/δ_Titelblatt
/ ≥ Die Ant<h>ropologie
/ nach
/ denen Vorleßungen des Herrn Professor Kant
/ gelesen
/ nach Baumgartens empirischer
/ Psychologie
/
/
/
/
/ zu Königsberg
/ in Preußen ≤
/

/δ_Rückseite_leer

|P_1

/ ≥ Anthropologie

/Es sind zweyerley Arten des Studierens zu unterscheiden. Man
studieret entweder vor die Schule oder vors Leben. Es giebt grübleri-
sche Wißenschaften, die gleichwohl dem Menschen Nichts nutzen, und es
gab ehemals Philosophen deren gantze Wißenschafft darin bestand,
einander an Wißenschaft zu übertrefen, die weiter nichts nutzten; sie
hießen Scholastici. Ihre Kunst war Weisheit für die Schule, man
konte aber keine Aufklärung vors gemeine Leben daraus machen.
Es könte einer ein großer Mann für die Schule seyn, ohne daß die Welt
Nutzen von seiner Kentniß haben könte. Eine 2te Art des Studierens ist,
da man sich nicht nur für die Zunftgenoßen der Schule ein Ansehn schaft,
sondern wo das Wißen sich über die Schule hinaus streckt, und wo
man die Kentniß zum allgemeinen Nutzen auszubreiten sucht. Dies ist
das Studium vor die Welt. Schulgerecht ist eine Wißenschaft, die
der Schule und der Professions Gerechtigkeit gemäß ist; dies ist eine
nicht zu verachtende Vollkommenheit. Denn erst müßen alle Wißen-
schaften Schulgerecht seyn, hernach können sie auch populair seyn,
um von bloßen Liebhabern adoptiret und genutzt zu werden.
Erst muß die Wißenschafft dem Studierenden vom Handwerck ein
Genüge thun, aus denen sehen wir, wie sie vom gemeinen Wesen
am besten gefaßet werden kann. Der, der in der Welt von
seiner Kentniß einen scholastischen Gebrauch macht, ist ein Pe«n»dant.
Er weiß seine Begrife nur mit den technischen Ausdrücken der
Schule zu bezeichnen, und redet nur durch gelehrte Canones. Er macht
einen Gebrauch der Welt von einer blos schola«s»stischen Erkentniß,
und die Welt muß von unsern Kentnißen nur einen populairen
Gebrauch machen, damit auch andere Menschen, und nicht blos Gelehrte
von Profession uns verstehen. Man lacht, wenn Pe«n»danten ihre
Kentniße so ungeschickt anbringen, daß sie in der Welt von
ihren Kentnißen einen scholastischen Gebrauch machen. Denn man
lacht über nichts mehr, als über das unschikliche, wenn einer kein

|P_2

/judicium discreti{_m_→_v_}um zeigt, und nicht sieht, was sich vor die Um-
stände schickt. Daher giebt der Pe«n»dant, der sonst ein verdienstlicher
Mann seyn mag, oft Gelegenheit zum lachen. Es ist also nothwendig, daß
wir von unsern auf Universitäten erworbenen Kentnißen einen
populairen Gebrauch machen lernen, damit wir im Umgange mit Menschen
wißen, wie wir Menschen bilden, oder uns selbst bey ihnen beliebt machen
wollen. Wir sollen nicht mit der Schule, sondern mit der Welt zu thun haben,
und müßen also die Welt studieren. Ein Mensch hat wenig Welt, wenn
er wenig weiß, das er an den Mann bringen kann. Ein Mensch kan auf
der andern Seite sehr gelehrt seyn; aber da er nicht Weltkentniß hat:
so kann er davon keinen vortheilhaften Gebrauch machen, und seinen und
des gemeinen Wesens Nutzen dadurch befördern. Weltkentniß heist
fast auch Kentniß der Natur, aber daß ist nicht die Bedeutung in der
populairen Sprache; da heists blos Menschenkentniß. Der Mensch hat
Welt, heißt: er kent die Menschen in allerley Ständen. Weltkentniß
im %gewöhnlichen Verstande heißt falsch die Kentniß des Menschen. Die Franzosen
sagen der Mensch hat Welt. D.i. er hat Kentniße, die nicht blos in specu-
lation bestehen, sondern, die er wohl an den Mann zu bringen weiß. Wir
bedürfen der Beihülfe der Menschen zur Herrschaft über die anderen
Dinge, deshalb nent man $kat$ $exochen$ die Weltkentniß Kentniß des Men-
schen. Was werden wir thun, um die Welt kennen zu lernen. Um sie zu
kennen, geht einer auf Reißen, ein ander geht nur auf seine Famielien
Umgänge heraus, und erwirbt seinen Umgang bis zu dem theil der mensch-
lichen Gesellschaft, die am meisten cultiviret ist, d.i. zum vornehmen Theil.
Wer anfänglich nur mit seiner Familie, mit seinen Mitgenoßen auf der
Schule umgieng, der geht denn zu verfeinerten Leuten von hohen Stande. Die
Übung und Erfahrung giebt uns also die beste Schule, und Menschen kennen zu
lernen, aber es reicht nicht allein zu, unsre Weltkentniß zu vollenden, und
sie pracktisch zu machen. Ohne daß man unter den Menschen reflectiren
lernt, wird man durch den Umgang nicht viel gelehrt werden. Dahero muß
man den Menschen, zum voraus auf die reflection bringen, worauf er

/ beym

|P_3

/Menschen Acht zu geben hat. Man muß ihm die Grundideen geben, wor-
nach er sich Menschenkentniß erwerben soll. Ohne instruirt zu seyn, kan
man mit Menschen lange umgehen, ohne an ihnen etwas gewahr zu werden.
Hat man uns aber die Hauptmomente angezeiget, worauf wir zu achten
haben: so wißen wir, worauf wir mercken müßen. Zur Kentniß der Men-
schen gehöret also eine vollständige Belehrung von mannigfaltigen charackte-
ristischen am Menschen. Diese sind von großer Wichtigkeit, und müßen allemahl
bey der Kentniß des Menschen voraus gehen, und denn durch unsere eigene
Erfahrung erweitert werden. Mit dieser Belehrung ausgerüstet, kan man
in kurtzer Zeit mehr lernen, als ein anderer in seinem gantzen Leben:
denn da sie einmahl zum Grunde liegt, wirds einem leicht, sie zu erweitern,
und man hat dadurch auch mehr Vergnügen in seinem Umgange, weil der
gröste Theil des Vergnügens überhaupt in der Reflection bestehet. Oft
kan ein übler Ton, wie eine tödliche Langeweile vorkommen; ein denckender
Kopf aber findet bey solchen Ungeselligkeiten immer Stof zu seiner reflection,
dabey lernt er, und hat seine Zeit nicht unangenehm zugebracht. Diese
praeliminair Kentniße werden dazu nöthig seyn, um in der Menschenkent-
niß fortzukommen. Es giebt 3. Arten von Lehren, die alle zu unserer
Vollkommenheit beytragen. Die eine Art macht uns geschickt die 2te klug
die 3te weise. Zum geschickt werden dienen alle disciplinen der Schule.
So lernt man z.B. Geschichte, um geschickt zu werden in Ansehung der Dinge
der Erfahrung. Wenn wir einen Schritt in die Welt thun wollen, müßen wir
lernen, wie wir klug werden sollen. Die letzte Stufe die Weisheit, ist die
gröste Vollkommenheit, wird aber selten erreicht. Das geschickteste ist das the-
oretische der Schule, aber die Anweisung, die uns klug macht, ist die Anwei-
sung zum pracktischen, wie wir von unserer Geschiklichkeit Gebrauch machen
sollen. Die Geschicklichkeit ist auf die Sachen, die Klugheit aber auf Menschen
gerichtet. Der Uhrmacher ist geschickt, wenn er eine accurate Uhr macht;
wenn er sie aber geschwinde an den Mann zu bringen weis, indem er sie gut
nach der Mode macht, so ist er klug. Wenn wir uns aber einen Einfluß
auf Menschen erwerben können: so haben wir auch einen Einfluß auf Sachen;
denn Menschen Hände bringen alles aus der rohen Natur hervor. Die Klugheit

/ braucht

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/braucht man also in der Erkentniß der Menschen, nachdem wir vermögend sind,
sie nach unsern Absichten zu lencken. Die Kentniß des Menschen ist 2fach: die
speculative Kentniß des Menschen macht klug; sie ist eine Kentniß von der Art,
wie ein Mensch auf den andern Einfluß haben kan, ihn nach seiner Absicht so
bewegen. Eine jede pracktische Kentniß, so fern sie dazu dient, unsere gesamte
Absichten zu erfüllen, nent man pragmatisch, also eine jede Lehre der Klugheit
ist pragmatisch (eine jede Lehre der Weisheit ist moralisch.) Eine Geschichte
ist pragmatisch, so fern sie uns klug macht, in publiquen Affairen gebraucht
zu werden, wenn wir nicht blos die theorie der Geschichte; sondern sie als ein
principium der Klugheit lernen.

/Die Kentniß des Menschen nennen wir mit einem allgemeinen Nahmen Antropo-
logie Dies Wort kan im scholastischen und pragmatischen Verstande genommen
werden. Wir tractiren hier die pragmatische Anthropologie als ein organon
der Klugheit. Sie soll also unsere Klugheit befördern, auf Menschen, unsern
Absichten gemäß, Einfluß zu haben. Nach diesem Plan existiret keine Antropologie,
und wird auf keiner andern Universität gelesen. Plattner hat eine scholastische
Antropologie geschrieben. Wir haben aber weiter nichts zur Absicht, als aus
dem mannigfaltigen, was wir bey dem Menschen wahrnehmen Regeln zu ziehen.
Denn so unerhört verschieden die menschlichen capricen zu seyn scheinen: so ist
gleichwohl hier unter den Menschen mehrere Regelmäßigkeit, als man dencken
sollte. Dies Spiel um die menschlichen Handlungen, werden wir unter «die» Re-
geln zu bringen suchen. Jeder Mensch ist über eine Regel erfreut. z.B. Scharz,
ein engländischer Medikus sagt irgend wo: in England sind alle Leute grob, nur
nicht die Gastwirthe. in Franckreich sind alle Leute fein, nur nicht die Gastwirte.
Diese Regel gefällt, ob sie gleich durchgängig nicht Grund haben mag.

/Von den Regeln in unserer Anthropologie werden wir keine andern Ursachen
angeben, als die von einem jeden können beobachtet werden, ohne die Theorie
derselben complet zu machen. Wir werden denn die Regeln zu den mannigfal-
tigen Erfindungen, die wir bey den Menschen gewahr werden aufsuchen,
ohne nach ihren Ursachen zu fragen. Die schlastische Anthrologie aber redet
von den allgemeinen Regeln und Ursachen; so bald wir also die Ursachen
der Regeln nachforschen, kommen wir ins schlastische. Unsre Anthropologie
kan von jedermann selbst von der Dame bey der toilette gelesen werden,

/ weil

|P_5

/weil es viel unterhaltendes hat, wenn man allenthalben Regeln findet, die
einem Auskunft geben, und wo man bey schon bewiesener Ordnung nur einen
Leitfaden findet

/Welches werden die Quellen der Anthropologie seyn? Wann die Triebfedern
des Menschen in action sind, so beobachtet er sich nicht z.B. wenn er in Affect ist (also fin-
det sich hier das beschwerliche, daß er beym Spiele seiner Triebfedern sich nicht beobachten
kan. Wen er sich aber beobachtet, so r{_ühr_→_uh_}en die Triebfedern; und er hat folglich also nichts
zu beobachten. Es ist also schwer das Gemüthe des Menschen zu beobachten; wenn seine
Triebfedern im Spiel sind; so ist es gar nicht möglich. Diese Schwierigkeit wird dadurch
verringert, daß man anfängt andere zu beobachten, weil man dabey sehr ruhig seyn kan,
und von Zeit zu Zeit kan er diese reflectionen auf sich anwenden; den da er schon im
Besitze gewißer Kentniße ist, so kan er sich, wenn sein Gemüthe in Action ist, selbst den-
noch beobachten. Der Umgang also mit vielen Ständen; und kultivirten Menschen
ist ein sehr großer Quell der Anthropologie. Bey rohen Menschen ist die gantze Menschheit
noch nicht entwickelt, weil sie nicht Gelegenheit haben alle Eigenschaften derselben zu entwickeln.
Gehe ich aber zum geschickten Theil der Menschen, so finde ich doch Schwierigkeiten, daß je civi-
lisirter der Mensch ist, destomehr verstellt er sich, und desto weniger will er von den an-
dern erforscht seyn. Der Hoffmann will nicht studiret seyn, um diese Kunst zu verhelen,
wächst er mit dem Wachsthum der Cultur, wo man sich nicht blos dissimuliret, sondern gar
simuliret, und das Gegentheil von sich zeigt. Wir müßen also den Menschen beobachten,
so daß wir uns gar nicht das Ansehen eines Beobachters geben, und müßen uns also
auch verstellen. Man muß sich stellen, als wenn man gantz ohne Behutsamkeit spräche,
und dobey doch gut auf alles aufpaßen, was andere sprechen. Demnach ists doch immer
schwer, Menschen kennen zu lernen, indem man ihre Handlungen beobachtet, weil
daß ein civilisirter Beobachter erfodert -. Ein ander Quell der Anthropologie
ist die Geschichte; aber doch muß vorher eine Anthropologie dabey seyn, denn wenn
ich nicht weiß, worauf ich Acht zu geben habe; so werde ich durch die pure Erzäh-
lung nicht wißen, was ich zu bemerken habe.

/Können Romanen und Comoedien z. B. Schakespeers Wercke, anthropologische
Kentzeichen abgeben? Das Theater und die Romanen übertreiben noch immer daß,
was sonst wohl eine Eigenschaft des Menschen seyn möchte. Der Verfaßer legt
zwar wichtige Beobachtungen zum Grunde, aber er hat caricaturen, d.i. übertrie-
benes charakteri{_sche_→_stische_}. Im Gegentheil wird also die Anthropologie die Comoedien
und Romanen beurtheilen, ob sie mit der Menschheit überein kommen. Es giebt
freilich einige Menschen, die ihre Kentniß von Menschen gleichpaßend in Comoedien

/ anzubringen

|P_6

/anzubringen wißen, aber derer sind nur wenige, und nicht alle von so durchdrin-
genden Verstande. Alle Moral erfordert Kentniß des Menschen, damit wir ihnen
nicht blos Ermahnungen vorschwatzen; sondern daß wir sie so zu lencken wißen,
daß sie anfangen moralische Gesetze hoch zu schätzen, und zu ihren Grundsätzen
zu machen. Ich muß wißen, welche Zugänge ich zu den menschlichen Gesinnungen
haben kan, um Entschließungen hervor zu bringen, dazu kan uns die Kentniß
des Menschen Gelegenheit geben, daß der Erzieher, der Prediger nicht bloße
Schluchzen und Thränen; sondern wahrhafte Entschließungen hervorbringen.

/Sie ist bey der Politick unentbehrlich. Um Menschen regieren zu können, muß
man Menschen k«ö»ennen. Ohne Menschen Kentniß, kan der Regent eine solche
Menge von Ständen nicht lencken. Es wiederstreitet ihm alles, und er kan
sie nicht nach seinen Willen lencken. Ein großer Nutzen der Anthropologie
ist im Umgange, daß sie uns zu demselben geschickt macht, und auch einen sehr
schönen Stoff zur Unterhaltung giebt. Den manche Materien sind nicht für
die Gesellschafft; das Frauenzimmer fragt nichts nach Staats Sachen; doch
wollen sie unterhalten seyn, und da findet man denn, daß gewiße Be-
obachtungen über die Menschen gefallen, weil ein jeder Mensch über
sich dieselben anstellen kan. Da dies Studium also sehr interessiret,
und so wichtig ist, so kan es mit Recht sehr hoch geschätzt werden.

/Sehr viele Autores sagen es sey schwer, sich selbst zu erkennen. Wenn
ich mich selbst soll erkennen lernen in Vergleichung mit andern Menschen, und
die Frage ist ob ich mich beßer als andere Menschen kenne, so ists ofenbahr,
daß jeder Mensch sich selbst am besten muß kennen können. Denn da er den
Grund seiner Gedancken, und alle seine Triebfedern aufsuchen kan, und es
in Ansehung seiner eigenen Kentniß kein verstellen oder verhehlen geben
kan: so weiß ich nicht we«m»n ich beßer als mich selbst kennen soll? Aber wenn
es so viel heißt: erkenne den Menschen überhaupt: so ist die Erkentniß des
Menschen freylich schwer, denn wenn ich den Menschen erkennen will, so kann
ich ihn mit nichts als nur mit <%Menschen> Vergleich. Wenn ich mich selbst kennen soll, nach
dem, was ich von andern verschiedenes habe: so k«en»ann ich mich «mit»nichts ander«n»s
vergleichen, und also genau erkennen. Aber, wenn ich frage, was ist der
Mensch? so kan ich ihn mit den Thieren nicht vergleichen, weil daß kein
Vorzug für ihn ist, kein Thier zu seyn, und andere vernünftige Wesen
kennen wir nicht. Die Kentniß des Menschen ist<2.> also<3.> überhaupt<1.> schwer

|P_7

/die abgesonderte Kentniß eines Menschen ist schon leichter, und am leichtesten ist
die Selbstkentniß, den mich selbst kan ich mir nicht verhehlen, und folglich fallen
alle die Decken weg, die uns andere Menschen vorhängen

/Da es kein anderes Buch «ist» über die Anthropologie giebt, so werden wir Baumgar-
tens metafysische Psychologie, eines Mannes, der sehr reich in der Materie, und
sehr kurtz in der Ausführung war, zum Leitfaden wählen.

/ ≥ Vom Bewustseyn seiner selbst.

/Das Ich enthält das, was den Menschen von allen anderen Thieren unterscheidet.
Wenn mein Pferd den Gedanken ich faßen könte, so würde ich heruntersteigen, und
es als einen Gesellschaffter betrachten müßen. Denn das Ich macht den Menschen zur
Person. Dieser Gedancke giebt dem Menschen das Vermögen über alles, und macht ihn
zu seinem eigenen Gegenstande der reflection. Dies Ich begleitet alle unsere Ge-
dancken und Handlungen, und macht unsere Theilnehmung aus. Einem jeden Men-
schen an sich selbst, ist am meisten gelegen, er schätzt sich über alles - der ist ein
Egoist der sein eigenes selbst immer hervorragend machen will, und zum Hauptge-
genstande der Aufmercksamkeit und andere zu machen sucht. Ein moralischer Egoist,{_ist_}
der sich seinen Vortheil aus Vorzüge so verblenden läßt, daß er andere darüber
geringschätzt. Ein Egoist im Umgange ist, der bey allen Gelegenheiten Anlaß nimt,
von sich selbst zu reden, und nur mit seinem ich da ist. Dies ist ein Mangel der
Conduite, den durch den Umgang werden wir inne, daß die Menschen ihr ich immer
wollen lautbar werden laßen, wenn dies aber einmahl einriße, so würde der
discours keinen Zusammenhang haben, deshalb sehen wir uns genöthiget, diese Neigung
der Selbstliebe zu mäßigen und zu verhehlen, und unsere Selbsucht zu bändigen,
daß unser Vorurtheil für unser ich nicht hervorleuchte. Wir werden also lieber
Gelegenheit geben, daß andere Menschen Anlaß nehmen, auf uns Acht zu «h»geben, und
von uns zu reden. Der Egoist des Umgangs ist ungezogen, je feiner der Mensch
ist, desto mehr Nahrung giebt er dem Egois{_¿¿¿_→_m¿¿_} des anderen, Helvetius sagt deshalb:
wer in der Gesellschafft klug seyn will, muß andern Menschen Gelegenheit geben,
ihre Klugheit zu beweisen, und ihnen dazu etwas tourniren. Den jeder ist zufrie
den über die Gelegenheit, die er hat, sich auf einer vortheilhaften Seite zu zeigen.
Wir profitiren denn dabey, daß anderer Eigenliebe zu uns eine Neigung gewint,
und sich von uns einen vortreflichen Begrif macht. Das ich ist der stärckste Ge-
dancke, den der Mensch faßen kan: Sein eigner Nahme weckt den Menschen aus
den grösten Zerstreuungen. In einem Zimmer wo das gröste Geräusch ist, @heng\hang@
ich meinem Gedancken nach, spricht aber jemand meinen Nahmen nur leise aus;

/ so höre

|P_8

/so höre ich gleich. Soll man auch einen Menschen aus dem Schlafe am leichtesten
erwecken können, indem man ihm beym Nahmen ruft

/Die Kinder in den ersten Jahren und Zeiten können noch nicht per ich reden; sondern reden
nur von sich in der dritten Person. z.B. Wilhelm will eßen, schlafen p, weil man ihm mit
den Nahmen benant hat, so meint er daß dis das Unterscheidungs_Zeichen von ihm ist,
indem er noch nicht selbst über sich zu reflectiren gelernt hat. Dies komt nur den, wenn
die Sprache und Begriffe zu wachsen anfangen.

/De_la_Montagne hat essais oder Versuche geschrieben, die dies besonders haben, daß sie im
einem leichten Stil geschrieben, und sehr viele Materien in sich halten; worinnen reflectiones
über viel tausend Gegenstände nicht systematisch, sondern wild zerstreuet sind, die
{_auf_} allerley Beobachtungen führen. Er ist der Lieblings Autor in Franckreich, und wirds auch
wohl bleiben. Man wirft ihm vor daß er einen uns ausstehlichen Egoibmus begehe, und
auf jeder Seite von sich selber rede. Pasqual der ihn nach aller Strenge der Moral ver-
damt hat aber doch nicht hindern können, daß jedermand einen Wohlgefallen an diesem
Egoibmus findet; die Ursache ist er redet von sich selbst, um den Menschen zu studiren,
er will das charakterische von sich zeigen, damit Menschen hernach das Ehrliche bey sich
examiniren, und daß die Freymüthigkeit womit er was thut angenehm macht. An-
dere hörens gerne, wenn einer von seinem Urtheil spricht. Aber man darf nicht
dencken, daß die Menschen bey Wahrnehmung der Fehler an andern, aus Haß oder
Neid erfreuet sind, weil sie dadurch in Absicht ihrer Fehler getröstet werden.

/Wenn 2 zusammen zächen: so können sie nicht leiden, daß ein dritter seine Ver-
nunft beybehält. Eben so wird der, der seine Thorheiten erzählt, gelitten, weil
andere alsdenn sehen, daß ihre Thorheiten auch bey ihm sind.

/Das eigentlich ich im speculativen Verstande nennen wir unsere Seele, im po-
pulairen Verstande aber ists der Mensch, ohne Seele und Körper zu unterscheiden.
Das Wort Seele komt auch im gemeinen Leben vor, und da bedeuts das innere
unsers Lebens. Man sagt der Mensch ist Seelenlos, wenn er nicht Empfindung
und Theilnehmung fürs Schöne hat: ein Gedicht ist seelenlos, daß uns nicht bele-
bet: der Mensch ist Seelen vergnügt. d.h innerlich vergnügt. Der Ausdruck, es
ist eine Seele von Menschen, ist ein recht deutscher Ausdruck, und soll das unschäd-
liche, gefällige und beliebte am Menschen ausdrücken. Die Seele in den Lücke
und Canone sind die inwendige Theile derselben. Bey der Seele bemercken wir noch
den Ausdruck, Gemüth. Gemüth scheint die Sinne der Empfindungen auszudrücken,
vorzüglich beym Schmertz, wenn man ihn innigst «in» seiner Empfindung einverleibt.
Unser Bewustseyn, ist 2fach ein Bewustseyn unser selbst und anderer Gegenstände.
Wir können uns unsers eigenen Subjects bewust seyn, und 2tens der Dinge,
womit wir uns beschäftigen. Der erste verändert unsere Kräfte sehr, fällt uns

/ beschwerlich

|P_9

/beschwerlich, und hat wenig unterhaltendes. Je mehr wir aber außer uns
sind, und uns mit Gegenständen beschäftigen, desto mehr schonen wir unsere
Seelenkraft. Es giebt Aufpaßer auf sich selbst die sich selbst beschauen, und
immer Aufsicht haben. Dies sind Schwärmer, und hypochondristen, die blos
ihre Aufmerksamkeit auf den Zustand ihres Gemüthes, auf den Wechsel ihrer
Aufmerksamkeit und Reden richten. Der Weltmann hingegen ist immer
außer sich, und hat blos auf die Dinge außer sich Acht -. Die Erfahrung
zeigt, daß je mehr der Mensch auf sich und seinen Zustand Acht hat, desto-
mehr verschlimmert er ihn. Je mehr einer auf seine Kranckheit Acht hat,
desto kräncker wird er. Sich selbst zum Gegenstande seiner Gedancken machen,
kan zwar bisweilen nach Intervallen geschehen, muß aber kein habitueller
Hang, weil es mit Anstrengung verbunden die erschöpfenste Bemühung unsers
Denckungs_Vermögens ist. Wenn wir handeln so sind wir außer uns, und betrachten
uns nicht selbst. Die Seele die Quelle des Denkens wird am meisten durch unsere
Aufmercksamkeit auf uns selbst angegriffen, und unsere Lebens{_art_→_kraft_} gewint
so bald wir sie von der Aufmerksamkeit auf uns selbst abrufen, weil den
die Eindrücke nicht so tief eindringen, indem jeder Bemerckung an mir selbst
mich weit heftiger afficiren, erfreuen und unterdrücken kan. Wir haben also
gar zu viele Intereßen, und isoliren uns zu sehr: das bringt uns dan in {_einen_}
leeren Raum, und verursachet uns Bangigkeit - die Regel also ist diese -
beym Studiren muß man sich immer mit Gegenständen, und bey Erholung
immer mit Dingen außer uns beschäftigen, dabey gewint das Gemüthe
Kräfte, und das Principium des Lebens stärckt sich. In moralischen Sachen
ist es freilich bisweilen gut, {_Aufsicht_→_Auf sich Acht_} zu haben, aber die Achtsamkeit muß mit
intervallen geschehen. Eremiten, die sich mit Beobachtung Gottes, und ihrer selbst
abgaben, wurden zuerst Heilige und zuletzt Narren. Viele Menschen haben
sich hypondrisch gedacht, dadurch daß sie auf sich selbst Acht gegeben haben.
Finden sich Umstände wo es nöthig ist auf uns Acht zu geben: so müßen wir
so viel als möglich suchen, dieser Aufmerksamkeit auf uns nicht {_an_→_nach_}zuhängen.
Es ist aber besonders wie die Gemüthskraft durch Beobachtungen der Gegen-
stände gewinnet, und wie sie so schwach wird, wenn sie auf sich allein Achtung
giebt. Lavater hat ein Tagebuch geschrieben, {_wenn_→_worinnen_} er Beobachtungen
über sich selbst angestellt hat, ein Mann von vieler Schwärmerey, der Dinge
hervorbringt, die mit der Vernunft gar nicht zusammen hangen, und

/ den

|P_10

/den meisten Schaden hat er sich wohl durch dies Tagebuch gethan, warum gehen
die Menschen in Gesellschafft? «und» Pasqual sagt: um sich ihres selbst vergeßen
zu machen, dies ist ein hypochondrischer Grund, nein; weil es dem Menschen ge-
sund ist, und seiner Lebenskraft gemäß sich mit Dingen außer sich zu beschäftigen,
denn alle Aufpaßer auf sich selbst {_gerathen_} in die finsterste hypochondrie. Wenn ein
Mensch sich erhohlen will, so kan dies geschehen, in dem er entweder gar nichts denckt,
oder wenn er Dinge denckt, die bald mit andern wechseln, und wo einerley Ge-
Gegenstand ihn nicht {_lange_} beschäftigt. Ein Gelehrter kan sich erhohlen, wenn er ein ander
Buch liest, als er eben gelesen hat, oder er geht in Gesellschaft, oder er bleibt
in Gedanckenloßigkeit; alles dieses sind Erholungen. Dagegen ists eine Er
schöpfung des Gemüths, wenn der Mensch auf sich selbst fixirt ist. Es muß dieses
dem Gemüthe gewis sehr schwer werden, und es ist kaum zu begreifen, wie
{_ein_}er seine Aufmerksamkeit so starck zusammen nehmen kan. Solche Schwärmerey
hat gemeiniglich nichts, als andächtige Nichtsthuerey zum Grunde, den es ist
ja einerley, ob ich die Zeit mit Aufmerksamkeit auf mich selbst, oder mit
gleichgültigen Dingen zubringe.

/Wir können uns nicht selbst genung kennen, in Ansehung der Art unsers äußeren
{_@Um@_→_An_}standes {_darüber_} müßen andere urtheilen, aber wie wir gesint sind, und unsere
Gebrechen {_%und_} Fehler müßen wir beßer als andere beurtheilen können. Es ist daher
gar keine gute Forderung von einem Freund, wenn man verlangt daß er uns
unsere Fehler sagen soll. Wenn er uns äußerliche Fehler, in Ansehung unseres
Ganges{_ stumpf_→_, Stimme_} saget, so wird er uns einen Gefallen thun, soll er uns aber unsere
innere Fehler vorrücken, die wir beßer wißen können als andere, so sind
das Warnungen die man auch von dem besten Freunde nicht verlangen soll, den
ich verlange daß andere überhaupt sich nicht damit beschäftigen sollen, über mich
zu reflectiren. Man bedient sich vieler Regeln in Sprüchwörtern, und betrachtet
sie als gute Regeln, da sie doch auf keine Weise stich halten. So will z.B. einer
daß ein Freund ihm sage, was von ihm nachtheiliges geurtheilet ist, dies ist aber
{_nicht_} gut, denn ein Mensch würde ruhiger seyn, wenn er das nachtheilige was von
ihm geurtheilt wurde nicht wüste. Der Mensch thut ihn also einen schlechten Dienst
denn 1tens macht er ihm Unruhe, und 2tens verschaft es ihm Groll gegen den
Menschen, mit dem er wie mit Freunden umgegangen seyn würde. Es
giebt wie gesagt Fehler, die in den äußern Moden bestehen, die ein anderer
beßer beurtheilen kan, als wir selbst. Die Fehler aber die den Charakter be-
treffen, laßen wir uns ungerne sagen, den gemeiniglich haben die Menschen
Fehler, die tief in ihrem Temperament eingewurtzelt sind, und

/ dahero

|P_11

/dahero ists ihnen unangenehm, wenn andere sie darauf aufmerksam machen,
und sie mögen es nicht gerne, daß andere darauf Acht zu haben scheinen, und ihm
dieselbe sagen. Denn es sind Schwächen der Natur, die uns nicht unbekandt sind, da
brauchen wir also nicht andere Erkentniße um uns kennen zu lernen, weil ein
jeder Mensch sich gewis beßer, als ein anderer kennen kan.

/Müßen wir uns {_damit_} beschäftigen, die Gedancken auf uns selbst zu richten, und uns
selbst zum Gegenstande unsrer Gedancken machen? Es kan seyn daß einer auf
sich selbst Acht hat, um zu speculiren, und den Menschen überhaupt zu studieren,
wie die thun, die die Natur des Menschen untersuchen. Dies Beobachten der Trieb-
federn der %menschlichen Handlungen ist ein ruhiges studiren, wo wir gleichsam mit unsern
eigenen Gedancken spielen, um daraus zu sehen, welches Spiel die Natur mit den
innern Anlagen der Menschen vornimmt. Aber sich selbst immer {_aufzuziehen_→_auszuspähen_} und
unabläßig bey allen Schritten sich zu beobachten, ohne daß diese Beobachtung
im Gebrauch nützlich wäre, erschöpft die Seelenkraft, und bringt Verwirrung her-
vor.

/Hypochondrische Leute sind diejenigen die sich selbst beobachten, auf die geringste
Bewegung ihrer Gedancken, und auf die gemeinsten Anwandlungen unsers Kör-
pers mercken; deshalb sie auch jede Kranckheit wovon sie in Büchern lesen,
selbst zu haben glauben. Schwärmer in der Religion sind auch solche Beobachter
ihrer selbst, da doch kein Gedancken erschöpfender ist als der sich selbst aufspäht
und erforschet. So h{_at_→_ält_} z.B. Lavater seine Gedancken in seinem Tagebuche über
sich selbst mehr für Eingebungen als Belehrungen des Verstandes. Überhaupt
findet der Mensch sich gestärckt, wenn er sich mit Sachen beschäftiget, und
geschwächt, wenn er sich mit sich selbst abgiebt. Es ist gesund sich mit Dingen
außer sich, etwa in einem discours, zu beschäftigen, ohne sich selbst aufsuchen
zu dörfen, wo man immer einen leeren Raum findet, indem man fantasie-
ret und herumschwärmt. Es ist demnach wichtig darauf zu sehen, weil junge
Leute immer gerne alle ihre Anwandelungen beobachten mögen, welches
die Gemüths_Kräfte überspant. Wir aber exerciren unsere Kräfte, wenn wir
uns objecte machen, es mag seyn, daß ich mechanisch arbeite, oder mit anderen
Menschen in disput versetze, indem ich mit Menschen Umgang suche. Dan haben
wir immer die Urtheile anderer Menschen vor, und müßen immer beschäftiget seyn
ihnen zu satisfaciren, welches uns von uns selbst abzieht, und die Lange Weile ist wohl
nichts anders als eine Leere wo man durch keinen Gegenstand von sich selbst abgezo-
gen wird. Denn wenn der Mensch mit nichts occupiret ist, so fällt er auf sich selbst
zurücke, und nagt an sich selbst. Gesellschaft, Jagd wo Menschen sich Mühe geben,
ohne einen rechten Zweck zu haben (denn der Haase ist nicht der Mühe werth, die
man sich giebt ihn zu schießen) scheinen nichts zur Absicht zu haben, als sich
von sich selbst abzuziehen. Eben so ist der Mensch der da studieret mit Sachen beschäftiget
Schwärmer aber und dergleichen Personen, verfallen auf solches grübeln ihrer
selbst und thun ihrem Gemüthe großen Schaden.

/ Es

|P_12

/Es giebt noch eine Art des Selbstbewustseyns; die uns in Gesellschaften überfällt, und
unsern gesellschaftlichen Eigenschaften Schaden thut. Wenn jemand die Aufmerck-
samkeit auf sich selbst richtet, in Ansehung des Anstandes, den er äußerlich gegen
andere haben mag: so ist er entweder genirt {_und_→_oder_} affectirt. Wer sich selbst
in Ansehung seines Anstandes beobachtet, und dabey verlegen {_ist_}, indem er nicht
glaubt in gutem Anstande zu erscheinen, ist genirt. Wer aber glaubt in einem
vortreflichen Anstande zu erscheinen ist affectirt. Alle beyde beobachten sich
in der Gesellschaft selbst, außer daß der eine nicht in gehörigen Anstande
zu erscheinen besorgt ist, d.i genirt, {_ist_} und daß der andere ver{_bleibt_→_liebt_} in sich
selbst ist. Das air degagé in Gesellschafft zeiget an, daß man auf sich selbst
gar nicht acht gebe, sondern so viel Zutrauen zu sich habe daß man glaubt
sich dehmongeachtet {_beurtheilen_→_beobachten_} zu können, übrigens aber auch nicht in sich vernarrt
ist, und Pantominen macht um sehr zu gefallen. Die Vollkommenheit des äußern An-
standes ist also, wenn der Mensch nicht «zeigt» scheint sich selbst zu beobachten, und
sich doch {_so_} zeigt, daß er gefällt. Wer diese Kunst durch die Übung inne hat
bey dem fällt das genirte und affectirte Wesen, daß von einem schlechten oder zu
vitalen Achtsamkeit von sich selbst entsprungen mag weg. Man muß dahero häufig
solche Gesellschaften frequentiren, wo man sich einigen Zwang anthun muß, vorzüg-
lich mit Frauenzimmer die man hochachten muß. Dies macht einen Gegenstand zur
Gewohnheit, nicht genirt zu seyn, noch auf eine Affenmäßige Weiße in sich selbst
verliebt zu seyn, indem man auf die Wahl seiner Worte, @Stimmen@, Kleider p. sieht.
Den die Menschen vergeben es uns nie, wenn sie sehen, daß wir anstatt mit ihnen occu-
pirt zu seyn, uns mit uns selbst abgeben, denn sie glauben daß wir dazu da sind,
uns mit ihnen abzugeben. Hier also ists nicht so leicht, die Aufmerksamkeit von sich
selbst abzuziehn, und die Kunst der Leichtigkeit im Umgange zu zeigen.

/Die Naivetaet ist ein Betragen wo man nicht Acht darauf hat, von anderen beurthei-
let zu werden. Den Ausdruck naiv hat noch niemand so recht erklären können, und
er gehöret unter die Ideen, deren Begriffe wir zwar haben, aber nicht auseinander
setzen können. Naiv schreibt ein Mensch, wenn er vernünftig schreibt, aber so daß
es scheint, er habe gar nicht drauf Acht, wie er werde beurtheilet werden, sondern
nur daß er sich selbst satis«¿¿»facire.

/Wer noch nicht in Ansehung der Urtheile anderer schüchtern geworden ist, etwa ein junges
unschuldiges Mädchen, der sagt etwas was gantz richtig ist. Aber man merckt
daß sie nicht fürchtet von andern beurtheilet zu werden, und da fällts den naiv
aus. Wir haben aber auch nicht blos auf die Richtigkeit deßen was wir sagen,
sondern auch wie es von andern wird aufgenommen werden, Acht zu geben.
nur muß die Peinlichkeit dieser Sorgfallt nicht in die Augen fallen können,

/ bisweilen

|P_13

/bis weilen kommen Ausdrücke in den Mund, die das Merckmaal an sich haben, daß
keine Behutsamkeit angewandt war, wie wir von andern beurtheilet werden
würden, dergleichen naive Einfälle erregen ein Lachen, daß zum Vortheil deßen
ist, der sie sagt, die Peinlichkeit und Sorgfallt hingegen {_nicht _→_miß_}fällt, wo man
sieht wie etwas vom Geschmack anderer möchte aufgenommen werden, welches
uns sehr beugen kan. In den Reden der Deutschen können nie große Naivitäten
herschen, weil ihre Sprache so voll cerémonien in der con{_¿_→_v_}er{_¿_→_s_}ation und im Brief-
wechsel ist, daß diese immer die Peinlichkeit herein bringet, ja dem Range
anderer keinen Abbruch zu thun, den der deutsche Stil, wenn er nicht endlich
abgeschaft wird, muß alles genie unterdrücken. Dahero kan nichts naives zum
Vorschein kommen, den in unserer Ängstlichkeit sind wir immer damit beschäf-
tiget, wie etwas von andern möchte beurtheilet werden,

/ ≥ Von den dunkeln Vorstellungen, d{_@avon@_→_@erer@_} man sich nicht bewust ist

/Es hat Streitigkeit gegeben in der {_F_→_Ph_}iloso{_f_→_ph_}ie, ob es dunkle Vorstellungen gäbe,
@deren@ wir uns überall nicht bewust wären. Verschiedene {_F_→_Ph_}iloso{_f_→_ph_}en sagen, dunkle
Vorstellungen sind von der Art, daß wir nicht wißen ob wir sie haben: wie können
wir aber behaupten, daß wir etwas von Vorstellungen wißen, {_davon_→_derer_} wir uns
unbewust sind. D.i. wie können wir uns Vorstellungen bewust werden, deren
wir uns nicht bewust sind. Loke sagt {_«aber»_}, daß {_aber_} mit Unrecht, denn wir kennen
sie wohl freilich so lange sie dunkel sind, {_und_→_sind_} wir uns ihrer nicht bewust, denn sie
liegen in der unmittelbaren Empfindung, aber durch Schlüße können wir doch
heraus bringen, daß sie da sind, z.B. wir sehen am Himmel eine Milchstraße;
die Alten sahen sie, und meinten es sey ausgespritzte Milch von der Göttin
und dergleichen. Der Tubus zeigt uns jetzt, daß es der Wiederschein von so
vielen kleinen Sternen ist, folglich haben die Alten auch diese kleinen Sterne ge-
sehen, denn sonst hätten sie auch die Milchstraße nicht gesehen, außer daß
sie noch nicht jeden einzelnen Stern sahen, sondern nur den Wiederschein dersel-
ben. Also lagen die dunkeln Vorstellungen von den Sternen schon in den Alten,
weil sie darauf schließen konten. Wir können die %menschliche Seele mit einer
großen Carte vergleichen, worauf eine gantze Menge von Plätzen, und {_un_}illu-
minirt sind, wenige Plätze sind illuminirt. Das inilluminirte ist das Feld
der dunkeln Vorstellungen, die wenigen illuminirten Plätze machen die kla-
ren Vorstellungen aus, und unter den klaren Vorstellungen stechen nun
einige durch ihr eigenes Licht hervor, dies sind die deut{_@schen@_→_lichen_} Vorstellungen.
Die dunkeln Vorstellungen machen also den grösten Platz der %menschlichen Vorstel-
lungen aus, und wenn ein Mensch sich aller Vorstellungen bewust werden
könte, die wircklich in seinem Gemüthe liegen, die aber nur bey Gelegenheit

/ hervortreten

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/hervortreten: so würde er sich vor eine Art von Gottheit halten, und über seinen
eigenen Geist erstaunen, den er hat keinen Begrif von einem Wesen, von so vaster
Erkentniß, als er selber hat. Ein Mensch der viel gelesen hat, kan in Gesellschaften kommen,
und gebeten werden, etwas zu erzählen, weil alles total erschöpft zu seyn scheint
er aber antwortet, er wiße nichts. Nun darf man nur von einer Sache anfangen,
so wird er gleich dies und jens zu erzählen wißen. Wenn man nun die vielen Dinge
bedenckt, worauf man ihn nur bringen kan, damit er gleich herausrückt in Sprachen,
Geschichten, Wißenschaften, p. und er könte sich alles deßen auf einmahl bewust
«seyn» werden: so ist daß ein so vastes Gantze, daß er selbst erstaunen würde. Es sind
viele Vorstellungen, davon wir uns in unserm Leben nicht wieder bewust werden
würden, wenn nicht bisweilen ein Anlaß käme, der uns an dieselben errinnerte,
die vorher schon wie embryonen in uns lagen. Kein mikroscop kan mir von einem
objecte etwas mehr zeigen, als was mein bloses Auge gesehen hat. Den kleinsten
Wurm sehen wir vorher nur vor einen Staub an, durchs microscop, sehe ich nun
auch Kopf, Füße, Ringe, p. Dies alles war vorher schon da, aber nur in einer dunkeln
Vorstellung. Denn hätte ich nicht Kopf, Füße p: gesehen; so hätte ich gar nichts ge-
sehen. Den dieselben Lichtstraalen, die durchs Glaß giengen, giengen vorhero durch
mein Auge, außer daß sie im Glaße vergrößert wurden, ob sie gleich auch im
Auge waren. So ists auch mit dem Telescop bewandt, es wird da nichts neues ent-
deckt, sondern die dunkeln Vorstellungen werden zur Klarheit geführt. Alles was
microscop und telescop noch entdecken werden, ist schon in der dunkeln Vorstellung
des Menschen enthalten, außer daß die Klarheit die Vorstellung auseinander breitet
und das Bewustseyn derselben größer macht. Es ist also nicht eine Vergrößerung
der Kentniße, davon man sich bewust ist, sondern nur eine Deutlichmachung derselben
und wenn man alles was microscopien noch entdecken werden, und die Gegenstände
so von andern entdeckt worden, auf einmahl sich bewust wäre, so würde daß
eine ungeheure Menge von Dingen seyn.

/Eins theils sind wir ein Spiel dunkler Vorstellungen, {_eins_→_andern_} theils spielen wir mit
dunkeln Vorstellungen. Wir sind ein Spiel dunkler Vorstellungen, die dunkeln
Vorstellungen bringen im Menschen einen Affect hervor, wo er wohl sein Ur-
theil klar machen, und es andern mittheilen kan, die Quelle des Urtheils aber
ist ihm unbekandt, es liegt in der dunkeln Vorstellung. Unsere so genanten Gefühle
(den die Modesprache bringts so mit sich, moralische Gefuhle von Redlichkeit Ehre p
zu haben, wer kan also Ehre fühlen?) sind nichts weiter, als der unbe{_keute_→_kante_} Grund
in uns, der wohl in uns ist, den wir aber nicht ausmitteln können, durch den
es geschiehet das Urtheile über uns so sehr interessiren. In solchem Gefühl sind
Gründe da, warum wir es als einen wichtigen Gegenstand ansehen, daß des
andern Urtheil von uns richtig sey. z.B. man meint ein Mensch der grob belei-
diget ist, hat mehr Ehre wenn er sich selbst revangiret, als wenn er beym Richter
klagen muß. Hier ist es eine dunkle Vorstellung, daß es Fälle von der

/ Art

|P_15

/Art geben müße, die nicht vor den öfentlichen Richterstuhl gehören, vielleicht weyl
bloße Mienen, Schimpf«e» Worte p. keine Realitäten sind, die ich also dem Richter nicht
beschreiben kan. Hier scheinen wir also zu verlangen, daß sie zur privat-{_Ruhe_→_Rache_} gehören
sollen, ob die Vernunft es gleich verwirft. Welchen Grund mag hier das Gemüthe haben,
privat Rache zu verlangen? Am Ende würde man doch finden, daß dies mit der öfent-
lichen Gerechtigkeit zusammen hängt, doch ist daß schwer zu erforschen. Eine Ursache
möchte vielleicht seyn, daß man glaubt das Menschen ihren persöhnlichen Werth ver-
teidigen müßen, doch daß ist schwer auszumachen, und die Aufklärung solcher dunkeln
Vorstellungen durch die Filosofie erfordert viel Scharfsin.

/Man beklagt einen jungen verstorbenen Menschen, ohne sich selbst zu beklagen, ob-
gleich die Vernunft sagt, daß der Todt nicht unter die Übel zu rechnen sey; sondern das Ende
aller Übel ist. Ein todter Mensch kan demnach nicht beklagt werden, und doch weinen
Leute, wenn sie so ein junges Blut wie sie sagen, begraben sehen: daß macht unsere
¿¿deutliche Vorstellungen spatzieren mit ins Grab, und ob es gleich ungereimt ist zu
glauben, daß je die Einsamkeit dem Tode im Grabe @schaden@ werde, so können unsere
dunkeln Vorstellungen doch nicht davon ablaßen. Das Grausen vor dem Tode ist eine
von solchen dunkeln Vorstellungen, den da man meinen sollte, daß ein alter Mann
bey dem Gedancken an den Todt gleichgültig seyn müße: so kan es bey allen Uberlegun-
gen der Vernunft doch nicht erreicht werden, daß die {_Ader_→_Idéa_} von der Empfindung des
Körpers noch im Grabe bey ihm aufhören sollte, daß ist also ein {_H_→_G_}ang der dunkeln
Vorstellungen.

/Ich gehe auf einen Thurm, mit einmahl komts mir so schauderhaft vor, daß ichs nicht
wage, mich an ein gut befestigtes Geländer anzulegen. Hier muß es in der dunkeln
Vorstellung so zu gehen, indem wir länger auf den thurm verweilen komt die imagina-
tion; und stellt sich den möglichen Fall des {_Herum_→_herunter_}fallens vor. Nun wiederlegt die Ver
nunft daß, aber die Beschäftigung der Einbildung ist durch die Vernunft nicht gantz wie-
derlegt, und so sind wir immer in der Furcht, und in der Wiederlegung der Furcht, so
könte man sagen, daß die Furcht vor dem Tode den meisten Menschen ebenfals das ist,
was Furcht auf hohen Türmen ist

/Dunkle Vorstellungen ist daß, was bey einem Menschen mehr, bey den andern weniger
Thorheiten hervorbringt. Der Mensch ist vernünftig, so lange er sich des Einflußes der
dunkeln Vorstellungen überheben kan, so bald aber diese den hypochondrischen zu mar-
tern anfangen {_wieder_→_so wird er_} ungereimt. Ich bin mir dunkler Vorstellungen nicht jeder Zeit
mächtig, den sonst müste jede Empfindung auch durch dunkle Vorstellungen gemacht seyn,
wovon die {_praesensation_→_praesension_} und das {_prassaquiren_→_praesagi¿¿¿_} in mir lag. Wenn der Mensch aber das
Erkentniß anzuwittern fängt, und nun weiß, auf welcher Seite er die Wahrheit suchen
soll: so komt eine Veranlaßung, wo daß was dunkel in ihm lag, in Klarheit versetzt wird.
Die dunkle Vorstellungen sind oft richtiger, als die erkünstelten, die wir unterschie-
ben, ehe wir die dunkeln kennen, und fallen weg: so bald wir die dunkeln Vorstellungen
ausgeforscht haben. z.B {_wie_→_wenn_} der Filosof den Grund angeben will, warum die Achtung
vor dem Rechte eines andern alle Triebe des Eigennutzes bey uns unterdrücken

/ muß

|P_16

/muß: so kan er sich selbst durch die Vernunft kein Genüge thun. Wir sehen also daß
der moralist nichts weiter zu thun hat, als in den Tiefen des %menschlichen Verstandes zu
forschen, um die dunkeln Vorstellungen in Klarheit zu versetzen: {_so wie Socrates sagt
er sey die Hebamme seiner Zuhörer, d: ist er suche die in der Dunkelheit
liegende principia durch seinen Unterricht in Klarheit zu versetzen._}

/Die Entwickelung der dunkeln Vorstellungen bey allen unsern Arbeiten, ist eigentlich die ana-
lytische Pilosofie. In der Fysick können wir uns Kentniße von Dingen erwerben, wovon
wir keinen dunkeln, sondern deutliche Vorstellungen haben. in der Moral ists aber nicht so
da müßen wir alles aus unserm eigenen Gemüthe heraus holen. z.B. wenn die Frage ist,
ob man lügen könne, und ob Nothlügen gelten: so heists man darf gar nicht lügen, weil
jeder Mensch so bald er liegt seine Ehre angreift. Da hälts nun schwer den Grund
von diesem Urtheil aufzufinden, warum die grösten Vor«ur»theile mich nicht zum lügen
sollen bewegen können. Diese Gründe aber zu entwickeln ist die Arbeit des Filosofen,
wobey wir oft die Vortreflichkeit der entfalteten Einrichtungen des Menschen be-
wundern. Die Keime zu unserm Glück liegen {_nur_→_immer_} in uns selbst, und dies ist der wahre
Schatz der %.menschlichen Seele, daß, was man jetzt entwickelt ist unendlich wenig, gegen daß,
was man noch entwickeln könte. Alle Metafysicen und Moralen p. müßen dennoch,
zur Aufklärung der dunkeln Vorstellung eines jeden Menschen beitragen, weil es
da{_von_→_rin_} auf die Begrife der Menschen ankomt, die sie bey sich haben.

/Oft spielen die Menschen mit dunkeln Vorstellungen, es giebt Stücke, die der Mensch als
Geheimniße des Menschen tractirt, wobey er die Natur der Menschheit zu vermißen scheint,
und der Rang den der Mensch gegen die Thiere hat, ihm zweydeutig scheint. Dieses sind die
Heimlichkeiten des Geschlechts und die geheimen Ausleerungen. Indem der Mensch die
Geschlecht_Eigenschaften geheimnisvoll tractiret, muß seine Einbildungs_Kraft immer im
Dunkeln spatzieren. Die alten Filosofen sagten, was nicht schädlich ist zu thun, ist auch nicht
schädlich zu sagen. Und das schloßen sie daraus, daß die Bewohnung und Ausleerung des Kör-
pers in einer matten Sprache expliciret werden könte, ja sie hielten es für keine
Schande es öfentlich zu thun, weil es doch von der Natur geboten wäre dies heist
cynisch verfahren. Die Cyniker aber übertreten ihre Grundsätze, den es ist wircklich der Na-
tur zu wieder. Denn die Natur hat uns ein Gesetz auferlegt über solche Dinge, worin
wir mit den Thieren zu viel Ähnlichkeit haben, einen Schleyer zu werfen - Im Umgang
mit dem andern Geschlecht wird oft viel Witz verschwendet, um die Geschlechts_Theile oder
die Gegenstände, womit sich beide Geschlechte beschäftigen, zu bezeichnen. Dabey ist das
Frauenzimmer immer so verstellt, als wenn sie nichts verständen, und dabey gantz un-
wißend wären, wens gleich manchmal grob genung ausgedruckt ist. Solche kleine Witze-
leien, wenn einer eine Schrifft damit ausschmückt gefallen: den im Grunde ists doch ein
punismu@s@, von solchen Dingen sich gantz absentiren zu wollen. Denn es ist ein Geschäft
der Natur, und kan von dem Menschen weder geleugnet noch geschwächt werden, - und
es ist auch eine Triebfeder der Vertraulichkeit im Umgange beiderley Geschlechter.
Da kan nun der Schriftsteller Geschicklichkeit anwenden, alles so unter einen Schleyer
zu verstecken, daß die Einbildungs-Kraft immer im dunkeln spatzieren kan.

