Fleisch in ganz
Europa. Nach der Franzosen eigenem Geständnis gibt es in
England ein schöneres Grün auf dem Boden als in Frankreich.
Dies kommt von der Nässe. Die Seeluft ist sehr gesund und
stärkend, besonders deswegen, weil sie den Grad der Hitze
und Kälte gehörig moderiert. Dieses scheint alles Einfluß
auf den Charakter der Engländer zu haben. Daher ist ihr Ei-
gensinn, ihre Beständigkeit eine Wirkung vom Naturell. Das
Wohlverhalten manches Menschen beruht bloß auf seiner Schwä-
che, wobei er oft den bösesten Willen hat. Die Tugend ist die
rühmlichste, die mit Stärke verbunden ist. Daher entstand
auch das Wort virtus. (Suaviter in modo, fortiter in re.) In
Frankreich hat alles conduite (dieses empfiehlt Lord Chester-
field seinem Sohne, wenn er ihm schreibt: die Gratien, die
Gratien!). In Italien ist jedermann gescheut, d.h. er hat das
savoir faire, weiß in allen Stücken seinen Vorteil in acht
zu nehmen, sich andrer Menschen zu seinen Absichten zu bedie-
nen. (Ja m. H. Summus.) In England ist die ganze Nation mehr
kultiviert - bis auf den gemeinsten Mann in Ansehung der
Kenntnisse belehrt. Dazu tragen nun wohl vorzüglich die Zei-
tungen viel bei, (eine Erfindung, wovon die Alten nichts wuß-
ten), die jedermann liest wegen ihres mannigfaltigen Inhalts
- es sind nämlich nicht allein die allgemein interessanten
Neuigkeiten, sondern auch literarische und spezielle Nach-
richten und Beschreibungen des Landes. Wenn nun das Gesinde
diese Zeitungen gelesen hat und hört bei Tische darüber rai-
sonnieren, so werden natürlicherweise seine Kenntnisse da-
durch vermehrt. Die Engländer sind unwissend in Ansehung
dessen, was in andern Ländern vorfällt, und dies ist zum
Teil wahr und kommt von Grundsätzen her, daß sie alle an-
dern verachten und nicht aus Unwissenheit. In keinem andern
Lande erstreckt sich das Wohlleben so sehr bis auf den ge-
meinsten Mann - etwa Schweiz und Holland ausgenommen, wo
sich gleichfalls die gute Nahrung bis auf den gemeinsten
Mann erstreckt - und das vorzüglich deshalb, weil sie ihre
Kunstprodukte weit wohlfeiler als andre Nationen liefern
können, indem sie so erfinderisch sind, daß sie fast
alles fabrikenmäßig traktieren. Fabrikenmäßig heißt,
wenn mehrere an einer Sache arbeiten, als z. B. an der
/|P_395
/Näh- und Stecknadel, wo einer den Draht zieht, der andere
poliert, der dritte schneidet usw.. Die Engländer haben
einen public spirit, d.h. es vereinigen sich oft viele zu
einer entreprise, zum gemeinsamen Besten eine gute Anstalt
zu stiften oder zu befördern. Solche Associationen sind
häufig. Sie wagen etwas auf den gehofften Vorteil - machen
sich nicht viel daraus, wenn sie ihn nicht erhalten. Nur
die Möglichkeit eines vorteilhaften Gewerbes reicht schon
bei ihnen zu, um alles zu wagen. Unter jeder andern Nation
hört man immer sprechen: ja, wer weiß, ob es so ist, wie
man es vorgibt, es ist doch sehr riskant, man kann viel da-
bei verlieren usw.. Dies ist so ein vorzüglicher Charak-
terzug der Engländer. Vid. Archenholz, Britische Annalen,
ein angenehmes und nützliches Buch. Da findet man verschiede-
ne Entreprisen der Engländer erzählt, z. B. Reisen ins
Innere von Afrika, woraus sich in kurzem wichtige Erwei-
terungen für die Erdbeschreibung dieses Weltteils erwarten
lassen. Ein andermal wurde in einer Gesellschaft erzählt,
daß an der Westküste von Südamerika viel Walfische wären.
Gleich traten Leute zusammen und rüsteten Schiffe aus. Der
Engländer ist zum größten Teil Original. Dies hat seinen
Grund in der Freiheit. Diese Originalität, die bisweilen
gesucht ist, zeigt sich auch in der Mannigfaltigkeit der
Religionen. In der Religion sucht jeder etwas Eigentümliches.
Der Engländer ist so ungesellig, daß er in einem Wirtshau-
se nie mit einem andern zusammen ißt, sondern jeder hat
ein apartes Tischchen, und wenn er auch an einem Tisch sitzt
so spricht er nichts. Wenn er reist, so tut er es nur, um
andre Nationen zu verachten und Geld auszugeben und nicht
welches zu erwerben. A. 1777 waren 3_000 Engländer zu Paris
bloß zum Vergnügen. Sie verteuern die Gasthäuser unge-
mein. Ihr Geschmack in der Kunst ihrer Arbeiten ist voll-
kommen, allein die Facon gefällt nicht. Sie zeigen in allem
Gründlichkeit. Ihre Tücher sind berühmt wegen ihrer Tüch-
tigkeit. Die Frauenzimmer in England sind geprisen wegen
ihrer Schönheit. Doch haben sie nur den zweiten Rang, weil
ihnen das air dégagé mangelt und sie geniert und zurückhal-
tend sind. In England erweist man den Damen mehr Achtung,
in Frankreich mehr complaisance. Die Herrschaft des männ-
lichen Geschlechts ist nicht so groß, als in Frankreich.
Dies mag darauf beruhen, daß sich die Frauenzimmer sozu-
sagen isolieren und ihren Eigensinn haben.
/ V. Deutschland. Den Deutschen messen fremde Nationen
viel Phlegma bei als etwas Charakteristisches und derivie-
ren daher ihre unerschütterliche Geduld, große und wichti-
ge Dinge auszuführen, selbst so mühsam voluminöse Folianten
zu schreiben, als z. B. Krunitz, Ökonomisches Handbuch nach
dem Alphabet, 50 B. Sie pflegen viel Belesenheit, große
Gelehrsamkeit zu zeigen. Die Ausländer sagen auch, daß es
ihnen an Originalität mangelt, daß sie meist gerne nachah-
men. Sie sind zwar Erfinder einer Menge von Künsten. Die-
ses findet man aber doch nur da, wo anhaltender Fleiß zu
suchen ist. So haben sie in der Chemie viel getan und das
Fundament davon ist bei ihnen zu suchen. Doch zeugt dies
noch nicht von Genie, welches das Talent zu einer Kunst ist,
die nicht gelernt werden kann. Jedoch wäre es unrecht,
/|P_396
/wenn man die Deutschen beschuldigen wollte, ihnen mangelte
Genie. Sie haben es wirklich in sich, wenn man es nur exci-
tieren könnte. Daß dies nicht geschieht, dazu trägt wohl
die verkehrte Schulbeschaffenheit viel bei, indem viel
Phrasen gelernt werden müssen, welche sehr das Genie unter-
drücken. Es ist zwar gut, daß sie den Geist der Ordnung
und Methode haben, wenn sie es nur nicht übertrieben
bis zur sklavischen Abhängigkeit von einmal angenommenen
Regeln und Vorschriften. Ordnung ist wesentlich nur ein
Mittel zum Zweck. Sie machen sie aber zum Zweck selbst. Für
Tabulatur sind sie auch sehr eingenommen. Alles dieses aber
setzt viel Mühe voraus. Daher rührt nun auch z.T. ihre außer-
ordentliche Titelsucht, wodurch sie sich von andern Ländern
auszeichnen, und daß sie so viel auf Standesvorzüge halten.
Denn ein solcher Mensch, der keinen Stand, wenigstens kei-
nen Titel hat, wird nicht viel geachtet. Sie sagen von ihm:
er ist meines Herrn Nichts, und wenn man jemanden bei Namen
nennt, so wird gleich gefragt: was ist er? was hat er für
eine Bedienung usw. Die Titelsucht macht die Höflichkeit
bei den Deutschen außerordentlich schwer, ihre Briefe können
nie anders als steif und peinlich werden, indem die Worte
Dieselben, Dero-Hochgeboren, Hochwohlgeboren, Hochedelgebo-
ren beständig vorkommen, wo der Franzose mit seinem Monsieur,
Monseigneur allenthalben durchkommt. Titelsucht ist Unter-
scheidungsmittel. - Die Deutschen haben den Stiftsadel und
den andern Adel. Dies zeugt von großer Subtilität. Der Deut-
sche hat nicht die Freiheit des Genies vom Zwange der Regeln
und daher ist er auch bescheiden. Er taugt nicht zum Komö-
dianten, denn ihm fehlt ganz das air dégagé des Franzosen.
Die deutsche Nation lernt alle Sprachen und unterscheidet
sich dadurch von allen andern Nationen. In Deutschland wird
alles übersetzt, Englisches, Französisches, Spanisches, Schwe-
disches, Polnisches usw.. Dieses Lernen aller Sprachen
zeugt von vieler Wißbegierde. Der Deutsche kann sich in
alle Verhältnisse schicken. Daher kommt's, daß in allen
Ländern Deutsche angetroffen werden, ausgenommen in Portu-
gal, wo selten ein Fremder Stich hält. Andere Nationen tä-
ten daher sehr wohl, wenn sie die deutsche Sprache lernten,
indem sie damit in den meisten Ländern fortkommen würden.
Dies ist sehr natürlich, da mehrere Länder, wie Schweden
und Holland, ganz von germanischem Stamm sind. Sie hängen
nicht so sehr an ihrem Vaterland und nehmen leicht den Schlag
eines andern Volks an. Sie sind vortreffliche Koloni-
sten, ja sogar mit der mindesten Unterstützung. Sie sind die
besten Cultivateurs. Die Deutschen lassen sich nicht allein
gut regieren, sondern sie bedürfen sogar desselben, sie un-
terwerfen sich gern einer Obrigkeit. Das kommt mit von dem
Hange zum Systematischen. Sie halten sich nicht immer für die
erste Nation, verachten daher auch keine andre, haben über-
haupt keinen Nationalstolz. Dieser ist auch in der Tat ab-
surd. Denn wenn man glaubt, Vorzüge zu haben, so bewirbt
man sich um keine. Die Sprache der Deutschen selbst macht,
daß wir beim Lesen von dem Fortschritte des Geistes in an-
dern Sprachen gar nicht so profitieren können. Man könnte
sie jungfräulich nennen. Denn sie leidet keine Beimischung
aus fremden Sprachen. Der Franzose hingegen kann jedes fremdes
Wort metamorphosieren. Es ist schwer, neue Worte in der
Deutschen Sprache aufzubringen, z. B. groß und hehr klingt
/|P_397
/immer noch fremde. Dafür hat sie aber auch einem außer-
ordentlichen Reichtum (durch die Zusammensetzung) an eige-
nen Worten und nähert sich darin der griechischen. Der
Deutsche ist sehr gesellschaftlich und zugleich gastfrei,
nicht, wie der Franzose, der zwar ersteres, aber nicht
letzteres ist. Er sucht gemeinhin die Fremden auf aus
Neugierde. Er ist ein gutes Glied der bürgerlichen und
Umgangsgesellschaft. Das Geistvolle scheint dem süd-
lichen Teile mehr eigen zu sein, als dem nördlichen. Die
deutsche Sprache hat den weitesten Umfang in allen Ländern,
außer vielleicht in England.
/ Völker, die noch nicht genugsam aus der Barbarei
herausgekommen und die noch einen Hang haben zurückzufal-
len, es dürften nur gewiße Umstände dazu kommen sind:
1. Polen, 2. Russen, 3. Türken. Polen und Russen sind
slavische Völker. Diese machten einen besonderen Stamm
aus, der sich weit bis nach Westen ausgebreitet hatte.
Auch Leipzig war noch eine slavische Stadt. Die Wenden
sind zu diesem Stamm zu rechnen. Man findet bei ihnen
nichts anders, als Herren und Knechte. Der Name Slav
bedeutet Sklave. Leibeigener verstand man unter Slavonier
oder Sclavonier. Es ist doch große Verschiedenheit im
Charakter der slavischen Völker. - Die Türken haben nicht
Herren und Leibeigene, sondern im Grunde sind sie alle
Sklaven und Despoten.
/|P_398
/ VI. Polen. Polen ist ein besonderes Land. Es hatte
gleichsam nur einen wirklichen Stand, nämlich den Adel.