/Was die Ausleerung des Körpers betrift, so pflegen wir so wohl hier als beym
vorigen Stück immer die Worte zu verwechseln. z.B. die vor ein paar 100 Jahren
aus Amerika kam, hat allerhand metaforische Benennungen, man sagt venerische

/ Seuche

|P_17

/Seuche, Franzosen, dies sind sehr weitschweifige Namen, um eine Kranckheit zu bezeichnen
bezeichne ich eine Nation, und doch ist das Wort Franzosen, jetzt schon eine Grobheit, den sie
bedürfen immer neue Einkleidungen. Cicero redet in einem Briefe von den Geschlechts
Gliedern, und zeigt, wie sich die Worter dabey immer verändert haben, der feinste Aus-
druck für die Art der Ausleerung ist jetzt Commoditaet. Ehedem hieß es heimlich Gemach
aber daß ist jetzt auch schon zu grob, so daß die Leute zuletzt in Verlegenheit kommen werden
wie sie sich ausdrücken sollen. Dies giebt den dem Witz vielen Stoff, denn die Leute wollen
Dunkelheiten haben, die sich aber doch durchschauen laßen - Ein loser Mensch ist der, der Muthwillen
liebt, mit solchen Ausdrücken contrebande zu führen, ohne daß man es ihm für eine Grobheit aus
legen darf, so, daß viele dabey von lachen bersten möchten, aber sichs nicht dürfen mercken laßen,
um nicht vor ungezogen gehalten zu werden. Dieser Muthwillen ist immer ein Talent, und daß die
Natur uns ihn nothwendig macht, ist eine besondere Sache. Vieleicht würde die Ordnung viel ver-
lieren, wenn wir solche Dinge durch die Freyheit nicht unsichtbar machten. - Witzige Einfälle
sind Gedancken, die ins dunkle geh{_o_→_ü_}lt sind, welche Dunkelheit sich aber an sich selbst gleich den Au-
genblick aufklärt. Dies hat etwas ergözendes bey sich, und verursacht Freude. Ein wiziger
Einfall muß also gar nicht ausgelegt werden, denn alsdenn wird er matt. Die Ursache ist die
Überraschung, wenn das Gemüth selbst auf den Sinn des Einfalls geleitet wird. z.B. der Präsident
von der Akademie zu Paris war sehr geizig: als nun eine Allmosen Collecte war gehalten wor-
den: so fragte einer: gab der Präsident auch etwas? Einer sagte ich habe es nicht gesehen, aber
ich glaubs, Fontenell der dabey war, sagte ich habs gesehen, aber ich glaubs nicht. Es war so un-
wahrscheinlich, daß er was gegeben hätte, daß er daran zweifelte, ob ers gleich gesehen hätte.
Ein Buch, es mag so viele Realität haben als es will, wenn nicht %dergleichen Sachen unter metaforischen
Ausdrücken versteckt sind, so daß die Dunkelheit sich von selbst verlieret, so will nichts gefallen. Die
Ursache ist vielleicht, damit die GemüthsKräfte des Lesers etwas zu thun haben, und er seinen
Scharfsinn cultiviren kann

/ ≥ Von der Deutlichkeit

/Die Deutlichkeit ist ein großes requisitum, wenn etwas zur Unterweisung dienen soll, zur Belu-
stigung verlangen wir nicht so sehr Deutlichkeit, wo es darauf ankommt, uns was zu Rathe zu
geben, ist die Dunkelheit angenehmer als die Deutlichkeit die die Sachen genau bestimmt
z.B. so haben Räzel immer was angenehmes bey sich. Wenn wir aber nicht mit Einfällen spie-
len, sondern Lehren vortragen, so ist die Deutlichkeit sehr nöthig. Deshalb können in der Mathe-
matik und Filosofie keine feine und dabey dunkle Ausdrücke gelten, weil man da etwas lernen
will.

/Die Dunkelheit hat in Schriften einen Vorzug vor der Deutlichkeit: indem das Dunkele eine große Er-
wartung des Inhalts macht, so wie im Dunkeln alle Gegenstände größer aussehen. Es giebt
Autoren, die durch Dunkelheit gläntzen (wenn es kein Wiederspruch ist.) «in»de«m»nn <indem> Niemand ihre
Schriften durchdringen kan, so bleiben ihre etwanige Fehler {_un_}entdeckt. Die Deutlichkeit beruhet
auf Ordnung, und alle Bemühungen eines Autors seinem Buch Deutlichkeit zu geben, müßen auf
Ordnung abzielen. Diese Ordnung bestehet darin: daß man die Theile nach einer Regel zusammenpaa-
ren soll. Es giebt Pedanten der Ordnung, die immer auf Ordnung {_erhöht_→_erpicht_} sind ohne Absicht zu haben
und ordentliche Müßiggänger genannt werden können. Sie haben immer was aufzuräumen, und
den Dingen eine andere Stelle zu geben. Da sie aber mit ihrer Ordnung auf kein nützliches
Object gehen, so ists Nichts, als eine Nichtsthuerey, die den Schein der Beschäftigung mit sich führet
und wobey die gründliche Ordnung verfehlt wird. So wie es Pedanten der Ordnung giebt
so giebts auch Pedanten der Deutlichkeit. Wenn einer in seinen Schriften so viel Anordnung zur

/ Deutlichkeit

|P_18

/Deutlichkeit macht, daß der Vortrag dadurch gedehnt wird, daß er selbst dunkel wird, indem die
Mittel der Deutlichkeit so unmäßig angebracht werden, daß man die Deutlichkeit aus den Augen
verliert. Und gleich wie die Peinlichkeit der Ordnung einen kleinen Geist anzeigt, so zeigt es eine
noble Nachläßigkeit an, wenn keine {_%ungl@eiche@_→_ängstliche_} Aufmercksamkeit in unserm Betragen herscht.

/So giebt die Peinlichkeit in den Kleidern einen Putz {_@G@_→_P_}edan{_@ck@_→_t_}en ab. der sehr verächtlich ist. Eben
daß können wir von der Deutlichkeit sagen. Freilich unordentlich zu scheinen, um ein Genie
zu «sch»heißen, scheint eine thörigte Anmaßung, sich von andern auszeichnen zu wollen. Aber es
mag sein, daß die Ordnung den freien Schwung unsers Geistes hindert, oder es mag sein, daß
unsere Freiheit einen aparten Gang in der Ordnung geht, denn wir nicht beschreiben können.
Genung wir finden, daß die popularität eine Art der Deutlichkeit ist, worin wir die Ord-
nung nicht gar zu genau beobachten. Die popularitaet geht von dem Leitfaden der Deutlichkeit
ab, und kleidet sich manchmal in Dunkel. Hier muß wohl eine andere Ordnung statt finden
die wir nicht kennen, die alle unsere Gemüths-Krafte cultiviren kan, so fern wir für «d»sie
im Umgange mit Menschen gebrauchen. Die Deutlichkeit der Erkentniß ist also von
großen Werth wens darauf ankomt unterrichtet zu werden, wens aber auf
Unterhaltung ankomt, kan ich von der Deutlichkeit abgehen, um die in der Dunkelheit
beschwerliche Ordnung zu erleichtern, und die Nichtgelehrten und das Frauenzimmer
zu unterhalten.

/ ≥ Von der Vollkommenheit der Erkentniße

/Hiebey komt auf 3 Stücke an.

/1. Wie die Erkentniß im Verhältniß zum Object steht.

/2. Zum subject und 3. untereinander.

/Wie die Erkentniß zum object stehet, so bestehet die Vollkommenheit der Erkentniß

/a. in der Wahrheit

/b. in der Größe

/c. in den Mitteln zur Erkentniß zu gelangen. d.i in der Deutlichkeit

/{_Alles_→_Dies_} sind logische Vollkommenheiten, wo es darauf ankommt, daß ich das Object kenne
wies ist. Beym subject komts nicht darauf an, wie ich den Gegenstand erkenne
sondern wie mich der Gegenstand afficiret, dahin gehöret.

/Leichtigkeit der Erkentniß, die von der genauen Erkentniß des objects oft abhält

/Lebhaftigkeit und Rührung, durch welche das object beßer, ja oft schlechter erkannt wird,
weil diese sich mehr mit dem Spiel der Sinne als mit dem Verstande beschäftiget

/Intereße, die Menschen nehmen an einerley Object ein verschiedenes Interesse, nachdem ihr
subject verschieden organisirt ist, und nach den Umständen, wie ihre Neigung und Disposi-
tion afficiret wird.

/Die Vollkommenheit der Erkentniße unter einander bestehet

/aa. in der Manigfaltigkeit

/bb. in der Ordnung und

/cc. in der Verknüpfung.

/Die Mannigfaltigkeit in einer Erkentniß geht darauf daß die Erkentniß nicht {_monotamien_→_monotonien_}
entfalte. Bey dieser Mannigfaltigkeit, muß aber auch Ordnung, Methode und Regelmäßig-
keit herschen. Und dan kommt die Verknüpfung hinzu, welche die Einheit ausmacht, wornach
die Erkenntniß«@e@» nach gewißen principien zusammenhängt.

/Die Vollkommenheit der Erkentniße im Verhältniß aufs object ist schwer, diese ist aber der Grund
und Hauptvollkommenheit, wenn die Erkentniß vor den Verstand, nicht vor die Neigung

/ seyn

|P_19

/seyn soll. Denn ob {_Sie_} gleich in Ansehung des Verstandes vorzüglich ist, so ist sies nicht vors Ver-
gnügen. Daher sagte der Dichter Waller zu Karl dem 2ten der ihm vorwarf, er habe mit seinem
Gedicht den Kromwell mehr als ihm gelobt: Wir Dichter sind glücklicher in der Fabel als in der
Wahrheit. Denn ein Dichter ist nicht darum allein glücklicher, weil ihm die Fabel gelingt, son-
dern weil sie mehr gefällt. Und Romanen werden darum {_bloß_} gesucht, weil uns die Wahrheit
allzu alt ist, und der Lauf der Dinge darin so neu ist, als wir ihn wünschen. Raphael
soll Ideale vom Menschen gemacht haben, die Gefallen haben, in denen er die Natur nicht {_machte_→_mahlte_}
wie sie ist; sondern wie sie beßer wäre. Aber es scheint uns unmöglich zu seyn, daß unsere so
sehr veränderliche EinbildungsKraft das Urbild des Schönen, und noch etwas beßeres enthalten
solle, als die Natur. «E»Die Einbildung kan nichts schöneres hervorbringen als die Natur, aber in Anse-
hung des Menschen gehts doch an, weil der Mensch ein Geschöpf ist, daß zur cultur fähig ist, und deßen
gantze Vollkommenheit zwar in der Natur liegt, aber nur in ihrer Rohigkeit. Der Mensch hat
sich selbst seine Vollkommenheit zu dancken, obgleich die Anlagen dazu in der Natur liegen.
Es ist das einzige Geschöpf, wo die species von Generation zu Generation vollkommener wird.
Hier giebts also eine eingebildete Vollkommenheit, die noch nicht da ist, und ob diese zwar
den Körper nicht <mit>angehet: so denckt sich der Mahler doch eine im Gesicht ausgedrukte Mine
die sich zur grösten cultur beßer schicken würde als d«as»ie jezige. Dies bringt er nun in seine
Mahlerey. Denn wir finden auch, daß der Mensch sich zwar nicht durch die Geburt verfeinere,
aber doch daß sich beym Wachsthum die Gesichts-Züge nach Art der Erziehung <aus>polieren. Landleu-
te bekommen nie eine feine Bildung des Gesichts, weil sie ihre Mienen nicht so sehr unter
die Hoflichkeit zu accommodiren haben, sondern blos mit ihrem Gesinde gebieterisch oder
vertraulich sprechen - Folglich könte eine Erdichtung eines so großen Mahlers beßer ge-
fallen, als Wahrheit, denn diese wahrhafte Schönheit, die nicht in der Natur lag, schien
doch mit den eingebildeten ideen übereinzukommen. {_Man_} soll{_¿¿_→_te_} z.B. glauben, das vollkommene
Wesen einen mehr abgerundeten Bau haben müsten p. doch ist die Erdichtung hier noch nicht
so namhaft, denn ob sie gleich nicht durch die Natur entstehet: so ist sie doch nach ideen errich-
tet, welche Wahrheit enthalten, wenn sie auf die Fortschritte der Natur zur Vollkommenheit
sehen, wie in ihr die Anlagen ausgebildet werden.

/Im Urtheil des Verstandes ist eine Erkentniß gedichtet, wann sie nicht wahr ist, wann wir einen
@la@teinschen Geschichtsschreiber einen Livius lesen, so finden wir Reden die Feldherren an
der Spitze ihrer Armee hielten, wann der Feind schon im Anmarsch war, {_und_→_die_} die gröste
Faßung des Gemüths erfordert haben müste, und selbst die Geschichte der Welt trägt man
mehr so vor, wie man wohl wünschen möchte, daß sie sich ereignet hätte, als sie wißen,
daß sie sich zugetragen hat: dies hat ihnen theils der Mangel an Nachrichten erlaubt, theils
der Hang ihrer Nation, dem Geschmack Artikel der Wahrheit aufzuopfern. Die heutigen
GeschichtSchreiber sind noch unwahrer als die Alten: denn diese schrieben nicht die Unwahrheit
aus Parteylichkeit, sondern aus Mangel an Geschichten, und verdrehten auch nicht die Wahr-
heit. Daher findet man auch mehr Spuren der Wahrheit bey den Alten, als zu jeziger
Zeit, wo die Parteylichkeit immer darauf ausgehet, der Wahrheit aus eigenem
Vortheile Abbruch zu thun. Die Wahrheit ist demnach von den Produkten unsres Erkent-
nißes nicht das vollkommenste vor die Neigung. Ist nun die Erdichtung nach Abrede ver

/ anstaltet

|P_20

/anstaltet, so daß man nur dadurch der Ergözung der Neigung Platz macht: so ist das kein Betrug;
wird sie aber vor Wahrheit ausgegeben, so thut sie in der Absicht unserer Erkentniß großen Abbruch
Irrthum ist ein vermeintes Erkentniß, daß der Wahrheit entgegen gesetzt ist, Unwißenheit
aber ist ein Mangel der Erkentniß. Irrthum ist die Strafe eines übereilten Urtheils, wozu man nicht
gehörige Kentniße hat. Unwißenheit aber ist ein Mangel der Gelegenheit oder des Fleißes,
daher ist der Irrthum übler als Unwißenheit, den ein Unwißender ist wie die tabula vasa des
Aristoteles anzusehen, wo man zwar keine Kentniß aber doch Anlage findet welche zu
erlangen. Es ist hier keine Hinderniß, aber bey Irrthümern ist eine doppelte Unbequemlich-
keit. Erst muß ich gegen die Irrthümer arbeiten, und den Menschen dadurch zur Unwißenheit
bringen und nachdem ich ihn so künstlich zur Unwißenheit gebracht habe, kan ich erst anfangen
die Wahrheit zu gründen. Dem ohngeachtet aber hat die allgemeine Vorsehung die menschliche
Natur so eingerichtet, daß wir nur durch den Weg des Irrthums zur Wahrheit gelangen können.
Durch Hirngespenster, Verblendung und Irrthum durch Vorurtheile, und durch ein Tappen im finstern
wo wir oft überredet werden durch eingebildete Blendwercke, die sich hernach in ein Nichts ver-
wandeln; kommen wir immer zur Wahrheit und nie gleich aus der Unwißenheit.

/{_In_→_Bey_} diesen Schwächen der Wahrheit kan man entweder schüchtern seyn, indem man sich fürchtet
an die Klippen der Irrthümer zu stoßen oder waghalßig. Die Franzoßen loben den {_¿¿¿_→_Büffon_}
daß er so hardi im Urtheil ist, und einen Muth beweißt, eine Erkentniß zu wagen, über den
ein spottender Criticus sich aufhalten könte. Derjenige aber der hardiesse im Urtheil hat,
gefällt, weil er seine eigene Reputation zum Vorteil des gemeinen Wesens aufs Spiel
setzt. Ein gewagtes dreistes kühnes Urtheil kan also seinen Nutzen haben; denn es gefällt,
wenn sich ein Mensch durch alle Bedencklichkeiten durchbricht, und man stutzt über seine Dreistig-
keit. Copernicus muß anfänglich für seine eigene hypothese zurückgebebt haben, doch hat ers
kühnlich gewagt, ob sie nicht Stich halten würde, und hat sie hernach dadurch bestätiget gefunden.
Es giebt aber auch eine Schüchternheit im Urtheil, wobey mans gewöhnlich nicht weit bringt,
dieser komt aus Mangel des Zutrauens zu sich selbst her, oder aus Furcht der Critic des
gemeinen Wesens: Wenn man zu sehr von der allgemeinen Meynung abweicht. Ein solcher
wirds nie weit bringen, wenigstens die Menschen nicht von al{_l_→_t_}em Wahn befreien; denn mit
dem alten Wahn gehts wie mit dem Verstande, er wird vor erwiesene Wahrheit angenommen
und einmahl etwas wieder eine eingewurtzelte <Denckart> zu wagen, und ihre Feindschaften und
Angriffe sich nicht anfechten zu laßen, ist ihm ohnmöglich. Man sieht also daß selbst in Anse-
hung speculativer Erkentniße Muth dazu gehöret, durch alle Bedencklichkeiten durchzubre-
chen, und den alten Wahn zu vertreiben

/Paradox ist «blos» ein Urtheil <daß> mit Verstande gewagt ist. Es gab Zeiten, wo man einen
genung getadelt zu haben glaubte, wenn man sagte er denckt paradox. Den man glaubte
zwischen paradox und heteredox sey nur ein kleiner Zwischen-Raum. Und doch muß man
gestehen, daß wir lieber ein paradoxes als ein alltägiges Werck lesen, wo nur die Stimme
der Menge nachgelallt, und in andere Worte eingekleidet ist. Woher komt diese Nei-
gung zum paradoxen? Die Ursache ist wir bekommen dadurch Hofnung zur neuen
Einsicht, und lernen die Sache von einer andern Seite kennen als wir sie erkannt
haben, und bekommen Hofnung uns dadurch aus einen alten Wahn herauszubringen.
Es giebt eine {_Affection_→_Affectation_} des paradoxen, die wohl keinen Ruhm verdienet, aber

/ es giebt

|P_21

/es giebt auch Köpfe die in ihrem Urtheil immer was paradoxes haben, daß den gemei-
nen Wahn wiederstreitet. Daß ist unterhaltend und exercirt, und beruhiget zugleich unsere
VerstandsKräfte, oder es giebt Vermuthungen, daß hinter dem paradoxen Wahrheit seyn werde.
Ein Bischoff in England, Berckly, war sein gantzes Leben hindurch so paradox, ein Mann von
großen Scharfsinn der immer die Wahrheit suchte, wo sie kein anderer fand, und es ist
wircklich gut, sich auf allerhand Abendtheure auszuwaagen um doch zu sehen (sollte es auch in
theologische Sachen seyn.) {_ers_→_was_} sich auf der so sehr verrufenen Gegenseite antreffen laße; denn
wir haben Erwartungen, daß uns das Vortheil bringen werde«n». Einige Wahrheiten die das
paradoxe nun verlieren, indem man sie als Wahrheiten ansieht, können einen doch noch
immer frappiren, indem sie sich unserm alten einmahl angenommenen Wahn wiedersetzen. z.B.
daß es kein blaues Tuch gebe, sondern daß alles blaue, wenn ein rother und nicht ein weißer {_@Stral@_→_Straal_}
darauf fällt, roth aussieht, scheinen wir mit Schwierigkeit anzunehmen, ohnerachtet es gewis
ist, und daß muß uns auch gar nicht hindern, solche paradoxe Begriffe zu wißen. - Hätte wir
Probiersteine, Wahrheit und Irrthum gehörig zu unterscheiden, so würde kein Mensch nach dem
Irrthum greifen, aber es fehlt an einem so gantz sicheren und leicht zu gebrauchenden Probier-
steine der Wahrheit. Daher bedienen wir uns allerhand Vorteile, die Wahrheit zu erkennen
und hiezu bedienen wir uns des Urtheils anderer. Dies Hülfsmittel, daß wenig Zuver-
laßigkeit hat, nehmlich den Beyfall als ein Merckmaal der Wahrheit anzusehen, ist bey
einem großen Theil der Menschen daß, was sie im Urtheil commode und träg macht,
denn wenn einer sagen wollte, was alle Menschen sagen, ist wahr, so dürfte er sich nur
immer nach anderer Beispiel richten. Aber dehmongeachtet kan auch der Allereinsehenste
den Beyfall anderer nicht für überflüßig «halten» ansehen, den so überzeugend auch sein
Urtheil für ihn ist: so kans ihm doch nicht gleichgültig seyn, was andere davon sagen, und die-
ser Hang ist in den Verstand gelegt. Die Neigung seine Schriften herauszugeben, ist
demnach nicht blos eine Würkung der Eitelkeit, sondern ein Beruf der Natur, den da der
Mensch in seinem privat_Urtheil sich sehr irren könte, und in einer geträumten Gluck-
seeligkeiten von vielen Einsichten leben könte: so hat die Natur zum wahren Richter
unserer Gedancken das publi«q»cum gesetzt, und die allgemeine Menschen Vernunft,
{_¿¿¿_→_muß_} bey dem besondern Gebrauch der Vernunft bey einem einzelnen Menschen einen
Richter Ausspruch thun. Es kan seyn, daß Eitelkeit auch einen Einfluß dabey hat, aber die
Natur hat sich solcher Einflüße bedient, um ihre Absicht zu erreichen, denn es geht nicht an-
ders an daß Wahrheit ausgemacht werde, als bis ein Mensch der über etwas urtheilt, die-
ses sein Urtheil andern mittheilt, wozu die Druker_Preße ihn bequeme Gelegenheit dar-
bietet, und dadurch wird das publicum erleuchtet. Man sagt es ist nicht gut daß heut zu
tage in theologischen Sachen einem jeden freysteht zu dencken und zu schreiben was er
will, aber daß ist unrecht, denn das dencken kan mir ja keiner verbieten, und das
Bekantmachen ist ein Trieb der menschlichen Natur, den wie soll Wahrheit ausge-
macht werden, wenn wir die Meynung <immer> in uns selbst verschließen. Dieser Trieb in
der Natur hat also offenbar zur Absicht dem menschlichen Geschlecht durch %gemeinschaft@liche@
Wahrheit zu bestimmen, den ein Urtheil corrigiret das andere, und dahero ist der
Hang unserer Urtheile an fremder Vernunft zu prüfen, ein Mittel daß der weißeste

/ nicht

|P_22

/nicht ausschlagen kan. Freylich macht der allgemeine Beyfall nicht Wahrheit, den er ist so vergäng-
lich, daß etwas nur durch seine Neuigkeit auf einen gewißen Zeitpunct allgemein ist, und in kürtze
wird oft das vor schlecht angesehen, was vor kurtzen von allen gelobet wurde. Dahero ist die
Dauerhaftigkeit des allgemeinen Beyfalls in verschiedenen Nationen und Zeiten ein großes
criterium der Wahrhaftigkeit und Schönheit «der» <einer> Erkentniß. Den durch die Zeit wird nach und
nach daß in Vergeßenheit gebracht, was ehedem dem allgemeinen Geschmack gemäß war, obs
gleich einen {_Menschen_→_Menge_} von Irrthümern und Verblendungen enthielt. Freylich ists kein Vorzug,
wenn das Alterthum etwas enthalten hat, daß nicht geprüft und untersucht werden durfte.
Aber wenn etwas der Untersuchung aller gesitteten Nationen zu allen Zeiten frey gegeben
ist, und sich doch erhalten hat, so ist dieses als ein großer Probierstein der Wahrheit anzusehen.
Es wurde vor einigen Jahren in den Berliner Acten zur Preis Frage aufgegeben: ists
erlaubt Irrthümer zu dulden oder wenigstens unangetastet zu laßen, ob man sie gleich
dem publico leicht nehmen könte, ob man dem gemeinen Wesen einen heilsamen Urtheil
laßen könte, oder ob der Mensch verpflichtet ist, oder ob der Mensch verpflichtet ist, den
Irrthum allerwärts zu verfolgen, wo er ist? - Cicero antwortet hierauf an irgend ein¿¿
Ort: utile nihil quod non honestum. und Irrthum auszubreiten um dadurch dem gemeinen
Wesen Vortheil zu verschaffen, hat Ähnlichkeit mit dem peccato filosofico der Jesuiten,
worunter sie meinten: eine kleine Sünde könte man thun, wenn ein großer Vortheil
daraus entspringen kan, daß «ist» dies unrecht sey ist gewis, der Vortheil aber der daraus
entstehen kan ist noch ungewis, und wenn Tugend durch Vorteile überwogen werden
kan: so weiß man nicht wo man ihren Werth festsetzen soll. Wenn wir also den Vortheil
des gemeinen Lebens durch Irrthum fortpflantzen, so sind wir einander selbst betrogene
Betrüger, oder Menschen die selbst nichts thun wollen, daß den Menschen Vortheil ver-
schaffen könne. Wir sind nicht verbunden die gantze Wahrheit zu sagen, denn wir
sind nicht verbunden andern Vortheile zu verschaffen, die uns selbst schädlich wären.
Aber daß ist unsere gantze Schuldigkeit wenn wir einmahl reden, daß das die Wahrheit
sey, denn dies gehöret zum Beruf der Menschen, und denn ist die Wahrheit eine unnach-
läßliche Schuldigkeit. Kein Nutzen kan dauerhaft seyn, als der durch die Wahrheit entstehet,
und also kan man aus den Nutzen eines Betrügers keinen Vortheil ziehen. Man kan wohl die
Art und Weise der Handlung aber nicht die Sache selbst verbeßern, und wer auch mit¿
seinem Vor«teile»trage zu meinem Vortheil betrüget, tritt zugleich meiner Ehre zu nahe,
den hinten her sehe ich doch was Wahrheit ist oder nicht. Irrthümer mögen wohl zu-
fälliger Weiße wozu nutzen, und die Beförderungs_Mittel dazu seyn, andrer Thätig-
keiten zu stimuliren, damit sie sich dagegen vertheidigen, aber deswegen kan man
sie noch nicht für erlaubt halten. Es ist ein falscher Wahn, daß aus den Irrthümern Vor-
theile entspringen, ob man gleich in allen Zeiten schon so gedacht habe. Man fürchtet
sich aber vor der Beschwerlichkeit, anderer Irrthümer anzugreifen, indem man «sich» die
Feindschafft anderer Menschen sich dadurch zu zu ziehen glaubt, und daß der Sturtz
des gantzen menschlichen Geschlechts damit verbunden sey. Die Erfahrung aller Zeit¿¿

/ aber

|P_23

/aber zeigt das Gegentheil, und je mehr die Menschen unterrichtet werden,
desto lencksamer werden sie. Es fragt jemand ob die Bauren wenn sie ver-
feinert würden, wohl würden zu regieren seyn? O ja, den Leute, die Vernunft
haben sind beßer zu regieren als die rohen, und daher je klüger die Bauren sind,
desto beßer werden sie regieret werden. Und auch reiche Unterthanen sind beßer
zu regieren als arme, denn die Armen weil sie nicht viel haben wagen alles, die
Reichen aber leben lieber gemächlich, und in Bequemlichkeiten, überhaupt macht
die Aufheiterung des Verstandes die Menschen gut gesinnt. Die Akademie der Wißen-
schafften theilte die Preiße so aus{_;_} daß der die eine Hälfte <@bekahm@> welcher behauptete
es sey beßer die Irrthümer unangetastet zu laßen, der das Gegentheil behaupte-
te, daß man alle Irrthümer ausrotten müste, {_(_}welche{_¿_→_s_} Rousseau war,{_)_} bekam die
andere Hälfte{_, @d@_→_. D_}en Eindruck denn eine Erkentniß auf uns macht, und den Bey-
fall den nur andere geben, müßen wir unterscheiden können. Denn in Anse-
hung des {_¿_→_E_}ffects de{_¿_→_n_} eine Erkäntniß auf uns macht ist zu mercken{_,_} daß der
Beyfall entweder von der Wahrheit der Sache, oder von dem Interesse her-
kommen kan, das wir an dem Autor nehmen. Eine Sache kan von nicht
großem Gewichte seyn, wir sind aber einmahl davon praeoccupiret, obgleich
die Sache sehr {_l_→_s_}eicht ist, demnach ists schwer beym Beyfall zu unterscheiden, ob
der Beyfall durch den Verstand, oder durch das Zuthun unserer Neigung
entstanden ist; es ist aber sehr nöthig darauf acht zu geben. Oft ists eine
grobe Anhänglichkeit an den Autor, wo eine vorgefaßte Meynung; aber auch
schon daß verdient untersucht zu werden, woher komt es daß wir immer
Sachen Beyfall geben, bey der nur schwache Gründe sind, hier ist der Beyfall
indirecte durch Beimischung unserer Neigungen entstanden.

/Leichtigkeit in der Erkentniß nimt sehr ein, sie ist eine Ersparung unserer
Kräfte, und hat den Vortheil daß außerdem daß sie {_aus_→_uns_} Kräfte auch
noch das Vermögen übrig läßt, dieselben anders anzuwenden. Die Leichtig-
keit etwas zu verstehen, gilt oft für Deutlichkeit. Manche Erkentniße sind
jederzeit schwer zu verstehen, und sie bleiben immer eine Last man mag
sie drehen wie man sie will. Wenn man nun aus Wißenschaften von
dieser Art gründliche Erkentniß {_sucht,_→_seicht_} vorträgt, so daß sie leicht zu verste-
hen werden, so sagt man sie sind deutlich, aber daß ist falsch, und man
muß unterscheiden, daß die Deutlichkeit vor den Verstand, die Leichtigkeit
aber vors Gefühl ist. Was schwer ist bleibt freilich {_nur dann_} undeutlich, wenn {_ich_} die Schwie-
rigkeit es zu untersuchen nicht haben will, sonst wirds mir bald deutlich
werden es ist dahero falsch, etwas was keine Leichtigkeit bey sich führet
Dunkelheit zu nennen

/ Die

|P_24

/Die Lebhaftigkeit komt zu einer Erkentniß hinzu, und ist sehr hoch zu
schätzen. Sie thut aber der {_kleinen_→_klaren_} Verstands_Anschauung oft Abbruch, den sie
macht daß unsere Einbildungs_Kraft oft mit dem Verstande davon läuft, denn
wenn die Einbildung exerciret ist, so bindet sie sich nicht an die Schrancken des
Verstandes

/Die Ordnung gründet sich auf das Vermögen unsers Witzes, und unsere Einbildungs
Kraft urtheile«n» zu paaren. Manigfaltigkeit ist das nothwendigste, was man
in einer Erkentniß suchen kan; den es führt die gröste Erleuchtung des Gemüths
mit sich. Die Ordnung ist schon peinlicher, aber wenn man sie recht eingesehen hat,
dünkt sie uns doch noch reitzender als die Mannigfaltigkeit. Den bey der Mannig-
faltigkeit überlaßen wir uns duldend dem Spiel verschiedener Gegenstände,
aber Ordnung zwingt {_unr_→_uns r_}egelmäßig zu bleiben, die Verknüpfung der Erkent-
niß endlich macht das gröste der Erkentniß aus, aber es ist auch zugleich das
schwerste, das zergliederte in einer Erkentniß einzusehn. Manche Comoedien
wenn sie auch nicht viel enthalten, divertiren uns bisweilen, aber im gantzen
gefallen sie uns hernach doch nicht. Leßing hat in allen seine Schriften den
Fehler {_in den Theilen_} unterhaltend zu seyn, und im gantzen weiß man doch nicht was er
haben will, man findet da{_ß_→_s_} in Natan der Weisen, und alle seine Schauspiele
misfallen so gar, weil sie kein gantzes ausmachen. Unsere Natur ist schon
so daß der Mensch eine Einsicht des gantzen haben will, und nicht zufrieden
ist, als wenn er alles in einer besondern Verbindung zu einem Zwecke
sieht. Daher müßen wir darauf attendiren was Beyfall und Mißfallen
bey uns erweckt, theils um den Grund unsers Tadels angeben zu können,
theils um wirkliche Fehler aufzusuchen

/ ≥ Von der Sinnlichkeit im Gegensatz des Verstandes

/Dies ist ein wichtiger Punckt, den eins Theils sagen die Moralisten, daß
die Sinlichkeit die Vernunft gantz verwirrt, und daß ein nicht beyzulegender Zwist
zwischen beyden ist, {_die_→_der_} unzählige Unordnung verursacht, andern Theils klagen
die Logiker sehr über die Sinnlichkeit, denn sie sagen die Ursache aller Blendwercke
ist die Sinnlichkeit, sie unterbricht die Vorstellung des Handelns, und bringt den
falschen Schein hervor, durch den der Verstand leicht hintergangen werden kan.
Aus dieser Anklage der Sinnlichkeit sollte man glauben, als wenn alles gute
aus dem Verstande käme, und die Sinne die Ursache alles Bösen wären,
und als {_was_→_wenn es_} beßer wäre, daß wir gar keine Sinne hatten. Aber man
muß bemercken, ohne Verstand würden wir gar nicht dencken, aber weil
wir ohne Sinne gar nicht anschauen würden, so {_würde der_} Verstand ohne Sinne gar keinen
Gegenstand finden. Die Sinne ohne Verstand würden wenigstens gewiß
Anschauung haben, der Stoff zum dencken wäre da, wenn gleich nicht gedacht

/ würde

|P_25

/würde. Wäre aber der {_Ver_}Stand ohne Sin: so würde er die Form des Denckens
haben ohne dencken zu können. Die Sinne geben den Stoff zum Dencken, und sind die
Grundlage aller Menschlichen Erkentniß. Der Verstand aber kan ihre Vorstellungen
durch reflectionen bearbeiten, und daraus ein regelmäßiges Gantze machen, sie
laßen sich also nicht entbehren, und man kan vieles zu ihrer Verteidigung sagen,
wir wollen also zwar nicht einen Panné{_¿¿¿_→_regique_}, aber doch eine Apologie der Sinne
entwerfen, und ob zwar nicht erheben, sie doch schuldfrey machen.

/Die Sinne betrügen uns nicht, und wir könnens den Sinnen nicht beymeßen, wenn wir
in unserm Urtheil irren, denn die Sinne urtheilen gar nicht, sie geben nur die Ge-
genstände in der Anschauung, über welche der Verstand urteilen soll. Da man aber
zwar die Schuld auf andere schiebt, und wir bey den Sinnen passiv sind, so mögen
wir diesen gerne Schuld geben, den Verstand aber, der hier sein Geschäft nicht «mehr»
recht verwaltet hat, wollen wir frey sprechen. Denn die Menschen sind überhaupt so
gesinnt da sie gern die Schuld andern beymeßen, da nun die Sinne dem Men-
schen {_die Sache_} so vorstellen, wie er davon afficirt wird, so kan er hiebey nichts ver-
sehen haben, wenn aber der Verstand übereilt im Urtheil war: so kan {_ihm
das beygemeßen wer_}den, denn hier ists keine passivität und recep-
tivitaet, sondern eine Thätigkeit, und da suchen wir also alle Vergehungen
von ihm abzulehnen. Die Sinne betrügen also den Verstand nie; der Verstand
kan zwar über die Ausschauung irrig urtheilen, aber daß ist seine Schuld,
und ein Mangel der Aufmerksamkeit bey ihm

/Die Sinne verwirren den Verstand nie, und man hat ihm das nie eigentlich
beweisen können. Sie geben uns eine Menge von Vorstellungen, aber die
Dunkelheiten in denselben rühren vom Verstande her. Den die Deutlichkeit ent-
stehet {_nie_→_nur_} durch die Bearbeitung des Verstandes, also entspringt Verwirrung
wenn der Verstand nicht seine Pflicht thut; denn die Sinne geben keinen
Gedancken, sondern nur Anschauung. Nun kans freylich schwer seyn, wenn
die Sinne ihm viel Anschauung geben, daraus Ideen zu machen, aber desto
reicher wird auch die Erkentniß. Wir können die Sinnlichkeit betrachten, wie
sie dem Verstande entgegen wirkt, oder wie sie ihm vorteilhaft scheint. Die
Sinnlichkeit ist dem Verstande wie gesagt unentbehrlich, weil wir ohne Sinn
keine Anschauung haben würden. Man sagt auch oft zum Lobe der Erkenntniß
die Sache sey sehr sinnlich vorgestellt, daraus sehen wir schon, daß die Sinn-
lichkeit nicht Unfug anrichten müße, sondern ein nothwendiges Instrumet
des Verstandes sey, {_das_} was der Verstand vollkommen gemacht hat, in der
Anschauung faßlich zu machen, und dies Sinnlichmachen geschiehet durch Bey-
spiele. Auf der andern Seite macht die Sinnlichkeit dem Verstande oft
Schwierigkeit, indem sie ihm zu viel darbietet, ehe er alles in der Ge- 

/ schwindigkeit

|P_26

/Geschwindigkeit bearbeiten kan. Unsere Sinne schweifen sehr aus, und dadurch
wird der Verstand oft überhäuft, aber daß ist noch kein wesentlicher Fehler,
den erstlich gewöhne deine Sinnlichkeit, daß sie dem Verstande nicht mehr darbiete;
als er brauchen kann; übrigens dencke nicht daran, die Sinlichkeit zu schwächen, den
dadurch nimst du der Erkentniß des Verstandes die Lebhaftigkeit, ohne welche sie gar
keine Deutlichkeit haben kann; denn wenn ich kein Beyspiel aus den Sinnen nehmen kan:
so sind meine Begriffe nicht verständlich. Hier ist also ein gemeinschaftlicher Vertrag
zwischen beyden Kräften, und die eine kan ohne die andere nicht gebraucht werden.

/Man sieht in der Beredtsamkeit die gröste Verbindung des Verstandes mit der Sinnlich-
keit, in der poesie ragt die Sinlichkeit oft vor dem Verstande vor, doch macht daß
wenn beyde verbunden die gröste Vollkommenheit aus, dies sieht man daraus,
daß in der Wißenschafft wo die Sinnlichkeit gar nicht gebraucht wird, z.B. der
in der abstracten Filosofie es die äußerste Schwierigkeit macht, etwas zu
verstehen; die Sinnlichkeit ist also etwas, daß dadurch daß sie nicht discipli-
niret ist, dem Verstande zufälliger Weiße zu wieder seyn kan - . Ein Mensch
ist sinnlicher als der andere - Wir unterscheiden in uns die Thierheit und
die Intelligentz, durch die Thierheit vereiniget sich der Mensch mehr mit
den Thieren, durch die intelligens betrachten wir den Menschen von der Seite
des Verstandes. Der Verstandt giebt Regeln, und die Sinlichkeit enthält
den Stoff zu alle dem, wovon der Verstand die Regeln des {_guten_} Gebrauchs
macht. Ein Mensch ist sinlicher als der andere heist: der eine folgt mehr
den Trieben der Sinne, der andere mehr den maximen des Verstandes. Das
Talent des einen Mannes ist mehr auf Sinnlichkeit, bey einem andern
mehr auf Ausübung des Verstandes gerichtet, der eine geht mehr auf Vergnü-
gen und Spiele der Sinnlichkeit, der andere mehr auf Begrife. Es ware
gut beyde Vorzüge gehörig zu verbinden, aber das geht nicht immer an@.@
Wir können dahero generaliter sagen. die Sinne müßen nicht geschwächt,
sondern unter die Disciplinen des Verstandes gebracht werden, damit
sie aufhören Hinderniße des Verstandes zu seyn. Die Sinnlichkeit
ist zu unterscheiden nach der Verschiedenheit des Geschlechts und nach der
Verschiedenheit des Alters. Das 2te Geschlecht {_ist_} von größerm Einfluß der
Sinnlichkeit, und von wenigen Kräften des Verstandes. In der Annehm-
lichkeit unsers Lebens komt viel auf Sinnlichkeit an, aber das nützliche
im Leben, wodurch daßelbe Dauerhaftigkeit erhällt, das praecaviren komt
auf den Verstand an. Darum hat die Vorsehung dafür gesorget,
daß das eine Geschlecht die Mittel in Ansehung der Annehmlichkeit
des Lebens haben müste, und den Vorzug in Ansehung der Dinge

/ des

|P_27

/Geschmacks haben sollte, der andere Theil hingegen bekam mehr Talent in An-
sehung der Dinge des Verstandes. In der Jugend ist mehr Sinnlichkeit als im hohen
Alter. Das tiefe Nachdencken aber, und wo man sich lieber der Begrife bedient,
ist nicht ein Geschmack der Jugend sondern des Alters

/Orientalische Volcker und alle die Nationen, wo die Natur mit gröster Milde ihre
Mannigfaltigkeit verbreitet hat, haben mehr Talente der {_Redlichkeit_→_Sinnlichkeit_}: dagegen gründ-
liche Beurtheilung des Verstandes mehr ist {_mehr_} bey den Volckern, wo die Natur stifmütterlich
verfährt; Bey allen nordischen Volckern, wo sie selbst fleißig zu ihrem Unterhalte seyn muß, ist
das Verhältniß des Verstandes zur Sinnlichkeit größer. Die Schriften der Orientalen
beruhen mehr auf lebhaftere Einbildungs_Kraft, als auf gründliche Einsicht des Ver-
standes. Wir finden bey ihnen nie filosofisch bericht{_@e@_→_ig_}te Begrife, sondern eine
feurige Einbildung, und alle Überzeugungen geschehen zwar auch «mehr» durch den
Verstand, aber mehr durch die Lebhafte Einbildungs_Kraft - Wir können virtuosen
der Sinnlichkeit und Meister des Verstandes haben Mahler Dichter sind virtuosen
der Sinnlichkeit, wo nicht so wohl Wißenschafft, als vielmehr eine gewiße Geschick-
lichkeit erfordert wird, die in einem besondern Grade der Vollkommenheit an-
getroffen wird, die mehr auf Kunst beruhet. Dies sind virtuosen der Sinnlichkeit. Hinge-
gen die Mathematiker, und Filosofen sind Meister des Verstandes: sie vereinigen
sich aber darin, das einer vom andern immer etwas annimt. Der Dichter nimt von
Filosof{_ie_→_en_} Begriffe, um dadurch seiner Kunst Stärcke zu geben, der Filosof hingegen
kan seinen abstracten Begriffen durch po{_@¿li¿@_→_e_}tische Ausdrücke mehr Leben geben.
Es ist sehr schwierig daß man gemeiniglich von den Sinnen anfängt, und zum
Verstande fortgeht. Man cultivire deshalb bey der Erziehung die Sinnlichkeit wohl,
und lerne den erst etwas von den Gegenständen kennen, und gebe ihm nicht alles
durch Beschreibungen zu erkennen, die mehr im Verstande sitzen als durch die Ein-
bildungs_Kraft gegenwärtig gemacht werden können, dies schärft den Gebrauch
unserer Sinnlichkeit. Man cultivire etwa die Einbildungs-Kraft durch Malereyen
aber dieser Cultus muß immer neben der Ausbildung des verstandes angetroffen werden,
damit nicht eine zügellose Einbildungskraft daraus entspringe

/ ≥ Von positiven %.und negativen unserer Erkentniß

/Es ist in unserer Erkentniß ein sehr gläntzender Theil, nehmlich der negative Teil der Erkentniß, der nichts thut um die
Erkentniß zu vermehren, sondern uns von Irrthümern abzuhalten. Diese Erkentniße haben den nur einen
negativen Werth, das baare Capital unserer Erkentniß bekommt keinen Zusatz, durch sie{_;_} aber «sind»
wir {_sind_} dadurch sicher, daß wir keinen Verlust leiden werden. Es schaft Irrthümer weg, welche
vermeintliche Eigenthümer sind, von denen man glaubt daß man darauf Anspruch machen kan
In manchen Erkentnißen ist das negative das vornehmste Object, wo uns Regeln gegeben werden
was wir in Ansehung {_des objects_} zu beobachten, und für welche Verblendungen wir uns zu hüten haben. Hier müste
also die Unterweisung mehr negativ als positiv abgefaßt seyn, weils nicht dar{_¿¿¿_→_auf_} hinaus gehet
in der Wißenschafft ein extendirtes W{_@es@_→_iß_}en hervorzubringen.

/Das positive unserer Erkentniß ist vorzüglicher als das negative: denn alles was uns

/ einschränckt

|P_28

/einschränckt hat wenig Reitz, da wir beym positiven die Freyheit haben, uns mit unserm
Witz hinzuwenden wohin wir wollen, so nimt man lieber mit einem Scheinwißen vorlieb,
welches wenns zwar geträumet, doch immer belustiget, den Irrthümer {_finden_→_führen_} doch immer
einen Schein der Wahrheit und Ergötzlichkeit bey sich. Socrates sagte er wiße nichts. d.i er
kenne das gantze der %.menschlichen «Natur» Vernunft das Erlernen der Wißenschafften und das vermeintliche
Wißen in Sachen der Speculation in seinem Unwerth. Daraus schloß er, daß alles, was nicht zur Beßerung
der Menschen beytragen könte, unnütz sey. Er unterschied sich also von den speculati{_¿¿¿_→_ven_} Schulen,
der Filosofie, durch das negative. Helvetius sagt: Die Menschen wißen alles, außer
dem was Socrates wuste.

/Rausseaux Plan der Erziehung ist negativ. Er sagt: der Keim des Guten sey dem Menschen in d¿¿
Natur gelegt, der Erzieher hat also nicht nöthig, das Gute zu befördern; sondern nur zu verhüten
daß das Böße nicht wurtzele; und: daß die Verderbniß abgehalten werde. Dadurch wird
der Zügling nicht in seiner Erkentniß erweitert, sondern nur die corruption wird von ihm
abgehalten; und dieser negative Theil der Erziehung ist freilich der wichtigste. Diogenes
Glückseeligkeit war negativ, sie war bey ihm die Entfernung von allem Schmertz. Er führte
den Menschen jedem Schmertz entgegen, um ihn abzuhärten, eben so war «die» das principium
der Stoiker {_Satire et abstiel_→_sustine et abstine_} negativ, daß man nehmlich gantz wieder den Schmertz gestählt
werde, und, Vorzüge des Lebens entbehren könne.

/Viele reformen können in Wißenschaften vorgehen, die alle negativ sind. Ein Artzt, der lange
seine Kunst exercirt hat, und: zugleich negative principien beym Patienten ausübt, ist der
der ihm oftmals gar keine medicin giebt, und: in gewißer Art dem Krancken seiner Hülfe
entbehren, macht, damit er der Natur keine Hinderniß lege, die in sich selbst die Quelle
hat, sich selbst zu helfen. Diese negative Methode den Krancken zu behandeln, diese negative
Artzeney Wißenschafft ist der höchste Gipfel der Medicin. Es gehört dazu nicht Wißenschaft
sondern Einsicht in Oeconomie der Natur, und: selbst Uberwindung von dem pedantischen
Stoltz, wo ein jeder mehr sucht, seine Geschicklichkeit zu zeigen, als dem Krancken zu helfen.
«und» Reform im Religions_Vortrage ist, Ist daß der Lehrer nicht seine SchulWißenschafft auskra-
me, sondern in seinem Vortrage das nützliche erleitere. Den alle Reformen laufen darauf
hinaus, viele Wißenschafften ohnentberlich zu machen. Unsere Rechts Gelehrsamkeit ist mit
so {_¿¿¿_→_vielen_} Einschränkungen, und: subtilitaeten überladen, daß vor dem vielen Wesen
oft der, der die <ge>rechte Sache hat, sein Recht verlustig gehet, zum simplificiren und: wegschneiden
vieler Gelehrsamkeit ist die negative Methode die Veranlaßung

/ ≥ Vom leichten und Schweren.

/Es ist ein Unterschied zwischen schwer und: beschwerlich, die Schwere bezieht sich auf Vermögen
die Beschwerlichkeit auf Lust. Eine Rechnung wo man nur zu addiren hat, ist leicht, indem
{_nicht_} viel Kunst und: auch nicht viel Verstand dazu gehöret. Aber es gehört soviel Selbstüber-
windung darzu. D.i. es ist beschwerlich. Man verwechselt diesen Unterschied des Schweren und
Beschwerlichen nicht nur in Sprachen sondern auch in der Empfindung. Trockene Wißenschafft@en@
haben keinen Reitz bey sich, da nun das Gemüth nicht mit genugsamen Trieb darauf verfällt
so ist die Arbeit beschwerlich, und: da es mit seiner Aufmercksamkeit {_@mir@_→_immer_} wo anders ist
so giebt es sie auch vor schwer aus. Wir sind mit einer Menge von %gesellschaftlichen vexationen

/ überladen

|P_29

/und pflagen uns alle aus lauter Hoflichkeit, denn wir halten uns bey Cremonien und
@Manieren@, wodurch diejenigen oft in Verlegenheit kommen, die sich nicht darauf verstehen.
@Es@ ist eine solche «von» Ausübung von Ceremonien nicht schwer, daher können auch die, die sonst
nichts können, solche Ceremonien ausüben, ohne daß es ihnen schwer wird. Dies sind die geschäftigen
MüßigGänger, die ardeliones, die immer kriechen und doch nichts thun, denn da sie mit dem Ver-
stande nichts zu thun haben, und doch gerne was thun wollen, so verfallen sie auf so etwas.
Wer aber nicht im geringsten Nutzen @davon_→_daran@ sieht, dergleichen zu thun, dem wirds beschwerlich.
@z.@B. warum man Gratulationen abstatten, visiten geben, und in einem Trauer Hauße Trauer-
@K_→_k@leider anziehen soll, da man doch nicht im geringsten Nutzen @davon_→_daran@ sieht, ist einem Men-
schen von Vernunft alles unerträglich, weils nichts nutzt. Es giebt solche Plackereyen die
oft Staatsbeschäftigungen und Religion angehen: Beschaftigungen die weder dem Fürsten
noch dem Unterthan etwas nützen. Gebräuche die uns aufgeladen sind, und die die Religion
{_viele_→_¿¿¿_} nicht {_nach_→_gar_} hemmen, und gar keinen Nutzen haben, sondern uns allenthalben auf unnütze
Dinge führen - Etwas leichtes zu thun bringt keinen Ruhm, aber etwas andern leicht machen ist
ein Verdienst. Etwas schweres auszurichten giebt einen Beweiß des Vermögens, und so haben
viele dadurch Ruhm zu erwerben gesucht, daß sie etwas schweres ausübten. z.B. Sie machen
Verse die sich rückwarts und vorwärts leßen laßen, ohne dahin zu sehen, obs sonst
etwas nutzen möchte. Aber es verdient doch immer einen Grad von Ehre; den der
Mensch zeigt doch immer, daß er ein gewißes Talent besitzt, die Sache mag geschehen, durch
welche Verstandes Kraft sie will, aber er verdient auch Verachtung, wenn er sein Talent
unnütz anwendet. Aber etwas schweres andern leicht zu machen bringt Verdienst. Dahin
zwecken alle Maschinen. Es ist aber besonders das Staaten, Maschinen %und Fabriken ver-
bieten weil die Sache dadurch gar zu leicht gemacht wird. So ist bey uns die Bandwerker-
maschine abgebracht, weil ein Mensch so viel thun kan, als 10 andere, die dadurch außer
Arbeit gesetzt werden. Der Seiden_Haspel macht viele Hände überflüßig, und thut
mehr als 30 - 40 Personen thun können. Eben deshalb sind in Engeland keine {_Seiden_→_Schneide_}mühlen
erlaubt, weil dadurch nach ihrer Meynung das Holtz gar zu leichte in Bretter verwandelt
wird - sich etwas leicht vorstellen was doch schwer ist, ist ein principium der seuchten Köpfe.
Der dem alles leicht zu seyn scheint, giebt sich nicht mehr Mühe, und es fehlt bey ihm Be-
urtheilung deßen, was zur Sache erforderlich ist. Der «Man» Mensch der sich von seiner
Pflicht nur einen kleinen Begrif macht, wird sich zu allem offeriren, dann seine Begriffe
sind so eingeschränckt, daß er gar nicht sieht, was dazu gehöret. Er stellt sich die wahre
Beschaffenheit der Sache nicht vor, und daher wird ihm alles leicht: {_sie_→_So_} sind die etourdis
die sich zu allen Stellen offeriren, weil sie nicht genugsame Einsicht in ihre Pflicht haben,
oder gewißenlos genung sind eine Sache zu unternehmen, von der sie wißen daß
sie ihre Pflicht nicht erfüllen können, daher ists nöthig, einem Menschen etwas
schwer zu machen, ihm alle Beschwerligkeiten vor Augen zu stellen, damit er
sich ja nicht irre - Bey der Erziehung soll heutiges Tages dahin gesehen werden
daß es dem Leser schwer sey, dem Lehrling aber alles leicht gemacht werde, ehedem
aber wars gewöhnlich, daß es der Lehrer sich commode machte, und allein der Lehrling

/ schwer

|P_30

/hatte. Der Lehrer durfte etwa nur den Schüler aufsagen laßen, jetzt aber soll der Lehrer
nachdencken, wie er die schwachen Fähigkeiten des Schülers am besten entwickele, und
ihm vorarbeite, doch wird diese neue Methode sehr schwer allgemein werden, den der kleine¿
Lohn der Lehrer kan sie nicht dazu bewegen, und es sind dazu schon cosmopolitische Be-
griffe nöthig - der dem alles leicht fällt hat eine große Vollkommenheit. Mancher Mensch¿
wenn er merckt daß einem andern etwas schwer wird, fühlts gleichsam selbst. Wan¿
wir einem andern eine Last heben sehn, so halten wir den Othem sympatetisch mit an
und st@ä@hnen mit. Wenn wir mercken daß es dem Prediger schwer wird, so wirds uns
selbst {_ziemlich_→_peinlich_}. Wir können harte Worte in einer Schrift nicht leiden, weil wir die Be-
schwerlichkeit deßen zu empfinden glauben, der diese Worte aussprechen soll.

/Es läßt manchen etwas leicht, obs ihm gleich nicht leicht wird, darinnen ist Voltaire vorzüg¿
lich, und seine Schriften laßen sehr leicht, und wenn man versucht es nachzuahmen, so wird
man eher eine künstliche Schrift, als dies leichte der Schreibart zu stande bringen. Aber
dies leichte wurde selbst dem Voltaire nicht leicht, den er verwandte viele Mühe
auf diese Arbeit, und brachte die Hälfte derselben schlaflos zu, daß er auf Einfälle
dachte, und dadurch brachte ers dahin, daß alles was er schrieb mit einer gewißen
Nettigkeit gedacht war, so daß es jeder leicht erkennen konte. Dies ist das ange-
nehme in der Schreibart, und das Gegentheil von dem, dem alles schwer läßt, und der
schwerfällig und steif wird.