Nur dieser machte den Staat aus. Es gab wohl freie ge-
werbtreibende Bürger. Aber nie haben sie den Rang eines
Staatsbürgers behauptet. Sie verlangen Freiheit, Gesetz,
aber keine Gewalt über sich. Was Absurderes läßt sich wohl
denken? Sie wollen den Stand der Natur und Freiheit, nämlich
so, daß jeder frei und ungestraft den andern totschlagen kann,
und dennoch verlangen sie ein Gesetz dagegen und dies muß
Gewalt haben, wenn es Wirkung haben soll, und dies wollen
sie auch nicht. Die Polen werden als leichtsinnig beschrieben,
von keiner festen Entschließung und sehr veränderlich. Sie
machen Schulden, ohne daß sie daran denken, wie sie sie be-
zahlen werden, und zwar geschieht dieses nicht aus Grund-
sätzen, sondern weil sie immer schlechte Haushalter sind. Bei
ihnen findet man Mangel an Ordnung, große Güter, aber viel
Schulden. Sie sind reich, aber es fehlt ihnen allenthalben,
bald an Gläsern, Schuhen usw.. Sie erregen immer ein großes
Geschrei nach Freiheit, aber unter dieser Freiheit verstehen
sie nur einzelne Freiheit und nicht Staatsfreiheit. Weil es
bei ihnen keinen Mittelstand gibt, so haben
sie auch wenig Kultur, sowohl in Ansehung der Künste als
auch der Wissenschaften. Denn gewöhnlich geht die Kultur nur
vom Mittelstande aus. Der Adel, der reich ist, bekümmert sich
nicht darum und die anderen ebensowenig. Man findet nicht
so leicht unter den Polen einen Mann, der sich in irgendeinem
Fache oder in irgendeiner Wissenschaft besonders hervorgetan
hätte. Man zählt wohl einige darunter, aber mit Unrecht.
Ein gewisser Herzensanteil am Vorteil des Ganzen, wie z. B.
bei den Engländern Public spirit, fehlt ihnen gänzlich
weil ein jeder sich als eine Art von Souverain dünkt, und
nur alsdann kann der Anteil am Ganzen stattfinden, wenn sein eigener
Vorteil mit ins Spiel kommt. Die Polen haben etwas Weiches an
sich. Aus dem, was jetzt unter den Polen vorgegangen ist,
läßt sich gar nicht mit Zuversicht auf die Zukunft schließen. -
Die polnischen Damen sind diejenigen, die unter allen andern
Nationen den ausgebreitesten Verstand, die größte Staatsklug-
heit, Umgang und die mehrste Welt haben. Die Polen nicht voller
Höflichkeit gegen sie. Dieses Volk ist eben nicht zur
anhaltenden schweren Arbeit gemacht, überhaupt zu keiner
Anstrengung der Kräfte.
/ VII. Rußland. Die Russen haben Adel, aber dieser hat lange nicht
die Freiheit wie in Polen. Denn sie stehen unter despotischer
Regierung und haben keine andere Freiheit, als die, welche
ihr Souverain ihnen gestatten will. In Polen ist der Edel-
mann nicht Sklave. Die Russen sind wahre Untertanen des
Staats im eigentlichen Sinn des Wortes und doch sind sie auch
Herren, die wieder Untertanen haben. Die vornehmen Polen
sind Aristokraten, keinesweg die vornehmen Russen. (Aristo-
kraten sind die Vornehmen des Volkes, die an der Gesetz-
gebung teilnehmen.) Die Russen unterscheiden sich von den
Polen schon im Gesichte. Der Russe hat den Ausdruck des Eigen-
sinns, ist ein Starrkopf, fest im Vorsatze, brauchbar zu
schwierigen Unternehmungen, die Beharrlichkeit und Anstreng-
ung erfordern, weil er hart, fest und beharrlich ist. Er
liebt die Veränderung nicht und ist voll steifer Anhänglich-
keit an seine Nation: dies ist ein Zeichen der Eingeschränkt-
heit seines Geistes. Daher kommt es auch, daß Russen selten
desertieren. Es haßt fast alle andern, die nicht Russen sind.
Es gibt den besten Stockmeister ab, weil er außerordentlich
mißtrauisch und verdachtvoll ist.
/|P_399
/Sie sind außerordentlich treue Diener, präzis in allen Dingen, die der Herr ihnen be-
fiehlt. Sie verbergen aber den heimlichen Haß, den sie bis-
weilen gegen ihn gefaßt haben und sind, wenn es gestürzt wird, die
ersten die sich darüber freuen. Der Russe nimmt die Kultur,
die auf Conduite geht, nicht so leicht wie der Pole an, aber
er ist desto besser zu disziplinieren, weil er nicht so leicht-
sinnig ist. Es ist daher der beste Soldat als Instrument des
Krieges, wenn nur die Befehlshaber klug sind; denn er gehorcht
absolut. Es hat viel Geschick alles selbst zu machen.
Anmerkung. Die Völker, wovon einzelne so künstlich sind, sich alles
machen zu können, sind die rohesten. Dies beweisen die Russen.
Der Bauer macht im Notfall sich selber Schuhe, Wagen und bastelt
immer, wie wir es nennen, und pfuschert es so, daß es zu
seinem Zwecke hinreicht, wenn es auch nicht von Dauer ist. Er
baut sogar sein eigenes Haus, macht sich seine Kleider und in
der Art ist er klüger und geschickter als alle anderen
Nationen. Aber eben weil hier sich ein jeder selbst alles macht,
sind Künste und Gewerbe im schlechten Zustande. Der Städte
und Künstler sind wenig. Wenn Städte bestehen sollen, so müssen
die Landleute nur den Boden bearbeiten und ihre Bedürfnisse aus
der Stadt holen. So entsteht nicht nur eine Menge Städte, weil
die Bedürfnisse groß sind, sondern diese verzehren auch wieder
die Produkte des Landmanns, die er verkauft, damit er sich
wieder aus der Stadt kaufen kann, was er nötig hat. Auf die
Art bleibt alles Getreide und Geld dafür im Lande, welches nur
in kultivierten Ländern stattfindet, Schlesien ist daher berühmt
wegen seiner schönen vielen und volkreichen Städte. Der Russe
kann alles lernen. Sie erreichen alles. Nur Tücher wollen sie
nicht machen, obgleich sie prächtige Zeuge Drap d'or und
d'argent zu Westen verfertigen. Die Stahlarbeiten, die in der
Gewehrfabrik zu Tula verfertigt werden, geben den englischen
nichts nach. Sie sind Nachahmer und können daher wohl alles
lernen, aber nichts wiederlehren, sie können alles nachmachen,
aber nichts selbst machen. So können sie gut malen, aber nichts
selbst erfinden. Sie nehmen gerne die Lehrer von auswärts.
Obgleich Rußland 80 Jahre im Stande der Zivilisierung ist,
so ist noch kein einziger großer Kopf von ihren Universitäten
gekommen. Es muß etwas im Naturschlage liegen, was man nicht
so kennt, aber es trifft bei allen slavischen Nationen ein. -
Ob man von den Slaven überhaupt wiederum eine große Revolution
zu besorgen hat? Im Grunde könnte man sagen: ja. Denn es
scheint, als werden sie nie Kultur erlangen, und doch sind sie
kriegerisch. Ob sie aber von Dauer sein werde? Alle solche
Revolutionen sind von keiner Dauer, wenn sie nicht zusammen-
schmelzen sondern in Opposition bleiben. Man kann das schon an
den Russen sehen. Es liegt an ihrer Sprache und Abneigung zu
Kultur und Wissenschaften, und schmelzen sie je zusammen, so
bleiben sie nicht mehr Russen. Auch würde die Macht wahr-
scheinlich sich selbst wieder vernichten, sofern nicht die
Barbarei alles niederdrückt.