/Den Umgang kan man al{_@so@_→_s_} eine Sache der Erholung ansehen; den es ist keine Arbeit und kein
Geschäfte: denn alles daß heißt Arbeit, was an sich kein Vergnügen bey sich führet, sondern¿
nur durch den Zweck vergnügt. Dahero kan eine Arbeit beschwerlich seyn aber der
Zweck belohnt sie, dagegen giebts Beschäftigungen in der Muße die Annehmlichkeiten
bey sich haben. z.B. bey Beschäftigung des Spiels, diese Beschäftigung vergnügt unmittel-
baar ohne weitern Zweck - Wenn wir zur Tafel gebeten werden ist ein Hauptzweck
mit das Eßen, aber doch thun bey Tische alle, als wenn sie nicht ans eßen dächten,
und als wenn das Gespräch vom Kriege. p. die {_Haabsucht_→_Haubtabsicht_} ihrer Zusammenkunft wäre
und folglich ist der Umgang ein pures Spiel, und hat weiter keinen Zweck vor sich, d¿¿
uns die Mühe des Umgangs belohnen könte. Dahero muß aller Umgang leicht seyn,
denn es ist lächerlich da ängstlich zu arbeiten, wo man keinen Zweck hat. Wird der Um-
gang peinlich, so hab ich beym Umgange einen Zweck, aber da ist er keine Unterhaltung
mehr sondern eine Arbeit. Unser Umgang ist mit einer solchen Menge von Ceremonie¿
beladen, daß er eine Arbeit wird, mancher macht sich die Arbeit recht sauer, und
praepariret sich auf Materien der Unterhaltung. Das Spiel wird in manchen Häuß¿¿¿
zur Arbeit, denn es wird mit solcher Ernsthaftigkeit betrieben, als wenns ein wichti-
ges Stück Arbeit wäre, daß man vorhätte. Der Umgang also nach allen seinen
Artikeln muß leicht seyn, und es muß alles leicht laßen, und die steifen, dem
Umgange nachtheiligen Ceremonien müßen wegfallen, damits nicht so sey wie

/ bey

|P_31

/den Chineser, wo jeder sein Compliment auswendig weiß wie den Catechismuß, und der
andere immer auswendig weiß was er drauf antworten soll. Aber Alles was leicht {_ist_→_läßet_} verschönert
den Umgang %.und macht ihn zugleich anständiger - zu dem was schwer ist gehöret anhaltende Be-
mühung %und große Arbeit. Mann nennt das mühsam, wozu anhaltende {_Arbeit_→_Bemühung_} erfordert wird, die
lange fortdauret. Man nennt etwas schwer wozu große Kraft auf kurtze Zeit erfordert wird.
Es sind Nationen die entweder ein oder die andere Art von Arbeit lieben. Verschiedene Nationen
sind in ihrer häuslichen Arbeit emsig, und arbeiten mit geringer Kraft continuirlich. Die
Preußen hingegen arbeiten schwerer aber nur eine kurtze Zeit. Man hat das Sprichwort faule
Leute arbeiten sich zu Tode. D.i. nicht, sie arbeiten sich aus Fleiß zu Tode, sondern sie
arbeiten um hernach zu faulentzen: sie strengen ihre Kräfte so an, daß sie sich fast
zu Tode arbeiten, um nur bald ruhen zu können. Der fleißige Mann hingegen arbei-
tet fleißig und continuirlich. Man muß sagen alle Menschen haben einen Hang zur Faulheit,
nehmlich erst unbeschreiblich viel auf einmahl zu thun, um hernach desto länger faul zu seyn.
Hier ist die Faulheit der Antrieb zur Arbeit, aber der wahrhaftig fleißige {_vervortheilt_→_vertheilt_} die Ar-
beit, und macht keine Intervallen der {_Unthulichkeit_→_Unthätigkeit_} wie der Faule thut. z.B. sie tragen Lasten auf
den Rücken die ihre Gesundheit schwächen, der Fuhrman der mit 2mahl gemächlich eine Fuhre verrichten
könte, fähret einmahl, und übertreibt die Pferde blos um desto länger ruhen zu können. Wenn die
Arbeit an sich beschwerlich aber doch leicht zu machen ist, so führet sie unmittelbar Vorzüge mit sich. Wenn
man die Kraft ver«wenden»<mindern> will, so darf man nur die Zeit verlängern, und daßelbe pondus, daß der
andere der die Zeit verkürtzen will, mit vergrößerter Kraft zu stande bringt. Im gemeinen Leben
ists beßer eine kleine Kraft anzuwenden, %.und so «daß» das Gemüth beständig geschäftig zu erhalten, an
der Stelle daß die angestrengte Bemühung uns immer einen Theil des Lebens entziehet. Leicht arbei-
ten ist langweilig; kurtze Zeit arbeiten, wenn alles aufs äußerste angestrengt ist, ist Zeitkürzen-
der, aber daß, was die Menschen am meisten lieben, denn es ist ihnen zu langweilig in beständiger Arbeit
zu seyn.

/{_Cholörrische_→_Colerische_} Leute heißen geschäftig, und erwehlen mancherley Geschäfte, der cholörische ist ein Feind vom
nichts thun, und ehe er gantz müßig ist thut er etwas bößes. Der Phlegmatikus ist gut zu langwieriger Ar-
beit auf lange Zeit, der Sanguineus zu leichten Arbeiten auf kurtze Zeit. Alles wozu Emsigkeit erfor-
dert {_wird_}, erfordert auch Pflegma, und nicht nur Emsigkeit, sondern auch eine langdaurende Emsigkeit.
Es giebt viele Arbeiten wozu pflegmatische Personen erfordert werden. z.B. die lectiones variantes
aufzusuchen, ist eine Bemühung wozu man viel Plegma haben muß. Der Sanguineus haßt schwere Arbeiten
%und verlangt leichte, die kurtze Zeit dauret. Der prospect der Ruhe giebt ihm Kräfte, sich eine kurtze Zeit
und lebhaft zu beschäftigen, aber er muß behende seyn damit er geschwinde fertig wird und nicht
viel Kräfte gebrauchet. Es sind verschiedene Wißenschafften und Künste, wovon einige mehr kurtze
Zeit daurenden Fleiß, andere mehr angestrengte Arbeit und Bemühung erfodern.

/ ≥ Von der Gewohnheit

/Die Wiederholung einer Handlung erleichtert sie, und giebt uns Geschicklichkeit sie leichter zu verrichten.
Durch die Gewohnheit vermindern sich die Beschwerlichkeiten, und der Eindruck des schweren verliehrt
sich, wenn man etwas öfter wiederholt hat. So ists mit jeder Empfindung, so gar die Kälte ver-
mindert sich, wenn man lange darin ist. Daß was man Gewohnheit nent ist einer besondern
Untersuchung «nöthig» würdig. Das Wort ist so geläufig, und oft können wir daß doch nicht ausdrücken
was wir darunter verstehen! - Man unterscheidet Gewohnheit und Angewohnheit. Gewohn- 

/ heit

|P_32

/Gewohnheit macht Handlungen leicht. Die Angewohnheit macht Handlungen nothwendig. Sich an Hand-
lungen gewöhnen, kan erlaubt seyn, aber sich etwas zur Angewohnheit machen taugt nichts, denn es hin-
dert unser Gemüth zu 2. Gegenständen gleich disponirt zu seyn. Der Mensch macht sich dadurch selbst
Schwierigkeiten, und hat sich an etwas gewöhnt, und das bringt zuletzt beym Menschen Ungemächlich¿¿¿
hervor, daß unser Gemüth nicht immer gleich zu Handlungen disponirt ist, so daß in der {_Umgänglichkeit_→_Ungemächlichkeit_}
worin unser Gemüth ist, es ihm nicht immer leicht ist, etwas zu thun, und zu laßen. Angewohnheit taugt
also nicht, ja auch gute Handlungen verlieren ihren Werth, wenn sie als eine Ausübung der Angewohnheit
angesehen werden, denn da geschehen sie nach einer mechanischen Nothwendigkeit. Aber wie wir unsere
Empfindungen durch die Gewohnheit Dinge die schädlich sind erträglich machen, ist beinahe unbegreiflich,
und es läßt sich davon mehr ein fysikalischer als psychologischer Grund angeben. Durch die Ange-
wohnheit des starcken Geträncks bringen Leute es so weit, daß sie ohne Nachtheil viel davon
genießen können, so ists selbst mit dem Gift und mit vielen unsern Nahrungs_Mitteln, und mit
allen den Dingen, die von uns zu einem Reitz genommen werden, ohne auf den Schaden derselben
zu sehen. Mann sollte dencken, es sollte durch die Länge der Zeit mehr schädlich werden, es wird
wird aber mit der Zeit unschädlich. Dies ist der wohlthätigen Vorsorge unserer Natur zu zuschreiben,
die in allen Zufällen eine Selbsthülfe hat, und durch gewiße Feuchtigkeiten die sich im Magen
absondern, werden die hizzigen Geträncke unschädlich gemacht, also hat man das Gegentheil gegen
alle Übel der Gewohnheit in sich selbst, und in der Gütigkeit der Natur, %.und in dem Vermög¿¿
daß sie hat sich selbst zu helfen.

/ ≥ Von der attention %.und abstraction

/Diese beyden Vermögen sind wie das positive %und negative in der Erkentniß unterschieden, seine
Aufmercksamkeit worauf richten heißt attendiren, sie wovon abwenden, heißt abstrahiren.
Das letzte ist schwerer als das erste, und der Mangel der Attention kommt immer daher, weils eine¿
schwer wird von andern Gedancken zu abstrahiren, so daß die Attention gantz leichte ist, wenn
wir nur in der Abstraction zurechte kommen können. Ich würde wohl auf den andern attendiren,
wenn ich nur von dem, was in mir und in der Gesellschafft vorgehet, abstrahiren könte. Den
indem man mit andern redet, wird man oft unverhoft auf sich zuruckegezogen; der an-
dere aber will meine Aufmercksamkeit auf sich gerichtet wißen, und so geräth unser Gemüthe
in Unruhe, und attendiret nur halb - Ich muß also beym attendiren nicht nur dahin sehen
daß ich auf die Sache Achtung gebe, sondern auch daß ich andere Vorstellungen nicht in mir
aufkeimen laße, und muß ihm Hinderniße entgegen setzen.

/Gewiße Personen kan man empirische Leute nennen, und sie von speculativen unterschei-
den. Diese lencken ihr Gemüth blos auf Gegenstände der Sinne, es sind Leute von Geschaften
die auf daß was sie vorhaben wohl attendiren können, aber sie können nicht abstrahiren
und können dahero bey solchen Dingen des Verstandes sich nicht zeigen. Sie bedienen <sich> zwar
ihres Verstandes im gemeinen Wesen bey Dingen die ihnen die Sinne darstellen; allgemei-
ne Sätze aber können sie nicht faßen, den da müßen sie vom äußern abstrahiren, und es
unter allgemeine Sätze bringen. Dagegen sind speculative Köpfe mehr zu Dingen ge-
stimmt, die der Verstand erkennt, und können nicht gut etwas in concreto darstellen

/Alle unsere Attention und abstraction muß so seyn, daß sie in unserer Gewalt

/ sind

|P_33

/sind, und daß ist überhaupt ein großer Vorzug eines Menschen, immer alle Kräfte
seiner Seele in seiner Gewalt zu haben, denn als denn hat er sich selbst in seiner Gewalt, und
es ist zwar gut viele Talente zu besitzen, aber eben so nothwendig ists, daß wir diese Ta-
lente nach unserer Absicht regieren können. Alle hypochondrische Leute haben eine unwill-
kührliche Aufmercksamkeit, wenn sie in einer andächtigen Gesellschafft ehrbar seyn sollen,
sie können aber in Gedancken was ihnen auffällt nicht los werden, und lachen den auf eine
unanständige Weiße, denn seine Aufmercksamkeit ist im unrechten Zeitpunct auf einen
Gegenstand gerichtet. Diese unwillkührliche Aufmercksamkeit macht ihm den Gedancken so leb-
haft, und er schwebt ihnen wieder ihren Willen immer im Gemüthe. Ein anderer aber «waget» <wendet> die
Gedancken davon weg, weil er siehet daß in der Sache nichts mehr zu thun ist, und so handelt man
auch seinen Zwecken am angemeßensten. Die unwillkürliche Aufmercksamkeit beschäftiget das
Gemüth immerfort, daher muß man schon in der Jugend darauf Acht haben, den Hang seiner
Gedancken in Gewalt zu haben, daß ich z.B. wenn mir etwas begegnet leicht überlegen kan,
ob dabey etwas zu thun ist. Sind nun Umstände da von der Art, daß es nicht rathsam wäre Rache
zu beschließen: so ist es nöthig den Gedancken los zu werden, aber es gehöret dazu es zu thun
und jeder Mensch kan es nicht -. Der Mensch der Sorgen frey in der Welt leben will, muß den
gantz seine Gedancken in Gewalt haben, den wenn meine imagination einen aparten Gang
nimt, und auf einem punct haftet, wovon sie nicht abzubringen ist, so bin ich ein Spiel
eines träumenden Gemüths.

/Unwillkührliche Abstraction solcher Menschen nent man Zerstreuung, diese komt aus Gedanckenloosigkeit
wenn wir nicht auf Dinge attendiren, die um uns vorgehen. Sie kan aber auch aus positiven Gründen
entstehen, indem unsere Aufmerksamkeit anders wohin gerichtet ist. Die Gedanckenloose Zerstreu-
ung ist bey den schwächsten Köpfen, die positive Zerstreuung aber ist bey Gelehrten etwas sehr ge-
wöhnliches. Wenn in der Gesellschaft einer was erzählt, so bin ich mit meinem Gedancken abwesend,
und abstrahire also von dem was er spricht: und wende meine attention auf andere Gegenstän-
de. Gemeiniglich komts daher, daß wir mit unserer phantasie daß ausmahlen, was der andere
spricht, und excursionen machen. Das Vermögen zu abstrahiren ist aber im Leben von großer
Wichtigkeit, z.B. bey einer Heyrath kan man eine Person von guten Glücksumständen %und Gaben finden
aber man kan nicht von einer schlechten Gesichts_Farbe abstrahiren; der andere aber kan ohne Schaden
davon abstrahiren, indem seine Attention auf Verdienst geht: Oder wenn ich mit jemand
spreche dem ein Knopf an der Weste fehlet, so kan ich von dem Ort wo er fehlt nicht abstrahiren,
und meine Augen sind immer darauf gerichtet. Denn der Mensch ist immer vors complette,
und sieht immer auf Lücken, so kan man z.B einen Menschen sehr in Verlegenheit setzen
indem man immer auf seine Zahnlucken siehet. Es giebt andere kleine Schaden, unser
Leben aber enthält so viele Gründe der Zufriedenheit, daß wir wohl Ursache hätten von
manchen Ungemächlichkeiten zu abstrahiren, die in der gantzen Summe des Vergnügens,
keinen nahmhaften Einfluß haben, ein reicher Herr kan sich über einen zerbrochenen Pokal
sehr ärgern, der gewis in der gantzen Summe seines Vermögens keinen nahmhaften Einfluß
haben kan. Es ist dahero immer nöthig seine Gedancken auf etwas anders zu richten

/ den

|P_34

/den dadurch wird die Reinigkeit und Gesundheit des Gemüths befördert. - Oft muß man
von allen übrigen Dingen abstrahiren, um eine Sache nach einer Seite zu betrachten. Es ist aus-
gemacht daß der kluge Ausgang einer Sache noch nicht von der Weisheit bey ihr Einfädelung
zeigen kan, denn das Glück komt dazu, aber doch können wir davon nicht gut abstrahiren,
und wir werden den mit weniger Achtung ansehen, der große Sachen unternahm, die
ihm nicht glückten, als den, der nichts dabey that, aber Glück hatte - Wir können oft
nicht von einem schlechten Kleide abstrahiren, bey einem Menschen deßen Verdienste nicht
gestritten werden können, daher haben die Rußen das Sprichwort: man empfängt
den Gast nach seinem Kleide, und begleitet ihn nach seinem Verstande. Wir können
den Eindruck der Kleidung nicht von dem übrigen abstrahiren, so daß man den
Menschen allein nach seinem innern Wehrte aestimirte. Vor seinem besten Bekandte¿
hat man mehr aestime, wenn er wohl gekleidet gehet; hier ist wieder unser
Fehler die abstraction -. Die Stoiker machten daß zum Fundament der Glücksee-
ligkeit, nichts zu aestimiren von allem was in der Welt ist, außer die Tugend
die alleine einen Werth hat.

/Es giebt gewiße verdienstliche Dinge, von denen wir nicht abstrahiren können.
Von einem Karren Geräusche kann man wohl abstrahiren, aber von einem der die
violin probiret, der monotonische Gedichte macht, können wir unsere Aufmerck-
samkeit gar nicht abkehren, unsere Gedancken werden da auf einen gewißen
Gegenstand hingezogen, vor dem wir uns gleichsam fürchten, es werde noch
öfter kommen

/ ≥ Von Haupt und Neben_Vorstellungen

/Es scheint, daß wir allen unsern Vorstellungen mehr Eindruck geben können, wenn
wir sie nicht allein, sondern mit einem Gefolge von NebenVorstellungen darzu-
stellen wißen. Manche Vorstellungen paßen sich so zur HauptVorstellung, wie der
goldene Rahme sich zum Gemählde paßt. Hier ist der Rahm die HauptSache, aber
wenn der Rahm von Golde ist, so ist das Gemählde gemeiniglich nicht gut, denn das
Gemählde allein muß schon so viel Eindruck machen, das man dabey alle andern
Reitze übersiehet. Eine Persohn kan sehr schön seyn, so daß ihre Schönheit allen
Kleiderputz verdunkelt, eben so gläntzen umgekehrt bey einer mittelmäßige¿
Schöne die Kleider am meisten. Dahero das sorgfältige Putzen einen kleinen
Geist anzeigt, weil er nicht bedenckt, daß er so viel er an seinen Kleidern ge-
winnt an seiner Person verliehre. Die Kleidung gewinnt, aber der Mann im
Kleide wird unsichtbaar. Wenn daher einer der eine Rede halten will, sich
mit aller Kunst geputzt hätte, so würde die Aufmercksamkeit eher auf das Kleid
als den Mann gerichtet seyn. Daher muß man sorgen daß das adhaerirende
die Hauptsache nicht verdunkele, sondern daß diese dadurch erleichtert

/ werde

|P_35

/werde, man muß dahero die Hauptsache von der neben_Absicht gut abzusondern wißen,
aber ohne beygefügte entbehrliche Zusätze, kan man keine Sache vor die Augen der Menschen
bringen, so wie kein Mensch gantz nakend vor dem andern erscheinen kan, so daß man
jetzt alles in Saucen einkleiden muß die gegenwärtig sehr geliebt werden. Nun sich auf
diese saucen zu verstehen, daß man das moralische mit einer solchen sauce ab-
kochen kan, an der sich ein jeder delectiret ist eine Kunst. Mit einem unschädlichen
Witz laßen sich ernsthafte Sachen sehr gut vereinigen. Wir haben also hier bey un-
serer Vorstellung auf die Zurichtung des vehiculi unserer Reden zu sehen: nach
gerade incliniret sich die Neigung des Menschen so, daß ihm das vehiculum
lieber wird als die Sache selbst.

/ ≥ Von der Überzeugung und Überredung

/Diese 2. unterscheidet der nicht voneinander, der zwar seiner Sache gewis zu seyn
glaubt, aber deßen Vorwahrhalten nur temporair ist, und der nicht weiß ob es morgen
noch statt finden werde. Dahingegen bey der Überzeugung unwandelbaare Gewis-
heit ist -. Es giebt Leute, die wovon leicht zu überreden sind, dies sind gemeiniglich
solche die mit Parteylichkeiten wovon eingenommen sind, {_ab_→_od_}er die leicht partheiisch
zu machen sind. Von Satzzen, theorien, ist ein Mensch leichter zu überreden als der
andere, der eine erfordert nicht viel, um seinen Beifall zu geben, der
andere erfordert mehr. Diejenigen die nicht lange mit ihrem Beifall war-
ten, geben ihn aus schwachen Gründen, der andere aber prüft genauer.

/Einem ists leicht zu überreden, aber manchen ists schwer etwas auszureden, und
ihn auf andere Gedancken zu bringen. Wenn er sich aus falschen Wahn vorstellt,
daß der andere üble Absichten gegen ihn habe, so kan er {_es_} sich gar nicht wieder
ausreden, das komt daher weil der Mensch lange auf einen Gedancken brütet
und dadurch seine Meynung f{_a_→_e_}st wurtzeln läßt.

/Was bestimt den Werth in Ansehung der Uberzeugung und Überredung? Der Verstand
ist darüber der Richter, aber wir haben auch advocaten unserer Sache, wobey wir
2 Partien gemacht haben. Die Zweckmäßige Beurtheilung der Sache ist dem Ver-
stande aufbewahrt, wir haben aber auch parten, unsere Neigungen, die uns bald
auf die eine bald auf die andere Seite incliniren, und unserm Verstande Wie-
dersprüche und objectiones machen - So gehts mit Systhemen zu (Ein Systhem
ist ein zergliedertes gantze von Erkentniß) Wenn ein Gelehrter ein Systhem
gemacht, oder von andern genommen hat, so bekomt er eine praedilection
davor, und da scheints ihm ohnmöglich zu seyn, etwas anders anzutreffen, was
noch in das Gantze seiner Erkentniß verkettet wäre. Wenn einer über
Sachen nachdenckt, so muß er sich deshalb nicht einem gemachten Systhem

/ eines

|P_36

/eines andern überlaßen, weil der zu starcke Anhang an ein Systhem macht, daß man sich
durch die stärcksten Gründe nicht bewegen läßt davon abzulaßen - Systhemata zu Stande zu brin¿¿¿
dazu wird lange Zeit, und ein Mensch von Talent erfordert, und was einer darinn nicht leisten
kan, leistet die Nachkommenschafft successive. Alle wichtige Dinge die sich in ein system gepaart
haben, bringen eine Festigkeit, und im Gemüthe nehmen sie einen großen Platz ein.

/ ≥ Von den Eigenschaften der Sinne

/Ein Sinn ist das Vermögen, sich Dinge vorzustellen, wie wir von den Dingen afficirt werden. Der
Sinn wird vom Verstande unterschieden. Der Verstand ist das Vermögen zu dencken, er
stellt die Dinge nicht vor, wie wir von ihnen afficiret werden, sondern was die Dinge
an sich selbst sind -. Die Sinne werden eingetheilt in äußere und innere Sinne. Wir stellen
uns vor wie wir von den Dingen afficiret werden, indem wir entweder unmittelbaar
durch den Körper davon afficiret werden, oder wie unser Gemüth ohne Veränderung des
Körpers davon afficirt wird. Das Vermögen sich durch den Zustand seines Gemüths
etwas vorzustellen ist der {_innere_} Sinn, der äußere Sinn wird eingetheilet in die vitale Empfin-
dung und in die Organe Empfindung. Der Sinn der vitalen Empfindung ist ein einiger, er
ist da, wo wir unser gantzes Leben durch Vergnügen und Schertz afficiret finden,
alle diese vitalen Empfindungen sind unbeschreiblich, man f«ind»ühlt sein gantzes Leben
auf gewiße Weiße afficirt: man gebraucht aber dazu keine eigentliche organen
Wärme und Kälte gehören zu den Empfindungen des vitalen Sinns wir fühlen dadurch
keine Gegenstände, sondern uns selbst afficirt, unser gantzes nerven_systhem wird
durch die Wärme oder Kälte angegriffen, so daß sich hiebei kein besonderes organon
im Körper unterscheidet, sondern alle Nerven ohne Unterscheid sind derselben fähig. Es
zeigt sich vorzüglich darinn, daß wir blos Vergnügen und Schmertz dadurch empfinden.
Es entspringen vitale Empfindungen aus unsern Gedancken. z.B. das Gräuseln, wen man
ließt, wie einer am Rande eines hohen Abgrundes geschlafen habe, ist eine Veränderung
der vitalen Empfindung dergleichen Empfindungen aus Gedancken, erfodern wircklich Auf-
mercksamkeit. Der gemeine Mann nents Grieseln, aber daß ist das eigentliche Gräuseln
wo man eine Kälte fühlt, die sich über unser gantzes Nerven_Systhem erstrecket.
Man schaudert über ungeheure Dinge, die mit Schrecken %und Furcht verbunden sind, aber
das Gräuseln entstehet auch aus angenehmen Vorstellungen, etwa bey einem rühren-
den Schauspiel, oder bey einem furchtbaren erhabenen Gegenstande: davon ist der
Schauder unterschieden. Der Schauder betrift immer Gegenstände der Furcht, aber ein
Schauer überläuft einen Menschen bey einer Vorstellung, da der Mensch unerwar-
tet auf {_seine_→_einen_} Gedancken komt. So kan man einige Stellen in Halles Gedichten von
der Ewigkeit nicht ohne Schauer lesen. Da<her> heißt auch Schauer_Regen ein solcher Regen,
der unerwartet komt und Geschwinde vorüber ist. Die Empfindung beym Schauer fängt
auf der Haut an, und durchdringt den gantzen Körper. Es ist kein organ der dazu
ersehen wäre, sondern es geht auf den gantzen Nerven_Bau.

|P_37

/Organe Empfindungen sind die, die auf ein bestimtes Organ eingeschränckt sind, und da
haben wir 5erley organen, davon jedem eine Besondere Empfindung zukomt: diese
sind die Sinne des Sehens, Hörens, Fühlens, Riechens, Schmeckens. Von diesen organen Em-
pfindungen ist merckwürdig, daß einige mehr subjectiv, andere mehr objectiv sind, alle aber
«¿icht» <sind> mehr objectiv als subjectiv, Riechen und Schmecken sind mehr subjectiv als objectiv,
@denn@ durch diese mercke ich nicht so wohl was der Gegenstand ist, sondern ich fühle nur die
Veränderung in meinem subject, diese Sinne lehren mich nichts sondern afficiren mich nur.
@An@dere Sinne sind mehr objectiv als subjectiv, wo ich mir mehr das object vorstelle, als
@die@ Veränderungen in meinem Organ. Beides ist zwar immer zusammen, aber beide Vorstel-
lungen sind nicht von gleicher Stärcke. Beim Gesicht hab ich mehr Vorstellungen vom object
als von der Veränderung in meinem Auge. Wenn aber einer im hellen Sonnenscheine
etwas gläntzendes sehen soll, so fühlt er mehr daß er geblendet wird, als daß er {_nicht_→_sieht._} Da
@is@t die Vorstellung mehr subjectiv als objectiv; aber so wie man gewöhnlich sieht wird
man mehr objectiv als subjectiv afficirt. Eben so wenn einer mäßig spricht, so attendiren
wir mehr auf daß, was er spricht, als daß wir in unsern Ohren die Stärcke des Spre-
chens wahrnehmen sollten: aber wenn sehr starck geschrien wird, wird das Gehör mehr
subjectiv afficirt

/Die object{_en_→_iven_} Sinne können wir in Fühlen, Hören und Sehen eintheilen, in dem wir das
Fühlen oft als eine organ Empfindung betrachten. Nirgends ist Empfindung, als wo Nerven
¿ehen. Man kan deshalb einem Körper die Stelle ausschneiden wo kein Gefühl ist
weil keine Nerven da sind: und wenn man einem Nerven «ab»<zer>schneidet, so kan man da-
durch das Gefühl abschneiden, den indem dadurch die communication des untern Theils
der Nerven mit dem Gehirn gehindert ist, so fühlt man unterhalb Nichts (Sowie
die Muskeln und Fasern die Werckzeuge der willkührlichen Bewegung sind) Die Ner-
ven machen beym Menschen das principium des gantzen Lebens aus, sie breiten sich
wie ein Schleim unter unsrer gantzen Haut aus, so daß man nirgends eine Nadelspitze
hinsetzen kan. Wenn wir also vom tactus als von einer organen Empfindung reden, so
verstehen wir den Sinn darunter der durch andere Sinne gehet, weil die Nerven unter
der gantzen Haut ausgebreitet sind. Aber der eigentliche tactus ist in den Fingerspitzen,
weil da die Närven, Wärzchen (popillas) machen, wodurch ein distinguirtes Fühlen
hervorgebracht wird. Dies ist der eigentliche tactus und der Hauptsinn, denn das
Sehen giebt mir nicht die Dinge zu erkennen nach ihrer körperlichen Beschaffenheit,
haben wir uns aber erst von den Dingen durch Betastung unterrichtet, so können
wir uns hernach einen beßern Begriff davon machen. Denn es ist klar daß unsere Au-
gen uns alle Gegenstände auf einer Fläche vorstellen, die körperliche Gestallt
läßt sich in der camera obscura des Auges nicht wahrnehmen, und wenn man sie
wahrzunehmen glaubt, so komts daher, weil wir die mahlerischen Gestallten, die
uns das Auge darstellt, schon gewohnt sind, so daß wir unmittelbar zu sehen
glauben daß eine {_Kugel_} rund sey, da sich doch in der That jede Kugel in unserm Auge

/ als

|P_38

/als ein Cirkel darrstellt, und als eine Fläche, daß dies gewis sey ist durch verschiedene
experimente bestätiget. Schesel hat einen blindgebohrnen vom grauen Star be-
freyet, dieser konte anfänglich die Dinge unterscheiden die man betasten konte, den
Hund und die Katze konte er nicht eher unterscheiden bis er sie betastet hatte.
Bei Gemählden schien ihm wieder umgekehrt sein Gesicht zu betrügen, denn er fühlt¿
daß, das was er vor erhaben ansah flach war.

/Durchs Fühlen haben wir den Begriff von der substantz: ein Regenbogen sieht uns
so solid als ein fester Körper aus, das Gefühl nur kan ausmachen ob etwas
ein phantom oder ein fester Körper sey. Der Sinn des Gefühls also so niedrig
er auch unter den andern gehalten wird, ist der nothwendigste, und fundamen-
tale Sinn, durch denn wir alles kennen, was den Raum erfüllt, durch denn wir
die körperlichen Gestallten unterscheiden können, und durch denn wir viele
Dinge würden begreifen können, wenn wir sie nur mit ihnen erreichen kön-
ten. Dahero auch blindgebohrne nicht begreifen können, warum ihnen das sehen
nützlich sey, da sie ja alles abreichen können. Aber der Sinn des Gefühles hat
keine große Sphaeren, man kan nicht weit von dem abstehen, was man
durch ihn erkennen soll. Aber der Sinn des Gefühls kan seine Begriffe hinreichen¿
expliciren. Professor Saunderson war ein Blindgebohrner und doch ein großer
Mathematiker, verstand die Optik, und konte so gar klare Begriffe
von Farben geben, so viel sich die Vernunft darüber erklären kan. Der Sinn
des Gefühls ist also eine Instruction <in Ansehung> deßen worüber wir uns vollkommen er-
klären können. Beim Sinn des Gesichts aber können wir nicht von allen
Sinnen complette ideen geben. Vergnügen ist durch denn Sinn des Ge-
fühls nicht unmittelbaar möglich, das glatte und sanfte oder rauhe. z.B.
Sammets möchten den Unterschied dabey ausmachen. Es ist der einzige
Sinn durch welchen wir das object unmittelbaar wahrnehmen. Beim Se-
hen und Hören aber nehmen wir die Sachen durch ein medium wahr, welches
{_der_→_den_} Gegenstand in motion oder Bewegung bringt durch denn wir afficiret
werden. Das Hören stellt uns nicht die Besch{_werlichkeit_→_affenheit_} des Gegenstandes
vor, aber doch einen Gegenstand. Wir werden nicht von Gegenständen affi-
ciret, sondern wir erfahren nur daß ein object da seyn muß, von dem
wir gerühret werden. Wer das erstemahl ein PostHorn hört, kan
sich keinen Begrif davon machen, aber daß weis er, daß etwas
außer ihm sey, da«s»ß den Laut hervorbringt. Kein einziger Sinn

/ theilt

|P_39

/theilt die Zeit so subtil ein, als der Sinn des Gehörs. Mit welcher delica-
tesse theilt die Musik den Takt, und alle die verschiedenen Töne, die auf
einander folgen sollen. Ein jeder Ton ist eine Zeit Eintheilung, ein Ton der eine
¿ctave höher ist, hat eine Schwingung in der Luft mehr. Man hat verschiede-
ne experiemente darüber angestellt, wie viel Bebungen der Luft in einer
Secunde nothig sind, damit der allerfeinste und allergrobste Ton, den man noch
als einen Ton angeben und auch benennen kan, heraus gebracht werde. Und da
hat man gefunden daß beym tiefsten Ton unter allen die Luft sich in einer
¿econde 30 mahl schwingen muß aber beym höchsten Tonn sind 5000 Schläge der
Luft in einer seconde. Hier macht die Bebung der Luft so viele unbeschreiblich
@kl@eine ZeitEintheilungen, daß man es kaum für gültig annehmen könte, wenn
die Beobachtung es nicht genau lehrte, und der calcul davon nicht auf sichern
principien beruhte -. Wir setzen alle Dinge in Raum und Zeit, beide
sind Arten unserer Vorstellung; denn wenn wir die Materien bey Seite
setzen, so ist die Form ihres Zusammenhanges 2fach. Der Raum ist die
Form der äußern Empfindung, {_die_} Zeit von der innern Empfindung. Durchs
Gesicht theilen wir den Raum ein, durchs Gehör die Zeit, zwar nicht will-
kührlich, aber unser Gehör hat doch das Vermögen dazu. Unser Vergnü-
gen in der Musik komt also aus der Mannigfaltigkeit der Zeiteinthei-
lung her. Das Gehör ist ein Beförderungs_Mittel der Mittheilung
unserer Gedancken, wir können wohl durch Mienen und gestus unsre
Gedancken andern mittheilen, aber das leichteste Mittel ist
doch das Gehör. Die Zunge ist das organon des Sprechens, aber das orga-
non der Empfänglichkeit der Sprache ist das Gehör. Das Gehör ist
starck mit vital_Sinn verbunden, dahero kan auch kein Sinn so starck
auf den Körper einfließen, als der Sinn des Gehörs. Die Musik wirkt
sehr starck, und überhaupt thut das Gehör nahmhafte Einflüße auf
das Wohlbefinden des Menschen, denn alles was erschütternd ist {_bleibt_→_belebt_}
d{_¿¿_→_as_} Nervensystem. Alles Kneipfen und Brennen wirckt nicht so, als
was den Körper in Erschütterung bringt. Eben so wie über schwankende
Brücken viele Leute gehen «müßen» können, wann sie untereinander
gemischt sind, wann sie aber ordentlich Tritt halten so ruiniren
sie dieselbe, denn sie schwanckt alsdenn so sehr, als wenn eine gantze
Artillerie darüber gegangen wäre. Die Ursache ist beym ersten Tritt

/ schwanckt

|P_40

/schwanckt sie ein wenig, und das verstärckt sich bey jedem Tritt. Auf eben die Art
ist bey jedem Ton eine gleichzeitige Bewegung von Luftschwingung, und dadurch ge-
schiehts das Musik unser NervenSysthem in Bewegung bringt, und einen nahmhaf@ten@
effect drin verursacht, daher das Gehör der Sinn ist, der in unserer vitalen Empfindung
den grösten Einfluß hat. Man spricht von einem Versuche, vor den die Ärtzte sich aber
scheuen, weil sie fürchten ausgelacht zu werden, ob der Versuch gleich Grund hat¿
Man hat nehmlich das Mittel angegeben durch musikalische Instrumente die Spul-
würmer zu vertreiben. Einen Menschen der sehr damit geplagt war, hat m¿¿
curiret, daß man ihm erstlich eine Abführung, und den ein Brumeisen in den
Mund gab, worauf er, wenn er auf die commoditaet gieng spielte, dadurch
giengen alle Würmer weg. Man dürfte also nur dem der damit geplag¿
wird einen Baß an die Rippen setzen, so würden sie wohl verjagt
werden. Die Ursache ist diese, wir haben in uns einen Darmkanal, der mit
den Saiten der Musik Ähnlichkeit hat. Vermittelst der Nerven erfährt dieser
Kanal Schwingungen, denn wenn das Nerven_Systhem in Erschütterung gesetzt ist,
so geht daß durch den gantzen Darmen Kanal, da werden dan die Würmer die sehr
zart sind erschüttert, können sich nicht mehr anhalten, weil sie betäubt sind, und werden
so durch die peristatischen Gänge abgeführet. Das Wohlgefallen oder Misfallen an der
Musick, komt auch von anders nichts her, als von den unmittelbaren Einfluß derselben
auf den Darmenkanal, und auf das Zwergfell, je nachdem die Erschütterungen der Gesund@heit@
zuträglich oder nachtheilig sind.

/Das Gesicht ist ein objectiver Sinn. D.i. ich stelle mir den Gegenstand als den Eindruck
des Sinns vor. Aber bey einer Blendung attendire ich mehr auf das subject, aber
daß ist den auch unangenehm z.B. die goldenen Becher in Petersburg blenden und
erregen Misfallen. Wir finden beym Gesicht, oder bey dem was die Gestallt der
Dinge betrift viel annologie mit dem Gefühl. Denn ein Lichtstraal der vom
Gegenstande in die Augen fällt i{_¿¿_→_st_} gleichsam ein Stock der vom Gegenstande
in grader Linie auf mein Auge fällt, durch den ich die Oberfläche des Gegen-
standes examinire. Das Sehen geschieht also vermittelst eines medii
das in Bewegung gesetzt wird, nehmlich des Lichtstrals. Farben aber haben
mehr Ähnlichkeit mit dem Gehör. Man kan auf einer Monochorde zeigen, daß die
7 Haupttöne derselben mit 7 Farben des Regenbogens stimmen. Die 7. Farbenstrei-
fen des Regenbogens haben dieselbe proportion als die 7 Hauptöne in einer
octave. Daher auch ein Blindgebohrner dem man die rothe Farbe beschrieb: sagte,
Sie muß Ähnlichkeit mit dem Schall einer Trompete haben. Man hat also Gründe
für diese Behauptung, diese können sie doch nicht genung erschöpfen. Man
hat Menschen die kein musikalisches Gehör haben, die zwar den Schall aber

/ nicht

|P_41

/aber nicht die Töne hören, außer wenn er stärcker oder schwächer ist. Eben so
giebts auch Menschen die kein Auge von Farben haben. So gabs eine Familie in England
die alle Dinge wie Kupferstiche ansahen, indem sie keinen Unterschied der Farben bemerk-
ten. Es zeigte sich ihnen da«s»ß <das> helle und dunkle bey ihnen den Unterscheid, wie ohngefehr zwischen Licht
und Schatten machte. Wenn aber der Mensch gar nichts von den Farben unterscheiden könte,
so würde er viele Annehmlichkeiten verlieren. Eben so, wenn der Mensch die Töne in der
Musik unterscheiden kan, so wird er sich viele angenehme Kentniße erwerben können
Die beyden Sinne die mehr subjectiv als object{_iv_} sind, sind der Geruch und Geschmack. Diese 2 Sinne
scheinen eine gewiße Anologie miteinander zu haben, den indem wir eßbare <Sachen> riechen, schei-
nen «eine gewiße» wir <sie> schon mit dem Geschmack zu aticipiren, wenn ich etwas rieche, «schei-»so
habe ich keinen Begriff von der Gestallt, auch nicht von der Entfernung, oder
Naheit der Sache, sondern der Geruch sagt mir, wie mir zu Muthe ist. Diese
2 Sinne sind solche Sinne, durch welche der Gegenstand genoßen wird, und wodurch
er in die substantz unsers Körpers verwandelt wird.

/Alle Sinne afficiren uns entweder durch einen mechanischen oder durch einen chimischen
Einfluß des Gegenstandes, der mechanische Einfluß geschiehet durch Druck und Stoß, der
chimische durch die Auflößung. Beym Fühlen werden wir mechanisch afficirt, eben so beym
Sehen und Hören, aber beym Rüchen und Schmecken ist der Einfluß des Gegenstandes chimisch
denn da ziehen wir den Gegenstand ein, und vereinigen ihn mit der substantz unsers Kör-
pers, denn was man richt, zieht man in seine Lunge ein, und vereiniget es mit seinen
@S@äften, wenn ich etwas {_schmecken_} soll so muß es in meinem Speichel aufgelößt werden, folglich
ist der <Einflus des> Geschmacks chimisch. Denn ich schmecke den Gegenstand nicht eher, als bis er anfängt
in die Gefäße einzudringen, die diese Dinge {_repartiren_→_resorbieren_}. Dahero auch ein Weinschäncker
wenn er nur blos schmeckt, und den Wein gleich wieder ausspeyt, am Ende doch betruncken
wird, den etwas vereiniget sich doch immer mit seinen Säften.

/Viel organ Sin und wenig vital_Sin, ist der glücklichste Zustand, worinnen ein Mensch
seyn kan. Das Vermögen Gegenstände, «da»durch meine Sinne zu erkennen, ohne an meinem
Wohlbefinden viel afficirt zu werden ist der glücklichste Zustand zu Beobachtungen, denn
je weniger das Leben eines Menschen bey einer Sache die er beobachtet afficiret wird
desto mehr wird der Gegenstand war. Wer bey jeder Musick voll Affect ist, und bey
jeder Dissonantz delicat ist wird kein guter Beobachter seyn. Und je mehr Verände-
rungen man in seinem Leben fühlt, desto eher wirds abgenutzt. Eine Stärcke des Ner-
vensystens aber entstehet daraus, wenn ein Mensch viele Dinge gut aushalten kan,
und nicht {_paradoxisch_→_paradiesisch_} entzückt wird, welches schwache Nerven anzeigt. Wir finden
bey den Amerikanern schwache Nerven, dahero ist bey ihnen so wohl der organ_Sin
als vital_Sinn schwach. Wenn sie unter dem Meßer des Chirurgus waren haben
sie nicht sehr geschrien. Die Zartheit der Nerven bedeutet immer, daß der organ
Sinn schwach und der vital_Sinn starck sey. Dergleichen Leute sind leicht ge-
reitzt, leicht wieder niedergeschlagen, und immer stärcker afficirt. Das Leben
muß also einen gewißen Grad haben, der nicht zu starck ist

/ Je

|P_42

/Je weniger die Sinne lehren, desto mehr afficiren sie, und wenn sie viel lehren
sollen, so müßen sie wenig afficiren. Geruch und Geschmack afficiren stärcker
aber lehren {_nicht_}. Denn ich kan durch sie die Eigenschaften des Dinges nicht erkennen¿
sie afficiren aber starcker, weil sie mit Genuß verbunden sind. Wenn die
Sinne viel lehren sollen, so müßen sie nicht sehr starck afficiren, denn wenn der
andere zu starck schreit, wo fühle ich mehr, daß mein Gehör erschittert wird, als
daß was er spricht. Das Buntfärbige afficiret wohl, man wird aber dadurch
zerstreut, und aller Wahrheit und Beobachtung unfähig, indem wir durch das
scheinen der Farbe auf gewiße punckte abgeleitet werden. Vorzüglich
trift dies ein, wenn die vitale Empfindung starck im Spiel ist, und wenn unser
Wohlbefinden starck erschüttert wird, denn da ist man ein schlechter Beobachter.
De_Luc ist ein lehrreicher Autor aber sein Gefühl ist immer bis zur Entzückung
afficirt, so daß man sieht, daß er nicht die filosofische Kaltblütigkeit eines
Beobachters hat. Daß {_zähe_→_pure_} beobachten bringt weiter, und afficirt am allerwenigst@en.@
Der Geruch scheint unter allen Sinnen der undanckbahrste und entberlichste zu se@in,@
er ist undankbar, den wir haben wenig Gelegenheit etwas gutes zu riehen, und
müßen viel Gestanck riechen, die aber wohl mehr durch die Wohnung des Menschen
als durch die Natur verursacht wird - alle Ergätzlichkeit des Geruchs ist nicht
lange anhaltend, aber durch einen üblen Geruch können wir sehr geplagt werd@en,@
der einen Einfluß in unsere gantze vitale Empfindung hat, so daß man bis wei-
len darüber in Ohnmacht fällt. Es scheint der Geruch daher entbehrlich zu seyn,
den je schärfer der Geruch ist, desto übler ist man dran. Hingegen ein paar Eheleute
können gut zusammen leben, wovon der eine einen stinkenden Athem, der ande-
re keinen Geruch hat - Aber doch hat die Natur weißlich {_gesagt_→_gesorgt_}, indem sie uns
diesen Sinn gab, wegen des Othems, durch denn wir immer genießen; denn da sich
die Lunge oft von den faulen Dünsten nicht befreyen kan, durch die Lunge aber
eben die phlogistischen Theile aus dem Blut separiret werden müßen, so wür-
de, wenn die Luft die wir einathmen selbst damit angefüllet ist, die Lunge daß
was sie ausstößt, wieder einnehmen müßen, daher ist der Geruch nöthig, um
zu unterscheiden, ob die Luft die wir einathmen, voll phlogistischer Theile
ist. Die Fäulniß eines Aaßes wird einen Menschen weit abhalten, aber
nichts ist auch schädlicher, als ein solcher vorzüglich hoher Grad der Fäulniß,
denn die faulen Theile vereinigen sich gleich mit dem Blut, und bringen
ein Faul Fieber hervor. Der Geruch ist ein Sinn des Wahnes, er scheint
mehr auf Gewohnheit zu beruhen als auf eine Empfindung, so daß er sich
bey demselben Menschen vermindert, je nachdem er sich cultiviret

/ Kinder

|P_43

/Kinder und Wilde machen keinen Unterschied, obs so oder {_nicht,_→_so riecht._} daher sie
auch an Orten spielen wo der gröste Gestanck ist, eben so attendiren die Wilden
gar nicht auf den Geruch, die canadischen Wilden fanden keinen Geruch angenehmer
als den von den eßbaaren Dingen. Wie viel Wahn mit dem Geruch verbun- 
sey, können wir daraus sehen: vor einiger Zeit war der Modegeruch Bisam
oder Muskus, hernach aber hat man {_von dem_→_daran_} einem Ekel gefunden, im Orient
ist der Modegeruch ein R{_auch ¿¿¿ w_→_äucherw_}erck auf Kohlen

/Der Geruch ist ein besonderer Sinn, indem man sich durch ihn in einer gantzen Ge-
sellschafft ausbreitet, daher muß ein Mensch in der Gesellschaft nach nichts riechen
und nichts riechbares bey sich haben. Denn wenn ich etwas, daß vor den Geschmack
ist eße, so kann der eßen, wenns beliebt, aber wen ich ein mit Bisam durchwurtz-
tes Schnupftuch {_habe_}, so tractire ich die gantze Gesellschafft, ohne daß ich weis, ob es ihr gefällt,
daher ists sehr impertinent, wornach zu riechen.

/Wenn der Geruch zu starck wird, bringt er außerordentliche und heftige Wirkungen
hervor. Wenn der Mensch die Kunst zu hoch getrieben hat, wenigstens höher, als die
Natur ihn gebracht haben würde, so verfeinern sich die Sinne, und wir bemerken Dinge
die ein unkultivirter Mensch nicht bemercken würde: So können wir durch Blumen
die Stärcke des Geruchs so hoch treiben, daß er der Gesundheit schädlich wird. Viele
Tuberosen p. wenn sie eine Nacht in einem Zimmer stehen, wo ein Mensch schlaft,
können machen daß er des Todes ist, und man findet auch immer daß ein Kopfweh
dabey anwandelt.

/Das Räuchern im Orient geschiehet wenn der Gast weg gehen will, dan werden ihm, die
Kleider der {_Braut_→_baart_} u.s.f. durchräuchert, und alle r{_¿¿_→_ie_}chbare Sachen sind durch die Hartze
(dergleichen die Orientaler dazu gebrauchen) auf Kohlen geschüttet, das allergesunde-
ste, und haben nicht das benebelnde das Blumen verursachen.

/Der Sinn des Geschmacks ist der, der sehr verleitend ist, am meisten kostet, und doch der Ge-
sundheit nachtheilig ist. Der Sin des Geschmacks führet den meisten Reitz bey sich, und bringt
die Gesundheit in Gefahr. Wir dürfen den Geschmack aber eigentlich nicht tadeln, sondern
es komt nur daher, daß man den Geschmack so angreift, daß er seine Freiheit verlieret.
Der Geschmack errinnert uns immer, wenn wir genung von Speisen haben, aber da
kehren wir uns nicht daran und genießen noch mehr. Dies sehen wir daraus, weil Krancke
oft durch den Geschmack angeloket werden sich ein Nahrungs_Mittel zu fodern, von dem der
Artzt findet, daß das grade für sie das beste sey. Die Ursach ist. Die Geschmacks_Wartzen
hängen mit dem gantzen Speise{_S_→_kan_}aal zusammen, so daß das Schmecken im An-
fange des Genußes ein Versuch ist, wie sich die Speiße mit dem gesamten Spei-
sekanal vereinigen werde, man kan dahero urtheilen, daß wenn etwas
der Zunge gemäß sey, es auch dem übrigen Speisekanal gemäßt seyn werde,

/ dahero

|P_44

/dahero man aufhören muß, wenns einem nicht mehr schmeckt. Der Sinn des Geschmack@s@
ist ein gesellschaftlicher Sinn. Menschen können nicht lange bey einander leben, ohne etwas
zu genießen, welches genießen unter einander, unter vornehmsten Ergetzlichkeiten des
Lebens gehöret, weil man es alle Tage wiederholen kan. Das Gehör ist auch ein gesell-
schaftlicher Sinn, denn ohne zu sprechen kan man sich die Gedanken nicht untereinander «zu»
communiciren. Der Sinn des Gesichts auch, aber der Geruch nur negativ, so fern er
nicht da ist.

/Welches ist unter den beyden unter dem Gehör und Gesicht das wichtigste %und nothwendigste. %Responsio:
der Sinn des Gehörs, den ohne das Gehör würde man keine Begriffe haben, es fällt schwer
taubgebohrne sprechen zu lehren, und sie kommen nie zu solchen Begriffen, als Leu-
te die des Gehörs {_mächtig_→_fähig_} sind, obgleich {_man_} dergleichen Anstalten hat. Man findet<1> auch<3> da@ß@<2>
in der Unterhaltung: denn alle blinde Leute, wenn sie alt sind, sind immer ver-
gnügt und beredt, alle Leute aber die taub sind, sind immer mistrauisch und nie-
geschlagen. Der taube Gelehrte aber, wenn er gleich auf die conversation Verzicht
thun muß, hat ein Mittel mehr Theil an dem commercio litterario zu nehmen. Das
Wort Geschmack ist vom schmecken hergenommen, und zeigt eine %gesellschaftliche Wahl
des Gegenstandes an, der Mensch hat keinen Geschmack der {_nicht_} so wehlen kan; daß
das was ihm gefällig auch anderen gefalle. Einer kan sich vielleicht Gerichte
machen laßen die ihm gut schmecken, wenn er aber Gäste bekomt, so muß
er sie so machen laßen, daß es nicht nur ihm sondern auch andern schmecke,
dahero gehört %gesellschaftliche Wahl dazu. Der Sinn des Geruchs und des Ge-
schmacks sind der Sitz des Ekels. Es sind dies 2. Sinne des Genußes, ihr Ein-
fluß ist chimisch, da sie uns also Nahrung zu führen, so können sie
in dem Bau unserer Eingeweide mit dem Wiederstande verbunden
seyn, das auszustoßen zu suchen, was sich ihnen nähert. Der Ekel ist also
das Vermögen der Eingeweide, etwas auszustoßen, daß nicht für sie zuträg-
lich seyn würde. Der gröste Eckel wird durch den Geruch erregt, der Ge-
ruch muß cultiviret werden, wir lernen ihn von andern, und hernach
ekelt uns wircklich unverstellt vor Sachen, wovor uns sonst nicht ekelte.
Hauptsächlich ist des Geruchs Ekel bey Dingen, die sonst auch durch den Ge-
schmack genoßen werden. Man sieht indeßen doch daß der Geruchs Ekel wie-
driger seyn könne bey dem, der seinen Geschmack nicht {_gantz_→_genug_} verfeinert hat.
Ein in Fäulniß gerathenes Wildpret wird kein Gesinde, sondern nur der mehr
cultivirte Herr eßen. Die Ursache ist, alle unsere Speisen, müßen in Corruption
gehen, ehe sie genoßen werden, damit sie durch eine anfangende Fäulniß
{_f_→_m_}ortificiret und mürbe werden. Man weiß daß aber durch saure Mittel
zu vertreiben, und einen vermischten Geschmack zu erregen, damit der Ge-
schmack der sonst unangenehm ist, der Natur ähnlich werde.