/ Es scheint der Wille der Vorsehung, daß viele Menschen ver-
schiedene Religionen haben sollen, um dadurch das Zusammen-
schmelzen in eine Masse in einer Monarchie zu verhindern. Eng-
länder können nicht einmal mit den Schotten zusammenschmelzen,
größtenteils wegen Verschiedenheit der Religion, auch sonst
sind ihre Sitten äußerst verschieden. Jede Nation besonders
erhält besser in sich die Freiheit und Kultur. Wir haben ein
Beispiel an den Römern: Wie sie anfingen die Welt zu beherrschen
fielen sie in Barbarei.
/|P_400
/ VIII. Die Türkei. Die Türken und Tataren (welche meist ein
Volk ausmachen - man rechne aber hierher nicht die Nogajier und
Bedziker, denn obgleich sie die nämliche Religion haben, so
sind sie dennoch nicht von derselben Rasse -), kann man sagen,
sind noch fast ganz in der Barbarei und diese können auch gar
nicht mit andern Nationen zusammenschmelzen, vorzüglich die
Mohammedaner, die entsetzlich stolz sind. Ihre Religion ist die
insozialeste. Sie unterscheidet sich durch Stolz von allen anderen
Religionen. Würde sie die halbe Welt erobern, so blieben sie
dennoch gewiß ganz abgesondert. In ihren Moscheen haben sie
bloß Zeremonien, nicht das Demütige, was bei der christlichen
Religion ist. Sie glauben die einzigen zu sein, die den wahren
Gott anbeten, indem sie den andern die Bilder vorwerfen. Meisten-
teils verlieren sie ihre Eroberung ebenso schnell, als sie sie
machten. Sonst sind sie ehrlich, tapfer, nüchtern, voll starker
Triebfedern, ernsthaft, zuverlässig, mutig und überhaupt ein
wohlgebildetes Volk mit trefflichen Eigenschaften begabt. Aber
ihr unermeßlicher Stolz gereicht ihnen sehr zu Tadel, ferner
ihre Rohigkeit und daß nur Gewinn und Vermögen sie aufmuntert.
Dies macht sie zwar niederträchtig in dem Auge jedes Menschen,
aber ein jeder muß doch ihre natürlichen Anlagen rühmen. Auch
verlangen sie immer Geschenke. Jeder Gouverneur will von jedem
Reisenden was haben. Das Merkmal roher, barbarischer Völker ist,
daß sie keine unmittelbare Achtung vor dem Gesetz haben, welches
bei kultivierten nicht so ist. Sie suchen ihr Heil und Glück
in Gesetzlosigkeit und wähnen sich frei, wenn ohne ihre Be-
willigung sie von Steuern frei sind, und ertragen übrigens die
gleichsam mit Sturm ausgeübten himmelschreiendsten Ungerechtig-
keiten, wenn z. B. ein unschuldiger Pascha stranguliert oder ge-
köpft wird, welches leider im osmanischen Reiche nichts Neues
wäre. Dabei trösten sie sich damit, daß sie vor der Hand immer
noch frei sind, wenn auch einem Andern der Kopf genommen wird.
Selbst die gemeinsten Weiber haben in ihren Mienen einen Blick
von Selbstzuversicht und Gefühl von Freiheit. Geburtsvorzüge
sind ihnen unbekannt. Unterordnungen leiden sie nicht und haben
sie auch nicht. Die Eigenschaft, durchs Gesetz diszipliniert
zu werden, kann nur bei kultivierten Nationen stattfinden.
/ Man kann überhaupt jedes Land mit einem besondern Namen be-
legen. Frankreich könnte man nennen das Modenland, Spanien das
Ahnenland, Italien das Prachtland, England das Land der Launen,
Deutschland das Titelland, Polen das Prahlland und Rußland das
Land der Tücken.
/ Obgleich die Völker ganz verschiedene Nahrungsmittel haben, so
muß man gestehen, daß wenn man die russische Armee gesehn, sie
einen Vorzug hat, der ihr allein eigen ist. Der Nationalcha-
rakter ist also keine bloße Chimäre, denn so wie ein kal-
mückisches oder mongolisches Gesicht gleich in die Augen fällt,
so leicht bemerkt man auch, von welcher Nation jemand ist, wenn
man den Nationalcharakter kennt. Ein französisches Gesicht
kann man sogar in Hogarths Kupferstichen gleich erkennen, wenn
er es auch selbst verschwiege. Von den Preußen kann man wegen
ihrer großen Vermischung mit andern Völkern, die sich seit
kurzer Zeit hier aufhalten, nichts Bestimmtes festsetzen.
Indes will man ihnen doch durchgehends Falschheit beimessen,
wie auch Zurückhaltung, und dies kann wohl auch sein, weil sich
die Zurückhaltung gewöhnlich da einfindet, wo die Familien nicht
genug ausgebreitet, ganz verschieden und sich einander fremd
sind. Dazu kommt noch dies, daß die Regierung zu einem aus-
wärtigen Ort geführt wird, woraus eine Zurückhaltung und Neid
gegen die, so ihnen vorgezogen werden, entsteht. - Von den
Czeremissen, welches Heiden sind, die an den Grenzen des
/|P_401
/Gebirges, welches Rußland von den Asowschen Gouvernement
absondert, wohnen, hat man versichert, daß sie alle Fremde
unterscheiden können, sie mögen gekleidet sein, wie sie
wollen.
/|P_402
/ ≥ Vom Charakter der Rasse. ≤
Wie wir den ganzen Menschenstamm nach Ästen nehmen und be-
trachten. Rasse ist ein notwendiger, angeborener, erblicher
Unterschied von andern. Es sind vier Hauptrassen:
/1. Die Amerikaner. Ihr Charakter ist eine große Unempfindlich-
keit und die daher entspringende Gleichgültigkeit, so daß
selbst die Kreolen, die daselbst von europäischen Eltern ge-
boren werden, an dieser Gemütsbeschaffenheit
Teil haben. Ihre Farbe ist kupferrötlich wie Eisenrost mit
Öl vermischt. Sie können entsetzliche Operationen aushalten.
Ebenso sind sie auch unempfindlich in Affekten. Diese Leute
affiziert nichts und sie werden weder durch Versprechungen noch
durch Drohungen gerührt. Ja, sie sind selbst in Ansehung der
Geschlechterneigung kaltsinnig. Zur Rache haben sie große
Neigung. Die Freiheit bei ihnen ist nicht wie die in Europa,
sondern tierische Freiheit. Dieser natürlichen Freiheit aber
opfern sie auch alle Süßigkeiten des Lebens auf. Sie haben keine
Sorgen. Des Morgens verkauft er seine Hängematte und des
Abends wundert er sich wohl gar, daß er nichts hat, worauf
er liegen kann. Sie sind eben nicht gesprächig. Die Weiber
nehmen oft Wasser ins Maul, daß sie nicht reden dürfen. Dies
kann man auch schon daraus erkennen, daß die amerikanischen
Hunde die Menschen nicht lieben, sondern vielmehr vor ihnen
fliehen, weil sie nie gewohnt sind von ihnen geschmeichelt zu
werden.
/2. Die Neger oder Afrikaner haben einen ganz entgegengesetzten
Charakter, obgleich Afrika mit Amerika in einem Klima liegt.
Sie sind voller Lebhaftigkeit, Leidenschaft, Affekt. Der Neger
ist eitel, geschwätzig, scherzhaft, nimmt Kultur an, aber ent-
weder die eines Knechts oder eines Umtreibers. Man hat nie be-
merkt, daß wenn einer von ihnen frei geworden ist, er ein Hand-
werk ergriffen hätte. Lieber mag er ein Kaffeehaus oder Gast-
haus haben. Er scheint dazu gemacht zu sein, andern zu dienen,
aber nie zivilisiert zu werden. Sie sind bei ihrem lebhaften
Naturell läppisch. Denn obschon ihre Fasern reizbar sind, so
fehlt ihnen doch eine gewiße Fertigkeit in denselben, daher es
ihnen an Standhaftigkeit mangelt und sie zu allem ungeschickt
sind, wozu Verstand erfordert wird. Sie sind wie die Affen sehr
geneigt zum Tanzen, so daß sie auch an dem einzigen Tage, den
sie von ihren Arbeiten frei haben, übermäßig viel tanzen. Sie
plaudern ganze Nächte hindurch, wenn sie auch den ganzen Tag
über gearbeitet haben, und schlafen wenig.
/3. Die Inder in Asien oder Hindostaner haben eine Art von
Selbstbeherrschung, ein sich selbst besitzendes Gemüt. Sie ge-
raten fast nie in Hitze. Allein sie haben starke Leidenschaft und
tragen alles dieses nach. Sie nehmen alle bürgerliche Kultur
an, sind aber keiner Aufklärung fähig. Sie haben ein Maß, über
das sie nicht kommen. Ihre Religion bleibt ganz unverändert. Sie
haben wohl Künste, aber keine eigentlichen Wissenschaften. Als
Bürger sind sie geduldig und gehorsam. Sie haben keine eigent-
lichen Begriffe von Ehre und Tugend. Denn dies setzt Geist
und Genie voraus. Sie lagen sich auf List und Ränke. Sie können
am meisten in tiefen Gedanken sein. Sie tun entweder gar nichts
oder legen sich auf Glücks- oder Wagespiele, besonders in der
Jugend. Dahin gehören auch die Würfel. Dies ist an sich schon
ein melancholisches Spiel. Bei zunehmenden Jahren können sie
wohl einige Stunden hintereinander bei einer Angel sitzen, ob-
gleich kein Fisch da ist, der anbeißt. Der Charakter der Ost-
inder ist zurückhaltend und behutsam. Sie sehen alle wie
/|P_403
/Philosophen aus. Wenn ein Europäer sie anfährt, so be-
sänftigen sie ihn und entfernen sich gerne, um nicht Streit
zu haben. Die Ursache ist die Feinheit ihrer Fasern, da sie
sehr leicht aus aller Fassung gebracht werden.
/4. Die Europäer oder Weißen sind gemeinschaftlich zum Umge-
stüm aufgelegt. Bei ihnen findet man alle Triebfedern, Affekte,
Leidenschaften, aber auch alle Anlagen und Talente zu Künsten
und Wissenschaften. Sie haben die Eigenschaft durch Gesetze
zivilisiert zu werden und doch frei zu sein. Sie nehmen nicht
allein Disziplin an, welche auch der Neger annimmt, sondern
auch Kultur des Geistes. Ohne Geist bleibt der Mensch borniert,
ohne Naturell roh, d. h. er lernt nichts, und ohne Instinkt
ist keine Kultur. - Was soll man sagen, werden die Rassen zu-
sammenschmelzen oder nicht? Sie werden nicht zusammenschmelzen
und es ist auch nicht zu wünschen. Die Weißen würden de-
gradiert werden. Denn jene Rassen nehmen nicht die Sitten und
Gebräuche der Europäer an.
/Es gibt nun noch außer diesen Rassen die mongolische oder
kalmückische Rasse, die sich von den andern unterscheidet. Sie
haben platte und schmale Gesichter, kleine Nasen und Augen und
bartloses Kinn. Der Schnitt ihrer Augen ist schief einwärts
nach der Nase zu. Sie haben viel Tapferkeit und Fähigkeiten
alles zu lernen. Sie machten nie große Eroberungen, ohne sie
wieder zu verlieren. Es kommt mit von ihrem Hange zum Hirtenleben
her. Rußland hatten sie 200 Jahre. Sie waren berühmt unter
dem Namen der Hunnen. Die weiße Rasse ist die vorzüglichste
und hat sich schnell allenthalben ausgebreitet.
/ ≥ Vom Charakter der Menschengattung. ≤
/Um ein Wesen zu charakterisieren, müssen wir es mit andern ver-
gleichen. Womit können wir die Menschen vergleichen? 1. mit
der Tiergattung, 2. mit der Gattung vernünftiger Wesen über-
haupt. - Der Mensch ist ein vernünftiges Tier.
/ ≥ 1. Charakterisierung des Menschen im Vergleich mit
der Tiergattung. ≤
/Es fragt sich, ob er vier- oder zweifüßig ist, d. h. ob er be-
stimmt war, auf vieren oder zweien zu gehen. Es scheint, als
wäre es keine vernünftige Frage. - Ein Gelehrter in Pavia,
Moscati, hat geschrieben, ob die Natur den Menschen bestimmt
habe auf zwei oder vier Füßen zu gehen. Er ist für das letztere
und zeigt die Beschwerlichkeiten von dem Gehen auf zwei Füßen.
Er sagt:
/1. Es ist schädlich um der Eingeweide willen. Sie drücken nach
unten zu.
/2. Bei einer schwangern Frau ruht die Frucht zu sehr auf dem
Muttermunde und kann leicht abortus hervorbringen.
/3. Das Blut müsse beim Zirkulieren immer steigen usw..