/ Der Schmutz

|P_45

/Der Schmutz ist ein Gegenstand des Gesichts, er kan aber dem Gesichte nicht unmittelbar Wieder-
willen erregen, sondern bringt unsere Einbildungskraft auf den Geruch und Geschmack.
Der Schmutz erregt Ekel mittelbahr durch unsere Phantasie man findet auch daß
der Eckel durch Schmutz nur bey cultivirten Nationen sey. Die Calmurzen eine aufgeweck-
te Nation, die aber nicht cultivirt ist, hat keine Bedencklichkeiten beym Schmutz. Die
Reinlichkeit aber beweist die größte Cultur des Menschen; den sie ist {_ihm_} am aller-
wenigsten natürlich, weil sie viel Mühe und beschwerlichkeit macht. Daß die Otahei-
ter sich so viel baden, ist kein Wunder, weil sie in einem so warmen Clima leben,
wo das Baden ein Vergnügen ist. Aber doch ist Reinlichkeit eine sehr zu empfehlen-
de Sache, weil dadurch viel Nachtheil der Gesundheit verhindert wird, und eine
Zierlichkeit dadurch entstehet, die mit ins maralische «E»einflüßt

/Wir finden einen gewißen Geschmack, der erst seit 200 Jahren überhand genommen
hat, nehmlich der Toback. Der Rauchtoback afficiret beyde Sinne, den Geruch
und den Geschmack. Man genießt ihn aber nicht in der Meynung, daß es ein
Wohlgeschmack sey, sondern man will einen moderirenden Reitz dadurch zuwege
bringen, der genugsame Stärcke habe, «¿¿»aber bald vorübergehe, beym Schnupf-
toback will man keinen guten Geruch haben, sondern nur das picante und
ätzende. Dieser Appetit der Naße ist den Alten gantz unbekandt gewesen
aber dieser Reitz ist von der Art, daß wenn wir uns ihn einmahl angewöhnt
haben, wir ihn nicht wieder abschaffen können. Die Ursach liegt in der Auslee-
rung, die so wohl der Rauch als Schnupftoback hervorbringt. Diese Ausleerungen
geben der Drüse continuirliche Arbeit, so daß wenn der Toback fehlte, die Flüßig-
keiten doch zu dringen, und der Mensch molestiret wird. Der Rauch-Schnupf
Kautoback %.und das Betet kauen bey den Indianern sind Dinge, die der Mensch
am allerwenigsten abschaffen kan.

/ ≥ Vom Umfang der Sinne

/Der Sinn des Gesichts hat die gröste Sphäre, denn man hat bis jetzt noch nicht ausmachen
können, wie weit der äußerste Stern den wir sehen von uns entfernt seyn mochte.
Man hat zwar gefunden daß der nächste 40000000000 mahl weiter sey als die Sonne;
aber daß ist noch lange nicht die rechte Weite, worin wir ihn noch gewahr werden
können, aber näher kan er nicht seyn. Was sollen wir nun von den Sternen sagen, die von
uns gesehen werden? Wenn man nun den {_An_→_Um_}fang nach Graden nimt, und den Abstand
mißt: so muß man erstaunen. So hat Lambert {_doch_→_durch_} Beobachtungen und Rechnungen
bestimt, daß das Mondlicht 00000000 mahl schwacher ist als das Sonnenlicht. Daher
scheints viel zu seyn, daß er in unserm Auge noch so helle scheint - Wenn man sich
nun beym halben Mondschein, wenn die Hälfte dunkel ist so stellt, daß der halbe

/ Theil

|P_46

/Theil der {_halbe_→_helle_} ist, durch einen Schorstein bedeckt ist, so sieht man die dunkle Seite ein
wenig erhellt, dies ist die Mondnacht, so wie sie von der Erde erleuchtet wird. Wenn man
nun annimt, daß die Erde dem Monde nur einen eben so großen Grad Licht giebt als der
Mond der Erde (obs gleich im Monde vielleicht ein wenig heller seyn mag, weil die Erde
größer ist als der Mond) so ist das Licht was wir auf der dunkeln Mondscheibe sehen
der 3000 und millionenste Theil vom Sonnenlicht, und unsere Augen könnens doch noch
sehen, hier erstaunt man über den Grad der Feinheit unsers Gesichts, daß ein Lichtstrahl¿
der kein Sonnenstaub bewegen kan, einen solchen Einfluß auf die Nerve unsers Gesichts
haben kan. Der Sinn des Gesichts ist also dem Grad und «dem» Raum nach sehr groß
Auch der Sinn des Gehörs hat einen großen Grad. Es ist zu bewundern was im Archipela-
gus geschiehet, daß Leute sich von einer Insel auf die andere zurufen, die doch eine
deutsche Meile von einander sind und sich doch wircklich verstehen können: Büfför er-
zählt dies. Aber freilich nimt der Schall sehr ab nach den quadraten der Meilen - das wunderbar-
ste beym Gehör ist die Fähigkeit, die Zeitveränderung der Luft so zu unterscheiden, wie vielmahl
öfter eine Seite in einer Secunde einen feinen als einen groben Ton angiebt. Le_@Sauoca@
hat das berechnet, und alle unsere Musik beruhet auf dem Verhältniß der Töne. Der Sinn des Gefühls
kan sehr verfeinert werden, %und ordinair beym Blindgebohrnen am meisten; die so gar Farben selbst
beym Seidenzeuge fühlen können. Die {_Faulheit_→_Feinheit_} der Sinne des Geruchs und Geschmacks sind so groß nicht,
doch hat der Umfang des Sins des Geruchs nächst dem Sinn des Gehörs den grösten Umfang. Weil unser
Geruch in Städten immer einen veränderten Einfluß {_hat_→_bekomt_}, %.und wir den selben immer riechen, so verlieh-
ren wir zuletzt die Feinheit des Geruchs. Der Amerikaner hingegen kan ein Feuer weiter richen,
als der Europaer es sehen kan. NB. {_So_} sagt man von den Arabern daß sie Waßer riechen können,
weil sie ohne alle Anzeige anfangen zu graben, und gleich Waßer finden. Eben so wißen
die To{_r_→_n_}gusen mit ein paar Spatstiche Waßer zu finden. Die Ausdünstung des Waßers ist
freylich da, aber welch ein feiner Geruch wird dazu erfordert. Eben so kommen die ca-
nadischen Wilden und bitten um Brandtwein in den englischen Städten, wenn man
ihn ihnen gleich abschlägt so riechen sie doch wo er ist - Der Geschmack hat keinen Umfang
in der Weite, weil er alles berühren muß was geschmeckt werden soll.

/ ≥ Von der Cultur der Sinne

/Alle Sinne erlauben eine Cultur {_die_→_daß ist_} können durch Übungen schärfer werden. Aber der Sinn wird eigent-
lich nicht geschärft, sondern die Aufmercksamkeit wird in Ansehung der sinnlichen Empfindung gestärckt.
Aber doch kan man nicht leugnen daß alle organen je mehr sie den Zufluß des Nervensaftes
zu den organen befördern womit man empfindet, desto mehr verstärckt werden, so wie ein
Magnet den man viel tragen läßt sich verstarckt. Die Erfahrung lehrt die Wahrheit dieser
Behauptung. Viele Leute klagen über schlechte Augen, weil sie ihre Augen nicht brauchen,
den wenn man das Sehen nicht übt, so wird der Sinn stumpf, wo man gar gesunde Augen haben
kan, aber nicht so fein empfindet. Man muß also die Sinne brauchen lernen, weil man durch
diese Übung beßer sehen lernt. Man lerne die Sinne gebrauchen bey jeder andern Sache, aber vor-
züglich bey dem, was in künstlichen Gebrauch der Sinne statt findet. Mikroscopische Beobachtung
kan ein anderer nicht machen, der nicht so geübte Sinne hat. Daher haben einige daß nicht

/ finden

|P_47

/finden können, was Muschenbruk und andere gefunden hätten, weil sie nicht geübt waren derglei-
chen zu sehen. So erfordern auch thelesc«r»opische Beobachtungen einen geübten beobachter. Der
Sinn des Gesichts wird dabey nicht vergrößert, aber bey der cultur können feinere Beobachtungen
gemacht werden. Feinheit des Geruchs und des Geschmacks kan bis zu einem Grade zu nehmen,
der unbegreiflich ist. Von Wein oder Thee kan man den allerkleinsten NebenGeschmack herausschme-
ken. Es ist aber bey unsern Sinnen viel Wahn, vorzüglich in dem was zu angenehmen und unan-
genehmen gehöret. z.b. daß ein Mensch sich zum Austereßen gewöhnen muß, so daß man
zuletzt eine delicatesse heraus schmeckt, die aufs empfehlen anderer beruhet, und die Auf-
mercksamkeit auf daß, was andere für wohl schmeckend halten, macht sie glauben daß es
gut schmeckt. Überhaupt ist eine Auster gesund, aber es scheint im Anfange nicht wohl zu schme-
ken, aber der Wohlgeschmack findet sich nach langem Eßen erst hinter her. So cultivi-
ren wir die Sinne, aber wir können sie auch stumpf machen, wenn wir allmählich
eine scharfere Sache nehmen, und so den Grad unserer Sinne übersteigen. Die Brandtwein-
trincker fangen erst beym leichten Brandtwein an, und hören bey Eßentzen auf, und wer
schon zu Eßentzen gelangt ist, der kan nicht länger als ein Jahr leben, weil dieses so sehr
brennend ist, da wird der Geschmack stumpf, daß er nicht anders als durch vergrößerte
Stärcke gestärckt werden kan. Daß ist aber schon eine Art von Lebloosigkeit, den jede
Abnahme der Sinne, ist auch eine Abnahme der Lebens-Kraft, die man durch schärfere
Sachen immer steigern muß. Daher können die Wilden in Afrika keinen Wein trincken
weil er ihnen zu scharf ist, uns aber hat die Gewohnheit Saltz zu eßen an die {_Stärcke_→_Schärfe_}
gewöhnt. Die Wilden aber haben nie Saltz genoßen, sie haben daher auch eine weit zartern
Gaumen. Menschen die immer auf Belustigungen ausgehen, werden zuletzt so fühlloß gegen
alles moderne, daß alles bey ihnen sehr hoch getrieben werden muß, wenn sie in Bewegung
gesetzt werden sollen. Der Mensch hat nur einen stumpfen Sinn, der in der Trojoedie eine
Ermordung bedarf um gerührt zu werden, und nicht durch das sanfte {_tra¿¿sche_→_tragische_} gerühret wird.
Je feiner der Sinn ist, desto mehr wird er schon durch das Sanfte und Erhabene im trajischen
gerühret. Junge Leute wenn sie theatralische Stücke wählen sind immer {_mehr_} vors trajische
so führen z.B. Kinder an Geburtstagen traj{_i_→_e_}dien, aber Allte sind mehr vors komische. Sollte
hievon die Ursache seyn, daß der Geschmack dem Jünglinge noch stumpf sey? Daß ist zweifel-
haft, freilich ihr Vermögen ist stumpf, aber die Ursache bey der Jugend ist, bey der Jugend
löschen alle Eindrücke leicht aus, an der Stelle daß bey den Alten der Eindruck nur nach und
nach verlischt; bey der Jugend aber vergehen sie und kehren in einem moment wieder,
und diese Art von Eindrücken, die bey den Alten zurükbleibt, vermindert ihnen das Ver-
gnügen, daher wollen sie gerne was haben, was ihre Lebens-Kraft in Bewegung setzt,
damit die Verdauung desto beßer von statten gehe, und dazu dient das Lachen

/ Ein

|P_48

/Ein scharfer Sinn ist der der gebraucht wird, in so fern man im Großen {_darauf_→_worauf_} Acht hat.
Ein feiner Sinn ist der, der durch Kleinigkeit gerührt wird. Ein feiner Sinn kan Vortheil haben,
aber vorzüglich sollten die Menschen, doch einen groben Sinn haben, weil sie damit weiter
kommen, den was fein ist, ist zärtlich, und die Zärtlichkeit des Sinnes ist Schwäche. Leute von
vielem Genie haben einen sehr scharfen Geruch, sagt ein gewißer Autor, aber diese Feinheit
des Geruchs ist mit vielen Ungemächlichkeiten verbunden, weil wir dan durch die Eindrücke
zu sehr afficiret werden. Überhaupt scheint eine Unempfindlichkeit aus Überlegung und
mit Nachdruck veranstalltet, einen glücklichen Zustand der Menschen auszumachen,
den da Übel sich zu uns drängen, so ist man am besten versorgt, und gegen Übel verwahrt,
wenn wir uns zu dem Vergnügen nicht zu reitzbar gemacht haben, weil wir sonst das
Übel auch stärcker empfinden müßen, und uns diese Reitzbarkeit den nur noch mehr Schmertz
verursachen würde, den der, der einen feinen Geruch hat, wird weit mehr molestiret
als der, der nicht so weit richt; alle Verfeinerungen erfüllen uns mit Wiederwillen
und Verdruß. Die Vergnügen des Lebens sind auch nicht so vor unsern Geschmack aus
gesucht, und unsere Zufriedenheit kan bey feiner Cultur auch nicht so bald befördert
werden, als beym gemeinen Bauer, der sich nicht cultivirt hat. Der Bauer bewundert
gewis nur die Schönheit der aufgehenden Sonne, bey einem Wohlgeruch aber, wird
er nicht so starck afficirt, wobey einer in Städten starck afficirt wird.

/Das Alter macht alle Sinne stumpf, so wohl den äußern als den innern Sinn, so
daß alte Frauen, wenn sie schon recht alt sind, und nicht mehr hören können, zuletzt
auch beym spinnen den Faden nicht mehr fühlen können; aber auch der innere Sinn
nimt Theil daran. Ein Alter ist hartherzig, und wenn er einmahl lange angenomme-
ne principia hat, so kan ihn nichts davon abbringen. Helvetius sagt warum
lieben Eltern die Groß_Kinder mehr als die Kinder. %.Responsio weil die Kinder mehr ihre
Verdränger und Feinde sind, als die Groß_Kinder. In der That ist eine Art von
Begriffen da, daß der Sohn mehr auf das Absterben des Vaters warte, als
der Großsohn; überhaupt aber haben alle alten Leute die Tändelswercke der
Jugend lieber und ergötzen sich daran - So hört die Schärfe der Sinne mit den
zunehmenden Jahren auf, und den tritt die Reife des Verstandes ein, aber
indem die Sinne abnehmen, so nimt auch das Genie oder die {_Empfindungs_→_Erfindungs_}_Kraft ab,
aber die Urtheils-Kraft d.i. das Vermögen sich seiner Erkentniß wohl zu be-
dienen nimmt zu. Die Urtheils-Kraft ist aber «immer» von der grösten Wichtig-
keit, und immer das letzte.

/ ≥ Durch welchen Beytrag geschieht die Zunahme oder Abnahme der Empfindung

/Es ist uns daran gelegen, die Empfindung in ihrem Grade zu kennen; wenn wir also
einen andern durch unsere Befehle discipliniren wollen, muß man zusehen

/ daß

|P_49

/daß der Eindruck von den Drohungen %und Strafen, die man ihnen macht, oder auch von dem
Vergnügen die man ihm verspricht, sich allmälig vergrößern, damit es desto stärckern Eindruck
mache, und einer es desto stärcker empfinde. Aber oft muß {_man_} das Mittel die Empfindung rege
zu machen es nicht versuchen. Den durch das öftere Empfinden wird der Eindruck schwächer,
hingegen die Beurtheilung der Sache wird starcker. Man wird das Klappern einer Mühle
so gewohnt, daß man sie gar nicht mehr hört, oder wenn sie aufhört, komt man wieder
zu sich selbst. Jede man«a»otonie bringt also eine abstraction hervor. z.B. wenn eine Nach-
mittags Predigt im heißen Sommer monotonisch ist, so schlafen die meisten ein, und wachen
auf dadurch daß er aufhört, und die manatonie ein Ende nimt. Ein solche Predigt ist
einschläfender als opium. Die Wiederholung der Empfindung schwächt sie, und darauf
beruht die große Wohlthat der Natur«¿» alles gewohnt zu werden. Die Menschen so bald
sie den Schmertz gefühlet haben, fangen an die Nützlichkeit deßelben einzusehen, und ge-
wöhnen sich daran, den die Natur bezieht unsere Nerven mit einem Callus und
macht sie unempfindlich gegen die Eindrücke, so wie die Fußohlen von Natur mit
einer hornartigen Schwiele überzogen sind. An der Gedult darf niemand künsteln,
wenn man nur erst Übel ausgestanden hat, so wird man es schon gewohnt werden,
wenn man auch sonst meint daß es nicht würde ausgehalten haben. Geplagte
Männer werden ihr Übel so gewohnt, das ein dritter sich nicht vorstellen kan, wie sie
so roth und frisch dabey aussehen können, aber sie werden des Keiferns der Frauen so
gewohnt, wie das Klappern einer Mühle.

/Jede Art von Neuigkeit erhebt den Eindruck, wir können so gar sagen, der Morgen ist
uns angenehm, weil er eine Art der Jugend ist, wo der Begrif der Vernichtung
durch den Schlaf am Morgen weggewischt wird. Es braucht dazu keine angenehme Gegend
zu seyn, den jeder Mensch wenn er erst eine Viertel Stunde früh morgens aufgewesen ist, wird
sich nach dem schönen Eindruck des Morgens nicht wieder zu Bette legen. Bey der Jugend
sind alle Eindrücke neu, und man hat angemerkt, daß Kinder die man für boshaft hält
weil sie so vieles zerbrechen, oder <Thiere> peinigen, sich in dem Zustande eines Menschen befin-
det der gerne alles probirt, um den Sachen neue Gestalten zu geben, und seine Kräfte
zu versuchen, den Kinder haben noch keinen Begrif vom Schaden, den sie anrichten.
Den Dingen Neuigkeit zu geben ist ein Kunstück, wodurch man die Sachen angenehm
macht, dahero sagt man: Geistliche sollen neue Sachen vorbringen, weil nützliche
Sachen wenn sie neu sind mehr Eindruck machen. Dies Verlangen der Menschen nach
Neuigkeit dürfen die Teologen nicht in der Erbsünde suchen, sondern in der Beschaffenheit
deßelben nur durch Neuigkeit gerührt zu werden, und davon den Eindruck
beßer zu bemercken. Daher sind Ermahnungen so verdrüßlich, weil man ihnen
keinen neuen Nachdruck zu geben weiß, der Mensch kan durch ein ewiges Einerley
nicht gerühret werden, weil es in der Natur der Sinne liegt, daß der Eindruck

/ bey jeder

|P_50

/bey jeder Wiederholung «ist» gleich starck seyn kan. Die Abstechung trägt sehr viel dazu bey,
unserer Empfindung größe<re> Stärcke zu geben, man muß zwischen der Annehmlichkeit etwas Beschwer-
de zu vermischen wißen, weil sie Annehmlichkeit verlieret, wenn sie @un_→_u@unterbrochen fordauret.
Darum wird der Held der Romanen durch 100 Beschwerlichkeiten durchgeführt, weil er sonst keinen
Reitz für den Leser haben würde. Den wen man den Helden durch so viele Gefahren durchgezo-
gen hat, so ist der Eindruck des Glücks, daß man ih«m»n erleben läßt hernach desto stärcker zu fühlen
Man findet Beschreibungen von Damascus als von einem Paradieße, die Gegend ist freilich
schön, aber doch nicht eben so entzückend; wenn man aber nachsieht, so findet man, daß die
Reisende, ehe sie dort hinkamen, durch große Sandwüsten «kamen» mußten, hier wur-
de also nur die Einbildung durch die Abstechung erhöht, denn wenn einer durch einen grän-
tzenlosen Gang gekommen ist, so erhebt der geringste grüne Platz sein Entzücken.
Wir können kein Vergnügen mit Geschmack genießen, als wenn wir arbeiten, denn
die Arbeit macht den Zwischen Raum auf, indem wir uns mit Beschwerden überlästigen,
die uns einen prospect des Vergnügens erhalten, und machen, daß wir es hernach mit größe-
rer Freude genießen. Abstechungen können Vortheile und Nachtheile haben. Ein Nachfolger
von einem Manne von viel Verdienst und Talent zu seyn, ist ein gefährlicher Schritt,
weil die Ungleichheit hier sehr groß ist %und man z.B. einen Prediger nicht mit dem andern
Prediger überhaupt, sondern mit dem vorigen vergleicht. Eine Wittwe zu heyrathen ist gefähr-
lich, den sie glaubt immer daß ihr seeliger Mann noch beßer war. Diese Abstehungen ver«s»ursa-
chen also große Unzufriedenheit, weil man dabey so viel vermißen muß, daher ist es gut
alles in seinem Leben sich zu steigern, sich in der Jugend nicht zu viel Vergnügen zu erlauben
sondern es aufs übrige Leben hinaus zu versparen; und sich nicht anzustellen, als wenn der
Genuß des Vergnügens verboten wäre, so daß man sie alle so viel man kan an sich reißt,
und sich dadurch auf ein {_solches_→_sieches_} und unzufriedenes Alter zubereitet. Vergnügen des Wein-
trinkers, und die Vergnügen mit dem andern Geschlecht, wen man sie sich in der Jugend
im Prospeckt vorstellt, so kan man sie hernach noch immer steigern, wenn man sie aber schon
vorhero genießt: so hat man hernach nichts mehr vor sich, und hat alsdenn im Alter viel-
leicht auch nicht das Vermögen dazu. So auch in der Kleidung muß man nicht beym
äußersten anfangen, sondern immer steigern können, man muß also nicht in der
Jugend mit Peltzen anfangen, weil {_man_} sonst im Alter genöthigt seyn wird 3 Peltze
zu tragen. Dieses Aufschieben erhält uns im Prospeckt der künftigen Vergnügen
des Lebens erwartungs voll.

/Beym Schmertz ist eben so, wer sich Furcht verschaffen will, muß dafür sorgen können, daß
er nicht gleich eben Drohungen zeige, sondern der Schmertz wird durch jeden neuen Zusatz
empfindlicher. sonst wird bey Verboten der Eindruck zuletzt schwach, wenn man hernach
auf starcke Drohungen wieder schwach schreckt. So gehts mit allen Dingen, in einer
Rede muß der starckste Gedancke immer zuletzt bleiben, und wenn man

/ mit

|P_51

/mit einem starcken Ausdruck beschließt, so bleibt er sehr lange, aber hinterher muß nichts
mattes mehr kommen, den sonst ist alles wieder weg. Der Schluß muß darum gut seyn,
weil aufs Ende nichts mehr folgt, so muß der Eindruck des Endes am längsten übrig
bleiben, und ist das Ende kräftig, so ist das gantze kräftig. Ist der letzte Auftritt in
einem Schauspiele gut, so vergiebt man alle übrige schlechten, denn wir sind so gear-
tet, daß die letzte Empfindung bey uns immer die starckste ist, so daß einige auch so
gar glauben, wenn er auch sein gantzes Leben im Bösen zugebracht hat, und sich nur
am Ende gut aufführet, doch ein rechtschaffener Mann gewesen sey, daß ist
aber falsch, den so geschwinde kan man keinen moralisch«en» <guten> Menschen machen. Es
ist auch eine Wahn des Menschen, daß wir nach dem Ende das gantze beurtheilen,
und daß wir über ein gutes Ende das schlechte des gantzen vergeßen. Wir
sind einmahl so geartet, daß wenn wir die Wahl hätten, wie wir das Ver-
gnügen des Lebens genießen «s»<w>ollten, ein jeder gewiß alles unangenehme zuerst
nehmen würde, und arbeiten würde um faul zu seyn, und die Faulheit immer
im Prospeckt zu haben. Eben so ist es mit der Gesellschaft, wenn es so dirigirt
werden kan, daß kurtz vor dem auseinander gehen, ein gut angebrachter Schertz
gemacht werden kan, so erhällt dies noch immer einen Nachgeschmack, der auf
die Beschaffenheit der letzten Empfindung beruhet, deßen Eindruck uns immer
das gantze angenehm macht. Es giebt ein Vergnügen des Nachschmacks bey genies-
baren Dingen, aber auch bey Gegenständen des Geistes bey witzigen Gedichten p.
Daher auch mancher Mensch beym weggehen mehr bewundert wird, als beym ersten
Eindruck, weil {_er_→_man bey ihm_} Geistes_Gaben gewahr wird.

/ ≥ Vom Betrug der Sinne

/Der Schein der bey der Empfindung der Sinne {_angetroffen_} wird, ist nicht auf Rechnung der Sinne
zu schreiben, weil die Sinne nicht urtheilen, sondern nur die Bilder der {_Sinne_→_Dinge_} geben.
Der Verstand mag sich übrigens einen Begrif machen, und da fehlt der Verstand oft.
Die Sinne urtheilen gar nicht, sie geben uns nur die Empfindung, woraus der Verstand
hernach seine Begriffe formiret, das eigentliche hievon gehöret in die psychologie.
Bey den Irrthümern die man auf Rechnung der Sinne schreiben kan, muß man diesen Un-
terschied machen, unter illusion %und Betrug der Sinne. In «alle» allen Sachen ist die
illusion lieber, als der Betrug, und die illusion bleibt, wenn man gleich weiß,
daß es ein Schein ist, der mit der Wahrheit nicht übereinkomt, es ist ein Schein der
Vergnügen schaft, ob man gleich weiß, daß er der Wahrheit nicht gemäß ist..

/Eine gute Kleidung macht die illusion, daß ein Mensch hübscher aussieht, und daß man
@k@einem Menschen von weniger Bedeutung mehr Ehre erzeiget, als in schlechter Kleidung

/ Diese

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/Diese illusion bleibt ob man gleich weiß, daß er darum nicht beßer geworden ist, weil er in einem beßern
Aufzuge erscheinet, aber er flößt uns wircklich mehr Achtungen ein. Ein Taschenspielerstreich hat darin
etwas verdrießliches, weil ich weiß ich werde betrogen, und so bald er mir zeigt, wie ers macht, hört
die illusion auf, bey andern Dingen aber hört die illusion nicht auf, wenn man gleich weis, daß
jeder Schein der Wahrheit nicht gemäß sey. Wenn man den Mond bey einem Dorfe aufgehn
sieht, so scheint er größer zu seyn, als wenn er oben am Himmel steht, und wenn man
auch weiß, daß das Bild des Mondes niehmals größer ist, so bleibt diese illusion doch selb@st@
beym grösten opticus, wenn er gleich weiß, daß er mit der Wahrheit nicht übereinkomt;
Eine Allee {_schätzt_→_spitzt_} sich in unserm Auge gegen das Ende zu, ob man gleich weiß, daß sie nicht
spitz ist. Die Illusion kan von der Art seyn, daß mit dem Bewustseyn der Unwahrheit
derselben, doch diese Verführung der Sinne bleibt, und solche illusion lieben wir sehr. z.B.
Wenn in einem Gemählde etwas hervorzuragen scheint, dieses gefällt, weil wir wißen
daß wir betrogen werden, und uns diesen Irrthum auch leicht wiederlegen können.

/Aller optischer Betrug ist eine pure illusion, man weiß die Sache ist nicht so, aber es ist
doch angenehm zu sehen. Bey den feinen Kleidern einer FrauensPerson ist illusion, aber die
Schmincke ist sie illusion oder Betrug? In Franckreich sagt man daß es Betrug sey sich
zur avantage zu schmincken, und Damen von Geschmack kleben sich einen Fleck von Farbe hin,
aber daß defigu{_r_}irt sie auch sehr.

/Die illusionen die am meisten reitzend sind bestehen in der Nettigkeit der Kleidung, denn diese
macht uns vor Personen die sonst wenig qualitaeten haben, achtsam. Leidenschafften bring@en@
mächtige illusionen hervor, und ob man gleich das Gegentheil weiß, so kan man doch diese
Täuschung nicht vermeiden. So übertrieben es ists, so ists dennoch war, daß Menschen von
Leidenschaften sich die illusion von der Tugend einer Person nicht aus dem Kopfe bringen laßen
wenn sie einmahl dafür eingenommen sind, sich selbst durch den Augenschein nicht überzeugen
laßen. Aber da die Sinnlichkeit doch mit zur Neigung gehört, so fragts sichs was haben wir
anzufangen? Können wir die Sinne genung durch den Verstand einschräncken? Das hilft
uns nichts? Denn die illusion bleibt doch, daher müßen wir die Sinne wieder betrügen,
und eine andere illusion hervorbringen, die die Sinne schwächt, da muß also der Verstand
den gar zu gefährlichen Einfluß der Sinne durch seine Herrschaft zu schwächen suchen.

/In allem unsern äußern Anstande ist Ehrbarkeit, die führt aber immer illusion bey sich.
Den Menschen die sich in einem anständigen Betragen zeigen, flößen Achtung ein, wenn
man gleich wißen mag, daß im Innern ihrer Gedancken selbst d{_@ur@_→_o_}ch Muthwillen mag an-
getroffen werden, der bey Menschen Vom gewöhnlichen Schlage sich findet, und wir
werden doch so sehr dadurch afficirt, als wenn es Realitaeten wären. Zwischen eine@m@
Klugen und einem Narren ist kein sonderlicher Unterschied anders, als daß der Narr
dumm denckt, und der Kluge das denckt, was sich vor die Sache schickt. Der Kluge weiß
alle Thorheiten zu unterdrücken, und nur das zu urtheilen, was sich vor die Sache
schickt, an der Stelle daß der Narr, der nicht die UnterscheidungsKraft hat, seine Gedanck@en@
nicht gut zügeln kan, und {_wiederum_→_Jederman_} mit seiner Thorheit in die Augen leichtet. Der Verstand

/ ist also

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/ist also der äußere Schein, der Achtung einflößt. Ist das eine {_untelhafte_→_untadelhafte_} illusion oder
ein Betrug? Es ist eine un{_tel_→_tadel_}hafte illusion, und: kein Betrug den die Menschen müßen den
äußern Anstand beobachten, wenn sie gleich viele Laster an sich haben, dies ist nicht Verstellung;
sondern der äußere Anstand ist ein Mittel, es in tugendhaften Gesinnungen weiter zu bringen,
denn «¿»¿enn wir ein Beyspiel der Achtung vor uns sehen: so erweckt daß zur Nacheiferung, und:
Wenn wir die Anständigkeit bey Seite setzen wollten, und uns dagegen wie die ungesittete
allen Lastern überließen, so würde alles in große Rohigkeit verfallen, und: es würde
kein Bestreben sich äußerlich zu betragen, statt finden. In Gesellschaften geht alles
sittsam zu, aber ist<2> alles<1> Schein; den die Begierde der Geschlechter gegen einander
ist da; Beym Spiel brennt einer vor Boßheit daß er verlohren hat: und: ist doch so gelaßen,
so gleichgultig, als wenn ihm daß gar nicht rührte. Aber dies zeigt doch eine Selbst{_be_}herschung
und: ist der Anfang von der Selbstbezwingung, und: so ist doch eine Anlage, ein Schritt zur Tu-
gend da, oder wenigstens ein Vermögen dazu; denn es geht doch alles nach Manieren
der Tugend zu, und: diese illusion des Verstandes ist folglich kein Betrug; sondern eine
angenehme illusion die wir gerne haben, obgleich jedermann weiß, daß wir dadurch
hintergangen werden. Selbst die Leidenschaft der Liebe wird dadurch sehr gemäßiget, und
die Annehmlichkeit des Umgangs mit dem schönen Geschlecht illudirt jene brennende Nei-
gung, die sonst schwer zu unterdrücken seyn möchte. Denn der Gesittete Umgang und
artige Schertz besiegt die sonst schwer zu besiegende Neigung. Die Natur hat also in uns
Anlage gemacht illusionen zu machen, wodurch wir die unruhigen Triebe die unsere
Leidenschafften vereiteln können. Die Kunst des Umgangs stiftet viel gutes
verdeckt die schlechte Seite des Menschen, und: bringt wenigstes {_ein_} analogon der Tugend
zuwege; die Menschen verfahren publique wie in einem Schauspiel denn ein jeder
studieret nur auf den guten Schein, %dergleichen illusion ist sehr vortheilhaft, und: auf-
munternd, etwas gutes zu unternehmen, weil andere das wahre von der illusion
@d_→_n@och nicht immer unterscheiden können. In unserm Leben ist immer die große Begier-
de, zu scheinen, und: sich bey andern zu verstellen, daher muß man nicht das {_chynische_→_Cynische_}
Leben empfehlen, weil da alle gute Beyspiele wegfallen würden.

/Wer nur den Schein des Guten liebt, gewinnt zuletzt auch die Realitaet des guten lieb.
Man liebt einen Menschen der immer gegen andere hoflich ist z.B. ein gut artiger Lügner
der um Gutes zu stiften lügt: (wiwohl das {_aber_→_eben_} nicht liebenswürdig ist) Überhaupt
gewinnt Hoflichkeit Menschen, und: nicht alle illusion ist tadelhaft. Denn eine solche
dissimulation giebt uns einen liebenswürdigen Schein in den Augen anderer. Ohne illu-
sion zu seyn ist dem menschlichen Geschlecht nichts nütze; daher ists nicht gut hinter alle
Eindrücke zu forschen. Der geistliche Stand beruht auf vielen Blendwercken; da aber der
gemeine Mann sich doch das Betragen eines solchen Mannes vorstellt, so kan er doch zum wenigsten
glauben, daß {_das_} der Beweiß eines frommen Mannes sey, und: daß es möglich sey from zu seyn.

|P_54

/Dergleichen illusion hat also doch ihren Nutzen. Das schone Geschlecht übt viele illusionen aus: jeder
muß sie Anfangs vor tugendhaft halten, in den folgenden Jahren aber verliescht die Verblendung,
und: man komt hinter die Schwäche dieses Geschlechts. Aber doch ist hier die illusion, die die Natur
ins %Menschliche Geschlecht gelegt hat sehr heilsam, so daß die, die dies Geschlecht in ihrem Werth her@ab@
gesetzt, und ihre Schwäche aufgedeckt haben, sehr unrecht gethan haben; denn die Achtung für die@s@
Geschlecht mag immer auf illusion beruhen: so ist sie doch immer angenehm, und: vorbeßern. Denn wenn
ein Liebhaber seine Schöne für so anbetungswürdig hält, so wird er sich gewiß bemühen, Beßerung
in der Denckart sich zu erwerben, dies beweist, daß man die Irrthümer nicht so verfolgen muß.
Es ist gantz gewis, daß bey näherer Erwegung eines großen Mannes, man immer illusion findet;
Es ist dahero beßer in der Ferne zu bleiben, daß wird uns sehr ergötzen, und: auch heil-
samer seyn. Denn wenn wir nicht mehr glauben, daß irgendwo Tugend sey, so ists
so gut, als wenn wir keinen Gott glauben. Daher ists gut «daß» die Menschen bey dieser
Art von Täuschung zu laßen.

/Wir können uns das zum Grundsatz machen, daß alle menschliche Tugend Scheidemuntz@e@
ist, worin viel Kupfer, und: nur wenig Silber ist, indeßen ists doch beßer Scheide_Münt@ze@
als nichts zum Verkehr zu haben. Wer gar zu viel hinter die illusionen der Tugend
forscht, verliehrt alles Zutrauen, und: Aufmunterung zur Tugend. Misantrophen
entstehen durch das Nachforschen hinter die Tugend; und: wenn man zu sehr hinter den
Schein des schönen Geschlechts forscht, und: was sie für Tugend an sich haben: so verliehrt
man alles Vergnügen beym Umgange mit ihnen; Irrthum ist hierin beßer, und: das %mensch@liche@
Geschlecht scheint von der Natur recht dazu abgerichtet zu seyn, die innere Schwachheit
zu verbergen, und: äußerlich einen guten Anstand zu zeigen. Die Rolle eines Men-
schen ist eine sittsame Rolle, der Mensch ist in seinem Betragen niehmals Wahrheit;
er verbirgt die Thorheit, und: zeigt eine gute Seite; er sucht immer daß was der
Gesellschafft angenehm sey, und ihm Ehre bringen kan. Ob Menschen in der andern
Welt sich zutrauen werden, so zu zeigen wie sie sind, wißen wir nicht, hier aber
müßen wir uns nie so gantz zeigen, wie wir selbst sind, selbst unser bester Freund
muß uns nicht durchsauen können. Menschen die immer hinter die Fehler anderer
forschen werden misantropen, die Menschen scheuen (nicht aber Menschen Haßen)
denn nun glauben sie daß an den Menschen nichts liebenswürdiges sey, weil sie ihnen ihre
schöne Masque abgezogen haben, wo die Entdeckungen immer sehr traurig ausfallen. - Dies
ist darum gesagt, damit man nicht zum moralischen puristen werde; denn die menschlichen Tugen-
den sind nicht von der Art, daß sie gantz reine Tugend gäbe, so wie Gold von 24 Karatten
nur eine idee ist. Man muß also die Menschen nehmen wie sie sind.

/Wir würden es demnach beßer haben, und: unser Hertz zum %menschlichen Hertz machen, wenn wir
alles «dazu» annehmen was dazu beytragen kan, und einen guten Begrif von Menschen zu
machen. Wir würden die Höflichkeit so lange für Freundschafft {_nehmen_}, so lange wir noch
nicht offenbahr vom Gegentheil überzeugt sind, und: wir werden Sittsamkeit, für
Keuschheit, «und» Einfallt für Ehrlichkeit halten, ob daß zwar nicht immer beysammen

/ ist

|P_55

/beysammen ist, den Leute von alten Schrott und Korn, wie man sagt sind darum noch
nicht ehrlich, und können dehmongeachtet {_Selmens_→_Schelme_} seyn. In der Gesellschafft hat man doch am meisten
damit zu thun daß man sich divertiret, wer also höflich ist, ist ein guter Gesellschafter, ob einer in Handel
und Wandel ein Betrüger ist, geht uns im Umgange nichts an, und beym gar zu starcken forschen hinter
die Ehrlichkeit entdeckt man eine Gleichgültigkeit in den %menschlichen Gesinnungen, bey denen die man für
Freunde hält, und man geräth zuletzt in den trostlosen Ausspruch des Aristoteles, lieben Freunde!
es giebt keinen Freund; da es aber doch schrecklich ist ohne Freund zu leben; so muß man die Menschen nehmen
wie sie sind, ohne es zu wagen, zu entdecken, durch welchen Schein man betrogen werde. Dabey muß man
@die@ Behutsamkeit, und: Mäßigung des Zutrauens beobachten, so, daß sich ein jeder dem andern reservire
@so@ daß ein jeder auf gewiße Weiße zurückhält; daraus aber folgen noch nicht zum voraus böse Vermu-
thungen. Dieser t{_@au@_→_rü_}gliche Schein gehoret also mit zur Vollkommenheit des %menschlichen Geschlechts, und: zu seiner
Bestrebung sich zu perfectioniren, zuletzt wird aus einem affectirten Schein doch Gewohnheit.

/Auf der andern Seite haben wir auch zu sehen diese Blendwercke in uns selbst auf alle Weise aufzusuchen,
und: den falschen Schein zu vertilgen, um uns selbst nach unserm wahren Werth schätzen zu können. So wie
Menschen bisweilen so lange lügen, daß sie es zuletzt gar selber glauben; eben so täuschen sich einige mit
Verdiensten, die sie selbst zu haben glauben. Man kan gewißer maaßen die innere illusion wo wir
durch unsere eigene Gedancken betrogen werden, in die übertribene Schätzung unser selbst gerathen
Wahn nennen. -{_._} Wahnsinnig ist der, der die Einbildung in seinem Kopf für Gegenstände außer sich hält, wo
er also seine Hirngespinster für wahre Gegenstande; dies gehort zu den Verrükungen wovon unten
mehr.- Man nent aber auch alle«s» illusion Wahn: wenn man sich durch seine eigene Gedancken täuscht;
@e@s gibt vielen Religions_Wahn, die eigentliche Religion ist Gewißenhaftigkeit; alle Andachts_Übungen
sind nur Mittel dazu, folglich hat d{_as_→_er_} Religions_Wahn, der die Zubehören die als Mittel dienen für
Religion selber hält. - Es giebt auch moralischen Wahn; gutherzige Leute haben die gröste
Empfindung; sie glauben, wenn sie nur viel hätten, so würden sie allen geben, und wenn sies nur
hätten, würden sie doch keinem geben. Solche gutartigen Leute schmeltzen von lauter Empfindung
und: wenns zu guten Handlungen kommen soll haben sie immer Ausreden; sie selbst sind denn in Ver-
legenheit, oder müßen ihre Wohlthaten anders anwenden p. Die Guttherzigkeit wohnt in einem Hertzen
daß sich immer mit leeren Wünschen nährt, ohne Anstalten zu Handlungen zu machen, das bringt einen
weibischen Wahn hervor, der durch Romanen, und, weinerliche Comoedien nochmehr befordert wird, {_so_}
¿¿ das alles Bestreben nur auf leere Wünsche hinaus läuft. Reue über begangene Verbrechen, so bald
sie nicht mit dem Bestreben, das Verbrechen wieder gut zu machen, verbunden ist, ist leerer Wahn;
@de@nn damit ist keinem andern Menschen gedient, daß man sich mit immer Pein genung plagt, sondern
man muß Anstalten machen, daß andern wieder geholfen werde. Diese Art von {_Leute_→_Leid_} daß
einer hinter her trägt, ist oft nichts anders als Furcht vor den Schaden, der einem auf
einer bosen That erwächset, oder eine Vernunft daß man sich so viel Strafe auf den Hals gezogen
habe, ohne daß die Gesinnungen dadurch geändert sind, und: ohne daß man Abscheu für die Sünde
hätte, denn wenn diese ihn nu@r_→_n@ von den Ketten los machen, so wird er das Übel wieder anfan-
gen, wo ers gelaßen hat, auch bey der Reue anderer ernsthaften Menschen ist Wahn, man {_zernagt_→_vermengt_}
den Schmertz wegen der üblen Folgen mit dem Abscheu vor der That; die That müste man verabscheuen
wenn der Abscheu moralisch seyn sollte, %dergleichen illusion aufzudecken ist eines moralischen Lehrers
oder Geistlichen gröste Pflicht. Allte Leute glauben alles gethan zu haben vom bösen

/ zum

|P_56

/zum guten übergehen, wenn es ihnen nur der verübten Sünden gereuet.

/Wir können noch sagen, daß illusionen des innern Sinns daß hervorbringen, was zum Wahn
Sinn im weitläuftigen Verstande gehöret. Das Dencken in uns kan auch Empfindungen hervor-
bringen, die sonst durch fremde Gefühle in uns würden gewirckt werden. Mann sollte glauben
man könte daß dencken bey sich von einer fremden Ursache unterscheiden, und: doch finden wir
{_daß wir_} von Dingen, davon wir selbst Uhrheber sind, eben das finden was bey Dingen, die von fremden Ur-
sachen herrühren. Den Gedancken afficiren oft die organisition des Körpers, indem das Gehirn, und
das gantze Nervensystem erschüttert wird. Die Rückwürkung der Nerven bringt zuletzt diese
Empfindung hervor, als wenn sie durch eine fremde Ursache gekommen wäre, daher komt die Schwer-
merey, Liebe, und: daß «innerte» innere Licht der Schwärmer, wenn sie ihre Gedancken lange
worauf gerichtet haben: so entspringt eine Gegenwirkung der Nerven, die ihnen eine gantz
fremde Ursach zu erregen scheint, ob sie gleich selbst Ursache davon sind. Die Schwärmerische
Empfindung, die himlische Eingebung, und: die Eingebung vom bösen Geist sind Wirkungen unsers
Denckens, denn wenn diese {_zurück_→_zu hoch_}getrieben werden, werden sie vor Eindrücke einer gantz
fremden Natur gehalten, und: da glaubt sich der Mensch durch fremde Kräfte gerührt, aus
solchem angestrengten Dencken entspringen Krankheiten, und: «da glaubt sich der Men» diese
Kranckheiten bringen den wieder Schwärmereyen hervor, ohne daß der Körper vorher dav@on@
geregt werden, und der Mensch verfällt durch die Kranckheiten auf chimeren. Solche
Leute die verbrant sind, sind anfangs nichts als Schwärmer gewesen, sie hatten nichts bö@ses@
zur Absicht, und ihre Gedancken machten ihnen himlische Dinge vor. Man konte solche Leute
eher durch einen purgantz als durch argumente curiren, so daß man den Gang der vena
portae öfnete, so würden alle ihre scrupel mögfallen. Im Anfange möchte wohl die
Anstrengung des Gemüths die Ursache dieser Kranckheiten seyn; hernach aber werden
die {_in_} Unordnung gebrachte organisationen die Ursache der Verwirrung der Gedancken.
Man kan «s»nicht sagen daß Mahomet ein Betrüger gewesen, sondern es ist glaublich
daß er sich vieles so eingebildet habe, als ers vortrug, so ist die Aufmercksamkeit
auf sich selbst eine unheilbare Kranckheit der Seele und des Körpers, sie zu verhü-
ten muß man vielen falschen Wahn vorbeugen. Ein Egoist ist der der seinen Werth
so hoch anschlägt, daß er darüber allen andern Werth gering schätzt, dergleichen Leute
giebts im moralischen auch im logischen Verstande. Ein logischer Egoist ist der, ohne sich
darum zu bekümmern, was andere von seinen Sätzen halten, sich allein für hinlänglich
hält zu urtheilen

/ ≥ Wie Vorstellungen ermatten können und wie sie gehoben werden können, daß sie nicht ermat@ten@

/Unsere Vorstellungen scheinen zu verbleichen wie Waßer Farbe die sich auszieht, ohne daß man eine
sichtbahre Ursache sieht, sie verschwinden, und laßen sich bey derselben Gelegenheit nicht so starck
wieder herstellen. Auf der andern Seite giebts zufällige und gewählte Ursachen, die unsere
Vorstellungen nur höher heben. Alle Ursache unsern Vorstellungen neue Stärcke zu geben, oder
stärcker zu erhalten, kan man blos dem Wechsel der Vorstellung entweder der Art nach; oder
dem Grade nach oder der Zeit nach zuschreiben. Zu den Mitteln unsere Vorstellungen aufzufrischen
durch einen Wechsel der Vorstellungen, so fern sie von verschiedener Art sind gehoret die Abste@chung@
oder der Contr«¿¿»ast. Es contrastirt mit dem luxus und dem Reichthum, die Bettelarmuth, Elend

/ und

|P_57

/Kranckheit. Der contrast macht jede Empfindung {_stärcker_}; der Elende sieht noch Elender aus, wenn ich einen
üppigen neben ihm stelle, wenn einer zuerst die Augen auf die Pracht eines Reichen gerichtet hat, so
wird er noch niedergeschlagener wenn er einen Elenden sieht, so wie das Weiße noch weißer aus-
sieht, wenn es gegen das schwartze gestellt wird. Das contrastiren ist ein Kunst Stück bey den Dichtern
Mahlern, und selbst bey der Musique, denn die dissonanzen erheben die Stärcke der Empfindung der
Wohllaute. Der Contrast %.und Wiederspruch muß ja nicht verwechselt werden, den wenn eine Sache und
ihr Wiederspiel zu einem und demselben Dinge erzählt werden, so ist daß ein Wiederspruch, aber eine
Sache und ihr Wiederspiel bey 2. subjecten ist kein Wiederspruch. Pracht und Schmutz bey einem subject
ist ein Wiederspruch, vornehm und plump ist ein Wiederspruch, schön und dumm ist ein Wiederspruch, und
daß misfällt auch im höchsten Grade. Die Schönheit ist der Fleiß, denn die Natur an die Bildung unsers
Gehäuses gewendet hat, daher verm{_@ie@_→_u_}thet man bey einem schönen Menschen, auch das kostbahre inwen-
dige der Uhr. Wenn man den englischen luxus in London sieht, und dabey auf den Dörfern Wohlstand {_sieht,_→_findet._}
dagegen den französischen Luxus in Paris sieht, und dabey die pauvreté auf dem Lande, so ist das erste
keine Abstechung, das letzte aber ein Contrast. So fern kan diese Abstechung wohl dienen, daß ein Reicher
in Paris, vorzüglich wenn er hartherzig ist, immer mehr fühlt daß was<2> er<1> hat<3>, wenn er sieht das an-
dere nichts haben, da aber diese Unterthanen alle einen Herren haben: so ists ein Wiederspruch, ein mora-
lischer Wiederspruch, eine Unleidlichkeit, die allem vernünftigen Wohlgefallen zuwieder ist. Contraste
finden bey Dingen statt die zugleich sind, so heißen sie Abwechßelungen; so machen Palläste %und niedrige
Bauerhütten neben einander einen Contrast, bey Dingen aber die nicht neben einander gestellt werden
heißt es eine Abwechselung. Die Engländer verlangen daß ihr Geschmack in Gärten der beste sey, und
@oh@ne Wiederrede mit Recht. Die Ursache davon liegt im Mannigfaltigen, daß alles Schöne nicht auf einmahl
in die Augen fällt, sondern einem unverhoft überraschen. Sie führen einen zuerst in ordentliche
Gegenden, als den in unordentliche %und Wilde, hernach in Sandwüsten, und hernach entdeckt man
wieder hinter einem Hügel die reitzenste Gegend, wozu freilich eine große Gegend gehörete,
aber die Annehmlichkeit wird auch «so» sehr dadurch erhoben -. Contraste aber müßen beym contrasti-
ren neben einander stehen.

/Wir finden eine Erholung %und Belebung des Gemüths, wenn in unsern Vorstellung Abwechßelung ist, so daß ein Zu-
stand auf den andern folgt, der nicht eine Erholung von dem andern ist, sondern uns in Empfindungen
{_¿¿¿_→_neüer_} Art versetzen. Eine Abwechselung muß nicht ein Absprung seyn, sondern eine Abwechßelung
nach den Gesetzen der continuitaet, und nicht ein Sprung von einem entgegen gesetzten Zustande
in einen andern. Ein Roman würde uns nicht gefallen, wo der Held auf einmahl seine Wünsche erreicht,
sondern er muß sich immer mit trüglichen Hofnungen seinem Glücke nähern. - Der Absprung ist der
Natur des Gemüthes nicht gemäß, so wie man daß schon in der Music sieht. Abwechselung und Mannig-
faltigkeit befördert unsere Glückseeligkeit sehr. Den Geschicklichkeit ist eine Quelle des Lebens.
Das Leben beruht darauf daß wir unsere Thätigkeit beweisen; bleiben wir also immer in einerley
Zustande so ists {_so_} gut, als wenn wir nicht lebten, daher Neuigkeit dazu dien{_t große_→_ten eine größere_} Stärcke der
Vorstellung zu erregen. Wenn eine Sache nicht viel werth ist, so erregt sie doch dadurch daß
sie neu ist Aufmercksamkeit, wir legen zum baaren Capital unserer Kentniße doch immer
was {_bey_→_zu_}, so wenig es auch seyn mag, dahero freuen sich Menschen darauf, daß sie eine Neuigkeit

/ zuerst

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/zuerst erzählen können. Bey jeder neuen Entdeckung der Handlungen der Natur sie mögen wichtig
oder von wenigem Belang seyn, ist Neuigkeit daß was dem Dinge seinem Werth giebt. Seltenheit
zeigt daß anderwärts nur wenig von der Sache angetroffen werde, man hat Hochachtung vor Dingen,
die wenig oder gar nicht sonst angetroffen werden: es giebt Dingen einen Werth, die sonst keinen
«nicht» haben möchten. Wenn also unsere Vorstellungen etwas enthalten, das ihnen den Werth der Selten-
heit giebt, so bekommen sie dadurch große Starcke.

/Manatonie, oder ein immerwährendes Einerley wird unerträglich, es ist gleichsam, als wenn {_man_} sich daran
gewöhnen sollte, immer in einerley Stellung zu stehen oder zu liegen, ohne ein Glied zu bewegen, und
so ists mit unserm Gemüth auch bewandt, witzige Einfälle wenn sie oft wiederholt werden, «erzei»
erregen Wiederwillen. Erwartungen, wenn wir worauf vorbereitet werden, bringen oft
Vortheile in Ansehung deßen, daß uns soll vorgebracht werden, oft bringen sie auch Nachtheil. Es ist
gut, jemanden oft den Werth einer Rede, oder oft die Schönheit einer Person aufmercksam
zu machen; auf der andern Seite ist dieser Vorgeschmack dem Eindruck in der Folge nachteilig
den wen ich einem Menschen zum voraus sage, ihr werdet einen Mann von vieler Laune finden,
oder eine schöne Person sehen, so kann man dem Menschen dadurch einen Tort thun, den unsere
imagination steigert immer alles, zum ideal daß man hernach doch nicht findet. Daher verrin-
gern Hochpreißungen den Werth eines Dinges immer mehr, und: es sinckt dadurch immer tiefer als
es verdiente. Daher wird man lieber etwas zu wenig als zu viel sagen, denn wenn
das wenige übertroffen wird, so vergnügt es, aber wenn das mehrere, daß in unserer
idee war fehlt: so erfüllt uns daß mit Mißfallen, und: wir halten die Sache für schlechter
als sie in der That ist. -. Die Eindrücke im %menschlichen Gemüthe werden durch die Zeit schwache@r@
Das ist einer seits ein Übel: den daher wird jedes Vergnügen, durch die Einerleiheit
schaal, weil wir Wechsel verlangen: auf der andern Seite ists ein Vortheil;
den dadurch wird der Mensch gegen die Übel abgehärtet; es entspringt daraus
die Gedult welche aber keine mänliche sondern nur eine weibliche Tugend ist: sie ist
eine Art von Unempfindlichkeit, den wenn die Empfindung eines Übels lange angehalten hat
so hört sie auf. Eine Wittwe aber darf man nicht sehr trösten, die einen Mann, vor-
züglich der reich war verlohren hat; denn die Zeit wird da wohl das meiste thun.
Es ist sehr nöthig, daß wenn man einen anhaltend starcken Eindruck bekommen {_will_} wir durchaus
müßen steigern können, denn da«ß»s Gemüth erhalt Vorstellungen die es einmahl hat, nicht
immer in einerley Grad. Ein junger muß sich nicht zärtlich gewohnen, damit er immer
etwas in der Gemächlichkeit steigen kan; in seinem Leben muß er es so machen; daß er
immer was hinzu setzen kan, den sonst verliehrt er den Geschmack in einerley Wohl-
befinden kan der Mensch sich nicht erhalten, daher wird eine Sparsamkeit des Gemüths
erfordert, damit wir uns immer was zumaßen können. - Einige Stände reitzen
daher unsere Vorstellungen sehr, weil man darin immer avanciren kann.