Aber dies gereichte ihm zum Verderben. Maria Theresia setzte
ihn ab, und nun weiß man nicht, ob er geblieben ist. Indes
hat seine Meinung bei näherer Untersuchung nicht völlig
Grund, wenn auch schon der Mensch an den Waldmenschen grenzt,
daß es wirklich Affen gibt, die häufig auf zwei Füßen gehen.
Camper, ein Arzt in Franeker, hat am besten davon geschrieben.
Er sagt es von Affen, der die höchste Höhe gehabt hat (4_1/2
Fuß), er habe mit seinen Füßen greifen können, aber keine
Kniescheibe gehabt. Er hatte auch eine ganz andere Bauart im
Schlunde, nach welcher er nie sprechen lernen kann. Es ist al-
so umsonst zu glauben, daß der Mensch eine Affengattung wäre.
Der Gibbon oder langhändige Affe ist dem Menschen am ähnlichsten
und der Orang-Outang. Die holländische Sozietät in Batavia
/|P_404
/behauptet, daß noch nie ein Orang-Outang in europäische Hände
gekommen. Der echte Orang-Outang ist auch darin dem Menschen
ähnlich, daß es nicht wie ein anderes Tier sich mit seinen
eigenen Gliedmaßen (Füßen, Händen, Zähnen) wehret und verteidigt,
sondern er bedient sich dazu starker Stöcke, er reißt Äste ab
von den Bäumen und wirft sie nach denen, die ihn fangen wollen.
Ist der Mensch ein fruchtfressendes oder fleischfressendes Tier?
Ist er das letztere, so wäre er ein Raubtier. Dies ist er aber
nicht, nach dem Bau seiner Zähne, seines Magens wegen ebenfalls
nicht. Hat die Mutter oder Amme Fleisch gegessen, so bekommt die
Milch dem Kinde am besten. Bekommt die Amme nicht gut zu essen, so
gerinnt ihre Milch wie Kuhmilch. Der Magensaft ist ein wenig salzig,
aber nicht sauer, und nur, wenn er die Säure versüßt, kann er zum
Nahrungssaft dienen. Der Mensch muß also wohl gemacht sein für
beides, hauptsächlich für Fleisch. Die Früchte sind auch nicht zu aller
Zeit. Die wenigsten sind auch von der Beschaffenheit, daß sie
sich bis zum Winter halten, und die Kunst, sie aufzubewahren,
findet nur bei kultivierten Völkern statt. Die Tiere sind aber
auch eher gewesen, als die Menschen, und die rohen Nationen essen
meist nur das Fleisch von wilden Tieren.
/Ist der Mensch ein geselliges oder einsames Tier? Es ist wohl ein
geselliges, denn er hat viel Bedürfnisse, die er wohl unmöglich
allein befriedigen kann. Der Mensch muß sich selbst Kleider machen,
Hütten bauen, wie das Kaninchen und jedes andere Tier. Die Vor-
sicht hat ihn so eingerichtet, daß er ohne andere nicht sein
kann. Die Familien werden sich zusammengehalten haben, weil der Mensch
Beistand brauchte. Sie haben sich durch die Erziehung einander
unentbehrlich gemacht. Auf der Westküste von Amerika findet man
unter Felsen sowie in Kamtschatka Kolonien von Menschen. Sie waren
einander unentbehrlich in den unentbehrlichsten Bedürfnissen.
In Summa: die Menschen bedurften einander, trennten sich allein bei
der Vergrößerung.
/Von der andern Seite ist der Mensch auch wieder
das ungeselligste Tier. Denn sobald die Familie größer wurde, sich
erhalten konnte und der andern nicht mehr bedurfte, sonderte sie
sich ab. Dies war das Mittel der Vorsehung, die Völker
über die ganze Erde zu verbreiten. Dieses Absondern findet noch
bei den Indianern statt. Unter den Eskimos sucht oft ein Stamm den
andern auf 100 Meilen auf, um ihn totzuschlagen. Sieht ein Mensch
in der Wildnis einen andern, so erschrickt er vor ihm weit mehr
als vor einem Tiger oder sonst einem reißenden Tier. Vor dem Tier
kann er sich schützen, er weiß voraus, was er tun kann, aber vor
dem Menschen nicht. Denn er weiß nicht, was er im Schilde führt.
Man sieht dies auch bei kultivierten Staaten. Jeder rüstet ich im
Fall, daß es nötig wäre, zur Verteidigung, und täte er es nicht,
so würde man ihn gewiß angreifen. Obgleich Friede ist steht alles
in Kriegsrüstung. In der Natur liegt also Mißtrauen und Unge-
selligkeit.
/Der Mensch hat keinen ihm von der Natur gegebenen Instinkt zum Ge-
brauch desjenigen, was er äußerlich bedarf. Er kann nicht riechen,
ob etwas schädlich oder unschädlich in der Nahrung ist. Es muß
erst alles lernen. Nicht einmal den Instinkt zu schwimmen hat er
oder sich vor dem Wasser in acht zu nehmen. Das Kind läuft gewiß
hinein.
/|P_405
/ ≥ 3. Charakterisierung des Menschen als vernünftiges Wesen. ≤
/Die Natur hat ihm keine Kunsttriebe gegeben, sondern er muß
erzogen, d. h. gebildet und belehret, und nicht bloß auf-
gefüttert werde, denn dies muß jedes Tier. Den ersten Men-
schen sich zu denken, wie er hat sprechen, sich in alles fin-
den, auch erhalten können, geht über unsere Vernunft. Der
Mensch bedarf also Erziehung, d. h. 1. Unterweisung, 2. Dis-
ziplin, weil er, ob er gleich von Natur widerstrebend ist,
gesellig sein muß, wenigstens in seiner Familie, so muß
er dazu gezwungen werden. Disziplin ist Einschränkung des
eigenen Willen eines Geschöpfs unter gewisse Regeln, die
mit dem Zweck übereinstimmen. Ein Mensch ist gut diszipli-
niert worden, d. h. er hat oft die Rute bekommen, bis er das
geworden ist, was er nun nach den Regeln der Disziplin ist.
Aller Gesang der Singvögel ist kein Instinkt. Die Jungen müs-
sen von den Alten lernen. Die Vögel haben verschiedene Or-
ganlaute. Sie haben solche Töne unter sich zusammengesetzt,
die für ihre Organe am passendsten sind. Ein Vogel, der ei-
nen Gesang von der andern Gattung abgelernt hat, lernt den
von seiner Gattung nicht wieder. Dies zeigt, daß es nicht
angeboren ist.
/ Da der Mensch gewußt hat, den Hund zu erziehen, so
wurde er Herr darüber. Ebenso war es mit allen andern Tieren.