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/Daß man Vorstellungen durch gewiße Intervallen der Unthätigkeit, und: Gedanckenloo-
ßigkeit von einander separiret, erhebt die Vorstellungen: durch Intervallen der Ruhe bekommen
Vorstellungen ihre gehörige Stärcke, wer selten das Land sieht empfindt mehr Vergnügen, als
ein anderer der immer darauf ist. Die Natur weiß immer Schmertz und Vergnügen zu ver-
mischen, damit das Vergnügen seine gehörige Stärcke bekomme. - Der Redner muß daher sehen
daß er die Machinen seiner Beredtsamkeit nicht gleich anfänglich spielen laße: daher wird ein
@ka@lter Vortrag den Anfang machen, in der Folge wird er mehr Licht geben, und am Ende wird er
alle seine Stärcke anwenden.

/Durch Empfindungen betäubt zu seyn außer sich, oder entzückt zu seyn, ist ein Zustand, wo ein Mensch
in die Ohnmacht versetzt wird, über sich selbst zu gebieten, durch die Stärcke der Empfindung hinge-
rißen. ein Mensch ist nicht bey sich selbst. wenn er nicht auf den Zustand seiner Empfindung acht hat.
Er ist seiner nicht mächtig, wenn ein Affect ihn so betäubt, daß er außer Stand gesetzt wird, seinem Vor-
@the@il gemäß zu handeln.

/Man nennt einen Menschen perplex. der durch eine Art von Überraschung und plotzlichen Verdruß
in den Zustand gesetzt wird, daß er nicht weiß was er anfangen soll, die Franzosen sagen er hat
die tramontame verlohren. Die Deutschen sagen er ist verblüft: Der Ausdruck: tramontame
schreibt sich von dem Italienischen Winde tramontane her, so daß es so viel sagen will: Der Mensch ist
@so@ bestürtzt, daß er nicht einmahl von üblen {_Mode_→_nord_} Winden reden kan, da man doch immer Stoff zum
discuriren vom Wetter hernimt.

/Alle diese Arten der Empfindung sind eine Schwäche des Gemüths, durch Empfindung aus seiner Faßung
gebracht zu werden; und durch Freude entzückt, und durch Schmertz niedergedrukt zu werden.
Es ist aber die gröste Vollkommenheit bey einem Menschen, wenn er sich immer in seiner Gewalt hat,
@da@ß ihn kein Eindruck aus seiner Faßung bringt; denn durch Eindrücke die alle andere ver-
@ti@lgen, verliehrt er den Geist des Lebens, daher muß keine Gemüths_Bewegung so nahmhaft
@her@vorstehen; daß sie den Einfluß der andern schwäche«,». aber dieses Gleich Gewicht in seinem
Gemüth zu erhalten, ist schwer, aber von großen Nutzen.

/ ≥ Von dem Zustande, worinnen unsere Empfindung allmählig schwächer wird.

/Dies geschieht durch Nachlaßung unserer Empfindung auf die natürlichste Art, beym Schlaf, in einem
wieder natürlichen Zustande, durch den Trunk, hernach in einem wiedernatürlichen und krancken
Zustande, daß ist die Ohnmacht und endlich der Todt macht alle Empfindungen ein Ende.

/Es ist ein merkwürdiges object den Trunk antropologisch zu betrachten, und zu sehen was für phaenomena
er beym Menschen hervorbringt. Wir bemercken also daß der Trunk geistiger Getränke als die
Mittel der Geselligkeit kan angesehen werden, oder auch als ein Mittel gebraucht werden kann, ein falsches
Gefühl von mehr Leben <uns> einzuflößen, um sich die Empfindung von einer chimaerischen Phantasie von
Glükseeligkeit zu erregen, der Trunk als ein Mittel die Geselligkeit zu befördern ist nicht tadelhaft; freylich
wenn er zum Rausch wird, stört er das Vergnügen der Geselligkeit; aber ehe er zum Rausch wird, hei-
tert er die Gesellschafft auf, weil er das Gespräch und die Laune befördert, und die Zurückhaltung
wegnimt, die allen Menschen bewohnt, in Ansehung deßen, was schicklich ist. Diese Achtsamkeit ist nothwen-
@dig@; daher sich auch Menschen; die vergnügt seyn wollen, davon los zu machen suchen, um die Freymüthig-
keit eines Menschen zu haben, der alles spricht was er will; aber der Trunk muß nicht zum Rausch werden
@da@nn kan er uns und andern nachtheilig werden, solange er aber die Geselligkeit befördert, ist
er gut in der Gesellschafft im Leben zu unterhalten.

|P_60

/Wir sind erfreut wenn wir den Zwang des affectirten los werden können, daher
Menschen, wenn sie mit ihren guten Freunden an der Tafel sind am allervergnügsten sind,
weil sie wißen, daß wenn ihnen auch ein unüberlegter Ausdruck entfahren möchte, er niemand
offendiren wird. In großen Gesellschaften ist der Mensch mit dem grösten Theil seiner Gedancken
allein; in einer kleinen Gesellschafft aber können wir mit unsern Gedancken gantz laut seyn
und dürfen keinen zurückhalten.

/Es ist die Rolle eines Menschen, eine sehr künstliche Rolle, der Trunk aber bringts hervor, daß alle
diese Behutsamkeit wegfällt: daher Menschen die sich berauschen nicht leiden können, daß andere
unberauscht sind, denn sie glauben, andere würden eine zu starcke Beurtheilung haben, und sie
zu starck critisiren - . Einige haben auch gegen die allezeit nüchternen ein Mißtrauen, in An-
sehung ihres caracteurs, den ein nüchterner glaubt daß dabey viel zu wagen seyn würde, wenn
sie ein Glaß Wein zu viel träncken, und als wenn sie sich dan verrathen könten. Frauen-
zimmer haben immer eine Schantze zu vertheidigen, {_daher müssen sie sich in Acht nehmen_} daß sie ihre Schwäche nicht verrathen,
sie betrincken sich daher auch nie, und wenn eine Frau trinckt, so ist daß d«as»er äuserste Excess
der Niederträchtigkeit, denn das weibliche Geschlecht muß sich weit mehr cachiren als das
mänliche. Die Vernunft ist die Schildwache, wenn der Mensch aber betrunken ist, gehet
die Schildwache weg, und da kan man den nicht immer auf seiner Huth seyn; daher be-
trincken sich auch behutsame Leute nicht.

/Die Griechen rechneten das Vermögen viel zu trinken, unter ihre talente; aber daß ist ein
schelmisches Mittel den schwächern durch saufen zu betrügen.-. Unsere Zeiten sind mehr
Zeiten der Nüchternheit, ob daß aber eine Verbeßerung unserer Moralitaet beweiße, ist eine
Frage, freilich ist nichts viehischer als eine zur Gewohnheit gewordene Trunkenheit, und ein solcher
Mensch verunehrt die Gesellschafft, aber der Trunk wo eine Gesellschafft anfängt lustig
zu werden, bringt eine große Veränderung hervor, und man nimt eine gantz andre Handlungs
Art der Menschen wahr: der Trunk thut andere Wirckung, und die Menschen sind anders
gesinnt als bey der Nüchternheit, das naturel des Menschen kennt man beym Trunk nicht, er
ist ein gantz anderer Mensch, ist anders afficirt, und hat ein anderes Temperament:. Daher
die Menschen die sonst gut sind beym Trunk supçonneus und zancksüchtig werden, mancher wird
hertzlich freundlich, ein anderer ist voller supcon und Verdacht, ein dritter wird andächtig.
Die Geselligkeit ist also das einzigste, weshalb man dem Menschen den Trunck empfehlen kan@n.@
Der Brandtwein ist ein ungeselliges Getränck, daher ein Mensch der Delicatesse hat, sich ihm
nicht überlaßt, und sich schämt sich darauf zu verstehen. Er macht stum, an statt der
Wein beredt macht, er thut auf einmahl seine Wirkung, er ist wie ein Gift, ein plötz-
liches Mittel das Gemüth aus seiner Faßung zu bringen, und es in chimaeren herum zu {_¿¿¿_→_ja_}
{_¿¿¿_→_gen_}. {_¿¿¿_→_Denn_} zur Zeit des Trunck fühlt man sein Übel nicht, weil der Brandtwein unempfind-
lich {_macht_}, daher ist eine Schädlichkeit im Gebrauch dieses Geträncks, weil es auch zugleich stum@m@
macht.

/Auf seine eigenen Hand <sich> zu betrincken ist niederträchtig; ein Mensch der sich auf seinem
Zimmer allein betrinkt wird sich scheuen, daher beruht hier die Entschuldigung des
Truncks auf die Geselligkeit.

|P_61

/Tacitus sagt die Deutschen faßten ihre Rathschlüße beym Trunk. Damit sie von Nachdruck wären
und überlegten sie, wenn sie nüchtern waren. Damit sie gut ausgeführet würden, %.und daß war bey einer
solchen Nation, als die Deutschen dahmals waren, auch wohl nöthig.

/Wir können sagen da«s»ß der Fehler des Trunks alten Leuten mehr angemeßen ist als jungen, den es ist
beym Alter eine Artzney und Mittel {_die Bewegung_} d{_a_→_e_}s Blut{_s_} zu befördern, der Jugend aber ists eben schädlich. - Seneca,
indem er vom Trunck redet, sagt: er wolle lieber daß der Trunk kein Laster sey, als das Cato beym
Trunck übel gethan. Sehr parteyisch gesprochen. Virtus ejus incaluit mero. setzt er hinzu; Tem-
peramente die viel Heftigkeit und Thätigkeit haben. Colerische Leute haben viel Hang zur Trunckenheit.
Die Asiatischen Volcker findet man nüchtern, in Europa sind sie im südlichen Theile nüchterer, als im
nordlichen, und es scheint auch als wenn der Trunk den letztern mehr angemeßen ist, und mit ihrer
Laune beßer zusammen stimmt, denn wenn die Leute in Italien starck Getränck trincken, so {_rufen_→_@raasen@_}
sie und gerathen in Wuth und werden gefährlich. Es mag die Nüchternheit also den Südlichen nicht zur
Tugend angerechnet werden, so wie der Trunck den Nördlichen nicht zum Laster angerechnet wer-
den kan, die Cultur der Sitten hebt das Laster der Trunkenheit allmählig auf -. Ein Mensch wird im
militair_dienst; wenn er sich berauscht, nicht bestraft werden, weil er die Strafe nicht genung fühlt,
und sich noch mehr vergehen würde.

/So wie die Empfindungen vergehen, stellt sich die Neigung zum Schlaf ein; die Ursach des Schlafs ist wunder
bahr denn alle functionen des Körpers thun noch wie vor ihre Würckung, nur die Empfindungen und
willkührliche Bewegungen suspendiren ihre Wirkung.

/Der Todt ist das Ende aller wirklichen Bewegung und aller Thätigkeit des %menschlichen Gefühls und aller
Empfindung. Tissot in seinem Buch von den Nerven_Kranckheiten erzählt Dinge, die einen Menschen
stutzig machen möchten. Den nach seinem Begrif scheint es das Personen die in jedermanns Augen für
todt gehalten werden leben und empfinden, nur daß sie nicht Macht haben es im geringsten an Tag zu
legen. Die eine Geschichte von dem der die Lippen bewegte, und die andere Geschichte von dem Frauen-
zimmer, daß einen kleinen Lau{_f_→_t_} von sich gab sind sehr merckwürdig -. So könte ein Mensch un-
ter dem Meßer eines Anatomicus seyn und alles fühlen. In Franckreich hat man schon verschie-
dene Schriften herausgegeben, ja alle«s» Sorgfalt anzuwenden, daß man nicht Menschen verscharre
die noch etwas Leben in sich hatten - Was der Todt sey kan keiner wißen, der Mensch der in tie-
fer Ohnmacht liegt, und den man für todt hält, kan noch nicht von Erfahrung reden. Niemand
kan vom Tode was wißen, und wer die Macht verlohren hat äußere Bewegungen hervor
zu bringen, der mag empfinden was er will, so kan man ihn d«och»as nicht ansehen.

/ ≥ Von der Imagination. Wie aus den Vorstellungen unsers Gemüths neue entspringen.

/Das Vermögen Vorstellungen in uns hervorzubringen, wovon der Gegenstandt nicht wircklich ist,
ist die imagination, man sollte glauben, daß sey wiedersprechend, weil der Ursprung aller un-
serer Vorstellung ist, daß wir etwas anschauen, daß uns gegeben ist, doch aber hat unser
Gemüth das Vermögen, eine Vorstellung hervorzubringen, die durch den Gegenstand ge-
wirckt war, theils eine Vorstellung zu künsteln, wovon der Gegenstand nicht wircklich ist. Derglei-
chen ist ein Bild, wo man nicht nur die Vorstellung vom Menschen hat, sondern wo diese Vorstel-
lungen vom Menschen auch Caricaturen und @G@rosteck sind, dergleichen können wir uns anschau-
end machen und mahlen, ohnerachtet der Gegenstand nicht in der Natur ist, dieses

/ unser

|P_62

/unser Vermögen ist von großer Weite, und überschreitet in Ansehung der Form die gantze Natur. Der Stoff aber, {_oder_} die
Materie zu allen Gebäuden {_¿¿¿_→_@der@_} Einbildung muß vorhero in der sinnlichen Vorstellung gewesen seyn«, ehe» {_. Et_}was gantz
neues {_kann_} durch die Einbildung {_kan_→_nicht_} hervorgebracht werden, wir können uns aber die Vorstellung der Sinne in ei
nem andern Zusammenhang vorstellen, woraus Bilder entstehen, die der Form nach verschieden sind, z.B.
man kann sich keine neue Farbe einbilden: uns sind die 3. Haupt Farben des Regenbogens roth gelb und blau gegeben. Wer
aber nur diese 3 gesehen hätte würde sich durch keine Einbildungskraft grün vorstellen können, keine Einbildung kan so weitgehen
daß sie uns Vorstellungen vorbrächte, die wir nie durch die Sinne gehabt haben: Sie kan nicht schaffen sondern umbilden
und der, der da glaubt gantz neuer Vorstellungen und Erscheinungen theilhaftig geworden zu seyn. z.B. in Träu-
men, hat nur die Beschaffenheit der Einbildung vergeßen, oder ein solcher Mensch ist gestört, und schwärmt
in dem Augen{_bild_→_blick_}, er ist sich seiner nicht bewust, er fällt zwar einen zurückgebliebenen Eindruck, kan
sich aber selbst nicht errinnern was in ihm vorgieng, da unsere Einbildungs_Kraft also nur den
Stoff {_sämtlicher_→_sinnlicher_} Vorstellungen umbilden kan, so können wir schon urtheilen was Schwärmer
{_für_} Gesichte haben können.

/Dieses Vermögen der Einbildung ist 2fach, in productions und reproductions_Vermögen. Das reproductions
Vermögen ist das Vermögen, «ist das Vermögen», Bilder der Dinge, die ehemals den Sinnen gegenwärtig
waren zu reproduciren, dieses Vermögen liegt aller Nachahmung und allen Gedächtniß zum Grunde,
wo unsere imagination nur nachbildet. Das productions_Vermögen ist schöpferisch, und bringt
Bilder hervor, die vorher in unserm nicht waren. Ob nun zwar alle Bilder in unsern sinn-
lichen Vorstellungen theilweise müßen gewesen seyn, und wir nur von andern Vorstellungen
neue hinzu bringen können; so ist doch in so fern ein neues Bild entstanden. Man hat Vorstel-
lungen in der Art, wo Bilder nach einem andern Dessain vorgestellt sind. Der Mahler macht
würckliche Gemählde, aber ob er gleich die Gestalt vom Menschen hat: so ändert er doch sehr
viel daran, wenn er eine carricatus hervorbringen will. Gerhard ein Engländer sagt, die gröste
Eigenschafft des genies sey diese productive Einbildungs_Kraft. Den Genie ist vom Nachahmungs_Geist
am weitesten unterschieden, so daß man glaubt der Nachahmungs_Geist sey die größte {_A_→_U_}nfähigkeit
sich dem Genie einigermaßen zu nähern. Das Genie gründet sich also nicht auf die reproductive Einbildungs
Kraft, sondern auf die productive, und eine fruchtbaare Einbildungs_Kraft in Hervorbringung vieler
Vorstellungen giebt dem Genie großen Stoff, darunter zu wählen - dieses productive Vermögen wird
eingetheilt in die willkührliche und unwillkührliche imagination. Die willkührliche imagination beste-
het darinnen, daß der Mensch die Artus seiner imagination exerciren kan, er kan sich Bilder darstellen
und verschwinden laßen nach seiner«r»m «imagination» <Belieben>, die imaginirten Bilder sich aus dem Sinne schlagen,
es wieder in sich zu Stande bringen. Die unwillkührliche imagination heißt die Phantasie, und
ob zwar viele Autores beides promiscue nehmen: so giebt doch schon der Rede Gebrauch Anlaß
beyde zu unterscheiden. Wir spielen mit den Bildern unserer Einbildungs_Art in der willkührlichen
imagination, umgekehrt spielt die unwillkührliche Einbildung mit uns. Die willkührliche imagination
ist schöpferisch, die Phantasie hingegen schwärmt. Sie bedeutet den unwillkührlichen Lauf unserer Ein-
Bildung, wo sie nicht nach Wahl oder Vorsatz auftreten, auch nicht nach Belieben können dirigirt werden, son-
dern im Gemüth bey einer Gelegenheit entstehen, dann aber ihren Lauf nach einem Gesetz der Seele
nehmen, ohne daß man sich ihren Lauf recht dencken kan. Der Mensch ist eine Phantas«ie»t der im Laufe
seiner Gedancken nicht nach Belieben Veränderungen vornehmen kan.

/Es ist besonders, daß wir erst willkürlicher Weiße unsere Einbildungs_Kraft auf einen Gegenstand
lencken können, aber denn verfolgt sie ihr Spiel von selbst, und den folgen wir nicht mehr wircklich,

/ sondern

|P_63

/sondern es ist eine innere Kraft die Seele, wo die Bilder ihren Gang nehmen, und wir selbst nicht
wißen, wie wir drauf kommen. So ists mit vielen Erfindungen gegangen. Ich will worüber nachden-
ken, da wähl ich <vor> allererst allerhand Nebenvorstellungen, die mit einer Hauptvorstellung in Verbin-
dung stehen möchten z.B. wer auf eine Leichen rede studiert, wird die Aussicht einer frölichen Zukunft
oder die frölichen Erben, oder den Todt, als ein Ende alles Endes u:s.f. im Kopf haben; nun nimt er eins
von diesen Stücken, und den bringt ihm die imagination von diesem einen punckt auf eine Menge
anderer; die Phantasie geht dan ihren Lauf, und komt auf Bilder die wohl ihren Zusammenhang
haben, aber nach und nach auf Bilder führen, die wenig ZusammenHang haben, bis endlich der Ver-
stand alles wieder ordnet. Dieses Gesetz, wornach der Verstand alles ordnet, heißt das Gesetz
der assotiation; Vorstellungen sind vergesellschaftet, wenn ein Grund«satz» einer Verbindung
da ist durch den die Vorstellungen verwandt sind, oder wenigstens benachtbart sind, d.i. {_daß_} man
sie{_«ht»_} durch die Einheit des Orts und der Zeit verbinden kan. Begriffe sind durch die Verwandtschafft
oder affinitaet verknüpft, wenn sie im Verstand miteinander verbunden sind, sie sind durch die
Nachbarschafft verknüpft, wenn sie durch nichts anders mit einander verknüpft sind, als durch die
Einheit des Orts und der Zeit. Der Zeit wenn wir durch die imagination auf eine Zeit ge-
bracht werden, und uns alles deßen, was mit der Zeit kaum concomitant war errinnern, %und
eben so des Orts. Daher kan kein Mensch ein Hauß vorbey gehen, wo er in die Schule gegangen ist,
ohne, daß ihm die alten Eindrücke einfallen, die er in dem Hauße hatte. -. In beyden Fällen
ists so bewandt, die Vorstellung macht durch Aehnlichkeit als Ursache %.und Wirckung mit einander
verwandt oder benachtbart seyn: so hat unser Gemüth die Eigenschafft Art solche Vorstellung
zu assocyren; eine Vorstellung lockt die andere herbey, und so kommen die Vorstellungen
zusammen. Da alle Vorstellungen so unähnlich sie sich auch seyn mögen, doch irgendwo
eine Ähnlichkeit haben können: so kan auch unsere imagination vom 100ten aufs 1000.ste kommen;
denn unsere Phantasie ist so ausschweifend, daß sie der mindesten Ähnlichkeit Vorstellungen
associrt. Diesen unwillkührlichen Lauf der imagination, bemerckt man in jedem %gesellschaftlichen
Discurs. Da ist eine erstaunliche Abweichung von der Materie, wo man von einem object abkömt,
und auf entfernte Dinge komt, und sich demnach nicht wieder zurück finden kan. Daß dieses
ein unregelmäßiger Herumschweif der Einbildungs_Kraft sey, findet man, wenn die Ge-
sellschafft zu Ende ist. Denn da fiehlt man etwas leeres, indem der Verstand beym zurück-
{_kommen_→_erinnern_} keine Einheit hineinbringen kan, aber eigentlich muß jede Ma{_r_→_t_}erie so lange
getrieben werden, bis sie erschöpft ist. Daher kan ein großer und kluger Mann die Herr-
schafft über die gantze Gesellschaft haben, indem er so bald die Gesellschaft vom
Discours abweicht etwas einmischt, daß sie nicht eher davon abweichen darf, bis er
sieht daß noch nicht alles erschöpft ist. Viele Leute verwickeln alle ihre Discourse
indem sie ihrer imagination nicht von Zeit zu Zeit durch den Verstand Einrich-
tung geben, den die imagination ist unbändig, und man kann sie nicht so in seiner
Gewalt haben, daß sie immer im Geleise des Verstandes bleibe: sondern
sie läuft ihren Cours nach, Aehnlichkeit immer fort. Dieses Gesetz der association

/ nachdem

|P_64

/nachdem die imagination fortläuft ist ein Natur Gesetz, daß durch die Vernunft zu Stande
gebracht ist, denn die Vernunft bringt ein Gesetz der Kunst hervor, daß die pure rohe Natur nicht
würde zu Stande gebracht haben. Daher muß die Vernunft sich dieses Gesetz der association so be-
dienen, daß die Regeln immer nach der Vernunft zu Stande kommen, und auf den Zweck der
Vernunft gehen. Daher sieht man, daß ein vernünftiger Mann nie von seinem Thema abgeht
damit er sich nicht verwirre, und die andern nicht darüber einschläft. Dieses Gesetz der association
muß sich also der Verstand bedienen, um den Lauf der Phantasie unter seine {_Gedancken_→_Schrancken_} zu
bringen.

/Die Engländer sagen man muß im Hauße eines Ge{_f_→_h_}angenen nicht vom Stricke reden, denn man
muß nichts aufs Tapet bringen, wo andere Personen durchs Gesetz der association auch für sie
traurige und ekelhafte ideen fallen konten. -. Bey einer Mutter die ihren einzigen Sohn
verlohren hat muß nicht von der Freude der Eltern geredet werden, die guttgeartete
Kinder haben, weil sie sich da gleich betrüben würden, es gehört dazu viel Klugheit
immer so zu reden, daß andere nichts nach dem Gesetz der association auf unangeneh-
me Gedancken bringen könne, den nach diesem Gesetz ist die imagination so delicat,
daß wir Vorstellungen regemachen, ohne mit einem Wort derselben zu erwähnen,
indem man nicht verhüten kan, daß andere nicht auf unangenehme Vorstellungen
gebracht werden sollen.

/Es ist eine Täuschung der Phantasie die den Nord_Schottländern begegnet, die aber wohl eine
krancke und ge{_stärckte_→_schwächte_} Phantasie ist, indem sie die Bilder der phantasie vor wirckliche
{_Bilder ¿¿¿_→_Ge_}genstände der Anschauung halten. Verschiedene Autoren führen an, daß
die Bergschotten von einem so genannten 2ten Gesicht sprechen, daß nehmlich {_ein Mensch_} mit seinen Augen
am Hellen Gan{_¿_→_z_} was anders sieht, als was da ist. sie sehen z.B. Leichen Gefolge von
Menschen die bald hernach begraben werden, der Glaube von solchen Hirngespinstern ist
wohl nicht der Wiederlegung werth, aber man will doch glauben daß das wahr ist, und daß
es eine Kranckheit, den auch die Somoiden und Ostincken haben eine solche <Art von> Nerven_Kranckheit,
indem ihr Nervensystem durch das rauhe Clima so angegrifen ist, daß sie sich so hohe Bilder
in der phantasie machen als andere sich nicht vorstellen können. Von den Ostincken führt
Pallas an, daß sie eine besondere Reitzbarkeit der Nerven durch die Kälte haben, daß
einer sich dadurch, daß ihn ein anderer anfaßt so alterirt, daß er auch seinen besten Freund
Todtschlägt, diese Täuschung ist eine Kranckheit der phantasie, eingebildete Bilder vor
gegenwärtig zu halten.

/Ein Phantaste ist der, der durch die Bilder der Gegenstände so getäuscht wird, als wenns wirkliche
Gegenstände wären; aber auch den kan man für einen Phantasten halten, deßen Phantasie
nicht nach dem Verlangen der Vernunft fortläuft; sondern auf 1000 andere Dinge fällt
die seiner Einbildungs_Kraft beifallen, indem er sie nicht im Geleise halten kan.

/Woher mag es kommen, daß ein gewißer Lauf der Phantasie für uns sehr «@verz@»ergötzlich
ist, wo das menschliche Gemüth in seiner Art von Motion ist, indem gewiße leichte

/ Eindrücke

|P_65

/Eindrücke auf unsere Sinne kommen, die mannigfaltig sind, und ein unbedeutendes
Spiel der Empfindung in uns erregen? Ein KaminFeuer macht einen nicht starcken Eindruck
auf uns; die Flamme ist unbedeutend, verändert sich auf 100erley Art, macht sonst aber
keine große Veränderung auf uns; da sitzt einer dabey und verliehrt sich in den tiefsten Ge-
dancken, vielleicht komts daher, weil die Flamme so vielerley Gestallten annimt, und
unsere imagination, die immer auf Gedancken fällt, die mit diesen Gestallten Ähnlichkeit
haben, nur daß wir uns des nicht immer bewust sind, und so ma{_cht_→_g_} sich das Gemüth dabey
recreiren. Eben so ists bey einem Bach derüber Kiesel läuft und Blasen macht,
die Mannigfaltigkeit dieser unbedeutenden Gestalt, die uns nicht starck auf sich
zieht, führt uns auf 100.ley Gedancken. Eben so kan man sich des morgens ehe es recht
helle ist aus den Vorhängen und andern Sachen allerhand Gestallten und Menschen
bilden, ohne eben dazu geneigt zu seyn; den je mehr veränderte Gestallten uns ein
object darbietet, desto mehr Stof hat die imagination uns Gegenstände dar zu stellen.-.
Der Anblick eines vom Winde aufge{_triebenen_→_thürmten_} Meeres errägt die phantasie, und unter-
hält sie. Man kan sich daran nicht satt sehen, weil es unregelmäßige Gestalten sind,
bey dem das Gemüth auf 1000 Gedancken kommen kan. - Der Toback giebt gleichfalls
der phantasie Anlaß das Spiel der Gedancken zu unterhalten, der Tobacks Rauch
ist ein Reitz, der eine unbedeutende Empfindung erregt, die weder angenehm
noch unangenehm ist, und oft wiederholt werden kan, wo das Gemüth durch
diese kleine Empfindung immer agitirt wird. Auch der Rauch ist eine Hauptsache dabey;
denn im finstern glaubt man immer die Pfeife sey ausgegangen, denn die mancherley Figuren
des Rauchs mahlen der phantasie so was vor, und diese kleine agitation unterhält
den Lauf des Gemüths immer seinen Gedancken nach zu gehen, daher wir auch finden
daß d«a»ies das vornehmste soliloquium ist, und wenn ein Mensch den Toback ver-
tragen kan, so ist er das beste, womit er sich die Einsamkeit passiren kan.

/Eben darum ist auch eine weite Aussicht angenehm, den eigentlich können wir je wei-
ter die Aussicht ist, desto weniger die Gegenstände uns ersehen. Es mag wohl wahr
seyn wie einige meinen, daß die Ursache daher rührt, weil unser Gemüth ein Ver-
gnügen daran findet, und eine {_s¿_→_St_}ärcke {_fiehlt_→_fühlt_}, wens sich weit ausdehnen kan, aber die
eigentliche Ursache ist diese: Wenn die Aussicht weit; so sind alle Gegenstände schwach
aber die Menge macht, daß unsere phantasie, die immer über die Gegenstände doleutscht
im Spiel erhalten wird.

/Viele Leute haben die Gewohnheit immer mit den Fingern etwas zu thun zu haben, wenn sie
etwas reden wollen. Die Ursache ist diese, die eine förmliche Bewegung macht, daß sie
auf keine andere Gestallt kommen, die sie zerstreuen würde; dieser gewohnte Eindruck
aber zerstreut sie nicht, hält sie aber von Zerstreuung ab.

/Es ist beschwerlich in der menschlichen Natur, daß unsere phantasie uns das ange- 

/ nehme

|P_66

/angenehme des Ver{_gnügens_→_angenen_} Zustandes übertrieben angenehm vorstellt, wodurch die Zufriedenheit in
Ansehung des gegenwärtigen vermindert wird. Wenn Menschen alt werden, so {_@ha@ben_→_loben_} sie die vergangene Zeit nicht,
weil sie alt werden, sondern weil sie wahrhaftig glauben gesehen zu haben, daß die Leute ehemals beßer waren
und wircklich schlechter geworden sind, von diesem Wahn kan sich der vernünftige Mensch nicht losreißen, und zu
aller Zeit haben die Leute geglaubt, daß es in ihren jungen Jahren beßer gewesen sey, und wenn es wahr wäre
so müste jetzt die Welt gantz in ruin liegen, obgleich alles immer gleich bleibt. Aber daran ist die tauschende Ein-
bildungs_Kraft schuld, die die erloschene Bilder mit lebhaften Farben ausmahlt. Obgleich die JugendJahre ehr
beschwerlich sind wenn man sich nur zum Beyspiel an die Plage der Schule errinnert, so sind doch die Meisten Menschen
so geartet, daß sie glauben, daß wären die glücklichsten Jahre, überhaupt sind die Menschen in Ansehung des ver-
gangenen so geartet, daß «sie» ihre phantasie ihnen in Ansehung des Vergangenen glucklichere Gegenstände vor-
stellet, als sie wahrhaftig waren, %und dadurch die jetzige Zufriedenheit schwächt, da man doch vielmehr trachten
sollte, daß unsere gegenwärtigen Zustände angenehm %und glücklich wären. Man kan aus diesem Phainomen«s» daß
erklären, was den Schweitzern arriviret, daß sie nehmlich das Heimweh bekämen. Sie haben nehmlich in den
Gebürgen eine Musi«¿»c die sie den Kuhreim nennen, eine schlechte Musik nach der die Bauren dort tan@tzen.@
Es ist aber bey der ganzten %.Keyserlichen Armée hart verboten diesen Kuhreim zu spielen, weil sie alsdenn sogleich
das Heimweh bekommen, sich grämen, abnehmen, %und nicht eher beßer werden als bis sie nach Hauße kommen@.@
Da glauben sie den, daß alles verändert %und anders sey, als «sies» es in ihren jungen Jahren gewesen sey;
aber da hat sie die Einbildungskraft sehr betrogen, indem sie sich ein Glück einräumten, daß sie genoßen haben
wollten, und nicht an die Beschwerden dachten die sie in der Jugend hatten. Eben so machens die Poeten
die das Arcadische Schäfer Leben beschreiben, indem sie alles beschwerliche des Hirte«s»nLebens weglaßen
und bloß eine {_Abmuth_→_Anmuht_} und Reitz beschreiben.

/Wir finden daß unsere imagination sehr durch unsere parteylichkeit gestimt wird, die Liebe verschönert alles
so daß wir glauben eine Person sey schön, weil sie andere gute Eigenschafften hat. Der Haß hingegen verheßlicht
alles, und wir glauben, daß der ein tükisches Gesicht hat, der uns ehemals einen Tort gethan hat. Von dem Deliquen-
ten sagt man er sehe tükisch aus, freilich sieht er bey der Angst nicht freymüthig aus, aber ob er uns tükisch vor-
kommen würde, wenn er nicht gefangen säße ist eine andere Frage. - Daß «@wenn@»<man> sich durch die phantasie ein
Bild machen könne, wovon die Vorstellung @nichts@ lehrt, sieht man daraus, daß wenn {_man_} auf Reisen Leuten einge-
bildet hat, dieser oder jener sey gestört, sie sollten ihm also nichts übelnehmen, obs gleich nicht wahr ist, so komt
den andern alles was dieser bey guter Laune thut als zweydeutig, sie glauben allerhand lächerliches wahrzu-
nehmen, daß einen verrückten Menschen anzeigt. Ihre phantasie macht ihnen allerhand Sachen vor, %und sie wißen sich
nicht zu faßen, wenn sie hernach hören daß es eine Lüge war.

/Jeder Mensch glaubt daß zu faßen wovon sein Kopf voll war. Die Gewohnheit zu gewißen Bildern womit man sich be-
schäftiget, hält das Gemüth bey demselben gegenwärtig, %und corrumpirt das Urtheil, so daß man daß zu sehen glaubt,
was man zu wünschen hat -. Schwärmer oder Leute die einer gewißen Secte ergeben sind, finden alles in der Bibel
was sie wollen, sie sehen alles so deutlich ausgedrükt, %und müßen über die Blindheit anderer Menschen erstaunen.
Bey einem Lügner ist der habitus zu lügen oft unwillkürlich, man kan nicht sagen, daß gewiße Menschen
eine gewiße Absicht beym Lügen haben. sie thun nichts aus interesse oder Absicht gutes zu stiften, sondern ihre
immagination ist so wild, daß sie mit ihnen davon läuft, und indem sie mehr sprechen als sie sich besonnen hatten,
so {_verfehlen_→_verfechten_} sie sich, und so veranlaßt eine Lüge die andere. - . Eben so wird beym Dichter oder Roman Schrei-
ber eine «@Hoffnung@» hochfliegende phantasie erfordert. Hier gehts aber an, denn es ist hier eine Convention
zwischen ihnen %und andern Menschen daß nicht vor wahr zu halten ist.

/Die Imagination bringt aus dem was man sieht eine Nachahmung hervor. Wenn ein Mensch im Affect spricht, so macht
der andere alle die Minen nach wormit der andere spricht ohne es selbst zu mercken. Die Starcke der Einbildungskraft
bringt eine Nachahmung hervor, aus dem was wir sehen. -. Man versichert daß 2. Persohnen die sich einander lieben
wenn ihre Gesichte Bildung nicht zu sehr differirt, zuletzt fast einerley Gesichte Züge %und Minen bekommen -.

|P_67

/Zimmermann zeigt <daß> die große imprimirung der phantasie beym Anblick gewißer Dinge die
unsere Einbildungs_Kraft afficiren zur Nachahmung bringt, so führt er an, daß der an<blick> convulsivischer Zufälle
bey den Zuschauern convulsiren erregt; vorzüglich bey Kindern, und bey Persohnen deren Nerven sehr
reitzbahr sind. Je mehr man dahin sieht desto mehr wird unser Nervensystem gereitzt, und
die Natur «reitzt» <neigt> sich zur Nachahmuge

/Boerhave erzehlt daß in einer Schule {_durch_} ein Kind daß in Convulsionen fiel, andern<2> alle<1> Kinder in Convulsionen
fielen, und sie könten nur durch Drohungen sich von den Gegenständen abzuwenden {_davon_} geheilt werden. Es ist
also in einigen Bewegungen des Menschen was sympatetisches daß zuletzt dieselbe Wirckung bey uns
oder bey andern hervorbringt, daß Gehnen vermittelst der phantasie bringt eine unwillkührliche Nachah-
mung hervor, vorzüglich wenn man in Gedancken ist.-.

/Es ist besonders daß es Fälle giebt wo die imagination stärcker ist als die Gegenwart der Sache; indem die
Leidenschafft mehr vergrößert wird als die Sache selbst. Es giebt Verliebungen, wo die Gegenwart der
Person zwar einen Eindruck auf die Verliebte macht, aber dieser Eindruck wird größer, wenn er
auch in der Abwesenheit in Sie verliebt ist. Die Ursach davon ist weil er in der Anwesenheit aller-
hand kleine Fehler sieht, die er in der Abwesenheit nicht bemercken kan. Eine<n> solche<n> Verliebte<n> ist
nicht anders zu {_finden_→_heilen_} als {_durch_} die Ehe, die das Ende aller Liebe ist, so daß man es auch in Franckreich
für einen Wiederspruch hält, in der Ehe zu seyn, und sich zu lieben.

/Ein Affect der auf Einbildungs_Kraft beruhet ist schwerer zu dämpfen, als der auf die Sache be-
ruhet. Den im letzten Fall läßt es sich wiederlegen, aber die EinbildungsKraft ist fruchtbahr
und wendet alle @für_→_ihr@ Kunst an. Man hatt Fälle in der Erfahrung, daß Leute wegen Leiden-
schafft der Liebe in fremde Lande reißten, aber das half nichts, sie musten sich durch
Heyrath helfen. Diese Leute waren durch den Reitz der phantasie mehr eingenommen,
als durch alle andere Gründe. - Man sagt von der Einbildung, daß in der ersten Zeit
der Mündigkeit sich die stärcksten Eindrücke finden sollen, so daß die Person die sich
ihm {_den_} imprimirt die stärcksten Eindrücke behält, wenn er gleich 100 Fehler an ihr wahr-
nehme.

/Wenn eine phan«s»ta«n»sie fehlerhaft aber doch nicht gestört, also durch Mangel der Cultur fehler-
haft ist, so nennt man sie ziegelloß oder regelloß, refrena et praeversa. Die Zügelloße
bestehet in der unmäßigen phantasie, in Verhältniß unserer Willkühr, wo wirs nicht in
unserer Macht haben die phantasie zu dämpfen, ihre Bilder zu verbannen, und ihrem Laufe
eine andere Richtung zu geben. Ein solcher Mensch ist unglücklich und hat seine phanta-
sie nicht in seiner Gewalt, sie zeigt sich vorzüglich «vor» bey Groll und Haß unter Menschen.
Wenn der Mensch bey das Gezäncke daß er in der Gesellschafft anfing in seiner
phantasie continuirt, so bringt er sich eine Neigung des Haßes zuwege, und ver-
dirbt in sich die Freude seines Gemüths. Eben so läuft der Mensch bey traurigen Vor-
stellungen seiner phantasie in die unglücklichen Folgen herein, die sich ereignen
könten, und da kan man mit Üblen gemartert werden die nie existiren. Die zügel-
lose phantasie ist nur bey einem Dichter, der die Schrancken überschreitet, und
alles übertreibt. Es ist aber die gröste Stärcke der %.menschlichen Seele, wenn sie alle talente

/ in

|P_68

/in ihrer Gewalt hat, jede Kraft zu dirigiren, und dazu anzuwenden, wozu sie will.
Die Bewegung des Gemüths zu erregen und zu hemmen, und überhaupt alle Betrachtungen des
des Gemüths über seinen Zustand zu ordnen.

/Die Regelloßigkeit ist noch ärger, als die Zügelloßigkeit, sie besteht darinn daß die Phantasie
dem Verstande nicht folgen will, sondern auf Ungereimheiten und verächtliche Dinge, «und
verächtliche Dinge» läuft. Die phantasie hintergeht den Verstand mit Aehnlichkeiten
der Bilder, und so wird mancher durch eine Regelloße phantasie durch ähnliche Bil-
der getäuscht. Bey Hypochondristen ist eine regelloße phantasie. Ein zügelloser
phantast schwär«t»mt, ein regelloser phantast faßelt. Der erste zeigt eine Starcke
an, obgleich der Verstand unwillkührlich dem Gemüthe folgt, aber die regelloße
phantasie macht den Menschen untauglich zum Gebrauch des Verstandes. Viele
überflüßige Dinge die man in der Religion und philosophie als ein Spiel
der phantasie vorträgt, sind eine verkehrte Anwendung dieses Vermö-
gens, wo der<1> Plan<4> einen<3> Verstand<2> machen<5> muß, denn die phantasie mit ihren
Bildern aus {_macht_→_mahlt_}.

/Wenn wir das Talent der Völcker im occident mit den Völckern im Orient vergleichen
so ist bey den ersten viel Verstand und wenig phantasie; im Orient ist aber
wenig Verstand und eine blühende phantasie, daß sieht man in allen ihren Schrif-
ten und Wercken der Kunst. Die Türcken haben große Achtung für Bilder;
dies komt nicht so wohl von ihrer Religion her, sondern weil ihre phantasie
weit anders von den Bildern gerührt {_wird_}, als die eines kaltblütigen Europäers.
Eine solche Bild Säule komt ihnen als etwas lebendes vor, und setzt sie in graußen.
Wir finden <in> unserer Phantasie daß sie mehr des Abends als des Morgens
spielt. Des Morgens scheint die Herrschafft des Verstandes erneuert zu seyn, und
des Abends fängt die Einbildungs_Kraft an zu schwärmen. Wenn der Mensch des Abends
anfängt vom Zustande nach dem Tode zu sprechen: so wird das der phantasie sehr
willkommen seyn, aber des Morgens würde daß ein schaaler discours seyn, so lange
der Mensch Herr seiner phantasie ist, kan er arbeiten, wenn er aber diese«s»
Schwärmen läßt, so thuts ihm einen großen Schaden, und es geschieht am ersten
des Abends. Daher haben verschiedene Ärtzte angemerckt, daß das späte Nacht-
aufbleiben dem Körper vielen Schaden thue. Sie haben aber nicht die rechte Ursache
angegeben. Sie sagen wohl daß es dem Menschen zuträglicher sey vor Mitter-
nacht zu schlafen, aber daß ist nichts. Die wahre Ursache ist diese: des Abends
ist unsere phantasie sehr geneigt herum zu schweifen, und sich in Hirn Gespinster
zu divertiren. Die Sinne haben d«¿»¿nn weniger Unterhaltung, und so schweifen
wir auf Dinge, die auf unsere Einbildungs_Kraft wircken, und das wirckt
so sehr auf die Nerven, daß es gar sehr am menschlichen Leben nagt.

/Diese «Schwierig» Schwächung der Nerven ist dem Quell des Lebens nachtheiliger
als manches andere. Man kan zu der Zeit auch nie Menschen antreffen

/ die

|P_69

/die gantz gelaßen wären, sondern sie gehen denn mit lauter LuftSchlößern
um, und sind gar nicht ruhig. Und ob diese afficirung gleich innerlich ist, so geschiehet
sie doch immer auf Kosten unserer Lebens-Kraft. Geht man aber bald nach dem
Abendeßen schlafen, wo wird man des Morgens dafür sicher seyn.

/Auf diese Art muß man dem Lauf der phantasie die Schwärmerey zu coupiren suchen.
So lange man in der Gesellschafft ist, wird sie noch immer im Geleiße gehalten,
daher muß man, so bald man von da weggeht gleich zu Bette gehen und nicht spät
aufsitzen.

/Einige phantasie {_scheint_} eine originalitaet zu haben, man findet daß bey witzigen Köpfen,
und daß nennt man das Genie derselben, wo sie ihren Bildern Regelloßigkeit, aber
doch Neuigkeit geben, und der Beifall denn man den producten des genies zu geben
pflegt ist allgemein.

/Die phantasie mag wohl manchen Menschen das Feuer geben, daß er ohne die phan-
tasie nicht haben würde. Sie hat großen Einfluß auf uns; stellt uns die Dinge
bald als nützlich, bald als unnütz vor; und in der That beruhen die Laster
darauf. Die Geschlechter_Neigung {_braucht_→_beruht_} mehr auf der phantasie als auf
der Realitaet, daher muß man sich in der Einsamkeit den Schwärmern der
phantasien über Geschlecht_Neigung nicht überlaßen; den sie sind unnütz,
übel, und der Natur nicht gemäß. Die Indianer sind in dem Stück kaltblütig
und gleichgültig, und bey allen wilden Nationen hat die Natur nicht den Grad
der Reitzbarkeit, als bey uns, wo die phantasie über alle Dinge einen Zauber
gießt, und die Triebfedern so stimulirt, daß dadurch Laster werden,
die ihre Entstehung am meisten der phantasie zu verdancken haben.
Auf der phantasie beruhen eine Menge von Kranckheiten, und die Curen
vieler Kranckheiten. Die Ärtzte helfen mehrentheils durch die Zuversicht
und Sorge, die ihre Gegenwart dem patienten einflößt, wobey der Körper
mehr an seiner Gesundheit verbleiben kan; aber der Artzt ist auch die
Ursache vieler Kranckheiten, den jeder Mensch glaubt, die Ärtzte verstehen
einen Körper zu fliecken, und wird so eingebildet kranck.

/Wenn wir sehen wollen, was für ein großes Geschäfft die phantasie
treibt: so dürfen wir nur unsere eigene Unterhaltung betrachten.
Jeder Mensch ist in der Einsamkeit beschäftigt, macht Plane, findet darin
seine wahre Unterhaltung, kan sich Romanen so lebhaft schildern, und
das Vergnügen immer die Hauptperson darin zu seyn. Die Einbildungs
Kraft macht uns also den grösten Theil unserer Zeit angenehm, indem
wir uns Hochachtung von andern Menschen träumen, und in die idealische
Welt kommen.

/ Man.

|P_70

/Man {_¿a¿_→_hat_} ein Sprüchwort daß auf den gemeinen Mann deutet, daß sich aber
auch für kluge Regenten empfehlen ließe: Mundus regitur opinionibus.
Denn die Meynung die die phantasie sich macht thut eben daß was Wahrheit
verrichtet, und die Menschen werden glücklicher durch die Fabel als durch
die Wahrheit. Wenn also Könige so regieren könten, daß die Unterthanen
ihre Pflicht abtragen müßten, und doch gläubten daß sie frey wären, so wies
in Holland und England ist: so ist daß ein glücklicher Staat, denn die Mey-
nung von Freyheit ist eben daß, was Menschen glücklich macht; und wenn
ihnen diese Neigung keiner kräncken darf, so fiehlen sie sich frey, aber
dergleichen zu verrichten erfordert vom Regenten viele Talente.

/Man kan sagen daß die Ehe glücklich sey, wo der Mann sich einbildet, daß sein
Schatz große gegenLiebe für ihn habe, und diese Einbildung ist daß, was
das Glück ihres Lebens ausmacht. Daher ist die Person schon gegen ihren
Mann gefällig, die wenn sie gleich keine Liebe gegen ihn hat, doch alles das
thut was eine Gegenliebe anzuzeigen pflegt. Denn da hintergeht sie doch nur
seine Einbildungskraft, und er wirds immer glauben, denn die phantasie
ist bey dem Menschen von eben demselben Werth als die Realitaet. Wenn
ein geitziger Geld sammlet, ohne dabey weitere Absicht zu haben: so reitzt
ihn nichts als der Genuß der Reichthümer «dieser» <in der> phantasie. Wenn er seine
Nachtbaren Staat machen siehet: so stellt er sich vor, daß er daß alles
auch haben könte, und noch zu genießen hat, und da stellt er sich noch
hinter her das Vergnügen vor, wenn jene mit leeren Beutel zurück kommen.
Dieser Zustand beym Geitzigen hat viele Vorzüge, er hat sein Geld in der
Tasche, und sieht also das Vergnügen noch vor sich. Wir sehen also daß diese
Leidenschafft blind ist, nährt eine unerschöpfliche Quelle von Einbildung;
denn die gantze Denckungs_Art beym Menschen «braucht» beruht auf einer
Vorstellung der Phantasie.

/ ≥ Vom Vermögen unserer Seele Vergleichungen anzustellen
daß ist vom Witz und Urtheilskraft.

/Alle Vergleichungen gehen darauf, die Übereinstimmung oder Verschiedenheit von Din-
gen zu zeigen. Das Vermögen des Gemüths die Übereinstimmung der Dinge zu zeigen ist
der Witz; das Vermögen ihre Verschiedenheit zu mercken, ist die UrtheilsKraft.
Man nennt den Witz eine Gabe, die Aehnlichkeit der Dinge einzusehn. Witz ist
ein positives Erkenntniß_Vermögen unsers Gemüths, in weiter Ausdehnung
unsrer Erkenntnißkraft. Urtheilskraft ist ein negatives Vermögen, eine restr@in@-
girung unserer Begriffe, in dem wir zeigen, daß ein Begrif nicht au{_ch_→_f_} so viele

/ Dinge

|P_71

/Dinge {_hat_→_geht_} als man glaubt; durchs judicium verhüten wir also Irrthümer. Die
Urtheilskraft geht aufs rectificiren, der Witz aufs hervorbringen. Der Witz
sucht aus verschiedenen verglichnen Vorstellungen einen Begriff zu machen. Durch
die Urtheilskraft unterscheiden wir die species, die unter der Gattung enthalten sind.
Unsere Erkenntniß wächßt mehr durch Witz; indem wir sie dadurch allgemeiner
machen können. Ein solcher Begriff ist von großen Umfange, und man kan ihn
auf verschiedene Gegenstände appliciren, wir machen aus ihm Gattungen, die
die Nehmlichkeit vieler Dinge enthalten. Man hat also im Anfang wenig
genera, weil man unter einem genus viele Dinge begreift, nach und nach
findet die Urtheilskraft Verschiedenheiten, und so werden durch die
Urtheilskraft die speies multipliciret: durch den Witz hingegen wird alles
auf genera gebracht. Vorzüglich muß man also darauf mercken, daß Ur-
theilskraft hauptsächlich einen negativen Nutzen habe, Irrthümer abzuhalten,
weil der Witz sich unaufhörlich bewirbt unsere Erkentniß dadurch zu erwei-
tern, daß er die mannigfaltigen Vorstellungen unter Begriffe zu bringen
sucht. Manche Menschen sind nicht im Stande etwas einstimmiges in Dingen zu
finden, andere findens alles ähnlich, welches eine Herrschafft des Witzes
anzeigt. Die Urtheilskraft unterscheidet das verschiedene, damit die vermein-
te Ähnlichkeit nicht zu weit gehe, und damit man Dinge nicht für einerley ansehe,
die verschieden sind z. B. Menschen werden den körperlichen Bau n{_o_→_a_}ch für einerley
{_ge_}halten, aber zuletzt findet man durch die Urtheilskraft, daß die Geistes_Anla-
gen bey beyden Geschlechtern verschieden sind. Die Illusionen des Witzes
praepariren uns also die Irrthümer, wenn nicht eine reife Urtheilskraft dazu
komt, um die Unterschiede darin zu <be>mercken; denn durch unsern Witz ent-
springt eine Begierde einen Begriff von allen Dingen geltend zu machen.
Die Urtheilskraft aber findet, daß unsere Begriffe gar oft nicht zureichen
alle die Dinge zu erkennen. Darauf ist Acht zu haben, wenn man das Verdienst
dieser 2. Vermögen schätzen will, und auszu{_wickeln_→_mittlen_} sucht, welches von bei-
den den Vorzug habe, Hier ist offenbahr, daß ob zwar der Witz ein posi-
tives Erkenntniß Vermögen ist, wir doch oft ein kritisches Vermögen
Nichts als Blendwercke durch den Witz aufsamlen würden. Der Witz
bringt einen Vorrath von Erkenntnißen zusammen, die Urtheilskraft
aber wirft daß wieder weg, was mit einer dauerhaften Erkenntniß
nicht zusammen hängt, sie rectificire{_¿_→_t_} unsere Begriffe.

/ Witz «belebt»

|P_72

/Witz belebt das Gemüth, und leitet uns auf mannigfaltige{_,_} Urtheilskraft
schränckt die Lebhaftigkeit des Gemüths ein, indem sie unsere Gedancken
behutsam macht. Der Witz ist darum beliebt, weil er aufgeweckt ist, die Ur-
theilskraft ist bedachsam und darum hoch geachtet. Aber so hoch geachtet sie
immer ist: so ist sie doch nicht so beliebt, den ein jeder sucht mehr den Witz als
Urtheilskraft und Witz wird eher sein Glück machen: denn das wahrhafte Verdienst
findet nicht allenthalben «Verdienst» Liebhaber; es findet Bewunderer, erweckt
Lob, aber man nähert sich ihm nicht immer. Aller Witz ist ein Spiel aber er ist
doch nützlich; denn jeder Einfall giebt immer Mannigfaltigkeit von Be-
deutung. Durch den Witz entstehen Regeln, und dieße haben große Brauchbar-
keit. Denn eine jede Regel von Dingen dient dazu, eine Menge von Fällen zu be-
urtheilen: es ist ein concentrirter Begriff; der eine Menge anderer «er<t>hält»
enthält. Die Urtheilskraft aber schränckt diese Erwartung ein, denn so wie der
Witz unser Dencken dreist und waghälsig macht, so macht die Urtheilskraft ver-
legen und bedachsam, sie ist zwar rühmlich, aber gläntzt nicht.

/Der Witz ist vielleicht das Talent der Jugend, und die Urtheilskraft das Talent
des Alters, daher sagt man: ein lebhafter Witz eine reife Urtheilskraft. Die
Urtheils_Kraft «läßt» läßt sich nicht lehren, witzige Einfälle kan man wohl
lernen, aber i«n»m reifen Urtheil«en» läßt sich nicht Instruction geben, sie
wächst nur durch den Gebrauch, und ist der Verstand von dem man sagt,
daß er nicht vor den Jahren kommt. Junge Leute glauben oft, sie sind so
klug als die ältesten. Sie können darin in so weit recht haben, daß in ihrem
Geist genung seyn mag: aber man kan keine Urtheilskraft vor den Jahren haben,
denn daß erfordert Übung, Versuche und Erfahrung. Es ist ein negatives
Vermögen Urtheile zu berichtigen nicht zu erweitern; sie ist also die Wirkung
von einem durch die Erfahrung geübten Gemüth.