/ Der Mensch ist von der Natur gemacht, sich alles sel-
ber zu erfinden. Er soll sich seiner Geschicklichkeit alles
zu verdanken haben. Die Natur hat ihm dazu nichts
weiter als eine geschickte Hand gegeben. Die Hand ist son-
derbar dazu gemacht. In ihr liegt der künstlichste Bau. Das
zeigt an: er muß sie mannigfaltig gebrauchen, und dies
setzt Vernunft voraus. Das Individuum gelangt nicht voll-
ständig zur Erfüllung seiner Bestimmung, sondern die Spezies,
d. h. das Kind tut immer wieder etwas zur Vermehrung der Kennt-
nisse des Vaters. Der Mensch lernt anfänglich, dann lehrt
er es seinen Kindern, diese denken mehr hinzu und lehren es
wieder. Der Vorrat der Kenntnisse wächst und so geht es
auch mit den Arbeiten. Der Vater baut ein Haus. Das Kind tut
einen Stall dazu. Es sind also die Menschen zum Fortschrei-
ten durch Generationen bestimmt. Die Gattung erreicht nur
die menschliche Bestimmung.
/ Was ist die Bestimmung des Menschen? Das Existieren
macht noch keinen Zweck aus. Ist es zum Genuß oder zur
Kultur? Der Mensch hat nicht die Bestimmung zu genießen,
sondern nur Kultur, d. h. die größtmögliche Entwicklung der
Naturanlagen zu erreichen. Man kann wohl nicht mit Rousseau
annehmen, daß der Mensch hier nicht glücklich sein soll,
sondern im rohen Zustande bleiben wird. Der letzte Natur-
zweck ist Kultur. Dies muß die größte moralische Vollkom-
menheit bewirken, und Moralität der Sitten scheint der End-
zweck zu sein, das Ende aller Bestimmung. - Welches ist der
Zustand des Menschen, in dem er diese Bestimmung der höch-
sten Kultur erreichen kann? Dies ist der bürgerliche Zustand.
Der Mensch ist nicht nur für das Leben im Naturstande, sondern
für das im Zivilstande bestimmt, was wieder moralisch Sitt-
lichkeit zur Absicht hat. Rousseau hat diese Lehre vorzüg-
lich rege gemacht. Er sagt, der Mensch wäre zum Naturstan-
de geschaffen, weil in diesem weniger Keime zu mannigfalti-
gen Übeln, als in jenem wären, in dem es wohl Rohigkeit,
/|P_406
/aber nicht solche Laster wie im Zivilstande gäbe, wo sie
wenn auch hie und da eine Tugend ist, überwiegen. Dieses
ist aber gewiß falsch. Denn sonst hätte der Mensch nicht
nötig die Anlagen der Natur zu haben, die ihm doch eigen
sind. Die Vorsehung hat nur das Leben mühsam machen wollen,
so daß, wenn man schon einen Zweck erreicht hat, man einem
andern nachstrebt. Rousseau sagt sogar, die Natur habe uns
für Wälder gemacht. Der Zustand der Entwicklung, wenn der
rohe Mensch zur Sittlichkeit oder Kultur übergeht, ist der
schwerste und auch gefährlichste. Der Mensch ist bestimmt
zum Zustande der Kultur, und dies geht auf Grade, die man
nicht absehen kann. Eine Generation erlangt immer mehr Kul-
tur als die andere. Der Mensch z. B. sollte, wenn wir ihn
betrachten nach der sittlichen Bestimmung, sich niemals den
Genuß, auch nicht die Neigung zum Geschlecht erlauben, als
unter der sittlichen Bedingung der Ehe. Nach dem Naturstan-
de hat er schon im sechzehnten Jahr das Vermögen und den
Antrieb zu zeugen. Aber dies ist nicht genug. Er muß auch
Weib und Kinder ernähren können. Im Naturzustande ginge es
wohl an. Dies zeigen die warmen Länder. Weil mehr Aus-
übung der Kunst im gesitteten Zustande ist, so ist auch
viel mehr nötig zur Erhaltung des Hauswesens, und da ist
er im sechzehnten Jahre, vielleicht im zwanzigsten noch
Lehrling, noch ein Kind, wenn er schon als Naturmensch ein
Mann ist, d. h. einem Weibe beiwohnen kann. Jüngling kann
man denjenigen nennen, der wohl zeugen, aber nicht ernäh-
ren kann. Es ist also ein wunderbarer Widerspruch. Die
Zwischenzeit, als Naturmensch Mann und im bürgerlichen
Stand Mann, zwischen 16 und 24 oder 30 Jahren füllt der
Mensch mit Lastern aus. Diese Zwischenzeit zeichnet sich da-
durch aus, daß der Mensch sich Gewalt antun, d. h. seiner
Naturbestimmung Abbruch tun muß. Es scheint der Bestimmung
der Menschheit zuwidergehandelt zu sein. Etwas Unbegreif-
liches bleibt immer übrig. - Die Jahre, welche der Mensch
lebt, scheinen zu kurz zu sein für die Wissenschaften und
die Begierde zu lernen. Dies dient zum Einwurf gegen die
Kultur des Menschen, die doch bei größerer Lebenslänge
leichter gewesen wäre. Dieses gehört zur Bestimmung der Men-
schengattung aber nicht des Individuums.
/ Bengelhaft hieß vor 200 Jahren ein sechzehnjähriger
Mensch, soweit im guten Sinne, der wohl ein Weib nehmen,
aber es nicht ernähren konnte. Der Mensch hat Talente und
Anlagen in sich, die weiter gehen, als zum Naturerforder-
nisse nötig ist. Die ganze Lebensart eines Gelehrten oder
Künstlers ist dem Körper nicht gut. Denn Wissenschaft un-
aufhörlich mit Fleiß zu betreiben, erschöpft des Menschen
Lebenskraft.
/ Es ist die Natur des Menschen nichts angelegener,
als frei zu sein. Dies zeigt sich auch schon bei Tie-
ren. Den Verlust der Freiheit fühlt jederzeit der Mensch.
Freiheit bringt auch Kultur mit. Sie verliert bei jeder
Vereinigung der Menschen. Die Natur mit der Kultur harmonisch
zu machen, ist die schwerste Aufgabe. Rousseau hat immer
am tiefsten nachgedacht. Er hebt den Naturzustand
heraus und preist ihn ausnehmend: 1. in Ansehung des Le-
bensgenusses, 2. in Ansehung der Freiheit von den Übeln
des Lebens in der Kultur, 3. in Ansehung der Freiheit von
den Lastern in der Kultur. Er will, der Mensch soll zurück
/|P_407
/in den rohen Zustand, er soll die Wissenschaften fliehen,
indem er den Schaden derselben zeigt, daß sie auf Kennt-
nisse ihr Leben verwenden usw.. Etwas ist wohl wahr, denn
einigen Schaden haben die Wissenschaften wirklich getan,
aber - wie überwiegend bleibt der Nutzen! (vid.Terrasson).