/Eine Erkenntniß die Verstand enthält, heißt in so fern sie zugleich Wißen-
schafft in sich faßt sinreich, wenn der Witz vorzüglich hervorsticht. Eine
Erkenntniß wo die Urtheils_Kraft hervorsticht heißt scharfsinnig. Das
Wort acumen Scharfsinnigkeit soll eine Aufmercksamkeit bedeuten@,@
die auf das kleine geht, daß unsern Blicken leicht entwischt, und
die schwächsten Eindrücke leicht zu bemercken; so daß man die Erkent-
niß leicht in ihren Atome zertheilen kan. Auf die Art konte Scharf-
sinnigkeit auch vom Witz gelten. Denn es giebt viel subtilen
Witz wo man Aehnlichkeiten bemerckt, die ein gemeines Auge nicht
sieht. Es ist aber doch gebräuchlich der Urtheilskraft Scharfsinn und

/ dem

|P_73

/dem Witz sinnreiche Wercke zuzuschreiben, es wird aber dabey erfordert
daß der Witz {_recht_→_nicht_} gefaselt, und die Urtheilskraft nicht gegrübelt habe.
Witz ist ein Quelle der Einfälle. Urtheilskraft eine Quelle der Einsichten.
Die französische Nation ist reich an Einfällen; die Einsichten kommen spät.
Aber die Einfälle können wir darum nicht gering schätzen. Es giebt Leute die
reich an Einfällen sind, die allerhand Plan entwerfen, zu denen die Urtheils
kraft dan kommen muß um sie zu prüfen. Die Einfälle sind die vorläufigen
Urtheile, die oft sehr glücklich seyn können, und das Wort Einfall«t» hat schon die
Bedeutung daß es mehr daß bedeutet, was uns ungesucht aufgefallen ist.
Einsichten hingegen daß was man mit Sorgfalt suchen muß. Ein Einfall
ist eine Wendung unserer Erkentnißkraft, wovon wir die Ursache oft selbst {_nicht_}
wißen. Mancher Mensch ist reich an Einfällen; sein Witz ist so fruchtbahr daß
er ihn {_auf_} hunderterley Einfälle bringt, aber ein solcher Kopf ist ordinair nicht
reich an Ein{_fällen_→_sichten_}. z. B. Senecka hat einen puren Einfall wenn er sagt, man
wird noch dereinst die Cometen so berechnen können, wie jetzt {_den Lauf_} d{_ie_→_er_} Sonne
und des Monds, es war das kein praesagium von ihm. Aber es ist eine Un-
gerechtigkeit unserer Zeit, daß man einen der {_W_→_w_}ircklich eine neue Einsicht
erfunden hat, das Verdienst zu schmählern sucht, daß man schon daßelbe
in den Alten aufsucht, die blos einen solchen Einfall oder einen Wunsch
von einer Einsicht halten, zu deren {_Erlernung_→_Erlangung_} sie nicht das Talent hatten.
Ein Buch das reich an Einfällen ist, hat etwas reitzendes, wir müßen
die Einfälle nicht zu sehr variiren, sondern müßen immer einen Zusam-
menhang zur {_Haubt_}Absicht haben. Aber Einfälle haben keine Lange Dauer,
weil man doch am Ende siehet daß sie nichts sind, und so verlieret sich
am Ende die erste Überraschung die uns erfreute. Einige Nationen
haben einen Hang Einfälle günstig aufzunehmen, daher geschiehts daß diese
Einfälle in großen Haufen bey ihnen eindringen, und ihre Druckpreßen
damit überschwemt sind. In Deutschland sind sie Contrebande, denn wer
da mit blosen Einfällen komt, und nicht eine Einsicht daraus zu machen
sucht, komt schlecht weg. Die Ursache ist. Die Deutschen können ihren
Einfällen nicht die Einkleidung geben, wodurch sie sich insinuiren
würden. Aber die Nation die ein solches Vergnügen an Einfällen

/ hat

|P_74

/hat, hat keinen Geschmack. Selbst Montesquieu, deßen Verdienste
bey den Franzosen so hoch angeschlagen werden, daß sie ihn so gar den 2ten
Solon nennen, ob er gleich bis dato noch nicht die geringste Veränderung
in der Gesetzgebung dieses Volcks hervorgebracht hat, und wenns gleich
geschiehet, daß man durch ihn wohl unterhalten wird, so lernt man doch
nichts von ihm. Die Wißenschaften haben durch ihn nichts gewonnen, es sind
Blücke und Fingerzeuge, die er giebt, und denen man weiter nachdencken soll,
von denen man noch nicht trauisch ist, ob Sie {_sich_→_Stich_} halten werden, die zwar Anfangs
thunlich scheinen, und im Zusammenhang doch unmöglich sind und in Chimären zer-
fließen.

/Witz geht auf die Brühe, Urtheilskraft auf die Nahrung. Urtheilskraft macht
zuletzt daß aus, was die Nahrung für unsere Seele ist. Der Witz giebt allen diesen
Dingen die Brühe und {_Aehnlichkeit_→_Annehmlichkeit_} und macht, daß das was die Urtheilskraft als
tüchtig ausgezogen hat, in weitläuftige Verbindungen gesetzt wird, er dient dazu
den Einsichten die durch die Urtheilskraft bewährt sind, eine weitläuftige {_Anleitung_→_Ausdehnung_}
zu geben.

/Bon mots sind Einfälle die aber {_Redlich_→_Neuig_}keit haben und wechseln müßen wie die
Moden. Wenn sie schon eine Beharrlichkeit bekommen haben, so heißen sie
Sentenzen, die wegen ihres Inhalts gelten und praegnant sind, und viel Ver-
stand enthalten. Beym gemeinen Mann heißen sie Sprichwörter. aber die bon
mots müßen plötzlich einfallen und bald vergehen, und können sich nur durch
die Neuigkeit empfehlen. Die Jagd der bon mots ist sehr eckelhaft, für den
der einen Autor ließet, der darnach jagt, und da kan der Verstand durch den
Witz auf die Tortur gelegt werden. In des Abts Kribelaits seinen Schriften
kan man nicht einen Bogen herunter lesen, ohne ihn sich gantz zu verekeln,
weil alles am Ende ein pures Spiel ist, daß «s»an sich selbst keinen rechten
Werth hat, und wo es nur auf eine besondere Art ankömt, Begriffe
zusammen zu stellen von denen man sich keine Verwandtschaften gedacht
hatte, und doch eine findet, welches einen erfreuet. Aber, da daß doch
kein Erwerb fürs menschliche Hertz ist, und es doch die {_Absicht_} des Menschen immer
ist, mit ihrer Erkentniß etwas zu gewinnen: so ists am Ende doch {_schade_→_sch@al@_}
denn der Witz ist nicht so zugeschnitten daß er einen Zweck hat. Das
Gemüth ist so geartet, daß so sehr es immer auf Belustigungen ausgeht,
{_und_→_es_} doch immer auf Realitaet gehet, daß der Verstand gewinnen
soll. Daher hat daß pure Spiel nichts befriedigendes, und findet nicht
anders einen Werth als durch die Neuigkeit. so sehr der Witz beliebt

/ ist

|P_75

/ist, so wird doch am Ende immer verlangt, daß er einen Punkt des Verstan-
des hervorbringen soll.

/Wer von Witz professionen macht heißt ein Witzling; wer mit der Urtheils-
kraft paradirt heißt ein Klügling. Der Witzling wird eckelhaft. Der Klügling wird
verhaßt. weil er lehrreich {_@schimmern@_→_scheinen_} und immer belehren will. Wir nehmen aber an
daß wir selbst so viel Urtheilskraft haben werden, zu unterscheiden wie weit
Dinge gelten. Viele Menschen klagen, daß sie nicht witzige Einfälle haben, und
renunciren auf die Ehre, Witz zu besitzen; aber es ist kein eintziger Mensch, der
@da@ einräumen sollte, keine Urtheilskraft zu haben, denn dieses ist das unent-
behrlichste, und gehöret zum nothwendigen, aller unserer Talente.

/Wenn un@n«¿»@ also ein Klügling mit seinen Bemerkungen in den Weg komt, so ist
er uns verhaßt, indeßen daß der Witzling nur gering geschätzt wird, wenn
seine Einfälle Kleinigkeiten betreffen. Wann bey einem Volck eine Mode immer von
der andern verjagt wird, so zeigt es immer daß es einen Uberfluß an Witz
hat, der immer in der Arbeit ist etwas neues hervorzubringen. Der Witz
bringt Mode hervor, und die Urtheilskraft bestimmt den Gebrauch derselben.
Eine Mode wird oft zum Gebrauch, und hört als denn auf Mode zu seyn.
Der Gebrauch ist eine dauerhafte Regel unserer Einrichtung; und was in
Gebrauch gekommen ist, ist allgemein, die Mode aber bestehet durchaus
«der» in der Neuigkeit, also kan man sagen, daß der Anfang des Gebrauchs
eine Mode gewesen sey. Es giebt Nationen die viele Gebräuche haben
z. B. die Spanier. Andere aber sind mehr Liebhaber von Moden{_ z_→_. Z_}u Moden
können alle Albernheiten werden; aber der Gebrauch muß überlegt seyn.
Eine Nation von Urtheilskraft, die in der Veränderung ihrer Entschließungen
behutsam ist, hängt an ihren Gebräuchen, und keine Nation ist so sehr ihren
Gebräuchen ergeben als die spanische. Hierinnen bestehet das ab{_stehendste_→_stechendste_}
derselben von der französischen Nation.

/Der Witzige ist frey und hardi, der judicieuse ist unschlüßig und bedencklich
in französischen Critiquen wird mancher Autor erhoben, weil er viele Hardiesse
hat; bey andern Völckern wird solche Hardiesse nicht gerühmt. Der Witz ist
an sich selber hardi, denn da er mit Ähnlichkeiten spielt, {_sieht_→_sucht_} er so viel er
kan alles zusammen zu paaren. Dagegen die Urtheilskraft macht, daß wir
keine große Schritte vorwärts thun können, indeßen das der Witz ein großes

/ Feld

|P_76

/Feld durchgeht. Dagegen ist auch keine Dauerhaftigkeit in einem Urtheil, daß
die Hardiesse des Witzes hervorbringt. Büffons Schriften sind sehr lehrreich, aber
es ist auch oft sehr viel Hardiesse in seinem Urtheil. In England und Italien
findet man darin mehr Behutsamkeit.

/Der Witz ist populair die Urtheilskraft ist schalastisch. eine Nation die sehr popu-
lair ist, beweißt dadurch, das ihr talent hauptsächlich auf den Witz gerichtet ist.
In allen französischen Schriften herscht der Geist der con{_¿_→_v_}er{_¿_→_s_}ation. Denn damit der
Zweck erreicht werde, da sie allem was sie «zu» thun den geselligem Geschmack zu
geben suchen, so müßen sie alles mit Witz ausstoffieren. Die Urtheilskraft hat
mehr Verdienst in Ansehung der Schule. Das publicum bekümmert sich nicht so sehr um
die Richtigkeit sondern überlaßt {_uns_→_das_} der Schule auszumitteln.

/Ein Witz ist seicht der nichts vom Verstande enthält, der Schulwitz enthält wohl
was vor den Verstand aber nichts vor die Welt. i. e. vor den Gebrauch in der
Con{_s_→_v_→__}er«f»sation vor den populairen Verstand. Ein seichter Witz enthält nichts
vor dem Verstand, also sagt man daß ein Witz in conversation unter-
haltend seyn kan, und in Büchern fade {_klagen_→_klingen_} wurde. Denn da will man
auch was für den Verstand haben, ob dieses gleich in den Faden Reden der
Conversation nicht immer verlangt wird.

/Die Franzosen haben ein paar Ausdrücke: sot und fat. %.Professor Kaestner sagt in
seiner Launen sot ist der Deutsche der nach Paris reißt, und fat wenn er
wieder zu Hauße komt. D.i. als ein Laffe reißte er nach Paris, und als
ein Geck komt er zurück. Er war ein Narr ohne Stoff als er zu Hauße
war, und in Paris hat er noch mehr Stof zur Narrheit gesamlet.

/Der Witz soll original seyn; nichts ist elender als nachgeamter Witz, daher
sollten die Deutschen nicht profession davon machen, weil es der deutschen
Nation nicht angemeßen ist originalitaet zu besitzen, sondern sie haben
einen starcken Geist der Nachahmung, witzige Persohnen sind zu einem
Muthwillen des Geistes aufgelegt, und ausschweifend in ihren Einfällen,
hingegen der Mensch der keinen Uberfluß am Witz hat muß bescheiden seyn,
und nicht dem Muthwillen freyen Lauf laßen. Den Einfälle müßen mit Witz
gewirtzt seyn, wenn sie gefallen sollen. Der Witz ist etourdi (etourdi ist
ein Worth daß man in der deutschen Sprache nicht ausdrücken kan, wenn
man sagt grob oder dumdreist, so wäre dieses zu hart, es ist ohngefehr
ein <zu> nachtretender Schertz der aber mit einer angenehmen Manier ge- 

/ sagt

|P_77

/gesagt wird, worinnen sonderlich die Franzosen Meister sind) Wem
es aber daran mangelt, der muß bescheiden seyn, den hardiesse schickt
sich nicht mit einem talent zusammen, daß keinen lebenden Witz hat.
Die Gesellschafft wird durch den Witz beym Schertz belebt. Was enthält
@eine@ Converation? %Responsio. Diese 3 Stücke, erzählen. raisonniren %und schertzen
mit erzählen fängt der Discours an, wenn daß geschehen ist, kommt das
raisonnement darüber, und wenn das raisonniren ernsthaft wird, und ei-
nen disput nach sich ziehen würde, so ists ein Glück, wenn lustige Köpfe
beym Tische sind, und durch einen artigen Schertz eine diversion im {_Stücke_→_Streite_}
der andern machen - Was kan von diesen Stücken am längsten anhalten?
Mit Erzählungen kan man lange Zeit passiren; denn man muß davon
gleich wieder in einer andern Gesellschafft Gebrauch machen, weil jeder immer
gern den Vorzug haben mag, der erste Relateur von einer Neuigkeit
zu seyn; aber die Erzählungen sind bald zu Ende. Wenn man die Materie
worüber man raisonniret, allgemein interessiret z.B. über die menschliche
Natur und nicht ins trockne geht; so kan daß auch eine Weile dauren,
da daß aber zuletzt zu ernsthaft wird, und die Mahlzeit in der Gesell-
schafft mit die Absicht <zu> haben scheint, daß sie gut bekommen soll; so muß auch
der Schertz in der Absicht da seyn, und die Erschütterung beym lachen her-
vorbringen helfen. Eine Mahlzeit aber unter lauter Schertz ist gantz uner-
träglich und fad, wenn man so sieht, wie Leute sich peinigen, um Witz
hervorzubringen. Es ist da gleichsam als wenn man geträumt hat; denn
@es@ ist gar kein Zusammenhang darin. Der Schertz muß also ein desert
seyn, daß die conversation nicht ausfüllen, sondern ihr nur ein Gehalt
geben muß.

/Mancher Witz heißet launigt. Die Welt sieht einem jeden so aus, wie
@sie@ uns die besondere disposition des Gemüths vormahlt, und unsere
Urtheile über die Welt rühren nicht so sehr aus der Beschaffenheit der Dinge,
als unsers Gemüths her, so wie einem gelbsüchtigen alles gelb aussieht.
Wenn nun einer die Dinge gantz anders {_ansaut_→_anschauet_}, als ein anderer, in dem
in seinem Witz etwas originales ist, indem er sich die Dinge in einer
unerhörten disposition vorstellt, die von der gewöhnlichen gantz ab-
weicht. Ein solcher launigter Witz ist beym {_Sevirst_→_Swift_}. Kein Spötter hat

/ eine solche

|P_78

/originalitaet in den Einfällen, und keinem fließt sie so leicht weg, als
ihm. Er war auch ein gantz originaler Mann, ein Misantrop, der beständig
mit der Regierung in Feindschafft lebte. Wenn man Buttlers Hudebras
ließt findet man eine Laune, die sehr reitzend ist. Es ist die witzigste
Schrift, die in irgend einer Nation gefunden ist, dabey ist auch viel
Gelehrsamkeit darin.

/Beym Witz ist oftmals was, was man durchtrieben nennen könte, eine unschul-
dige, verborgen liegende Schalckheit. Voltaire hat das häufig, daß indem er auf
eine unschuldige Art etwas sagt, er jemanden einen derben Stich giebt. Es
ist eine Art von naivitaet, die nicht wie ein Spott aussieht; sondern die den Ton
einer Rede hat, die aus der Einfalt des Hertzens gekommen ist. Einen leichten
Witz findet man gröstentheils beym Voltaire. man glaubt, man könne sel-
ber so schreiben: es scheint bey ihm alles so aus der Natur entsprungen
zu seyn. Daß man ihm beym lesen, eben nicht so sehr bewundert, als
man bey einem eigenen Versuch gewahr wird. Es ist aber daß dem
Voltaire sehr sauer geworden.

/Eigener Witz ist tief. Dergleichen findet man in englischen Schriften. in Youngs
Nachtgedancken ist viel Witz; aber er ist zu tief, daß man sich sehr freut, wenn
man ihn auffindet. Er ist nicht lachend; sondern macht stutzig, wie wir ihn ein-
sehen sollen. Aber der Witz muß keiner Auflößung bedürfen; er muß wohl
ein kleines Räthsel enthalten, daß sich aber so gleich von selbst auflößt.
Die Engländer haben in ihrer Sprache etwas, daß sie Bullen nennen, wo sie
immer aufpaßen, wie der andere spricht, damit er keine Bullen, daß
ist Fehler begehe. Die Ursache, warum die Engländer drauf attendiren ist wohl
damit ihre Sprache desto richtiger gesprochen werde. In Engeland giebt man
den Irrländern hauptsächlich die Schuld, daß sie viel dergleichen Bullen machen.
Populairer Witz zeigt sich in Sprüchwörtern, ein Sprichwort ist zum Theil mit
Urtheilskraft verbunden; ein Sprichwort kan man als das eigenthümliche von
Witz und Urtheilskraft bey einer Nation ansehen. Es wäre zu wünschen,
daß sich jemand {_brauchen_→_bemühen_} möchte die Sprichwörter in der deutschen Sprache
aufzusuchen, und daß das in einer andern Sprache auch geschehe, denn
daraus würde das characteristische einer jeden Nation erhellen.
Denn das sententieuse in Sprichwörtern, characterisirt eine Nation sehr,

/ und

|P_79

/der gangbare Verstand äußert sich darin am meisten. «s»Sie dienen dem gemei-
nen Mann darzu, daß er statt aller Überzeigung sich immer auf ein Sprichwort
beziehet. Sprichwörter sind die Sprache des Pöbels. Ein cultivirter Mensch wird
sie nur zum Schertz anführen; aber ihren Ursprung aufzusuchen, würde nicht übel seyn.
Die Sprüchwörter im Don_Quicotte machen das beste und lustigste in diesem Buche aus;
in der deutschen Übersetzung hat man sie mit deutschen Sprichwörtern gegeben;
es wäre aber beßer gewesen, die spanischen zu übersetzen, um daran das eigen-
thümliche der Denckart der spanischen Nation zu erkennen.

/Ob zwar Wißenschafften nicht auf Witz beruhen können: so giebts doch viele Gelehr-
samkeit die auf Witz hinaus läuft. Die Ausleger heiliger Bücher, spielen oft blos
mit Witz, um allerley andere Bedeutungen hervor zu bringen, dem Autor Be-
griffe anzudichten, die er nicht gehabt hat; und es ist daß alles nichts anders
als ein Muthwille, mit Witz zu spielen. Der Witz betrachtet alles en gros
und die Urtheilskraft alles en detail, daher ist der Witz gut zu vor-
läufigen Erkentnißen. Aber da muß die Urtheilskraft noch hinzu kommen,
wenn etwas Zusammenhang haben soll. Denn en gros läßt sich wohl ein
Entwurf machen, so bald er aber ausgeführt werden soll, muß man
auf detail gehen. Die Madame Jeofray eine Frau, von der die Franzo-
sen sagten, das sie {_einen_} burreau d: Esprit bey sich hätte, sagte in ihren bons
mots: man muß einen Menschen nur en gros und nicht en detail be-
urtheilen; vielleicht damit sein Lob nicht durch die gar zu genaue Besichti-
gung ausgewischt würde. Daß ist aber falsch, man muß vielmehr alles
en detail nehmen, den en gros können die {_sallsten_→_schaalsten_} Köpfe urtheilen, und
sagen: daß ist schön. p.p. können wir aber Sachen anführen, wodurch sich
etwas auszeichnet: so gehen wir ins detail, so beurtheilen Menschen die
Religion en gros. Der Witz ist mehr dazu, bloß en gros eingesehen
zu werden, weil er immer auf daß geht, was im gantzen genommen
den Begriff von einer Sache ausmachen kan.

/Der Witz muß darum nicht gesucht seyn, weil wircklich witzige Gedancken
ein Spiel sind, dagegen Urtheilskraft ist eine Arbeit. Ein Spiel muß aber
nie mühsam seyn, weil es dann aufhört ein Spiel zu seyn. Wenn also
ein Einfall ohne Bemühung zum Vorschein komt: so gefällt er, hingegen
was durch Urtheilskraft geschiehet, kan Arbeit gekostet haben; sie sucht

/ uns

|P_80

/uns aber auch Wahrheit zu verschafen. Bey der Urtheilskraft han-
delt man mit Micrologie, d.i. subtil, und wenn die subtilitaet
unnütz ist, indem man auf das kleine Sorgfalt verwendet, als wenn es
Wichtigkeit hätte: so nennt man die Urtheilskraft grüblerisch. Auf der
andern Seite giebts Witzspiele und Tändeleyen des Witzes, Wortspie-
le, die bis weilen gefallen.

/Der Mangel alles Witzes bedeutet einen stumpfen Kopf; der Mensch ist ein
stumpfer, {_Kopf_} der Sachen nur nach Ausdrücken vortragen kan, und ihnen keine
Einbildung zu geben weiß. Der, dem es an Urtheilskraft mangelt, ist
ein Dumkopf. Die Dumheit beziehet sich lediglich auf den Mangel der
Urtheilskraft; sonst nennt man den, der kein judicium hat einen
schwachen Menschen. Das Wort dumm zeigt einen Spott an; aber wegen
des Mangels der talente verdient der Mensch noch keinen Spott; aber
der dumme Mensch, der gemeiniglich aufgeblaßen und hochmüthig ist, ver-
dient erniedrigt zu werden; so muß das Wort Dumheit auf einen auf-
geblaßenen Einfältigen, aber nicht auf einen guten Einfältigen paßen,
sondern auf einen eingebildeten Narren. Man sagt das Dumheit allein
jemanden in der Welt fortbringen kan, und daß liegt wircklich in der
Natur der Dinge. Vorausgesetzt daß noch einige Talente da sind,
so ist eine Dumheit zuträglich; denn weil der Mensch die Wichtigkeit
der Dinge, die er übernimt, nicht einsieht: so traut er sich alles zu,
und macht andere <leicht> über sich «cha» jalaux. Selbst bey großen Herren
komt man mit seiner Dumheit weiter fort, als andere mit ihrem
großen Geist. Er hat also wenig Wiederstand, und weil man
ihm im Anfange vor nicht gefährlich hält, so steigt er höher; denn
weil er sich selbst alles zutraut: so übernimt er alles, und da er
keinen über sich eifersüchtig macht; so kan er es in der Welt weit
bringen. Die Zuversicht zu allen Unternehmungen komt blos
daher, daß man nicht Urtheilskraft genung hat, um die gantze
Foderung einzusehen, die gemacht werden kan. Der gröste Theil
der Menschen macht sich keine rechte idee von der Würde ihrer Ge-
schäfte, und halten sich nur an die mechanische Ausführung derselben.

/ Man

|P_81

/Man kan einen Menschen nicht dumm nennen, weil er unwißend ist;
denn der Mangel an Kentnißen ist nicht Dumheit, sondern dabey kan eine
große Klugheit beym Menschen seyn. Colbert war ein unwißender Ministre
aber ein Mann, der die Wißenschafften encouragirte, und alle die, die die Wißen-
schafften empor gebracht haben, sind gemeiniglich Fuscher gewesen: denn sie
suchten alles auf den GesichtsKreiß zu ziehen, den sie hatten, an der Stelle, daß
ein Mann, wenn er nicht hervorragende Talente, aber wohl Geschmack hat, daß
den Gelehrten überläßt, die die Talente dazu haben, weil er sieht, daß er darin
doch nicht reuissiren werde. Ministre und Fürsten, die Wißenschafften
besaßen, haben zur Beförderung derselben wenig beygetragen; son-
dern unwißende, die doch einigen Geschmack hatten.

/Der Betrüger scheint klüger zu seyn, als der Betrogene, und man hält den
Betrogenen für dumm, aber daß ist falsch; denn der kluge wird oft
vom Dummen betrogen, weil der Kluge Zutrauen zu andern hat, und
der andere ihm Blendwercke vormacht, i«m»n die er blos aus Rechtschaffen-
heit kein Mißtrauen setzt, und so kan auch der klügste hintergangen werden.
Sonst giebts aber auch eine Menge von Narren, die böse Absichten haben, ohne
talente, und hochmüthig sind, diese werden sehr leicht betrogen, weil sie in ihrer
Denckart immer wenig reife Urtheilskraft zeigen, und also von einem be-
trogen werden können, der wenig Verstand hat.

/Das Sprichwort ist nicht viel werth; der Mensch {_ist_} dumm {_«ist»_} aber ehrlich. überhaupt
Ehrlichkeit wenn sie vom Temperament herkömt, taugt nicht. Denn da kan
sie durch jede Versuchung gestürtzt werden; sie muß daher auf den
Characteur und auf Grundsätze gestützt seyn, und sich auf den Verstand
und auf Rechtschaffenheit gründen. Der Dumme weiß sich in die krummen
Gänge des Betr«a»uges nur nicht zu finden; aber darum hat er noch nicht
den Grundsatz der Ehrlichkeit. Denn so bald man ihm einen Betrug vormachen
wird, wird er von seinen Regeln der Ehrlichkeit abgebracht werden. Ein Mensch,
der nach principien handelt, muß Verstand haben, und der ist ein verstän-
diger Mensch, der eine gesunde Urtheilskraft hat, und man muß
nicht gute Eigenschaften, in der Welt dadurch in Anschlag bringen,
daß man sie mit verächtlichen Nahmen belegt. Er ist dum aber ehrlich.
gleichsam als wenns nicht möglich wäre, ehrlich ohne dabey dumm zu seyn.

/ Wem

|P_82

/Wem es an Urtheilskraft fehlt, der heißt dumm; Wem es am Verstand
fehlt, der heißt einfältig. Der Verstand ist das Vermögen der Regeln; ein
Mensch muß nach und nach alle seine Begriffe unter Regeln bringen, und
sich von seinem Thun und laßen Regeln samlen, denn ohne solche Regeln, hat
man keinen Leitfaden; aber der Mensch; der sich in neue Umstände zu schicken
weiß, hat Verstand. Der cavaiben Land wird sehr von der See über@schwemmt@
aber an der Stelle, Dämme zu machen, wohnen sie dann und wann auf Bäumen,
wie die Affen, und haben nicht so viel Verstand sich Dämme zu machen.

/Es ist freilich viel, von einem zu verlangen, daß er sich Regeln machen soll,
aber wenn ihm Regeln gegeben sind, und er braucht sie doch nicht: so ist
er dumm und hat keine Urtheilskraft; ein dummer Mensch ist durch alle Regeln
die man ihm giebt, nicht bestimt, und man {_kann_} sich ungeachtet derselben nicht auf
ihn verlaßen; man giebt den Rußen schuld, daß sie dumm sind, theils mag
es natürliche Einschränckung ihrer Urtheilskraft seyn, oder weil sie sich gar
zu püncktlich an die Befehle halten, und daß zeigt denn schon eine Unfähig-
keit im höchsten Grade an. Die Einwohner von Otaheite sind eben nicht dum,
aber dahinter sind sie noch nicht gekommen, daß sie Waßer kochen, und
eßen braten könnten, ob sie gleich das Feuer kanten. Daß zeigt eine große
Unfähigkeit an, durch keine Ursachen darauf gekommen zu seyn. Es war
ihnen aber gar nicht beygefallen, und sie hatten gar keinen Begrif davon@.@
Man kan von Völckern sagen, sie zeigen Mangel an Verstand, wenn sie
nicht zählen können: es zeigt daß denn Mangel einer Regel an, worunter
sie eine Menge bringen könten; denn die Zahlen sind Regeln, worunter
die Menge als unter einen Begriff zu faßen ist.

/Der Mangel an Urtheilskraft kan mit Witz verknüpft seyn, und
den heißt ein solcher Mensch albern. Die Albernheit bedeutet nicht blos
den Mangel der Urtheilskraft, sondern daß diese mit Witz ersetzt ist.
Ein Mensch der einen Grad von Witz hat, ist sehr abgeschmackt, wenn er
nicht Urtheilskraft hat; den der Witz tournirt seine Begriffe, die er
nicht dem Verstande gemäß ordnen kan.

/Ein Mensch ist gescheut wenn er pracktische Urtheilskraft hat. Man sagt:
Der Mensch ist gescheut, wenn er einen vorzüglichen Grad von Ur-
theilskraft hat, der mit Verstand vermischt ist. Die Cultur

/ in der

|P_83

/in der Urtheilskraft in der Erfahrung macht gescheudt; wenn aber die
Urtheilskraft den Verstand cultivirt: so ist das Klugheit. Zum Lobe eines
Menschen kan man nichts anders sagen, als: er ist gescheidt. Der Mensch
ist nicht gescheidt heißt also: Er hat keine pracktische Urtheilskraft, und
weiß nicht was sich schickt. Gewitzig ist ein Mensch, der durch Schaden
klug geworden ist, weil er oft betrogen ist; ein solcher glaubt nicht alles;
er nimt nicht alle Großsprechereyen für baar Geld an.

/ ≥ Vom Gedächtniß.

/Das Gedächtniß ist von der imagination nur um einen Grad unterschie-
den, indem noch zur imagination ein actus hinzu komt. Die Einbildungs-
kraft ist reproductiv, und productiv; sie bringt entweder gewesene
Vorstellungen wieder hervor, oder sie schaft neue. Das Gedächniß
aber ist das Vermögen, sich mit Bewustseyn gehabte Vorstellungen
zurück zu rufen; es ist eine recognition unserer Vorstellung, und unserer
ehmaligen Erkentniß. Beym Gedächniß ist daß von großer Wichtigkeit,
daß unsere Willkühr ein Vermögen über die imagination hat, und
daß wir die imagination willkührlich bestimmen können, uns Vor-
stellungen der vorigen Zeit zu retroduciren. Die imagination
läuft auf eine Reihe von Vorstellungen hinaus, ohne daß der
Mensch willkührlich folgt (und wenn sie bey einem Menschen
unzähmbar ist, so zeigt daß von hypochondrie und von Tollheit)
Aber bey jedem Menschen läuft die phantasie so fort; wir können
ihr wohl bisweilen unserer Absicht gemäß eine neue Richtung
geben, aber in dieser Richtung läuft sie dann so gleich wieder fort.
Aber so fern unsere Imagination in unser Willkühr steht, daß
wir sie aufbieten können, uns Ideen aus dem vorigen Zustande
klar darzustellen: so ist daß, das Gedächtniß. Wir Menschen
finden uns in der Gegenwart bestimt, sehen in das vergangene
hinein, und prospiciren in das zukünftige. Wann der Musikus
fantasiert, so sieht er nicht blos auf die gegenwärtigen
sondern auch auf die vorigen und zukünftigen Töne, nur

/ daß

|P_84

/daß wir nicht so weit zurückgehen, und die entkräftesten
Vorstellungen reproduciren können. Wenn wir die Kräfte
der Natur genau untersuchen, so finden wir, daß sie alles ins unbe-
greifliche auflößt, aber unter allen Kräften der menschlichen Seele
ist das Gedächtniß das wundersamste. Die Alten sagten: tantum
scimus, quantum memoria tenemus. Denn in Gedächtniß bestehet
das eigentliche wißen. Daß der Mensch so unbeschreiblich viel im
Gedächtniß hat, worann er sich jedes stück nur bey Gelegenheit errinnert,
und wenn diese Gelegenheit sich nicht er«¿»¿ugnet, er sich gantz leer zu
seyn glaubt; daß dieser Vorrath von Kentnißen, so reich haltig seyn
kan, daß gantze Bibliothequen in einem Kopfe seyn können, ohne
daß dieses eben ein Wunder von einem Menschen seyn darf, (denn
dergleichen ist jeder phylologe) und daß man von dießen Kent-
nißen «gar» nur gelegentlich Gebrauch machen, und sie dann in gro-
ßer Zahl auffinden kan, ist etwas, worüber wir selbst erstaunen,
wenn wir es genau erwegen.

/Man kan wohl sagen, daß beym Gedächniß eines Menschen gar nichts
erlischt, von allem was man jehmals gedacht hat. Man glaubt,
r»s sey erloschen, wenn man kein Mittel hat, es zu reproduciren,
und ins Gedächtniß zurück zu rufen. Wenn sich daher bey Gelegenheit
eine Vorstellung ereignet, die mit jener associirt war, so finden
wir doch, daß es bey uns aufbehalten und nicht erloschen war.
Aber die imagination, wollte es uns nicht eher vorstellen, weil
es an einem Mittel, nehmlich an der associirten representation
fehlte;

/Das Gedächtniß ist darin unterschieden;

/1t. das einer etwas ins Gedächtniß faßen.

/2. daß ers lange behalten.

/3. daß er sich deßen leicht errinnern kan.

/Wer eins von diesen talenten hat, pflegt daß andere

/ nicht

|P_85

/nicht zu haben. Sanguinische. faßen etwas leicht, können es aber
nicht lange behalten. Phlegmatische können schwer was faßen,
aber behalten es leicht; und andere, die etwas lange behalten können,
müßen sich lange auf eine Vorstellung besinnen, und den Vorrath ihrer
Kentniße in der imagination lange durch streifen, bis sie sich deßen
wieder errinnern können. Daher kan man ein 4faches Gedächtniß haben:
Memoria capax, ein Gedächtniß von großen Umfange viel zu faßen:
Memaria tenax, daß lange etwas behält, ein behendes Gedächtniß
daß sich leicht was errinnert, und ein trauendes Gedächtniß, und (wenn
das Gedächtniß von der logischen Seite betrachten) welches sich
wahrhaft errinnert.

/Etwas in unser Gedächtniß eindrücken, kan memoriren genannt wer-
den, aber daß ist nur das mechanische memoriren, wenn man sich etwas
ins Gedächtniß eindrückt. Wir können uns aber auch etwas ins Gedächniß
eindrücken durch einen bloßen Vorsatz, wenn wir etwas in einem
Zusammenhange von neben Vorstellungen associiren, die das Zeichen
sind, uns etwas nicht entwischen zu laßen. Das Eindrücken geschieht
demnach auf eine mechanische ingenieuse und judicieuse Art.
Auf mechanische Art lernen die Kinder das ein mahl eins, aber bey
diesem lernen müßen sie immer, wenn sie gefragt werden,
die tour von forne anfangen, und können sich nicht unmittelbar
besinnen. Aber doch ist das mechanische memoriren, in der Jugend
sehr nützlich, in Ansehung alles deßen, was man im Leben lange be-
halten soll. Die Methode, die Provintzen im Cirkel nach der Reihe
zu lernen macht doch, daß sie nach principien etwas lernen.
Ein solches memoriren ist von großem Vortheil auf die Lebens
Zeit, denn da sind wir doch mit einem Faden versehen, den
wir nur anfaßen dürfen: so läuft er von selbst
den gantzen Canal hinab: nur Dinge des Verstandes
sollte man nicht mechanisch memoriren, wie leyder!

/ mit

|P_86

/mit dem Catechismus geschiehet, wo nur die AnfangsSylbe darf
gesagt werden, so gehts wie in einem Strom. Das mechanische memo-
rien aber hindert das mitwürcken des Verstandes. Der Verstand ist
dahero gantz passiv, zuletzt aber bey Dingen des Verstandes und
der Vernunft, muß der Verstand activ seyn, und also gantz
und gar kein mechanisches Wesen stattfinden, damit der Ver-
stand nicht passiv und untüchtig sey, sondern selbst mitwürke, und
sich selbst Begriffe zu machen suche. Aber die Geographie, Historie p p.
zu memoriren ist sehr zu recommendiren, nur muß man die Kinder
nicht überhäufen, denn da verläuft eins <in> das andere, sondern man
laße sie die Haupt{_sachen_→_epoquen_} durch versus memoriales lernen. Denn
wenn wir älter werden, wollen wir den Verstand gerne gebrauchen.
Wenn denn das Gedächtniß nicht gut ausgerüstet ist; so ist der Ver-
stand arm, und hat keinen Stoff, den ihm das Gedächtniß reprodu-
ciren und die Sinne geben müßen. So lange also einer vor dem 20sten
Jahre ist, geht das mechanische memoriren recht gut.

/Das eigentliche memoriren bestehet darinnen, wenn man vermittelst
gewißer Aehnlichkeiten und Vergleichungen etwas seinem Gedächtniße
zu instruiren sucht. Von dieser Art hat man keine glückliche und gute Re-
geln gegeben, sondern das meiste läuft auf Albernheiten hinaus, und
dient dem Verstande mehr zum Nachtheil als zum Vortheil, und bringt
den Verstand auf solche chima«i»eren, daß es im Kopfe eines Wahnsinnigen
nicht schlimmer aussehen kan, als im Kopfe eines ingenieuse memorirenden.
So hat man die Pandekten nach Bildern memoriren laßen, welches höchst
albern herauskomt z.B. beym Titel de heredibus suis et legitimis
muß heredibus, ein Geldkasten mit einem Vorlegeschloß suis ein
Schwein, legitimis die zwei Taffeln Moses bedeuten. Ein Mensch
hat mehr Mühe solche ungleichartige Dinge im Kopfe zu ver-
knüpfen, als wenn er die Dinge mechanisch lernen soll, und es
ist dem Verstande höchst nachteilig. Aber doch hat ein jeder Mensch
solche Methode, denn wenn man besorgt einen Namen zu vergeßen,
so nimt man einem andern, der im Klange Aehnlichkeit mit diesen Nah-
men hat, und sucht so dem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen

/ Das

|P_87

/Das judicieuse Gedächtniß ist das vortreflichste, aber dieses tritt
erst bey zunehmenden Jahren ein, und dient dazu, daß neue Vorstellungen
an alte geknüpft werden. Nach dem 40sten Jahre kan ein Mensch gantz
was neues nicht mehr lernen; daß was man weiß kan man zwar exten-
diren, aber gantz was neues kan er schwerlich mehr lernen, doch kan er
an die vorigen Vorstellungen wohl neue knüpfen. Man behält etwas
sehr leicht durch die Gewohnheit, die man hat, es andern zu communi-
ciren, und es ist dieses das lebhafteste Mittel, etwas recht tief
dem Gedächtniß einzudrücken.

/Man setzt voraus, daß Menschen, die eine nicht sehr große Urtheils-
kraft haben, sich sehr durch die Eigenschafft des Geistes unterschei-
den. Die Englander sagen: ein Mann von gutem Gedächtniß war-
tet auf die Urtheilskraft. Menschen die in Ansehung des Gedächtnißes
außerordentliche Eigenschaften besitzen, können, sich in Ansehung der
Urtheilskraft nicht so sehr beschäftigen. Denn die Seelenkräfte
können doch nicht auf allen Seiten gleich starck eingerichtet seyn,
und der Mensch macht am liebsten mit dem Gebrauch, womit er
am stärcksten versehen ist, und der Mensch findet es am leichtesten
mit seinem Gedächtniß zu arbeiten, wenn er weniger Urtheilskraft
hat.

/Ein großes Talent des Gedächnißes kann einen Menschen zu portento
eruditionis machen; denn er kann alle Wißenschafften inne haben,
und alles daß wißen, was andere gewust haben, so, daß er aus aller
Gelehrsamkeit eine GedächtnißSache macht. So, kann er s{_agen_→_ogar_} die
philosphie zur GedächtnißSache machen, wenn gleich zum philosophi-
ren ein großer Vernunft Gebrauch nöthig ist, und philosophie
nicht einmahl Gelehrsamkeit heißen kann. Es giebt solche Menschen,
die sich blos dem Gedächtniß-Studien überlaßen, und die Urtheils-
kraft darüber versäumt haben. Unter diese Wunder des Gedächt-
nißes sind einige Italiäner zu zählen. Picus_von_Mirandola
konte zweytausend Wörter nach einander rück und vorwärts
her sagen, ohne eins aus zu laßen, oder aus der Mitte an- 

/ zufangen.

|P_88

/anzufangen, wo er wollte. Megliabeky lebte im Anfange dieses secu-
li, und war Bibliotekar zu Florentz. Dieser ist blos durch die Kraft des
Gedächtnißes zu einem allerhöchsten Grade von Gelehrsamkeit gekommen,
ein Filosof aber war er nicht. Er war erst Gärtner Bursch und laß gerne
gedruckte Sachen, und ein Buchhändler der daß gehöret hatte, bat den
Gärtner, ihn ihm zu überlaßen. Da dieser ihn zu sich genommen, und lesen
hatte lernen laßen, so daß er den gantzen Buchladen durchlaß, und das
gelesene gleich auswendig behielt, so merckte sein Herr, daß sein Ge-
dächtniß erstaunend starck war, und machte eine probe davon: denn
da er ihm eine gewiße Schrift zu lesen gegeben hatte, die noch im Manu-
script war, und erst abgedruckt werden sollte, so stellte er sich darauf
sehr verlegen, als wenn er nicht wüßte, wo das manuscript hinge-
kommen wäre. Aber dieser sagte ihm daß von Anfang bis zu Ende
her. Ohne Universitaet und information gieng er alle Bücher durch,
und besaß eine so vastae eruditon, daß wenn Gelehrte worüber
schreiben wollten, so schrieben sie an ihm, ob er nicht einen Autor wüste,
der über diesen Punckt nachzulesen wäre, und da wußte er die
obscursten Autoren, die etwann mit einer Zeile da{_¿¿_→_ra_}n ged{_¿¿_→_a_}ht
hatten, vorzuschlagen. Solche Leute sind {_war_→_zwar_} gut andern an die
Hand zu gehen, aber die Urtheilskraft wird unter einer so vasten
Last erd@ru@ckt. Der große vaste Vorrath an Kentnißen unter-
drückte bey Sannderson alles Urtheil, so daß er nur um scharf zu
dencken, sich aufgab ein Cubikzahl aus 12 Zahlen in Gedancken aus-
zuziehen. Es ist also ein großes Glücke, ein ausgebreitetes Ge-
dächtniß zu haben, noch nöthiger ists aber, daß Urtheilskraft da-
bey sey, denn sonst verliehrt es allen Werth.

/Man sagt: Bücher haben das Gedächtniß zu Grunde gerichtet, und
man muß gestehen, wenn die Menschen was auszufinden wißen,
wenn sie wollen; so bemühen sie sich nicht es zu behalten. Die
meisten Menschen verlaßen sich auf ihre Bücher und Register,
wo sie was ausfinden können, ohne es im Gedächtniß zu haben.
Man kan auch so gar sagen, daß die Kunst des Schreibens das
Gedächtniß vermindert habe; denn wenn ich weiß, ich kan

/ etwas

|P_89

/etwas wieder auffinden, wenn ich meine Papiere nachsehe, so gebe ich
mir nicht Mühe es zu behalten, und man bemerkt, daß gemeine Leute
die nicht schreiben können, eine wunderbare Gabe des Gedächtnißes haben.
Wenn man Bücher ließt in der Absicht sie zu behalten: so hat man die-
se Regel zu beobachten, daß weil man doch nicht alles behalten kan, man
mit einer Wahl lesen muß, und sich schon vornehmen muß, einiges zu
behalten ander<e>s nicht. Wenn man sich recht express etwas heraussucht,
und seine Aufmercksamkeit vorzüglich worauf richtet, so kann man
dies ausgesuchte hernach beßer behalten. Der Vorsatz etwas zu
behalten, ist sehr lästig und schwer, weil man in Gefahr «bringen»<kommen> kan
es zu vergeßen. z. B. ein Auftrag oder datum, da ists am besten,
weil das Gemüth gleich unruhig wird, und immer dem einen Gedancken
nachhängt, weil«s» mans nicht aufgeschrieben hat, daß man, um den Kopf
nicht so sehr anzugreifen, und das Gehirn nicht so zu blessiren etwas auf-
schriebe. Vergeßlichkeit ist eins der grösten Übel, die dem Menschen
gegeben sind, und sie entspringt mehrentheils aus Alter. Aber gewiße
Ursachen dazu kommen von dem Lesen der Romanen her, denn diese wer-
den gelesen ohne die Absicht sie zu behalten, und veranlaßen dadurch daß
wir unsere Gedancken nicht zusammen halten, sondern herumschweifen, und
sie kommen in Vergeßlichkeit. Denn einen Roman zu behalten wäre
die unvernünftigste Belästigung unseres {_Gemüths_→_Gedächtnißes_}, so ergiengs dem Boileau.
Romanen sind theils durch die leeren Wünsche von Glückseeligkeit die sie
erregen schädlich. Die Aufmercksamkeit und das Gedächtniß werden durch
sie schwächer, weil sie das Gemüth in eine angemehme Zerstreuung ziehn,
sie sind demnach die nachtheiligste Leckturen.

/Ein untreues Gedächtniß ist wenn man nicht gewis weiß, ob daß, deßen
man sich errinnert das ist, deßen man sich zu errinnern glaubt. Die Zeug-
niße der gemeinen Leute können aufrichtig gemeint seyn, sind aber
doch oft nicht zuverläßig, denn weil sie sich nicht daran gewöhnt haben,
ihre Aufmercksamkeit lange worauf zu richten: so verwechßeln
sie daß, was sie selbst dencken, mit dem was sie hören, daher ist
ihnen nicht zu glauben wenn sie gleich schweren. So hat Pandoppidan viele seiner
Nachrichten. z. B. vom Seewurm, Kracken, Meermenschen mit der Aussage

/ einiger

|P_90

/einiger Landleute und Lotzen bestätigt, die sie beschworen haben. Aber
diese Leute sind von der Art, daß wenn sie von einem oder andern etwas
erzählen gehört haben: so haben sie sich so vertieft, daß sie selbst nicht wißen,
ob sie selbst der Sache mit beygewohnet, oder ob sie sie von andern gehört
haben, oder wenn sies von andern gehöret haben, daß diese anders glau-
ben, so sagen sie aus sie hätten daß gesehen. Diese Leute lügen wegen
ihres ungetreuen Gedächtnißes. Sanguinische haben ein behendes aber
nicht treues Gedächtniß. phlematische haben ein langsames aber treues
Gedächtniß. cholörische Personen können ein fähiges, schwerlich aber
ein ausgebreitetes Gedächtniß haben. Dieses letzte ist mehr melan
cholischen Leuten eigen, die mit einer langen Aufmercksamkeit
einer Sache nachhängen, daher diese ein ausgebreitetes Gedächniß haben.

/ ≥ Vom Dichtungs_Vermögen.

/Wir haben eine Gemüthskraft, die nicht das vergangene reproducirt,
sondern neue Vorstellungen hervorbringt, aus dem Vorrath derer,
die dem Gemüth gegeben sind. Dieses schöpferische Vermögen, wird
auch mit dem Nahmen der productiven Einbildungskraft, oder des
Dichtungs_Vermögen belegt. Aber dichten ist eigentlich die vorsetzliche
Schöpfung neuer Vorstellungen; sie ist also die Handlung, wo man mit
Vorsatz durch gegebene Materien sich neue macht. Es findet sich aber
in uns, eine unwillkührlich gehende Neigung der Thätigkeit, wo continuir-
lich gedacht wird, und neue Vorstellungen gebracht werden, die in unserm
Zustande vorhero nicht waren; dies sind die Geschöpfe der imagina-
tion. Denn der Mensch dichtet unaufhörlich in der Stille, wenn er
der Einsamkeit überlaßen ist, und bringt neue Bilder aus den alten
hervor, schaft sich immer neue Gedancken, Begebenheiten, und
scheint in neuen Romanen, die er sich selbst ersint, und in seiner
Einbildungskraft bildet, der in der Welt keine Anwendung macht.
Und daß geschieht in Träumen so wohl als in Wachen, dieses Dichtungs
Vermögen ist die GrundLage von allen Erfindungen; denn wir
bringen immer auf gut Glück neue Vorstellungen hervor, darnach
muß der Verstand das examiniren, und so um formiren, daß es
mit den ideen des Verstandes zusammenhängt. Das DichtungsVer- 

/ mögen

|P_91

/mögen ist die Ursache alles unseres Wohlbefindens, denn wir sind vergnüg-
ter in Gedancken, als in de«n»r Sinnen...<welt> «Weltg»Gedancken von unmöglichem
Glück, von dem wir selbst <in> unserer imagination die Uhrheber sind, unter-
halten uns am meisten, so, daß diese Eigenschaft des Gemüths mit der
Schöpfung ideeller Welten beschäftigt zu seyn, die Quelle alles Unglücks
ist, und auch aller Übel; denn die meisten Übel sind producte der
Einbildung, wenn man sich die Übel im prospecte zu groß vorstellt.

/Wir bemercken folgende Ausdrücke.

/Etwas entdecken d.i. etwas antreffen daß schon gegeben war, et-
was erfinden. d.i. etwas zuerst zum Vorschein bringen, daß sein
Daseyn uns zu dancken hat. z. B. Amerika hat keiner erfunden; sondern
entdeckt, aber das Schiespulver hat jemand erfunden, denn wenn man
die Kentniß einer Sache, einem Menschen zu verdancken hat, so sagt man:
der Mensch hats entdeckt. Aber wenn ein Mensch einem Dinge die
existentz gegeben hat, sagt man: er hats erfunden. Etwas aus-
findig machen. setzt ein suchen voraus, von einer Sache die schon
bekandt war, aber jetzt versteckt ist. z.B. Man macht den Autor
eines Buchs ausfindig. Etwas aussinnen bedeutet einen Handgrif
erfinden, wodurch etwas anders zustande gebracht werden kan
z.B. die Handwercker haben von Zeit zu Zeit instrumente ausgesonnen,
etwas zu Stande zu bringen. Man kan nicht sagen sie habens erfunden.
Denn sie fanden doch nur instrumente, die {_@ei@_→_je_}dem bekandt waren;
aber sie haben doch erst drauf fallen müßen, welches unter allen
instrumenten das schicklichste sey. Ersinnen. bedeutet daß, wo-
von man selbst Uhrheber ist; beym Erdencken ist man Uhrheber von
Erkentnißen, die blos in unsern Gedancken sind. Eine Geschichte
erdenckt man, weil diese blos in Gedancken existirt. Etwas
Dichten, daß ist sich willkührlich auf die Hervorbringung neuer
Vorstellungen richten; denn das Dichten ist nicht ein Object, w@a«s» zu@
finden, sondern nur Vorstellungen zusammen zu paaren, daß die
Verbindung original und angenehm seyn soll: das Dichten hat keine
entfernte Absicht; sondern ist eine Handlung, die unmittelbahr an- 

/ genehm

|P_92

/angenehm seyn soll. Je neuer also eine Vorstellung ist, je mehr
diese neuen Vorstellungen manigfaltig und harmonisch verknüpft
sind, desto beßer ist das Gedicht. Das Dichten hat also keine weite-
re Absicht, als blos die Hervorbringung neuer Vorstellungen, die un-
serer imagination ein gewißes harmonisches Spiel geben.

/Was kan unser Gemüth vor Vergnügen «aus» <an> der Ausheckung neuer Bilder finden,
die schon verbunden sind, und unserer imagination ein gewißes Geschäft geben?
Die Ursach ist alles was unsere Lebens{_art_→_krafft_} in action setzt, uns belustiget, und
unsere Gemüthskraft in ein feines und leichtes Spiel setzt, läßt uns unsere
gantze Kraft fühlen, daher ist das Dichten unmittelbaar angenehm. Das Erdichten
hat die Absicht zu lügen, aber beym Dichten {_folgt_→_frägt_} man nur nach der angenehmen
Zusammensetzung der Ideen.

/Wie ist die Dichtkunst und Beredtsamkeit verwandt, und wie unterschei-
den sie sich? Beym Dichter hat man immer zum Hauptzweck die Unterhal-
tung der Sinnlichkeit unserer imagination und unserer Affecte, dies ist
die Hauptabsicht, doch aber komt der Verstand auch mit darzu. Aber die Be-
lebung unserer imagination ist die Hauptabsicht, und der Verstand ist
bey der Dichtkunst nur ein Nebenzweck: denn es muß dem Spiel der Einbil-
dung nur Einheit geben. Das Spiel der imagination ist der Zweck, und wenn
Dinge nur harmoniren, wenn sie «s»gleich Unrichtigkeiten enthalten: so sind
sie doch immer angenehm. Die Dinge müßen sich nur nicht untereinander
wiedersprechen; ob sie der Wahrheit wiedersprechen, darnach wird nicht
gefragt.

/Die Beredsamkeit ist die Kunst, die ideen des Verstandes durch die Sinnlichkeit
zu beleben. Denn die Sinlichkeit hat den meisten Stoff zur Belebung. Die
Dichtkunst bringt Einheit, in die Einheit des Verstandes, und die Beredsam-
keit sucht die ideen des Verstandes durch Sinnlichkeit zu beleben.
Denn je stärcker die Bilder der Einbildungskraft sind, desto lebhafter
wird unsere Vorstellung. Die Beredsamkeit hat also zur Absicht den Ver-
stand zu überreden und zu überzeugen, und die Dichtkunst komt hinzu die
ideen des Verstandes zu beleben; die Beredtsamkeit um sie zu überreden
Bey der Dichtkunst ist also das Spiel der Sinnlichkeit die Endabsicht.
Die schönen Künste, sind Künste die dazu dienen, unsere Gemüths-
kräfte harmonisch zu beleben. Sie sind nicht blos unmittelbar Un-
terhaltungen, um die lange Weile zu passiren, sonder sie cultiviren

/ das

|P_93

/das menschliche Gemüth; indem sie den Witz in action versetzen, der nicht ohne
Verstand Einheit haben kann; so geben sie dem Verstande genung zu schaffen, und
unterhalten das menschliche Gemüth in der übereinstimmenden action.

/Die poetische Sprache ist bey allen Völckern vo{_n_→_r_} der guten Prose vorhergegangen.
Bey den Grichen sind die besten Gedichte eher gewesen, als die schlechteste Prose, so,
daß alle ihre Geschichten nicht anders als in Versen geschrieben sind, und als
man anfieng Geschichte in prosa zu «machen» schreiben, so war daß schon ein
großer Schritt, daher war auch alle alte philosophie in Versen. Phaecides
Heraclitus sind die, die zuerst filosofische Sätze in Prosa ausdrückten. Denn,
zum philosofischen Vortrage wurden abstracte ideen erfordert, die später
gedacht wurden. So sind. z.B. die Worte certitudo, impossibilitas im gantzen
Cicero nicht. Die Poesie war ein sehr großer Schwung des menschlichen genies
so fern alle Begrife unter Bildern vorgebracht wurden. Nun sollte ange-
fangen werden die Begriffe des Verstandes mit angemeßenen Ausdrücken
zu bezeichnen. Da fehlte es nun an Worten, so daß das was Heraclitus geschrie-
@ben@ hatte, vom Socrates nicht verstanden werden konte, indem die Sprache so arm
@an@ abstracten ideen war. Dahero ist zu begreiffen, wie bey allen Völckern
eine Art von Poesie den Anfang machte, und die Bered«t»samkeit später kam

/Wir können Beredheit, Wohlredenheit und Beredtsamkeit unterscheiden.
Beredheit ist eine vivacitaet leicht von Dingen zu sprechen. Man «¿»findet sie
vorzüglich bey Frauenzimmern. Ist sie mit einer Neigung verbunden
viel zu reden: so ists die Redseeligkeit; diese ist ein Fehler, wie wohl sie
einer stummen Gesellschafft manchnaal gut zu statten komt. Beredt-
samkeit müßen wir nicht suchen, sondern Wohlredenheit, denn die Beredsam-
keit gehöret für die Sophisten, die eine schlechte Sache haben, und etwas
durch Worte corrumpiren wollen; bey ihnen komts nicht auf die «W»Richtigkeit,
sondern auf die {_menge_} ihrer Argumente an. am wenigsten schickt sich die Beredsam-
keit für die Cantzel, denn da soll man nicht beredt werden, sondern Ge-
wisheit vortragen. Beredsamkeit ist die Kunst zu bereden und zu
persuasiren und schick sich {_«nicht,»_} daher {_nicht vor_} die Würde der Religion und der
Philosophie. Aber die Wohlredenheit als die elegante Sprachrichtigkeit
ist etwas sehr schönes: die Wohlredenheit ist mehr auf den Verstand als
auf die Sinnlichkeit gerichtet, und geht auf die Ausziehung unserer Be-
giffe durch die Bilder.

/ In

|P_94

/In Deutschland hatte man einmahl auf die Bahn gebracht, die orientalische
Beredsamkeit in Gang zu bringen. Aber wir können den Himmel dancken
daß wir sie los sind, dann diese Völcker halten immer einen Bombaß von
ideen, die über die Grentzen des Verstandes hinausgiengen.

/Wir Europäer sind zu einer Art von Sobrietät im Dencken gewöhnt, daß
so sehr ausgeputzte und geschmükte ist dem Charackter aufgeklärter Europäischer
Völcker nicht angemeßen, und die gantze Manier der occidentalischen Völcker
ist von der Art, daß sie mehr vor den Verstand als vor die Sinnlichkeit
haben wollen. Die Sinnlichkeit muß nur in dem Grade herrschen, um den
Begriffen des Verstandes ein Leben zu geben, aber nicht um den Ver-
stand zu verdunkeln, und ihn von seinem object abzuführen.

/Musick ist ein bloses Spiel der Empfindung, und bringt keinen Begriff hervor,
sondern daß dadurch bewegte Gemüth wird in Fantasien gelockt, und die Ein-
bildungen werden dadurch rege gemacht. Zu jeder Musick läßt sich ein
Text machen. Man glaubt eine Musick sey recht zu einem gewißen Text
gesetzt, aber daß ist eine pure Einbildung. Denn grade zu bezeichnet die
Musick gar keine Gedancken, denn sie ist blos ein gewißes harmonisches
Spiel der Empfindung und d«e»as Wohlgefallen«s» in der Verbindung der Töne
beruht darauf daß das Nervensystem dadurch harmonisch bewegt und
belebt wird. Von der Geistes_Seite vergnügt also die Musick das
Gemüth blos durch die Harmonie der Empfindung.

/Die Mahlerey ist kein vorubergehendes Spiel der Empfindungen; denn hier
werden wirckliche Gegenstände vorgestellt. Die Poesie hat daher mehr
übereinstimmendes mit der Musick, weil dadurch nicht so wohl der Verstand
als vielmehr die Sinnlichkeit beschäftiget wird, und das Spiel der Empfin-
dungen mehr rege gemacht wird, indem die Thätigkeit des Gemüths da-
durch mehr in Bewegung gesetzt wird, so daß es nicht überspannt
wird, aber auch nicht erschläft, in welchem Fall wir mehr das Leben
unsers Geistes fühlen. In der Poesie ist also das Hauptwerck diese
Sinnlichkeit. Aber indem der Poet blos das Spiel der Empfindungen
zu beleben scheint: so beschäftigt er auch den Verstand. Denn
sonst gefällt das Gedicht nicht, der Verstand muß dabey ins ge-
heim und unvermerkt belehrt werden. Man muß zwar schei-
nen, blos belustigen zu wollen, aber dabey doch belehren. Eben

/ so

|P_95

/so muß der Redner blos den Verstand zu beschäftigen scheinen,
und dabey doch reitzen, rühren und belustigen. Denn wenn der Red-
ner blos die Sinne zu unterhalten scheint: so entdeckt sich ein Betrug,
und daß was vor {_Be_}Redsamkeit angesehen werden soll, wird für saphisti-
sche Kunst der Beredsamkeit, und für ein Blendwerck angesehen. Es muß
also beym Redner nichts geziertes, nichts blumenreiches hervorleuchten
sonst verlieret sich der Zw«ang»<eck> der Beredsamkeit, den Verstand auf seine
Seite zu ziehen. Eben so muß beym Poeten nicht eine kaltblütige Ausputzung
der Vernunft hervorleuchten, sondern es muß scheinen, blos die Sinnlichkeit
unterhalten zu haben. Sinnlichkeit und Verstand wollen beyde cultivirt
und gestärckt seyn, und wir können nichts dulden worin nicht Verstand ist,
wenns unsere Sinne auch noch sehr unterhält, denn wo wir den Verstand
vermißen fällt alles ins fade und unschmackhafte, denn wir wollen immer
eine gewiße Beziehung auf unsern Zweck haben. z.B. eine Kleidung
mag noch so schön gemacht seyn, wenn sie nicht paßet, so sind wir
@au@ch bey der grösten Nettigkeit nicht zufrieden gestellt. Auf gleiche
@Ar@t will der Verstand immer satisfacirt seyn, wenn gleich die Sin-
lichkeit bey der Poesie am meisten unterhalten seyn muß, denn
diese unterhält unsere Thierheit, und der Gebrauch der obern Kräfte
setzt voraus, daß die Thierheit in ihrer gantzen Lebhaftigkeit
@unter@halten werde. Wenn der Redner den Verstand beschäftiget,
muß er nicht unterlaßen die Sinlichkeit zu unterhalten, denn
sonst verliehret der Zuhörer die Aufmerksamkeit auf Dinge
des Verstandes. Durch den Verstand dencken wir, und durch
die Sinne schauen wir an und empfinden. Anschauen ohne Ge-
dancken giebt keine Erkenntniß, aber Gedancken ohne An-
schauen sind reflexionen ohne Stoff. Daher muß beydes immer
vereinigt werden. Bey der Beredsamkeit, sucht man den Ver-
stand zu beschäftigen, und in Arbeit zu setzen, denn alle Verstan-
@des@Handlungen gehören zu den Bearbeitungen, die kein Vergnü-
gen mit sich führen, aber durch ihren Zweck nützlich werden,
wenn gleich die Beschäftigung selbst nicht reitzt. Aber die Poesie

/ ob sie

|P_96

/ob sie gleich keinen Zweck hat, ist schon an sich selbst unterhaltend.
Man muß aber bey der Beredsamkeit daß nicht als die Hauptabsicht
hervor leuchten laßen, daß mann die Sinnlichkeit unterhalten will.
Wenn einer das so temperiret, daß man nicht weiß, ob er den Verstand
oder die Sinnlichkeit hat unterhalten wollen; so verdirbts ein solcher.
So wie Leute die in der Religion weder kalt noch warm sind, und
es mit keiner Parthie verderben wollen, es gemeiniglich mit allen bey-
den verderben. Eins von beyden muß hervorleuchten; alle beyde kön-
nen verbunden seyn, nur in einem muß die Hauptsache gesetzt seyn.
Französische Autoren, besonders in neuern Zeiten, sind darauf gefallen
alles so zu coloriren, daß man zuletzt nicht weiß, ob sie die Einbil-
dungsKraft beschäftigen, oder die Welt belehren wollen. Ihre
declamationen und dègressionen, womit sie die Einbildungs
Kraft erhitzen, sind mehr, um einzunehmen, als Kentniße beyzu-
bringen. Aber wenn man also in einander mischt, daß kein Mensch
weiß was der Hauptzweck ist; so gefällt daß niemals. Das andere
muß immer so hinzukommen, als wenns nur neben bey hinzukäme.
Wenn der Poet einen gewißen reichen Gedancken mit Bildern
ausschmükt, so muß das schöne gleich hervor leuchten, der
Verstand muß aber erst hinter her kommen, und der Ge-
dancke muß nicht gleich, sondern erst im Nachgeschmack hervor-
leuchten. Bey der Beredsamkeit muß der Verstand gantz be-
lehrt werden, aber die Schönheit muß so eingemengt seyn,
daß man die Schönheit im Nachschmack hat, und sieht daß man
nicht trocken belehrt sey. Der Unterschied zwischen Cicero und
Demosthenes war der, wenn Cicero geredet hatte, bewunderte
man seine schönen Ausdrücke, hernach gieng alles wieder wie
vorher, aber wenn Demosthenes geredet hatte, sagten die
Athenienser, wir müßen uns zum Kriege rüsten. Hier
hatten sie die Reitze nicht erkennen können, die Demosthe-
nes sorgfältig eingemischt hatte, sondern blos die Über-
zeugung ihres Verstandes gefühlt.

/ Die.

|P_97

/Die Beredtsamkeit ist eine rhetorische Kunst, die Beredsam-
keit ist eine Art von Leichtigkeit, viel von Sachen zu reden, die
arm am Inhalt sind. Diese scheint zu vielen gut zu seyn, um das töd-
liche der langen Weile zu vertreiben; es ist vorzüglich dem schönen
Geschlecht eigen, solche Sachen mit Annehmlichkeit vorzutragen. Wohlre-
@d@en ist das beste von allen, und damit können wir uns begnügen. Sie
ist der Wort Styl, die Reinigkeit des Styls die concinnitaet, daß nicht
ein sträflicher Überfluß von Witz und Ausdrücken hersche, die Geschik-
lichkeit der Elegantz. Diese Wohlredenheit entspringt aus dem Reich-
@th@um der ideen, und dadurch, daß man daß rohe in seiner Sprache
abschaft, sich cultiviret, und sich nach den Personen verfeinert,
die mehr polierte manieren an sich haben. Die grösten Wohlredner
waren immer Männer von der großen Welt, und die wahre
Wohlredenheit befindet sich nie bey Leuten von gemeinen Ständen.
Das männliche, einnehmende, und nicht in das kindisch fallende,
findet man bey Männern der großen Welt. Schaftesburg,
Hudcheson, David Hune haben eine Schreibart wie Cicero, und
wohl noch vortreflicher, und man vergnügt sich wenn man daß
ließt. Cicero, Demosthenes, bekleideten die obersten Stellen
im Staat, denn Beredts@aan_→_ann@keit erfordert Kentniße der Welt:
denn sonst hat man nicht genung extendirte Kentniße, um zu
wißen, wie man die Gedancken ordnen soll, und ob sie der
menschlichen Natur gemäß sind. Gewöhnlich kommt man immer
@in@ einem kleinen Zirckel von Menschen, deren Ton nicht für
alle Menschen paßt. Aber bey großen Weltkentnißen bekomt
man einen Ton, der für allen Menschen gestimmt ist. Denn die
Manier uns annehmlich auszudrücken, paßt nicht recht für men-
schliche Natur, und sie betrift, nur ein kleinen Theil des
menschlichen Geschlechts

/ Die

|P_98

/Die Beredtsamkeit oder Rhetorik ist von Wohlredenheit unter-
schiede{_n. Cicero_} war Rhetor d.i. ein Redner aus Kunst in allen, was er {_schreibt_→_schrieb_}
sieht man, daß er die Leute einnehmen, und durch ihren eigenen Ver-
stand betrügen will. Beym Demosthenes findet man daß nicht,
da ist mehr energie und Einfalt; aber dennoch enthält auch diese eine
so mächtige Kunst die Leidenschafften zu bewegen, daß man sagen
kan, daß die gröste Kunst der Wohlredenheit darin steckt, die Lei-
denschafften in ein Spiel zu versetzen. Es ist merckwürdig daß wir
{_zu_} allen Zeiten finden, daß wenn die Beredsamkeit am meisten flo-
rirte der Staat im Verfall war. Denn die Beredsamkeit gilt
nur denn, wenn der Haufe des Volcks decidirt, und man weiß
daß man durch das Volck große Absichten durchtreiben kan. Da
legt man <es> darauf an die Leute durch Blendwercke und sophistische
Kunst zu hintergehen, und daß ist denn ein Beweiß, daß die
wahren Triebfedern, im Staat zu würcken aufgehört haben.
Wenn Menschen schon anfangen, sich durch die Unterhaltung ihres
Geschmacks hinrei«s»ßen zu laße{_n z_→_n. Z_}u den Zeiten des Cicero
war der Stadt schon in Verfall. Zu den Zeiten des Demosthe-
nes, liefen viele Leute hin um solche Reden zu hören denn
da war alles drauf gelegt, das Volck zu gewinnen, und
da muste man freylich die Kunst sehr hochtreiben, um nach
dem Geschmack des großen Haufens zu sprechen.

/In Franckreich ist allein noch Beredtsamkeit übrig, in Enge-
land ist sie nicht mehr, und man sieht daraus, daß sie der Men-
schen nicht würdig ist. Advokaten_Kunst bedarf Beredsamkeit;
daher die Griechen in ihrem Staat an einem unheilbaren {_Mittel_→_
Üebel_} Laborirten, als die Sophisten aufkamen die Dinge behaup-
teten, die ihren inneren Überzeugungen gantz zuwieder
waren. Im Religions_Vortrage ist die Beredsamkeit der
Würde des Gegenstandes gantz zuwieder, weil man da troken
und klar überzeugt seyn muß, und da redet der Gegenstand

/ schon

|P_99

/schon so sehr durch sich selbst, daß man da nicht Beredsamkeit
anbringen darf, sonst wird der CantzelVortrag zuletzt zur Unter-
haltung, weil man doch seine Zeit dabey gut passiren kan, wenn man
nichts anders zu thun hat.

/Unsere Sprachen sind zuerst pure Bilder gewesen; viel später hat man abstracte
Begriffe gefunden. Pyth@o_→_a@goras, Thales, p. konten ihre ideen nicht wohl aus-
drücken, weil sie nicht Worte dafür hatten. Die Schreibekunst war dahmals noch
nicht bekandt, daher wußte manns nicht beßer zu machen, als daß man
alles in Verse einkleidete, weil diese beßer zu behalten sind, derglei-
chen die Bardengesänge der alten deutschen sind so, daß Gesang und
Dichtkunst die ältern Arten sind seine Gedancken aufzubehalten.

/Die Mexicaner behalten ihre Geschäfte durch Gemählde auf; aber Gedancken
laßen sich am besten durch versus memoriales behalten. Denn wenn
etwas in Prosa gesagt ist, kann ich leicht an die Stelle des einen Worts
ein anderes setzen, aber das geht in Versen nicht an, weil da ein Wort
durch das andere gefaßt ist, und sich der Zusammenhang der Gedancken
nicht so leicht verlieret.

/Wie komts daß die poetische Kunst, wenn sie grade in ihrer Vollkomm@en@-
heit ist, angenehmer ist als rednerische Kunst? Die Ursache ist alle wahr-
@haf@te Annehmlichkeit, beruhet auf der Sinnlichkeit. Der Verstand lie-
fert wohl ein object, daß wir billigen, aber es vergnügt uns {_nicht_}. Die poe-
tische Kunst aber vergnügt die Sinnlichkeit, und geht also in Ansehung
der Annehmlichkeit unstreitig der Beredtsamkeit vor, indem die troke-
ne Unterhaltung des Verstandes dabey nur Nebensache ist

/Warum müßen wir dichten? um uns durch ideen zu belustigen.
Es scheint in unserer Natur etwas zu seyn, warum uns unser Zustand
nicht gantz gefällt, wir müßen also unsere Zuflucht zur Fabel nehmen.
Daher dichten wir in einsamen Stunden continuirlich, weil die wahren
Gegenstände nicht genung satisfaction für uns bey sich führen. Aber
nicht nur dem Inhalt, sondern auch der poetischen Einbildung nach, ist
@un@s das Gedichtete angenehmer. Die Ursach ist, daß die Belebung
unserer Einbildungskraft einen hohen {_Sprung_→_Schwung_} nehmen, und sich weit verbrei-
ten kan, ist etwas, daß unser Gemüth sehr stärcket, und alle Erfindungen

/ setzen

|P_100

/setzen eine fruhbare imagination Voraus, denn ohne imagination kan
unsere gantze Verstands_Gabe nicht erfinden. Alles genie hat zum talente
eine schöpferische imagination, sie giebt uns alle die combination in ideen
unter denen der Verstand wählen kan. Dadurch also daß wir der imagina-
tion einen starcken Schwung geben, finden wir daß das Fundament der
Seele in Thätigkeit gesetzt und belebt wird.

/Es ist besonders, daß es der poesie beßer in der Fabel gelingt als in
der Wahrheit. Denn wenn die poesie blos die Natur mahlt, will sie nicht
gefallen. Brockes irrdischen Vergnügen in Gott, zeigt eine gute
Absicht des Verfaßers, und auch wohl eine reiche imagination an, aber seine
gantze Verse_Art ist schwerfällig. Haller hat bey der Beschreibung der Al-
ten schon mehr geleistet, doch sagen selbst die grösten Bewunderer die-
ses Mannes, daß seine Beschreibungen nicht recht poetisch sind. Aber
die Ursache ist klar und «deutlich» leicht zu begreifen. Denn bey Beschrei-
bungen bleibt die poesie weit hinter der Natur, wenn sie sich aber
der imagination überläßt, so bleibt die Natur weit hinter der
poesie in Ansehung der Empfindung. Die Poeten müßen sich
daher gar nicht damit abgeben, Dinge der Natur zu mahlen.
In Lehr_Gedichten. z.B. vom Ursprung des Übels, sieht man wie
doch immer poetischen ideen eingebracht sind. Will man aber
wie Brockes ein Blume mahlen, so ist das Kinderspiel und
bleibt hinter der Natur. In der Welt der Geister aber giebt
die «philosophie» Poesie vielen Stoff, so daß mil{_lionen_→_ton_} in seinem
verlohrnen Paradieße, eins der herrlichsten Gedichte geliefert
hat, weil man von solchen Sachen nichts weiß. Wenn man sich einen
{_ehrbaren_→_ergebenen_} Geist denckt, und einen andern, mit einer feindseligen
Gesinnung gegen den Regierer der Welt, und gegen den ober-
sten Beherscher, was können da nicht vor ideen vorgebracht
werden? Aber wenn man Dinge so schildern will wie sie
sind, so kommt die Vergleichung der Sache niemals völlig und ge-
nugsam bey.

/Wahrheit und Verstandes_Erkentniß hebt sich sehr durch poetische
Ausdrücke. Wahrheit in Sentenzen, in Versen angebracht,
übertrift bey weiten den poetischen Ausdruck und ein jeder
bekomt Begierde das auswendig zu lernen. Ein Vers hat also was an sich, wobey

/ ein

|P_101

/wobey ein Gedanke gleichsam als durch ein vehiculum uns gantz durchdrin-
get. Lucas ist herrlich in Sentenzen.

/Zu jeder poesie werden 2 Stücke erfordert: Sylbenmaß und Sin. Die alten
Völcker hatten den Sinn gar nicht, und er ist nachher von den nordischen Völcke@rn@
als ein nothwendiges Beförderniß angesehen worden. Das Sylbenmaaß unter-
scheidet poesie und poetische prosa von einander. Das Sylbenmaaß dient
zum Gesang, wozu die poesie anfänglich gedient hat. Wir können uns bey der
puren Trommel eine idee von Musick machen, denn es ist doch ein Tackt,
wo die Zeit nach einem gewißen Schall eingetheilt wird, und die Zeit bringt
bey uns eine Ordnung und gleichmaaß hervor. Die poesie durchs Sylbenmaaß
ahmt der Musik nach, denn ohne Sylbenmaaß kann etwas nicht zum Gesang
gebraucht werden, aber ohne Reim könte es wohl statt finden, welcher von
den Nordischen Nationen herkomt. Lateinische Verse aber mit Rei-
men sind nicht aus zustehen, die Ursache ist: die quantitaet der Silben
oder die prosodie war in den alten {_Zeiten_→_Sprachen_} bestimter als in den neuern,
denn in den neuern {_Zeiten_→_Sprachen_} kan man ein Wort kurtz oder lang brauchen,
wie man will. Weil also hier wenige Wörter sind, deren pro{_so_}die durch die
Mundart bestimt ist, so muß man bey uns der prosodie auf eine andere
Art zu Hülfe kommen, denn durch den Sprachgebrauch, ist bey uns die Län-
ge oder Kürtze der Sylben nicht genung bestimt. Da also in unsern
Nationen die Prosodie nur in wenig Wörtern bestimmt ist, und daher
der Gesang durch das Sylbenmaaß nicht genung bestimmt ist, so muß
ein anderes Refrain nehmlich der Reim hinzukommen, so daß die Endsylbe
des vorigen Worts auch die Endsylbe des {_vorigen_→_folgenden_} wird. Der Reim ist am
besten, wenn er so beschaffen ist, daß man sich wundert, wie man so
natürlich ein Wort habe finden können, und daß ein jeder glaubt, man
könne kein geschickteres Wort oder Gedancken an die Stelle setzen.
Aber die {_Sprache_→_Sache_} beruht auf einem Kunststück. Der Poet macht nicht den
letztern Reim zuletzt, sondern zuerst, und davon findet er in den
vorhegenden Silben ein Wort, daß sich aufs folgende reimen soll,
und hat also den folgenden Vers immer zuerst im Kopfe, daher
komts daß ein Ende reim so was frapantes in sich enthält, denn der
vorige w«a»urde gemacht, daß ein solcher paßender Ausdruck konte angebracht werden.

/ Woher

|P_102

/Woher haben die Poeten licentiam poeticam in der Sprache? Denn es kommen
oft Ausdrücke in Gedichten vor, die in der Gramatick einer Sprache nicht er-
laubt sind. Die Ursache ist: da der Poet sich einen Zwang des Sylbenmaaßes und
Reims unterwirft, so hat er auf der andern Seite die Vergünstigung die Sprache
in einigen Fällen, wegen der Form ihrer Versart abzuändern, und man sieht
ihnen die Übertreibung einer und der andern Regel nach.

/Warum ist ein mittelmäßiges Gedicht nicht zu dulden, da doch eine mittel-
mäßige prosa noch wohl zu lesen ist? Die Ursach ist, wenn etwas wie
poesie seyn soll, und ist mittelmäßig, so sieht man nicht, worzu man
Verse nöthig hat, die der imagination nicht mehr zu schaffen geben,
als die einfältigste Prose. Ein Hochzeitgedicht, Leichengedicht p kan
man nicht ohne Eckel zu Ende lesen, und davon ist die Ursache: der
unnatürliche Gang, denn ich beym Gedicht annehm{_en_→_e,_} muß durch Annehm-
lichkeit vergolten werden, und wenn daß nicht geschieht, so ist daß
alles unnatürlich, mißfällig. Wir könnens dahero dem Menschen
nicht vergeben, der uns eine poesie den Wörtern nach, nicht der
Wahrheit nach giebt. Mann nennet solche Leute Reim Schmiede.

/Wie komts daß die poetische Ader so undanckbahr ist, daß das
poetische Feuer mit dem Alter aufhört, dagegen ein guter prosaischer
Styl noch immer fortdauret. Es ist schwer hinter die ersten Quellen
der poesie, und hinter die Quellen des Veraltens der Poesie zu
kommen. Mann kan sagen das Talent hat seine Launen, alle vir-
tuosen haben ihre Launen, sie können ihre Geschicklichkeit nicht zei-
gen wenn sie wollen, sondern es muß ihnen selbst anw{_@e@_→_a_}nde{_n_→_ln_}. Ein
rechter virtuose ist oft nicht zum spielen zu bringen. Denn er
will nicht anders spielen, als wo er sich selbst gefällt. Die Sänge-
rin Gangenelli ist darin erschrecklich capricieuse, und Brydone
merckt an, daß die Feinheit der Empfindungen eine{_r_} solchen
Person davon die Ursache seyn müße. So muß auch beym
Poeten die Stärcke des poetischen {_Feüers_} bald groß seyn, bald
wieder erkalten: In allen andern Wißenschafften kann«s»
manns durch Bemühungen hoch bringen. Poesie aber, die eine

/ feine

|P_103

/feine Bewegung des Geistes seyn soll, muß auch aus einem eben so be-
wegten Geist entspringen.

/Woher komts daß Poeten immer arm sind? hinterher {_be@r@ichtet_→_errichtet man_} ihre{_¿_→_n_}
marmornen Seule{_n_} zu Ehren, den{_n_→_en_} man bey ihrem Leben kein Brodt gab.
So setzte man Buttlern denn Verfaßer des Hudibras, einen Marmor 20 Jah-
re nach seinem Tode. Der vor Hunger im eigentlichen Verstande gestorben,
war. Es giebt vorübergehende Unterhaltungen des Gemüths, die gut bezahlet
werden. Die Musick ist eine vorübergehende Reitzung, bey der viel genoßen,
wird. Bey der Poesie ist das Vorzüglich, und ein solches Product des Geistes
kann einer Men{_sche_→_ge_} von Menschen gezeiget werden, aber die Welt will
daß nicht vor etwas wichtiges oder belohnungswerthes halten, nur hinter-
her sehen {_sie_→_wir_} das Verdienst des Gedichtes ein. Poesie bekommt also nie
ihre rechte Belohnung. Plato sagt von seiner imaginirten Republic. Mu-
sick soll drin seyn aber die Poesie wird daraus verbannt: denn, sagt er, die
Harmonie veredelt das menschliche Gemüth, aber die Poesie ist schädlich; denn
wenn der Poet Tugenden und Laster beschreibt, schmeichelt er immer den
Sinnen, und zeigt nie die wahre Beschaffenheit der Sachen; sondern nur
ihre apparentz. Daher bediente{_«n» er_} sich, um die Apparens vor die Sachen selbst
zu setzen, des Spiels der Leidenschaften, so daß man anfängt Vergnügen
an der Apparens zu finden. Alle Leute also, sagt er, die sich an Leidenschafften
und Empfindungen machen, und sich deren bedienen wollen, um da durch Appa-
rens zu erwecken, sollen aus dem Lande gejagt werden. Solche erhabene ideen
haben nun unsere {_Regeln_→_Regenten_} wohl nicht, und es liegt bey der Armuth
der Poeten etwas anders zum Grunde, daß man nicht wohl sagen kan.
Man hat auch Beyspiele von Reichen. z.B. Voltaire, der aber wohl mehr
Philosoph als eigentlicher Dichter war. Bëyle führt {_beÿspiele_} von armen Dichtern
an, und das gewöhnliche Symbolum der Poeten, laudatur et alget

/ ≥ Vom Traume.

/Das Dichtungs_Vermögen wird willkührlich aber auch unwillkürlich
ausgeübt, wie die Dichtungskraft unwillkührlich fortgehet: so ist
daß das natürliche Spiel des Gemüths, das Spiel der Empfindungen.
Man bedient sich des Worts dichten nur denn, wenn das Spiel

/ der

|P_104

/wenn das Spiel der Einbildungen willkührlich erreicht wird, und
unsere imagination auf Gegenstände gerichtet ist. Man dichtet un-
willkührlich und nach einem natürlichen Gesetz, wenn man i«m»n Gedancken
ist, und sich Hirngespenster formiret, die man nicht hervorbringt, aber
auch nicht wegweist. Es giebt auch willkührliche producte der imagi-
nation, die man gerne aus dem Gemüth verbannen möchte, worüber
man aber nicht Herr ist

/Der Schlaf ist ein Zustand des Menschen, wovon die physikalischen Ur-
sachen noch verborgen sind. Alle Leibeskräfte des Athemholen con-
tinuiren; aber die willkührlichen Bewegungen und sinnlichen Empfin-
dungen hören gantz auf. Bey der Schläfrigkeit nimt die Klarheit der
Empfindungen allmählig ab, und wenn der Mensch schläft hören
sie gäntzlich auf

/Haben wohl Menschen jemals einen gantz festen Schlaf, wo sie gar
nicht träumen, oder kan gar kein Schlaf ohne Traum statt finden?

/Der Traum ist eine Reihe von Hirngespinstern, die den objecten der
Erfahrung ähnlich sind. Ist dieses Spiel der imagination {_@von@_→_im_} Schlaf allemahl,
oder nennen wir nur daß einen Traum, deßen wir uns im Wachen «bek»
besinnen können? Wenn wir sagen wir haben nicht geträumt; so ist daß
nur eine Reihe von Hirngespinstern, die mit dem, was wir im Wachen
dencken, nicht den geringsten Zusammenhang hat. Man kan annehmen, daß
ein fester Schlaf nicht durch Gedanckenlosigkeit, sondern durch den Tumult
unsrer Gedancken entstehe. Ein fester Schlaf ist eine Reihe sich einander
verdrängender Vorstellungen, welches so geschieht, daß man beym
Erwachen keinen Eindruck davon hat. Wir sagen aber fälschlich, wenn wir
uns dieser vorübergehenden Eindrücke im Schlaf nicht besinnen können,
wir haben nicht geträumet. Bey jedem Erwachen kan man aber, wenn
man drauf Acht hat, die Hirngespinster att{_r_}a{_quiren_→_piren_}, die man gehabt hat;
denn der Mensch wird unaufhörlich in die lebhafteste Thätigkeit durch
die imagination gesetzt, und da dies jederzeit so ist, und zu unserer
Natur gehört, so muß es zweckmäßig seyn. Es muß ohne Zweifel
den Zweck haben. Beym Menschen ruhen zur Zeit des Schlafs alle
organen der {_würcklichen_→_willkührlichen_} Bewegungen, sie sind gespannt. Die organen

/ des Lebens

|P_105

/de«s»r Lebens_Bewegungen verrichten zwar ihre Gesch@äf@te, aber langsamer,
es muß also etwas da seyn, daß die Maschiene des Körpers agitiret, und hier
hat die Vorsehung weislich dafür gesorget, daß unsere Einbildungskraft
die Eigenschafft hat, daß sie den weit geschäftiger ist, als im Wachen, daß sie
sich denn im Herumlaufen, gehen, Arbeiten, und Gefahren befindet, welches dazu
dienen muß, die Eindrücke auf das Gemüthe immer zu erhalten, und das
Nervensystem zu afficiren, denn wir finden daß wir immer solche Träume
haben, als uns zu der Zeit nöthig sind. Jungen Leuten träumet daß sie der Alp
(incubus) drücke. Dies ist eine Drückung vom Blut, daß nicht durch die Lunge
kam. Denn bey jedem Athemzug dringt eine Quantitaet Blut durch die Lunge,
und wenn dies nicht mehr durchdringen kan weil deßen zu viel ist: so em-
pfinden wir ein solches Drücken. Man erwacht bisweilen in der Jugend nach
dem Einschlafen so gleich wieder, und glaubt man sey ins Waßer gefallen.
Die Ursache ist der Athemzug hat den gantz aufgehört, weil er beym ein-
schlafen immer sehr beschleunigt. Denn komt man in einen ängstlichen
Traum, man bekomt eine Bestrebung zu schreyen, und weckt so sich
selber auf. Der Traum muß also in uns nothwendiger Weiße Ursache
haben, und Menschen träumen jederzeit nur daß sie sich deßen nicht
immer besinnen können, weil der Zusammenhang der Vorstellungen
so schleunig aufeinander folget.

/Die Träume haben die Absicht, den Körper zur Zeit des Schlafs innigst
zu bewegen, und die Eindrücke die {_man_} beym Wachen hat zu ersetzen. Die
bewegende Kraft der imagination ist weit inniger, als jede mechanische
Kraft. Ein Mensch der recht {_führlich_→_frölich_} in der Gesellschafft gemacht ist
wird mit weit mehr Appetit eßen, als wenn er 2 Stunden auf
dem Pferde geseßen hätte. Dahero lustige Bücher, worüber man
hertzlich lachen kan zur Gesundheit des Körpers mehr beytragen,
als alle motionen des Körpers. So hat die Natur dafür gesorget,
uns mit allerley mühsamen Vorstellungen im Schlafe zu unterhal-
ten, die den Menschen innigst unterhalten, und ohne die er todt
seyn müste.

/ Von.

|P_106

/ ≥ Von den schönen Künsten, die aus dem Dichtungs_Vermögen
ihren Ursprung haben.

/Die schönen Künste sind Perduckte der imagination; so fern sie sich selbst
gegenstände nach ihrem Wohlgefallen schaft. Wir wollen sie so verknüp-
fen, wie sie wircklich zusammen verbunden sind. Die Poesie und Be-
redsamkeit beschäftigen sich mit dem Spiel der ideen, beyde bemühen sich die
Verstandes ideen, und das Spiel der Sinnlichkeit so untereinander darzu-
stellen, daß so wohl Verstand als Sinnlichkeit dabey zu thun haben. Gesang
und Tanz gehören zusammen. Die Musick gefällt nur, in so fern sie in
unsere imagination Beziehung auf den Gesang hat. Daher finden wir
alle Stücke schön, die singbar sind, wir haben also gleichsam einen Hang
zum singen, wie die Vögel, denn der Vogel hat nicht einen anerschafenen
Gesang, sondern lernt ihn; k{_¿_→_e_}in Thier lernet von seinen Eltern als die
Vögel. Die junge Biene baut ihre Cellen eben so gut als die alte,
«nur der Vogel lernt von seinen Eltern singen,» nur der Vogel
lernt von seinen Eltern singen, so daß wenn man einen Vogel jung aus
dem Neste «kommen kan» nimt, er nicht singen kan, sondern nur einen
kleinen organ laut hat, und hat er einmahl einen Gesang gelernet, so
lernt er keinen andern, wo aber der erste Vogel «seine» die Idee vom
singen mag herbekommen haben, daß läßt sich nicht sagen. Zum Schöpfer
muß man nicht so gleich seine Zuflucht nehmen, denn daß heißt aller Un-
tersuchung den Faden abschneiden. Auf die Art würde man auch
bald mit der Entscheidung der Frage fertig werden, wie der erste
Mensch reden gelernt hat? Der Mensch hat also Trieb zur Musick:
so fern sie ihm die conamina zum Singen erleichterte Wie aber das
Singen einen solchen affect auf den Menschen haben kann, daß er dadurch
angenehm afficirt wird, kann man schwerlich mit Gewisheit sagen. Am
Ende läuft doch alles auf die Erhaltung des Thieres hinaus; denn wenn
ein subject seine gantze Gesundheit und sich selbst mit allen
Trieben der Thätigkeit fühlt: so befindet es sich wohl, und das Singen
scheint selbst bey den Vögeln keine andere Absicht zu haben, als, weil die-
se Thiere eine innere Erschütterung aller ihrer organe nöthig haben
um gesund zu seyn. Die Luftgänge gehen bey ihnen bis in die Knochen, und

/ ihre

|P_107

/ihre Luftröhre treibt die Luft, sogar durch die Höle des Bauchs, so daß die Luft
bis ins innerste ihrer Knochen dringt, und so der Gesang ihren gantzen Bau erschüt-
tert. Gesang und Musick sind eine Harmonische Dehnung aller organe, und dieser
motus tremulans, setzt hernach unser gantzes Nerven_System, in eine ähnliche zit-
ternde Bewegung, die weil sie harmonisch ist und zusammenstimt, den Men-
schen belebt und gesund erhält. Die Ursache des Wohlgefallens an der Musick al-
so wird wohl seyn, daß wir gleichsam nur in Gedancken singen. Wir sehen ja
schon, daß so bald der Wein einem belebt, fängt er an zu singen, welches
ihm sehr gesund ist. Ein solches lermendes Vergnügen ist freylich nicht polirt
und bescheiden genung; aber de«nn»m der es ausübt ist es zuträglich. Alles in der
Welt selbst die Kinder auf der Straße haben einen Trieb sich horen zu laßen,
was daß aber sey, daß da macht, daß die Menschen ihr Daseyn so gerne auspo-
saunen, welches sie sicherlich nicht thun würden, wenn sie allein wären, laßen
wir dahin gestellt seyn. In Franckreich ist das Singen in den großen Ge-
sellschaften sehr gewöhnlich, und daß kan den Personen sehr gesund seyn,
obs gleich die vernünftige Unterhaltung nicht befördert. Der Gesang ist
dem Menschen sehr natürlich; auf den neu entdeckten Inseln, Neu Seeland,
Otaheite fand man sie immer singen; denn der Gesang ist die natürliche
Art, die Sinlichkeit zu unterhalten, und die Musick die sich darauf bezieht,
ist eine Wirckung des Dichtungs_Vermögen, indem durch die Töne Em-
pfindungen, und durch diese Affecten erregt werden. Ideen aber kan
die Musick nicht erregen, und wenn man dieselbe Musick auf einen
andern Text setzt, findet man eben daßelbe darin, einige wenige Töne
ausgenommen, wo die Musick Affecte bezeichnet, die beym Menschen mit
den Tönen verbunden zu seyn pflegen, welches aber nicht viel beträgt.
Denn in der Musick wird blos das Spiel der Empfindungen bezeichnet,
ideen können sie gar nicht bezeichnen. Aber in was vor einem Affect
der Mensch sey, ob er droht, bittet, zweifelt p.p. kan man an den
Tönen des Menschen selbst im finstern errathen, und das würde
einen Pendent zur Pantomine abgeben können. In der Pantomine
sind Personen die sich blos durch Mienen verständlich machen, aber
wenn der Tonn der Sprache die Handlung aus machen sollte; so
müßte man die acteurs in einer unbekandten Sprache im Affect

/ reden

|P_108

/reden laßen, da würde man zwar nicht den wahren Inhalt des Ge-
sprächs wißen, aber doch ob er andere bittet, droht, p.p. Alle Empfin-
dungen wenn sie ihren höchsten Grad erreichen, haben einen Laut bey
sich denn die Musick nicht annehmen kan, sie ist also nur ein Vermögen
der schaffenden imagination.- Der Tantz ist das Spiel der Gestalten;
das Spiel ist die Veränderung der Gegenstände, wie sie auf einander folgen,
die Gestalt enthält die Veränderung des mannigfaltigen im Raume,
aber die Veränderungen des mannigfaltigen in Zeit ist das Spiel. Das
Spiel kan nach Regeln geschehen. z. B. die Musick, daher nennt man
auch die virtuosen Spielleute, weil sie mit den Tönen spielen. Ein Schall
und Tonn sind darinnen unterschieden, daß der Ton ein Schall ist, wo
die Zeit nach einer gleichen Zahl von Zütterungen unterschieden wird,
ob ein Tonn gleich keinen Begriff «hat» giebt. Denn der Tonn betrift
blos das Spiel der Empfindungen, und ein jeder ist gantz gleichgültig
für uns, weil man bey keinem was denckt. Die Gestallten beym
Tantz bestehen in Mienen und gesticulationen, Stellung de«s»r Kör-
pers und Gange. Wenn da alles nach gewißen Regeln tackmäßig
geschieht, so bringt das <ein> Spiel der Einbildung hervor. Das tanzen ist
dem Menschen sehr eigen. Die Gronländer und Samoiden tanzen
zwar nicht, aber das verbietet ihnen ihr rauhes Clima, wo sie
in kremmen verwärmten Hütten herumkriechen müßen, und weil
ihnen ein günstiger Himmel und große Tanzsäle fehlen. Das tanzen
findet man bey allen Völckern, wo noch eine Art von Wohlleben der
Gemächlichkeit des Climas ist. Die Negers tanzen wenn sie noch so
sklavisch gearbeitet haben, und zwar so heftig als wenn sie in
der grösten Arbeit wären, und daß so künstlich daß die Spanier
dort viele Näger Touren angenommen haben. Ihre gesticula-
tionen aber sind lauter Verzerrungen, und nächst de«m»n Affen
giebts keine Thierart, die ihren Körper so verzerren kann als
die Negers. Das Spiel der Ideen befördert man also durch
die Musick und Beredsamkeit. das Spiel der Empfindungen
aber durch Musick und Tanz.

/Wir können uns Gegenstände vorstellen, in der Aparentz

/ und

|P_109

/und in der Realitaet. In den apparencen wie sie den Sinnen
erscheinen, in der Realitaet als die Gegenstände an sich selbst. Es
sind 2 schöne Künste, wo unsere schöpferische imagination Dinge in der
Apparentz darstellet, die Mahlerey und Bildhauerkunst. Die Mahlerey
stellt nicht nur Flächen {_sondern auch körperliche Dinge auf einer Fläche_} vor, welches vorzüglich dem Blindgebornen sehr wun-
derbar vorkommt. Es ist dies die gröste Illusion die der Mensch machen
kan, wenn seine Kunst groß genung ist, diese Appare{_n_}z so weit zu treiben,
daß man nicht allein den Schein von einem Gegenstande hervorbringt,
sondern auch das, was auf einer Fläche ist, körperliche Ausdehnung zu
seyn scheint. Bey der Bildhauerkunst wird durch körperliche Gestalten,
ein körperlicher Gegenstand vorgestellt. Die Bildhauerkunst setzt die
Mahlerey voraus; man muß zuerst zeichnen können, und die Grichen
die so große producte der Bildhauerkunst hinterlaßen haben, müßen
auch gantz gewis groß in der Zeichenkunst gewesen seyn. Daher
sagt Apelles: nulla dies sine linea. Einige erklärten dies so,
kein Tag ohne einen Strich, welches wahrhaftig wenig genung ist;
andere sagen, er habe so subtile Linien zeichnen können, daß er
in der feinsten Linie, noch wieder eine Linie habe zeichnen können.
Aber sie bedachten nicht, daß wenn jene schon die feinste war,
er für eine noch feinere kein Auge mehr haben könte. Linie aber
bedeutet hier einen Comthour, wo man mit einer Linie einen
gantzen Umriß macht. Apelles verlangt also, ein guter Mah-
ler müße an jedem Tage einen solchen Umriß machen. Die
alten Griechen sind also gewis gute Zeichner gewesen, doch
scheinen sie nicht perspectiv gehabt zu haben. in der Bildhauer-
kunst aber können wir ihnen nicht gleich kommen. Die Bildhauer-
Kunst hat Vorzüge vor der Mahlerey, indem sie schöner ist,
als jeder Fehler bey ihr leichter hervorragt, als in der Mah-
lerey, und weil weit auffallende Aehnlichkeit der Apparentz
mit der körperlichen Gestalt bey ihr ist. Sie hat aber das

/ weniger

|P_110

/weniger Vortheilhafte, daß die Mahlerey eine große Gegend
in einem kleinen Umfange, und ein so großes Feld, als unser Auge
übersehen kan, befaßen kann.

/Es ist besonders, daß da die Wachspoussie_Kunst die Gestalt dem Men-
schen so ähnlich macht, als es nur seyn kann, so daß sie «be»schwerlich
durch die größte {_Ursache_→_Versuche_} in der Bildhauerkunst möchte übertroffen
werden können, so gefällt sie doch weit weniger; denn es fällt
hier das weg, daß wir eine pure Apparentz haben, denn da ist nicht
mehr apparentz; sondern die Sache selbst scheint da zu seyn. Eben
so, wenn man eine steinerne Bildsäule mit Farben anstreichen wollte:
so würde man darüber erschrecken, weil es zu sehr die Sache selbst ist,
und wir da die Kunst, den Schein hervorzubringen nicht genung von der
Realitaet unterscheiden können. Eine alte heßliche Person kan uns
in der Mahlerey immer ein Vergnügen machen, wenn {_wir_} sie gleich «nicht»
sonst nicht ausstehen können. Da uns also die Nachahmung nur den
Schein zeigt: so verliert sich das Vergnügen, wenn man den Schein nicht
mehr bemercken kan. Daher ist es falsch wenn einige geglaubt haben,
die marmornen Bildsäulen dadurch sehr zu verbeßern. daß sie auch
die pupille im Auge sehen ließen. Die Alten haben es nur gethan,
und e«r»s würde ekelhaft seyn. Dann die apparentz muß immer bleiben,
denn auch in der Mahlerey hält der Mensch das für recht schöne Ge-
stalten, die nicht mit der menschlichen proportion übereinstimmen,
und sie gefallen eben darum. Den Apollo im Vatikan hält man für
die schönste Figur, und doch sind die Beine bey ihm weit länger
als die proportion des Menschen ist. Aber eben diese {_dis_}proportion
macht ihn also hervorragend, daß er eben darum ein Gott zu
seyn scheint, welches die Erfindungskraft des Griechen anzeigt,
der die rechte proportion wohl wuste aber überschritt.

/Die dichtende Kraft geht auf Hervorbringung {_der Dinge_} in der Rea-
litaet, in der Bau und Garten Kunst. D.i. in der disposition
eines Garten, so fern er blos dem Anblick Vergnügen macht,
vom Nutzen der Gärten wird hier also gäntzlich abstrahirt,
weil daß zu den chrematistischen Wisenschafften gehöret.

/ Die

|P_111

/Die Gartenkunst ist nur in neuern Zeiten durch die Engländer für eine
schöne Kunst angesehen worden, denn die Engländer haben gesucht, die
Kunst der Natur ähnlich zu machen, wo man erst durch öde Gegenden
wie im wüsten Arabien komt, und denn auf einmahl eine schöne
Gegend siehet. dazu gehört genie und Erfindungskraft. Es wird
dazu ein Landgut von 3 englischen Meilen erfordert, daher ists
kindisch, daß in kleinen nachzumachen. Bey uns ist noch nicht an
den guten Geschmack im Gartenwesen gedacht worden, denn nichts
ist ängstlicher als zwischen 2 glattgeschornen Hecken eingemaurt
zu seyn, weil man da keine Aussicht hat: bey uns muß also
die Sache noch bearbeitet werden, die Erfindungskraft bey der Bau-
kunst ist von den Griechen in hohem Grade cultivirt worden; von
ihnen «g»haben wir die grösten Regeln der Baukunst übrig behalten.
Wie gehts wohl zu, daß die poesie das besondere Schicksaal hat, daß
sie zwar gelobt, aber nicht leicht bezahlt wird? Die poesie kann
zwar bey denen, die dazu talente haben Lob erregen, aber sie
bringt ihnen wenig ein, zum wenigsten ist es sehr was seltenes,
indeßen wird die Music gut bezahlt. Was Mahlerey und Bild-
hauerkunst betrift, so haben diese ihren Meister zu ihren Lebzei-
ten nicht sehr belohnt, aber nach ihrem Tode sind ihre producte
theuer genung bezahlt worden. Correggio hätte das Geld nur
haben sollen, was nach seinem Tode für seine Wercke bezahlt
worden ist. Es ist aber einmahl so, daß Dinge des Geschmacks
nur immer nach dem Tode gepriesen werden. Bey der
poesie ist das Unglück, daß, da sie mehr für jedermann ist, und
grade zu auf die Sinne trift: so geht das Spiel der ideen
in der poesie eigenlich auf Kosten des Verstandes. Denn

/ der

|P_112

/Denn der poet stellt alles so zum Vortheil der Sinnlichkeit vor,
daß der Verstand wenig dabey zu schaffen hat. Dichter dörfen
niemals eine Sache abhandeln ohne sie zu übertreiben, denn sonst
würden sie nicht genung auffallen, und darum eben überschreitet
der Dichter immer die Wahrheit auf Kosten des Verstandes:
daß scheint die Ursache zu seyn, warum man d{_ie_→_er_} poesie nie einen
großen Werth beygelegt hat. Kein vernünftiger Mann wird
seinen Zöglingen die er unter seiner Aufsicht hat rathen sich die
Geschicklichkeit eines Dichters zu erwerben denn es ist immer zu
glauben, daß ein solcher mehr auf chimaeren als auf nützliche
Betrachtungen fallen würde.

/Wir wollen noch etwas vom Zustande der dichtenden Seele im
Schlafe. d.i. von den Träumen reden. Es ist dies ein Gegenstand
der in psychologie der Nachforschung wohl würdig ist. Der Mensch
träumt im Schlafe continuirlich, und wenn jemand sagt, er
habe nicht geträumt, daß die Reihe seiner Vorstellungen so
fließt, daß er keine Connexion hineinbringen kan. Es
ist den nur ein gewißer Tumult, in unsern Gedancken
vorgeht, es scheint uns manchmahl im Traum «um» als
lesen wir Verse, und die Verse kommen uns schön vor, da
wir sie vermuthlich selber machen, und unsere Gedancken mögen
uns wohl im Traum Dinge vorstellen, so gut als wir sie
beym wachen schwerlich würden erdencken können. Die Ur-
sache davon ist: im Schlaf stört uns nichts, die alten Eindrücke
richtig zu wiederholen. So wäre es möglich sich im Schlaf auf
einen Vers aus einem Autor zu besinnen, auf den man
sich im Wachen nie hätte besinnen können. Wir werden
also in jeden Schlaf unaufhörlich mit Träumen beschäftigt
seyn, und daß ist ein Grund zu vermuthen, daß die

/ weiße

|P_113

/weiße Vorsehung dies in unsere Natur gelegt hat, um unsere
organen des Lebens, und alle vitalfunctionen in Thätigkeit zu
erhalten, um die peristaltische Bewegungen der Eingeweide zu
promoviren. Denn daß Ideen darzu was beytragen können, können
wir aus jeder Mahlzeit sehen. Eine einsame Mahlzeit bekomt einem
schwerlich, aber durch eine Mahlzeit im discours, wo man in
actionen {_wird,_→_ist wird_} die Verdauung ungemein befördert, und ohne diese Träume
möchte der Mensch in Leb«s»loosigkeit versetze{_n._→_t werden._}

/Kan man aus den Träumen eines Menschen schließen, daß der Mensch
im Wachen auch wohl so würde gedacht haben? In Grichenland hatte
einem geträumt, daß er dem Keyser den Kopf abgeschlagen hatte.
Der Keyser lies ih«n»m so bald er es hörte, den Kopf abhauen; denn
sagte er träumst du so was, so must du im Wachen auch solche Ge-
dancken haben, aber daß ist gantz falsch, denn es kommen einem im
Schlaf Dinge vor, wovon die Denckart der Menschen himmelweit
unterschieden ist. Ob aber im Menschen versteckt, eine Denckungs_Art
liegt, die er nicht entwickelt hat, wozu er aber doch die Anlage hat,
und die entwickelt haben würde, wenn er eine andere Erziehung
gehabt hätte, kan man nicht wißen. Mancher Me@nn@sch mag also
den Bösewicht im Rückhalt haben, der es selbst nicht an sich bemerckt.
Die Träume mögen also da seyn, um uns die verborgenen An-
lagen des Menschen zu entdecken.

/Die Laune, die der Mensch im Wachen <hat>, können großentheils
von den Träumen herrühren, ohne daß der Mensch sie weis<. Der>
Tr«ä»aum«e» hat Empfindungen und diese hinterlaßen im Gemüth
einen Hang zu ähnlichen Empfindungen, so, daß der Mensch
oft selbst nicht weiß, wie er zu einer üblen Laune komt.
Aristhoteles sagt in wachen haben wir eine gemeinschafliche

/ Welt

|P_114

/i@m_→_nn@ Traume hat ein jeder seine eigene. Von einem wachenden
sagt man oft daß er träume, daß komt daher: sehr vernünftige
Leute sehen die Welt oft anders an, als andere Menschen. Der Abt
von st: pierre ist wegen seiner erdichteten allgemeinen Republique be-
rühmt, wo er sich alle Völcker dachte, wie sie einen eigenen Staat aus-
machten, mann nent ihn aber einen Träumer, ein solcher Träumer war
auch Rosseau, und ein solcher Mensch der richtig denckt, und weiter
sieht als andere Leute, so daß er glaubt, daß das, was {_er_} bisher gese-
hen auch anders seyn könte, wird vor einen Träumer gehalten, we@il@
er anders sieht als andere Leute. Sein Emil ist ein Entwurf zu er-
kennen, was in der menschlichen Natur für Keime liegen, um es
von dem zu unterscheiden, was dem Menschen durch die Kunst
angewöhnt ist. Man hält ihn aber vor einen Träumer, an denn
sich kein Mensch kehren muß, und so werden weise Personen, weil
sie die Sachen nicht mit dem großen Haufen beurtheilen für Träu-
mer ausgegeben.