Wenn Rousseau so spricht, so haben viele ihn nach den Wor-
ten verstanden. Aber er will nicht, daß wir zurückkehren,
sondern nur auf die Natur zurücksehen sollen, damit es nicht
bloß Kunst wird!
/ Es sind hier drei Schäden genannt, die von den Wissen-
schaften herrühren, worüber denn Rousseau besondere Werke
geschrieben:
/ 1. Emile oder über die Erziehung. Hier sagt er: a) nichts
verliert von der Natur, b) nichts von der Glückseligkeit, die
die Natur gewährt. In seinem
/ 2. Buch von der Ursache der Ungleichheit unter den
Menschen. Da spricht er: a) von dem Mein und Dein des Bodens und
endlich, wie die Gewalt entspringt: b) vom Unterschiede zwi-
schen Herr und Knecht, der so ganz der Natur zuwider ist.
/ 3. Der Sozialkontrakt. Der Stand der Natur kann heis-
sen Stand der Unschuld, weil keine Gewalttätigkeiten statt-
finden. Der Mensch ist nicht zum Genuß allein ge-
macht, sondern zur Kraftäußerung. Das Böse, was in seiner
Natur liegt, ist auch eine Triebfeder zum Guten. Weil das
Böse nicht bestehen darf, kann es dem Guten Platz machen.
/ Der Mensch hat zum Stachel der Tätigkeit: 1. Neigun-
gen, 2. eigene Übel, 3. anderer Übel.
/ Der Mensch ist für die Gesellschaft gemacht, wie die
Biene für den Bienenstock. Er hat keine Ruhe, bis er sich
mit dem andern auf irgend eine Art assoziiert.
/ Der bürgerliche Zustand besteht: 1. aus Freiheit, 2.
aus Gesetz, 3. aus Gewalt.
/ Soll die Freiheit gesichert sein, so wird Gesetz er-
fordert. Das Gesetz ist eine bloße Idee, die der Mensch be-
folgen kann, wenn er will. Also muß auch Gewalt damit ver-
bunden sein, daß er es befolgt.
/ Es gibt viererlei Verfassungen:
/ 1. Freiheit ohne Gesetz und ohne rechtmäßige Gewalt
ist der Zustand der Wildheit oder eine völlige Anarchie. -
Anarchie soll im Bürgerlichen etwas vorstellen, ist
aber nichts.
/ 2. Freiheit und Gesetz, aber ohne Gewalt, z. B. die pol-
nische Freiheit, sie wollen Freiheit durch Gesetze haben,
aber keine Gewalt.
/ 3. Gewalt ohne Gesetz und ohne Freiheit ist Tyrannei.
/ 4. Gesetz mit Gewalt, aber ohne Freiheit ist Despo-
tismus, z. B. in vollem Maße in der Türkei.
/ Die Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung beruht
darauf, wie Freiheit, Gesetz, Gewalt vereinigt werden können.
Dies ist die größte Aufgabe, die uns die Natur schon gegeben
hat. Wie dies Problem aufzulösen ist, daran hat bis jetzt
die ganze Menschheit gearbeitet, nicht allein Gelehrte, son-
dern auch die Völker selbst. Die ganze Völkergeschichte
ist anzusehen als eine Bestrebung eine vollkommene bürger-
liche Verfassung hervorzubringen. Aber dies ist nicht plan-
mäßig geschehen, gewiß auch aus weiser Absicht der Vor-
sehung. Die Menschen rücken fort in der Kultur, aber das
Wesentliche ist die Bestrebung nach vollkommener Verfassung,
und dies ist Kultur. Der Zustand, ehe sie unter Gesetze tre-
/|P_408
/ten, ist der Nomadenzustand oder der Zustand der banden-
losen Freiheit. Die Errichtung der bürgerlichen Verfassung
wäre die Realisierung des juris naturae. Das jus gentium
zu realisieren, müssen die Völker unter sich einen Bund
machen. Es ist zu hoffen die Realisierung des juris gentium,
d. h. es wird zu einem allgemeinen Völkerbunde, zu einem
ewigen Frieden kommen, wenn auch dieses noch in der Ferne ist.
Man kann die Geschichte ansehen als die Entwickelung aller
natürlichen Anlagen der Menschengeschlechter und die Fort-
rückung zu ihrer Bestimmung. Rücken wir vorwärts oder zu-
rück in der Kultur? Wir gehen zum Teil bisweilen zurück,
aber kommen doch im ganzen um einen Schritt weiter, so wie
der Nilstrom, der solche Wendungen und Krümmungen hat, daß
er zuweilen zurückzugehen scheint, aber doch endlich bis zu
seinem Ziele in die See kommt.
/ (Die Zeit des Aberglaubens in der Religion hat viel
für die Kunst getan. Man fände gewiß nicht die vortreff-
lichen Gemälde in Italien, auch nicht die Bildhauerkunst, die
damals aufs höchste gestiegen war, wenn nicht das Interesse
der Religion die Menschen zu dieser Kunst begeisterte, indem
sie alles durch Gemälde und Statuen vorzustellen suchten.
Und wäre das Christentum von jeher gleich rein und unver-
fälscht gewesen, so wären auch diese Werke der Kunst nie
gemacht worden.)
/ Keine Regierung muß versuchen den Untertan glücklich
zu machen. Er muß es selbst tun. Sie muß nur negativ dabei
verfahren, d. h. verhüten, daß keiner dem andern
etwas Böses tut.
/ Rousseau sagt: 1. die Erziehung muß negativ sein.
Auch dieses handelt er in seinem schon genannten Buche -
Emile - ab. 2. Gesetzgebung muß negativ und positiv sein.
3. Die Religionsunterweisung muß auch negativ sein.
/ Wir können auf zweierlei Art unmündig sein: 1. in einer
bürgerlichen Unmündigkeit, d. h. man weiß nicht die Gesetze
und wird danach gerichtet (ausgenommen die Furcht). Dies
setzt den Wert des Menschen herab. Die Menschen sind so un-
mündig geworden, daß sie, wenn sie auch frei würden, nicht
bestehen könnten.
/ Menschen können
/ 2. in einer frommen Unmündigkeit sein. Der größte Teil
muß der Schrift gehorchen, die er nicht einmal kennt, d. δ_Defekt
nicht so kennt, daß er sie hinlänglich versteht.
/ Die Bedingungen einer allgemeinen Verbesserung od δ_Defekt
eines vollkommenen bürgerlichen Zustandes sind:
/ 1. Bürgerliche Freiheit,
/ 2. Freiheit der Erziehung,
/ 3. Religionsfreiheit.
/δ_ENDE