/ ≥ Vonn dem Phantasten.

/Phantasten sind Enthusiasten oder Schwärmer. Ein Phantast nach Grundsätzen
heißt ein Enthusiast; ein Phantast nach Neigungen ist ein Schwärmer. Der Enthu-
siasmuß bedeutet einen Phantasten in der Vorstellung, wo man Ideen reali-
sirt, so fern sie Grundsätze betreffen. So giebts einen Enthusiasmuß der
Vaterlands Liebe, wo man <aus> Liebe zum Vaterlande alle andere Vor-
theile verläugnet; diese ist gut wenn sie «uns»nur nach G«r»esätzen reguliret
ist, und nicht auf den Wahn eines jeden einzelnen Bürgers beruhet.
Denn da kan man es alsdenn wohl einräumen, daß das Vaterland
einigen Vortheilen könne vorgezogen werden. Aber wenn man
auch diese Bedingung überschreitet, so kann man doch durch die Wichtigkeit
seines Grundsatzes so gerühret werden, daß man ihn zur Realitaet
zu bringen sucht. Der Begriff eines Enthusiasten ist schwer zu be-
stimmen, aber wir dürfen uns nur davon halten: wir haben
Ideen nöthig, nicht nur die Ideen in ihrer gantzen Vollständigkeit
in der Wircklichkeit zu haben, so, daß man wirkliche Gegenstände davon
hat, sondern sie übersteigen oft alle Gegenstände, und dienen

/ nur

|P_115

/nur zum Muster. Der Weiße der Stoicker war eine idee, wir müßen
uns aber ein solches Muster dencken nachdem wir uns richten können
Das Muster muß ohne Fehler seyn, wenn gleich der, der es nachahmt, Feh-
ler begehen wird. Wenn aber das Muster selbst Fehler hätte: so würde
man ja Fehler copiren. Ein Mensch kan wahrhafte ideen haben, wenn
er denen aber als Realitaeten nachläuft: so wird er ein Phantast.
Eine allerhöchste wechselseitige Neigung, und ein sehr hoher Grad des
Vertrauens hat wohl nie existirt, aber die Idee davon muß man doch
haben; wer aber einer solchen Freundtschafft als einer Realitaet nach-
hängt, so daß er sein Famielienglück darüber aufopfert, der wird
ein Phantaste; aber ein edler phantaste, weil er durch die Ideen
des guten so eingenommen ist, daß er nicht umhin kan ihr Realitaet
zu geben. Wenn der Abt St_Pierre seiner idee von einer einigen
Republi@en@ mit gantzem Eifer nachgejagt hätte, so würde er ein
Enthusiast gewesen seyn. Denn zwar liegt viele Vernunft zum Grun-
de, nur fehlt die Vernunft in Ansehung der Ausführung. Viele
Hinderniße der Ausführung rühren blos daher, daß man einmahl
angenohmen hat, daß ließe sich nicht aus führen, ob man gleich zeigt
auf welche Weiße es ausgeführt werden könne. Die grösten
Köpfe die am Wohl der Menschen haben arbeiten wollen, sind Enthu-
siasten gewesen. Sie haben niemals die Sch{_wermüthig_→_wierig_}keiten erwogen
die die Menschen der Ausführung ihren Ideen entgegen setzen
würden; sind aber durch das sinnliche Bild ihrer ideen so eingenommen
gewesen, daß sie durch das Bild des Daseyns ihres Gegenstandes so
hingerißen, es in Würcklichkeit zu setzen suchten. Es giebt Enthu-
siasten des Patriotismus, der Freundschafft, der natürlichen und
geoffenbahrten Religion p.p Das Wort $enthusiasthes$ bedeutet
einen begeisterten der gleichsam von Gott belebt wird. In Franck-
reich sind nicht viele Enthusiasten, denn der Enthusiasmuß weicht kei-
ner Hinderniß leichter als dem Gespötte, Gewalt hilft nicht
wieder ihn, denn darin setzt er eben sein Verdienst, alles durch
zusetzen. Aber Franckreich ist das Land des Spottes, und da

/ kan

|P_116

/kan er nicht lange aushalten. Aber in Engeland giebt es viele En-
thusiasten. Da zeigen oft die stärcksten Seelen eine Art von der
Wag{_lo_→_hal_}sigkeit weiter zu gehen, als der Mensch der unter dem Schrancken
der Vernunft «geht» ist; gehen kan, ohnerachtet es ihm am Talent und Ein-
sicht nicht fehlet.

/Schwärmer haben mit den Enthusiasten einige Verwandtschafft. Die Schwär-
merey ist die Art von der Verkehrtheit und Verwechselung der Gegenstände
der Einbildung, da wir daß, was im Gegenstand des Glaubens ist, für einen
Gegenstand der Anschauung nehmen. Die Schwarmer glauben «nicht» mit
Gott in einer solchen Gesellschafft zu stehen, daß sie mit ihm in conver-
sation treten können, da doch Gott nur ein Gegenstand des Glaubens
ist. Sie bilden sich ein{_«en»,_} Gott wircklich anzuschauen. Die Fana-
tiker verfielen auch auf den Einfluß des bösen Geistes, so daß sie
mit himmlischen Eingebungen und teuflischen Versuchungen zu thun
haben. Der Schwärmer komt dem Wahn«sinnigen»<witzigen>, der Enthusia«t»st
dem wahnsinnigen näher. Der Wahnwitz ist eine Verkehrtheit der
Vernunft, Wahnsinn aber täuscht die imagination der Sinne, und
man glaubt daß zu sehen, was «man» doch niemals als ein Gegenstand
der Erfahrung kan angesehen werden. Gemüths_Kranckheiten kann
man in Grillenkranckheiten und in Wahnsinn eintheilen. Grillen
Kranckheit ist die Hypochondrie, so fern wir nicht blos in körperlich@em@
Leiden sondern auch eine Gemüthskranckheit davon haben. Sie un-
terscheidet sich vom Wahnsinn darin, daß der Hypochondrist weis,
daß er in seinem Gedancken unrecht ist, und wenigstens versucht,
sich gewiße unangenehme ideen zu entschlagen. Der Wahnsinni-
ge aber weiß es nicht, daß er so verkehrte Gedancken hat, sonst
kommen beyde in Ansehung der wirklichen Phantasie sehr überein.
Es ist ein Unglück, daß wie sich alle schädliche Säfte nach einem
geschwächten Theile hinziehen, so bezieht der Mensch, der einmal
an der Hypochondrie leidet, alles auf seine eigene Grillen

/ und

|P_117

/und wählt eine Lebens_Art die alle diese Grillen unterhalten kan.
z E der Misantrop flieht die Gesellschafft, ob sie gleich das eintzige
Mittel wieder sein Übel ist, aber er weiß doch daß sein Gemüth {_nicht_}
in gehöriger Ordnung ist. Der Wahnsinnige aber überredet sich im
gantzem Ernst, daß er die Dinge zu empfinden glaubt, und ist
ein Träumer im Wahn der sich wegen seines Traumes nicht persuadi-
ren kan, daß es ein Traum sey und nicht Wahrheit enthalte. Man
sagt oft der Mensch hat raptus, darunter versteht man eine
vorüber gehende illusion des Wahnsinnes, hinter her der inne
wird, daß seine idee eine Grille war. Grillus bedeutet eine Heime,
ein solcher Mensch hat also gleichsam schwirrende Heimchen im Kopf.
Ein Mensch hat raptus, wenn er ohne die mindeste Veranlaßung
glaubt, etwas wahrzunehmen, und bald darauf einsieht, daß es
eine pure Grille war.

/Die Grentzscheidung zwischen der Grillenkranckheit und der amen-
tia. d. i. dem gestöhrten Gemüth ist schwer zu bestimmen. Viele
Leute scheinen mürrisch zu seyn, aber da sie keinem zu nahe kommen,
und dabey allerhand kluges schwatzen können, so läßt man sie gehen.
Es ist schwer Gerichtshöfe für das delirium aufzubinden, worin man
beweisen könte, daß ein Mensch wircklich gestöhrt sey. Die Ursache ist.
Wenn einer die Gemüthskranckheit hat, so kan er sich selber nicht
beobachten, und ein anderer kan es auch nicht wißen, wie es mit ihm ste-
he. Ob das delirium eine wechselhafte Fieber Kranckheit sey,
kan man nicht unterscheiden, oder ob es ununterbrochener Wahnsin
sey. So viel scheint gewis zu seyn, daß eine oder die andere
Art der Verrückung ihren Sitz im Gehirn habe. Die Grillenkranck-
heit aber scheint ihren Sitz in den organen zu haben, die aber frey-
lich mit den {_Jahren_→_gehirrn_} in connexion stehen, und im Körper liegen
die Ursachen von beyden Übeln.

/ Man

|P_118

/Man redet von Leuten die sich überstudieret haben sollen. Ein
Kaufmann überhandelt sich bisweilen wohl, so; daß er nichts mehr
hat, und jeder Mensch kan es bey allen Arten von Geschäften übertrei-
ben, und so kan der Mensch auch wohl den Verstand überspannen.
Aber die gröste Zärtlichkeit der Eltern, in Ansehung des Lernen ihr@er@
Kinder taugt nichts, den kein Mensch hat sich bis jetzt, so weit mein@e@
Erfahrungen und Nachforschungen reichen, überstudieret. Aber in den
Saften des Menschen liegt die Eigenschafft, daß unter andern Übeln
auch den Menschen erblich ist, so daß Famielien viele Generation@en@
hindurch wahnsinnig sind. Man findet aber durchgängig, daß das Stu-
dieren keinen Antheil daran hat, sondern es komt blos vom Anerbe@n@
her. Es ist aber merckwürdige«s», daß man kein wahnsinniges Kind
sieht, sondern zu der Zeit, wenn sich die organen völlig entwickelt
haben, zeigt sich die junge Tollheit, die nun anzuwürcken fängt
und den Kopf dahin bringet, daß er beständig studieret, und
so findet man einige Schriftolle, die nur über Geheimniße im
Daniel speculiren, und allenthalben Geheimniße aufsuchen.
Der Mensch bey dem diese Tollheit aufkomt, fällt auf ein object,
daß der falschen direction seines Kopfs angemeßen ist, und
wenn nur der Mensch aufs studieren fällt, so sagt man, daß
er sich toll studiere, da er schon toll war ehe er aufs studier@en@
verfiel. Denn es ist wohl unmöglich, daß ein Mensch mehr Kräf-
te zum studieren anwenden sollte; als er vertragen kan, den@n@
da hört alles Dencken von selbst auf. Aber ein verkehrtes
principium des Denckens kan er wohl haben.

/Man sagte ehedem von einem Deutschen der von Indien
kam er sey verrückt, und zwar deswegen, weil er die Linie
paßiret wäre, und die Sonne ihm das Gehirn versenget hätte@.@
Ob man daß gleich von den Holländern Engländern pp. nicht
sagt. Die Ursach ist wer den Einfall bekomt nach Indien zu
reißen, hat schon den Keim der Narrheit in sich, und daher

/ kan

|P_119

/kan er nicht klüger zurückkommen. Blödsinnigkeit, Unfähigkeit
kan wohl im Verstande liegen, aber zu einer imagination, die alle
die Bilder in der Seele des Menschen hervorbringt, gehöret eine aparte
Art von Organ-Einrichtung, die der Mensch durch Ausschweifung im Studieren
oder durch die passirung {_der linie_} schwerlich bekommen kan.

/Was mag das mechanische und Körperliche seyn, daß mit an dem Ur-
sache ist, was man Störung des Gemüths nennt? Rousseau %.und Swift
waren vorzügliche Köpfe; beyde unterscheiden sich durch das paradoxe.
Rousseau war von großer Laune, hatte aber auch wunderliche Grillen.
@Er@ hatte einen großen <Hang> soupçons zu faßen, und glaubt immer Cabalen
zu bemercken, so daß seine phantasie sehr nah an Wahnsinn gränzt.
Swift hatte so vielen fruchtbaren und originalen Witz, als je ein Mensch
gehabt hat, und dabey sehr viel Geschmack im Ausdruck. Als sie ana{_¿¿¿iret_→_tomirt_}
wurden, fand man bey beyden Waßer im Kopf. Rousseau
wurden 6 Unzen abgezapft, und daß war die Ursache ihres Genies
und ihrer Bizarrerie und muß die besondern Geistes Handlungen
bey ihnen hervorgebracht haben. Swift merckte schon in seinen ge-
sunden Tagen, daß er einen Hang zur Phantasie hätte. Bald darauf
verlohr er den Verstand, wurde aber nicht ein lebhafter wahnsinniger
sondern ein blödsinniger und stummer Narr, dergleichen die Cretins
im Walliserlande sind. Merckwürdig ist, daß so lange Swift {_¿¿_→_de_}n
Verstand hatte, war er mager, so bald er ihn aber verlohren
hatte wurde er fett. Also könte die Anstrengung des Kopfs
dem Körper doch wohl Abbruch thun. Rousseau hatte eine einge-
bildete Grille, daß er glaubte alle Menschen verschwören sich
wieder ihn. Allein Menschen die schon sagen daß sie viel Feinde
haben, sind Träumer denn jeder Mensch giebt sich nicht viel
Mühe um Feindschafften, eben so wenig als um Freundtschafften.
Einige Privatfeinde kann man indeßen wohl haben.

/Diese Erfahrungen zeigen, daß im Gehirn die Ursach der Tollheit

/ liege

|P_120

/liege, und körperliche Mittel sind das eintzige, was man als Mittel
dagegen gebrauchen kan. Aber doch weiß man noch kein Exempel, daß
ein Wahnsinniger wieder beßer geworden sey. Aber die Hypochondrie
kann allerdings gehoben werden, sie hat ihren Sitz in den Eingeweiden
welche fre«¿¿h»ylich auch mit dem Gehirn Communication haben. Wenn aber
das Hinderniß aus dem Eingeweide weggeschaft ist, so kann das Übel
gehoben werden. Die Criteria sind sehr zweifelhaft ob der Mensch ein
Hypochondrist oder ein <würcklich> gestörter sey. Beyde scheinen sich in einigen
Stücken zu nähern: es ist aber doch ein wesentlicher Unterschied unter
ihnen. Bey Kranckheiten des Menschen. z.B. beym Fieber liegt dem
Menschen schon viel daran, und er hat da am Pulßschlage Kennzei-
chen genung, um eine Kranckheit von der andern zu unterscheiden.
Die Kranckheit der Verrückung zeigt sich aber bey allen Menschen
auf ein oder die andere Weiße, nur nicht so daß es eine anhaltende
Verkehrtheit des Denckens ist, und darum nennt man sie nicht ver-
rückt. Aber es ist überhaupt nicht gut, die Gebrechen de{_n_→_r_} Menschen
nach den Graden {_mitt_→_ein_}zutheilen; in der Moral wird gezeiget, daß
Laster und Tugend nicht den Graden nach, sondern der species nach
verschieden sind, und aus verschiedenen principien herkommen.

/Das deutsche Wort Verrückung zeigt an, daß die Seele aus ihrer
gehörigen Stellung gesetzt sey. Das gantze System der Nerven
hängt im Gehirn zusammen, und da denckt man sich daß was die
Ärtzte wohl nur in der Idee haben mögen, nemlich das sensorium
commune, corpus callosum, die Hirnschwiele ein streifigter Theile
der der Sitz der Seele seyn soll. Es ist der Theil des Gehirns von dem
alle Nerven{_ stammen_→_stämme_} ausgehen. Die Verrückung also (wir können
hier Verrückung nicht ein delirium, wovon der Mensch in der Kranckheit
faßelt, sondern wenn dies ein habitueller Wahnsinn ist) ist vielleicht
eine Kranckheit in sensirio communi. Bey der Hypochondrie oder
Grillenkranckheit ist der Fehler in den Nerven, Wenn daß ist
so ist der Mensch nicht im Stande, die {_Grillen_}, die durch sensorium
commune entstehen zu vertreiben. Aber der Hypochondrist

/ fühlt

|P_121

/fühlt wohl, daß sein Zustand wieder natürlich ist, und sieht das
fehlerhafte darin ein. Aber seine Nerven sind so afficirt, daß er sich
die Gedancken nur mit Mühe entschlagen kan, und sie kommen doch
wieder. Aber da sein Verstand das sieht: so hat er doch noch Freyheit
und Vernunft, aber wenn die Kranckheit in sensorio communi ist: so
hört daß auf, denn da ist die Quelle der Beurtheilung seines eigenen
Gemüths_Zustandes verderbt. Aber wir wollen den Menschen nicht
weiter von der Seite des Körpers, sondern von der Seite der
Seele betrachten, und sehen ob da nicht ein Zustand ist, wodurch der
Zustand eines Wahnsinnigen von der Phantasie unterschieden ist,
ob also der Mensch nur in Ansehung seiner Denckkraft afficiret ist.
Der sensus communis oder gemeine Menschen_Verstand wird von
jedermann für einen {_bon_} sens oder gesunden Verstand gehalten.
Der Mensch hat zwar einen eingeschränckten aber doch gesunden
Verstand. Das Wort communis nimt man in 2facher Bedeu-
tung: einmahl daß der sensus vulgaris darunter verstanden
wird, der allerwärts angetroffen wird, und der ist dem sensui
@r@aro entgegen gesetzt. Aber vor Alters muß der Ausdruck gewis
in einem andern Sinn genommen seyn, nemlich er muß dem
sensui proprio contradistinguirt seyn. Da soll es also so viel heißen
als ein gemeinschaftlicher Verstand, der vom eigentlichen Verstande
unterschieden ist. Wir Menschen sind so geartet, daß wir alle
Dinge nicht aus dem Gesichtspunckt öfters unsers eigenen Verstandes
und Geschmacks beurtheilen, sondern wir setzen uns nur in den
StandPunkt eines gemeinen «Mannes» Verstandes und Geschmacks,
und darnach beurtheilen wir die Dinge. Wenn wir etwas sagen:
so muß diese Wahrheit nicht allein für uns gelten, sondern mit
@a@ndern Urtheilen übereinstimm{_en_→_ig_} seyn. Jedermann setzt in
seine eigene Betrachtungen einen Zweifel und Mißtrauen,
wenn er sieht, daß andere Beobachtungen nicht mit den
seinigen übereinstimmen wollen, denn es mischen sich oft
in die Erfahrung phantasien ein, so daß wir sie nicht immer

/ Wahrheit

|P_122

/Wahrheit nennen können. Um also zu erfahren ob hinter der Wahr-
heit vielleicht Schein verborgen, muß man die Einstimmung anderer
brauchen. Wir haben die Augen und das Urtheil anderer nöthig, um
die unsrigen zu verificiren, da wir also nicht mit der Erfahrung des
sensus proprius zufrieden sind, sondern einen sensus communis nö-
thig haben, so werden wir darauf geführet, was der Zustand eines Ver-
rückten seyn müße, nehmlich der nicht nach dem Sensu communi sondern
proprio verfährt, und alles blos auf den Standpunct seines sen-
sus proprii beurtheilet, und so immer lauter Chimaeren findet.
Selbst das Urtheil unserer Sinne, müßen wir durch das Urtheil
anderer Sinne verificiren: aber hauptsächlich bedarf unser Verstandes
Urtheil einer verification, durch das Urtheil anderer und Wahrheit
ist Übereinstimmung mit dem allgemeinen Menschen Verstande. Unser
Urtheil kan viel Schein enthalten, und wir können nicht immer wißen@,@
ob unsere Gedancken mit den objecten übereinstimmen, wir müßen
daher den äußern Probierstein, das Urtheil anderer nehmen, daß
wir zwar in Sachen, die wir täglich gewohnt sind, nicht immer gebrau-
chen, aber in Sachen, bey denen wir einigermaßen zweifelhaft
sind, nehmen wir zu dem gemeinschaftlichen Verstande unse-
re Zuflucht, und da haben wir immer einen großen Verdacht
in unserm Urtheil, wenn unsere Vermuthung mit dem gemein-
schaftlichen Urtheilen anderer nicht zusammen stimmet. Da-
her wir gern Leute haben mögen, die unsere Meynung an-
nehmen, denn man fühlt ein Mißtrauen gegen sich, wenn
unsere Meynung mit dem Urtheil anderer nicht zusammen
stimt und nicht {_mehr_→_geneigt_} sind, dieselbe anzunehmen. Dieser
innere Beruf des Menschen, jedes Urtheil aus dem Gesichtspunckt
der Denckart anderer zu bestimmen, ist bey Menschen des gesun-
den Verstandes, folglich können wir sagen, der sensus communis
ist der bon sens, nemlich die Übereinstimmung der Denckart
vieler Menschen untereinander. Dieser wird vom sensu prop@rio@

/ unterschieden

|P_123

/unterschieden, wo man sich um kein Urtheil anderer beküm-
mert; der gestörte Mensch urtheilt alles nach dem sensu proprio,
und kan nichts aus dem Standpunckt des sensus communis erwägen;
er zieht also bey allen Gegenständen nur immer seinen Privatsinn zu Rathe.
Er sieht Dinge die mit dem Sinne anderer nicht übereinstimmen, wo-
rauf ein vernünftiger Mensch gleich Acht haben würde. Aber er
läßt sich daß nicht stöhren, und macht sich nichts daraus, wenn seine Sinne
mit anderer Menschen ihren nicht übereinstimmen wollen, und viele
sind bey ihrem Wahnsinn noch wahnsinniger. Vielleicht wäre daß
also ein Merckmaal zwischen Verrückung und phantasie; dieses
bloße Spiel der Einbildung und Grillen, die einem oft so gar
böse Absichten in den Kopf bringen, etwa jemanden zu morden.
Zum Glück aber hats noch niemand gesehen, daß Hypochondristen
daß wircklich gemacht hätten. Ein solcher Mensch hat eine Furcht
vor seiner eigenen Phantasie, er weiß daß sie unrichtig ist,
aber die Bilder, die in ihnen wircklich entspringen, sind nicht unter
seiner Gewalt, und er muß mehr seiner afficirung, als seiner Denck-
art nachgeben.

/Ein Mensch, der mit sich selbst redet, komt in den Verdacht nicht
gescheut zu seyn, @wie@ viele heftige Menschen thun. Wenn man
mit sich selbst spricht, betrachtet man sich aus einem gewißen Ge-
sichtspunckt, und weiß sich nicht in den Standpunkt eines dritten
zu setzen, wie man erscheinen würde. Bey Menschen, die vor sich
Gestus machen, kann man sehen, was in ihrem Gemüth vorgeht.
Auch diejenigen scheinen abgeschmackte Menschen zu seyn, die
vor sich allein Kinderspiele spielen. Aber doch alles nur eine
Art von Verdacht der Verrückung. Denn ein solcher Mensch
betrachtet sich doch in Ansehung seiner äußern Aufführung
in den Augen anderer. Wer daß aber nicht kan, der ist
gestört.

/ Unter

|P_124

/Unter allen Menschen scheinen die gröste Analogie mit denen
Gestörten zu haben, die, die von sich selbst sprechen, und sich wohl
gar in Gesellschafften rühmen. Liebe und Hochmuth sind die
zwey Dinge, worinnen dergleichen delicen sich hervorthun wollen.
Mann nennt daß das delirium circa Objecta, daß mit dem wah-
ren delirio Ähnlichkeit hat. Wir haben im deutschen folgende Aus-
drücke: Ein Geck ist der, der in sich selbst verliebt ist, und sich also
in den Augen anderer liebenswürdig hält. Ein Narr ist der,
der sich brüstet, und sich selbst für achtungswerth hält, und also
seinen Werth zu hoch anschlägt. Der Geck wird aus gelacht; der Narr
wird gehaßt und ausgelacht. Denn weil er sich über andere erhebt:
so ist daß bey ihm was anders, als beym Geck, der attachirend
und schmeichelhaft ist; da der Dupe der Schmeichler ist, und da
wenn er alt, und bey Frauenzimmer amours macht, von ihnen
geschnellt wird. Aber er kan nicht gehaßt werden, denn er sucht
allen Menschen gefällig zu werden; das Wort Narr ist, der
Ausdruck eines hönischen Spotts, und ein solcher Mensch heißt ein
Narr weil, wenn man sich aus dem gemeinschaftlichen Standpun@kt@
der Menschen betrachtet, man einsieht, wie wenig es nützt, sich
die Hochachtung anderer zu erpochen, und ohne Werth verlangen,
geschätzt zu werden.

/Denn die andern wiedersetzen sich immer solchen, und er hat also
a{_m¿_→_nna_}logie mit einem Verrückten.

/Man hat noch ein paar Worte als gelindere Ausdrücke in der
Stelle des Wortes Narr, nehmlich Thor. So wie der Narr seinen
eigenen Werth zu hoch anschlägt; so schätzt der Thor den Werth
von Kleinigkeiten zu hoch. Von Thorheiten sind alle Menschen
voll gepropft, selbst die weißesten. Denn die meisten
Ergetzlichkeiten und Erholungen, laufen auf Kinderwerck

/ hinaus

|P_125

/hinaus, die ohne Werth sind. Die Menschen schlagen ins gesamt den
Werth von Kleinigkeiten zu hoch an, und amusiren sich gut dabey;
hinter her werden sie weiße, wenn ihr Leben zu Ende ist; worüber
Platho sehr klagt. Die Narrheit ist eine Art von Einbildung, die man
andern beweist, wenn man sich über sie erhebt, und brüstet, und
anderer Werth unter den seinigen herabsetzt. Der Narr wird
ausgelacht und raillirt, und man siehts gerne; wenn er zum
Spott wird. Sonst ist die Schadenfreude eine schlechte Gemüths_Be-
wegung, aber die Freude ihrer Beschämung mit Narren, findet
selbst bey Menschen nach Grundsatzen statt, weil daß das einzi-
ge Mittel ist, ihn zu beßern, und ihm etwas wieder zu vergelten {_zu_}
seyn scheint.

/Der Laffe ist der, der ohne Erfahrung in die Welt tritt. Aber
ohne Erfahrung muß man nicht, auf den Schauplatz der Welt auftre-
ten. Welt ist das commercium mit Menschen, wozu Klugheit
erfodert wird. Man muß also nicht als ein Laffe ohne Erfahrung
darinn auftreten. Aber wenn man sich erst durch Erziehung darauf
vorbereiten läßt: so kan man diese Unerfahrenheit nicht mit
einem so verächtlichen Nahmen belegen.

/Die Hypochondrie oder Grillenkranckheit hat das üble, daß sie von
allen denen aus gelacht wird, die nicht damit afficirt sind. Bey einem
solchen Menschen kan der Körper wircklich Schaden leiden; aber daß
fühlt er nicht sehr, sondern sein gröstes Übel, besteht in der phantasie.
Aber einem andern scheint da«s»ß un{_vergleich_→_begreif_}lich zu seyn, sich seiner
phantasie so zu überlaßen, denn er weiß nicht, wie unwillkühr-
lich bei jenem die Einbildungen entstehen. Es ist diese Kranckheit
eines der martervollsten Übel, solche Leute haben einen großen
Eigensinn, Grillen wollen sie sich gar nicht ausreden laßen, indem
sie immer am meisten an ihre Grillen dencken, und sie dadurch am

/ allerwenigsten

|P_126

/allerwenigsten los werden. Ärtzte mögen nicht gerne was mit
ihnen zu thun haben; denn wenn ein Hypochondrist kranck wird@,_→_:@
so verändert das Übel bey ihnen alle Augenblick seine Stelle.
Sie geben so genau auf sich Acht, daß sie durch ihre Achtsamkeit
jede Kranckheit, die sie in einem Buch lesen, in sich finden, so, daß
alle medicinische Bücher und Casus von Curen ihnen weggenommen
werden müßen. Diese ihre Kranckheit entsteht aber bey ihnen aus
dem Gemüth, und man kan also da dem Körper nicht beßer, als durch
das Gemüth zu Hülfe kommen, daß daßelbe nehmlich zerstreut wer-
de. Wer mit vielen Arzeneyen bey Hypochondristen komt, der machts
zu arg, denn der greift die {_Narren_→_Nerfen_} an, da doch die gantze Kranckheit
nur, durch angegriffene {_Narren_→_Nerven_} entstanden ist. Aber was den Wahn-
sinn betrift, der wird durch die Gesellschaft noch vergroßert, denn
der findet da alles wieder sich, und kan sich nach dem Standtpunckt
der allgemeinen Vernunft nicht acco{_r_→_mo_}diren, noch das seinige nach
dem gesellschaftlichen Urtheil corrigiren. Er wird also durch das
Urtheil anderer afficirt, und auf das seine nur nochmehr erpicht.

/ ≥ Von der Praesagitation

/Wir haben 3. Vermögen des Gemüths, die in Ansehung der Zeit
bestimmt sind:

/1t. die Sinne, in Ansehung der Dinge der gegenwärtigen Zeit.

/2t. das Gedächniß, in Ansehung der vergangenen Zeit

/3t. die Praesagition, die sich auf Gegenstände der künftigen Zeit bezieht.

/Die Gegenwart ist vorüberfließend; das vergangene kan kein Interesse
bey sich führen, also ist nur die Zukunft, die unser gantzes interesse
enthält. Man sagt fälschlich: der Mensch vergnügt sich an der Gegenwart,
da doch noch etwas in der Zukunft ist: z.B. er vergnügt sich am heu-
tigen Tage, ja, aber an dem, was er vom heutigen Tage noch
in der Zukunft hat. Alles setzt sein Vergnügen in die entfernte
Zukunft. Wir haben {_wie_→_für_} die gantze Thätigkeit unserer Seele, keine
andern Triebfedern, als die die Hofnung hervorbringt; und das ge- 

/ genwartige

|P_127

/gegenwärtige interessirt nur, weil es mit dem Keime vom künfti-
gen impraegnirt ist. Also ists kein Wunder, wenn wir allen Thorheiten
Platz machen, die uns eine Aussicht in unsern künftigen Zustand versprechen.
Je mehr uns in Ansehung der Zukunft unbekandt ist, destomehr fällt man
mit Begierde auf den geringsten Schein, und überläßt sich jeder Thorheit, um
nur mit einiger Scheinbarkeit, Aussichten in die Zukunft zu gewinnen. Daher
haben wir Acht auf die Verwandelungen, die in uns entspringen, und die die ima-
gationen in unserer Empfindung erregt. Diese Art der Eindrüke, die von dunkeln
Vorstellungen der imagination in uns erregt werden, und worin wir den
Anfang des zukünftigen zu finden glauben, nennt man Ahndungen. Ahndun-
gen sind bey einer großen Menge von Menschen ein starcker Grund, et-
was zu vermuthen, daß ihnen bevorstehet. Sie sind dunkle Bewegungen
des Gemüths, die entweder mit Bangigkeit, oder mit Munterkeit
begleitet sind. Weil ordinair daß, was uns sehr angenehm ist, wenn
wir es vorher vermuthen, uns ungemein erfreut; wenns eintrift:
so behält man daß, wenns aber nicht eintrift: so ärgert man sich,
und vergießt daß.

/Wir befragen gar die Träume, um aus denen was künftiges zu erfah-
ren. Es ist besonders, daß hier die Vernunft der Unvernunft zueilt, daß
wenn das Auge des Menschen in die Zukunft hinüberblickt, es dieses thue,
wenn der Mensch sich seiner Vernunft nicht bedienen kan. Wir räumen
der Vernunft zwar einen großen Rang ein, zu dirigiren, aber wir
glauben doch, daß sie in Ansehung des verborgenen nicht so weit sehen kan,
als unsere imagination. Daher scheinen uns die Träume, {_aber_→_eben_} weil sie
so unsinnig sind, viel Weisheit zu enthalten. Artemidor reißte in Gri-
chenland bey alle alte Weiber herum, um sie wegen ihrer Träume
und der Erfüllung derselben zu befragen. Aber es ist wohl nichts leerers,
als Träume unter Regeln bringen zu wollen. Die Ursach daß man auf
Träume hält muß wohl darin liegen, weil sie, so lange sie dauren,
etwas täuschendes haben, so, daß man nicht weis, ob sie wahr sind.
Alle Träume Auslegungen bedeuten immer das Gegentheil vom träumen.

/ Der

|P_128

/Der, dem da träumt, daß er gehangen sey, soll, sagt man,
zu großen Ehren kommen. Aber daß ist unbegreiflich und ungereimt. Es
steckt aber im Traum etwas, daß den philosophen wohl occupiren kan
nicht um Bedeutungen, sondern manche Phänomene daraus zu
erklären; un in dieser Art können Träume wohl manchmal was be-
deuten. Die Träume scheinen zur Absicht zu haben, alle organe zur
Zeit des Schlafs zu agitiren, und der vital Empfindung zu Hülfe zu
kommen. Zur Nacht-Zeit wird die Galle abgesondert; wenn nun
bisweilen etwas davon ins Blut komt: so enthält der Traum Ergerniß
und Zorn, die der Reitz der Galle erregt. Wenn der Mensch nun auf-
steht: so steht ihm der Kopf nicht recht. Die Disposition des Körpers
hat hier der Traum gemacht, und macht auch die Folge des Traums.
In andern Fällen aber, kan man aus den Träumen, keinen Zusam-
menhang herausbringen, mit de«nn»m, was geschieht, und wir müßen
kein principium der Erklärung einräumen, als wobey man nach
allgemeinen Gesetzen verfahren kan.

/Wir gehen weiter, und befragen die Sterne, die Astrologia judicia-
ria, war vor Alters eine Kunst, die mit Wahrsagungen zu thun
hatte. Diese Astrologi@«e»_→_{_e_}@ sind im Römischen Gesetz, unter dem Nah-
men der Mathematiker zu verstehen. In spätern Zeiten haben
sich viele Astrologen damit beschäftigt, aus dem positus
der Sterne bey der Geburth eines Menschen, seinen characteur
und seine Schicksaale zu bestimmen. Das nannte man das nativi-
taet stellen. Neun und sieben waren im Orient heilige Zahlen, weil
diese mit den Sternen was zu thun haben, und sieben mahl 9. bey
der Berechnung der Sterne gebraucht wird. In Persien werden
{_die_} Astrologen so hoch gehalten, daß fast nichts mehr, ohne einen
Sterndeuter unternommen wird, denn der muß sagen, obs
eine gute Stunde sey. Wenn der Krancke einen Artzt holen

/ läßt

|P_129

/laßt: so hat er auch einen Astrologen bey sich, und wenn nun
der Krancke stirbt, so schiebt immer einer die Schuld auf den andern. Diese
Astrologen sind dort die Spionen des Hofs, weil sie zu den Geheimnißen
aller Leute hinzu gelaßen werden. Eben so wenig ist von der Wahrsagung
der Schicksaale des Menschen aus den Zügen des Gesichts, und der Hand
zu halten, und doch wollte man ehedem das Lebens_Alter und Looß
daraus erklären. Zigäuner und Wahrsager, die dumsten und unver-
schämtesten unter allen Menschen geben sich damit ab. Bey den Griechen
und Römern war das freßen der heiligen Hüner, der Flug der Vögel,
und die Eingeweide der Opferthiere ein Grund der Vorausbestimmung
des künftigen, und man muß sich wundern, daß wenige von den
einsichtsvollsten Römern davon frey waren. Selbst Tacitus
redet von den Auguriis, indem er von Jugend auf in solcher Mey-
nung gelehrt und an sie gewöhnt war. Man unterscheidet
Wahrsager und Weißager. Wahrsagen geht auf Personen
und Lebens-Umstände; Weißagen hingegen gehet auf Be-
gebenheiten gantzer Völcker. Wahrsagen heißt auch
Manthia, hingegen Weißagung (praesagium) hat in Ansehung
gantzer Volcker Wirckung gethan. Die Sybillinischen Bücher
gehören unter die weißagenden Bücher der Alten, von denen
aber zu glauben ist, daß nie dergleichen Bücher existirt haben,
ob man gleich legenden von einer Sybille hat, die dem Könige
Tarquinius welche verkaufte. Bothne Adam war ein großer
Prophet in Franckreich, aber die ihm zugeeigneten Verse
scheinen alle später, als die Begebenheit selbst gemacht zu seyn,
oder sie sind so zweydeutig, daß {_sich_→_Sie_} auf jeden Menschen gezo-
gen werden können.

/ Zu

|P_130

/Zu den Weißagungen rechneten die Alten den Zustand eines
poeten, daher nante man sie vates, und sie glaubten, es gehöre
ein furor poeticus darzu, um in die Zukunft hinüber zu schauen.
Denn weil der Poet zu einer Zeit durch seine Laune zum Dichten
bewegt wird, zu einer andern aber nicht dazu kommen kan: so entstand
daher der Glaube, daß ihm ein Daemon bewege. Daher hat man in
den poesien der alten Dichter Profezeiungen gesucht, gleichsam, als
wenn der Entusiasmus eine Weißagung wäre, daher wurden ihre
Dichter vom Gott Apollo begeistert, und die Pythia, die vornehmste
vates, saß über einer Höhle, von da, wie man glaubte, der Dampf der
Begeisterung aufstieg. Aber zur Zeit des Demosthenes glaubte
man daß nicht mehr so fest; denn man sagte: die Pythia philippi-
sire. D.i. rede dem Philippus zum Vortheil.

/Die Türcken halten alle tolle Leute für heilig. Sie sagen
die Seele solcher Menschen ist längst beym lieben Gott, und
nur noch ihr Körper ist da, so daß Menschen die sonst für
wahnwitzig gehalten werden, bey den Türcken gut fortkommen
Zu den Zeiten der Allten gabs Leute die man Propheten nannte,
diese weißagten nicht selbst, sondern legten die unsinnigen
Reden $mantis$ aus, welche einen verwirrten Kopf hatten,
und unsinniges Zeug redeten. Diejenigen heißen Prophetae,
die die Bedeutung dieser Reden aus zulegen, und daraus
etwas von der Zukunft vorher zu sagen wusten.

/Was ist die Absicht der Natur mit dem in uns gelegten
Vermögen etwas aus der Zukunft vorher sehen zu wollen? Aus
dem Zusammenhang der Ursachen mit den Folgen folgt, daß
wir etwas von der Zukunft einigermaaßen vorher sehen
können. In der Astronomie ist dies Vermögen das

/ gröste

|P_131

/gröste, aber auch in der Natur Wißenschafft reicht es schon weit;
selbst bey einem Staat kan man sehen, was für Folgen ein veränder-
tes principium der Regierung nach sich ziehen werde. Von Rom
konte man ohne Wahrsagergeist sehen, daß, wenn sich das Volck über
die subordination unter die Patricier versetzen würde, ein bürger-
licher Krieg entstehen müßte. Dieses Wahrsagungs_Vermögen
bedienet sich der Mensch lieber als anderer Vermögen, um desto mehr,
je mehr die Schrancken seiner Einsicht begräntzt sind

/Der gemeine <Mann> fragt bey jeder Erscheinung was mag daß bedeuten? und
will immer die Folgen des künftigen daraus wißen. Der Gelehrte
hingegen fragt: was mag wohl die Ursache davon seyn? Die Absicht
der Natur mit diesem Wahrsagungs_Vermögen ist ohne Zweifel
diese, daß wir es in Ansehung des künftigen brauchen sollen, deßen
natürliche Veränderung in unserer Gewalt ist. Die Natur hat
uns kein leeres Vermögen gegeben, sondern jedes unsrer Ver-
mögen hat einen zweckmäßigen Gebrauch, daß übrige was
man hinzu thut, ist nur eine Verwahrlosung solches Vermögens.
Wir haben Voraussicht nöthig, um uns vor Übeln zu hüten.
Aber in Ansehung der Dinge, die nicht in unserer Gewalt sind
hat uns die Natur kein Vermögen gegeben. Da wir den Todt
nicht evitiren können: so ists von der Natur nicht vorher
bestimmt, daß wir ihn wißen könten. Bei den freyen Hand-
lungen des Menschen ist es auch nicht gut, sie vorhero zu wißen,
weil viele sonst nicht geschehen würden. Diese VorhersehungsKraft
gehöret also nur zum praktischen und nützlichen Gebrauch
aller Vermögen.

/Wir haben 2. Wörter die diese Voraussehung in die Zukunft
entbehrlich machen; Glück und Schicksaal. Diese sollen den Men-
schen in Ansehung der Zukunft gantz sorglos machen. Indeßen
will man gern dies Schicksaal vor«aus»<her>sehen, ob die Astrologie
nicht vielleicht wißen möchte, ob unser Schicksal im Stern

/ buche

|P_132

/im Sternbuche gezeichnet ist. Aber was hilfts, das Schicksaal
zu wißen, den man nicht entgehen kan? Indeßen ist man doch
immer darauf erpicht. Glück nennt man daß, wenn man eine
Begebenheit sich vorstellt, wie sie sich nicht nach einer Bestimmung
und Regel ereignet, sondern nach einem bloßen Zufall «sich ereig-
net» Wenn man das Glück personificirt, als wenn es ein aparter
Grund des Weltlaufs wäre: so ist da«s»ß eine Sache die man hauptsächlich
bey Metiers antrift, die vom Glück dependiren, Fischer, Jäger pp.
haben den Aberglauben, daß eine geheime Macht die {_Ereignißen der_} Dinge dirigire@n,@
und finden allenthalben unbekante Ursachen. Spieler sind
sehr abergläubisch: dann weil beym Spieler nicht alles auf ihre
Geschiklichkeit ankomt: so verfallen sie in Aberglauben von
glücklichen Tagen, fatalen Menschen p.p. Die Vorsehung ins
künftige ist aber nur gegeben, um unsere Klugheit zu gebrau-
chen, und uns der Kenntniße des künftigen, zu unserm
Vortheil zu bedienen. Darauf gründet sich die moralische
Regel, daß man nicht sorglos seyn soll, in Ansehung der Sorge
für die Zukunft. Vorsorge ist die Achtsamkeit, da ich
fürs künftige sorge, daß in meiner Gewalt ist; Sorge hin-
gegen ist der Kummer über Dinge, die nicht in unserer
Gewalt ist. Sorgenfrey ist der, der sich {_nicht_} mit unnöthigen
Kummer über Dinge p«f»lagt die nicht in seiner Gewalt
sind. Sorgenlos ist der, der keine Achtsamkeit auf daß
wendet, was allerdings in seiner Gewalt ist. Die Sorgen-
looßigkeit ist das Glück der rohesten Menschen, und sie mö-
gens wircklich besser haben als die, die auf die Zukunft Vor-
bereitungen machen, die noch ungewis ist, und sich also
das Leben plaghaft machen, weil sie künftige «L»Plaagen
in den gegenwärtigen Genuß mischen. Daher ist

/ daß.

|P_133

/daß keine Haupt_maxime. Man muß immer im Leben suchen
nichts großes zu erwarten, und weder in Ansehung des Glücks
noch Unglücks zu viel zu hoffen. An beyde gewöhnt sich der
Mensch so, daß ihm mit der Zeit das Übel gewohnt, und das
Glück unschmackhaft wird. Es ist daher ein Beruf der Natur
sich von der tödtenden Furcht für die Zukunft frey zu machen
und sich von der Leidenschaft in die Zukunft, {_zu hoffen zu befreyen_} denn die Sehnsucht
dehnt das Hertz mit vergeblichen Wünschen aus, und schwächt den
Menschen. Man kan also wohl der Furcht als der Hofnung ent-
sagen.

/Der Artzt dient dazu den patienten zum poltron zu machen
denn wilde und gemeine Leute sterben gelaßen, indem sich
ihre Lebenskräfte allmählig vermindern. Aber Personen
denen der Artzt erst Hofnung macht, und denen die Hofnung
denn umschlägt, gerathen in Kummer, weil sie sich plötzlich in
eine Denckart gewöhnen sollen: wenn der Mensch schon hoft er
werde davon kommen, und ihm hernach gesagt wird, daß er nicht
gesund werden kan, so kann er schwer Muth faßen. Indeßen
müßen wir die Vorsorge der Natur sehr bewundern, daß sie
die Täuschung verursacht hat, daß wir uns so leicht mit der
Hofnung eines entfernten Todes beruhigen, der Tod scheint
dem «a»Alten so entfernt zu seyn als dem jungen Menschen,
dadurch dieses Übel vo«n»r dem der Mensch abhorriret
erleuchtet. Dies würde nicht so seyn, wann wir den Tag
des Todes wüsten, aber nun suchen {_wir_} in unserer
Phantasie den Termin zu verläugnen.

/ ≥ Von den Zeichen

/Wir bedienen uns der Imagination und ihres Gesetzes
der association, auf dreyfache Art, durch Erinnern, Vorhersehen,
und Bezeichnen. Vom Gedächtniß und der praesagition haben

/ wir

|P_134

/wir gehandelt; wir kommen also jetzt auf das bezeichnen, indem
wir von dem characterischen Vermögen, oder vom Vermögen des
Gebrauches der Zeichen handeln. Wir sehen: unsere Imagination ver-
knüpft Vorstellungen, die sich unter einander vergesellschaften, und
indem wir sie vielfach verknüpft haben, dient die eine darzu, die
andere hervorzubringen. Dazu dienen die Zeichen, die entweder
blos Begriffe, oder das Daseyn der Dinge bezeichnen. Die Zeichen
die das Daseyn der Dinge bezeichnen, sind entweder demonstrativ,
wenn sie Zeichen der wirklichen existentz der Dinge in der gegenwär-
tigen Zeit sind. Diese gehen blos das Daseyn an. Es giebt aber
auch Zeichen, die Begriffe bezeichnen, die Zeichen sind entweder
stellvertretende Zeichen, characteres vicarii, dergleichen die
Zahlzeichen sind. Die Ziffer vertritt immer die Stelle des Begriff@s,@
so daß ich mit ihr verfahre, als wenn ich den Begriff von der
Größe hätte. Während daß ich mit den Zeichen verfahre, denck
ich mir so viel nicht, als beym bloßen Begriff, aber das resul-
tat giebt mir den gantzen Gedancken. Begleitende Zei-
chen sind unsere Wörter, die {_ich_} nicht an die Stelle des
Begriffs setzen kan. Es begleiten die Wörter die Begriffe, so daß
ich, wenn ich ein Wort vo{_n_→_r_} mir habe, auch den Begriff davon
habe. Wenn man etwas in einer unbekanten Sprache ließet,
so wird man es eher in eine bekante als fremde Sprache über-
setzen können. Mann kan ein Buch bald in einer fremden
Sprache verstehen, und sagen was es in unserer Mutter-
sprache heißt: aber wir werden nicht so leicht aus unse-
rer Muttersprache etwas in eine fremde übersetzen können@;@
denn weil das Wort an sich nichts bedeutet, sondern

/ nur

|P_135

/ein willkührlicher Schall ist, so kann er nicht mit etwas anders
verknüpft werden, als mit dem Begriff der Sache. Weil aber
wenn ich die S«pr»ache habe, ich mich nicht so leicht auf ein fremdes Wort
besinnen kan, weil mit einer Sprache 100 Wörter hätten ver-
bunden werden können: so kan ich zwar in einer Mutter Sprache
die Worte zu den Sachen leicht finden, aber nicht so leicht in einer
fremden Sprache übersetzen. Denn da soll ich von der Sache so gleich
auf ein anderes Wort kommen; daß ist schwer. Das Wort, daß ein
gewißes willkührliches Zeichen ist, ist mit dem Begriff der Sache
nicht so genau verbunden, als die Sache mit dem Worte worann
ich mich in meiner Muttersprache gewöhnt habe. Der Schall des
Worts hat mit dem Begriff nun schon Zusammenhang, und
darum kan ich in einer fremden Sprache nicht so leicht ein Wort
davon finden: Wird der Sinn blos begleitende Zeichen
und vertreten nicht die Stelle eines Begrifs, welches letz-
tere algebraische Zeichen und figuren in der Mathematik
thun. Mann bediennt sich bis weilen besondere Zeichen, die
mit der Sache gar keine Ähnlichkeit haben, z.B. wenn man
in der Mathematic das Gesetz des Falls und der Schwere der
Körper beweisen will: so bezeichnet man die Zeit mit
einer Linie, und die Geschwindigkeit des Falls durch eine
andere Linie, und den macht man den Triangel complett,
welches denn der Raum seyn soll, denn ein Körper im fallen
begreift, obgleich ein Körper mit dem Raum, denn ein Triangel
beschreibt, nicht die geringste Ähnlichkeit hat. Aber dennoch ist
er hier ein unvergleichliches Stell vertretendes Zeichen, und
die Algetra ist überhaupt darin vortreflich. Die begleitenden

/ Zeichen

|P_136

/Zeichen sind gewöhnlicher maaßen gantz willkührlich, sie sind Signa
illustrantia, indem sie ein Mittel seyn sollen, die Sachen beßer zu ver-
stehen, und müßen jederzeit mit der Sache in einiger Annalogie ste-
hen. Sie wurden ehedem Symbola genannt; dergleichen man bey den
Egyptern fand. Die wahre Ursache derselben scheint der uranfängliche
Mangel der Sprache zu seyn. Sie hatten kein Sprachzeichen, daher fehlte
es ihnen auch an abstracten Begriffen, und daher musten sie andere
Dinge, die ihnen durch entfernte Aehnlichkeit zu Begriffen verhelfen könten,
dazu brauchen z.B. so war der Gott An{_¿_→_u_}bi{_¿¿_→_s_} mit dem Hunds Kopf eine Ab-
bildung der Wachsamkeit, eine sich {_¿_→_r_}ingelnde Schlange war ein Bild des
Jahres, die Schriften der Chineser waren anfänglich bloße Symbolen, wie das
aus vielen ihren characteren erhellet. Die Sprachzeichen sind überhaupt
etwas sehr merckwürdiges, und es ist eine wichtige Frage wie wohl die erste
Buchstaben Schrifft erfunden sey? Chinesische Schrifft ist wie gesagt
eine Sachen Schrift, weil sie die Sachen immer unmittelbar bezeichnet.
Daher wird auch ihre Schrift von ihren Nachbaren gebrauchet, die nicht
ein Wort chinesisch verstehen. Aber die Chineser haben auch so viele unge-
heure Zeichen, daß das allergeringste was ein Mensch zum Handel und
Wandel braucht, 8000 Zeichen sind; und die, welche Gelehrte werden, d. i.
lesen und schreiben lernen wollen, studieren sich wegen Al«l»ter «der» Zeichen
oft gantz indocil und schwachköpfig. Daß sind rechte litterati nach der eigent-
lichsten Bedeutung des Worts. Ihre Schrifft ist aber keine Buchstaben Schrifft
sondern bestehet aus realen «Kräften» caractern. Aber der zuerst Wörter zu
schreiben erfand, war gewis ein sinnreicher Kopf. Die Beobachtung die er
zuerst gehabt haben muß, daß die gantze Sprache sich in wenigen Tönen
auflößen laße, ist gewis eine subtile Bemerkung, und wie machte er
es nun um die Töne zu bezeichnen? Eine Sprache, die nur 24 Buchstaben
hat ist in der That arm. Die Franzosen haben viel nasal Töne, die wir
nicht haben. z.E. in comment? ferner gieb es guttural Töne, und es wäre
etwas anmuthiges, alle Buchstaben, so viel man in allen Sprachen an-
trift, zu samlen, um daraus ein vollständiges Alphabet zu machen. Man
findet bey sehr vielen Völckern, daß die Buchstaben_Schrifft sehr spät
erfunden seyn muß. Der Mann, der sich z.B. das B. dachte und es sich &B& schrieb
hatte, wenn er 24 Buchstaben hatte gar nichts, wodurch er eine von der
andern der Bedeutung nach unterschied. Er mußte sich also wohl so

/ helfen

|P_137

/helfen: er dachte sich «¿¿» S Figur .. s &B&: und mahlte sich also ein Hauß, oder eine
@C@abane die bey den {_Venitiern_→_Phoeniciern_} diese Gestalt &B& hatte. @¿5/6.¿@ bedeutet ein Ochßen
Kopf, denn die {_Venitier_→_Phoenicier_} nanten bey ihren Buchstaben immer den das vornehmste
und der Rinder_Kopf war das Zeichen der obersten Gewalt. @&a&@ bedeutet
ein Auge, und wenn man die figur liegend betrachtet: @&¿&@, so ists als
sähe man die Winckel des Auges. Ihre Buchstaben bedeuteten also anfänglich
die Abbildung eines Gegenstandes, also der, der zuerst eine Sprache erfand,
half sich damit, daß er seine character von Gemählden machte, und so sind
durch ein Alphabet durch zufällige Abänderungen der Zeit mehr Alphabete
entstanden.

/Alle diese Zeichen können eingetheilt werden in natürliche und künstliche Zei-
chen. Natürliche Zeichen sind die, wozu uns unsere Natur auffordert.
Jeder Lau{_f_→_t_} der einen affect ausdrückt, jede starcke Empfindung hat ihr
besonderes Zeichen. Röthe oder Blöße bedeutet Beschämung oder Zorn;
Gestus sind natürliche Zeichen; sie sind wohl unserer Willkühr unterwor-
fen, aber die Natur hat doch ausdrücklich Gestus bestimt, die mit einer
Empfindung zusammenhangen. Durch Gebehrden können sich fremde
Völcker verständlich machen, und so auch durch den Laut ihrer Töne, wie
wohl in einem unvollkommenen Grade, als durch Worte.

/Die ZeitZeichen, die das Daseyn der Dinge in der Zeit bezeichnen, sind
demonstrativ, rememorativ, und prognostisch. Ein demonstratives Zeichen
ist dem Artz der Pulßschlag; er ist ihm ein Zeichen der Gegenwart der
Sache. Er urtheilt nach demselben, ob das Fieber dasey oder nicht. So
urtheilt man aus dem Rauche auf die Gegenwart des Feuers. So beur-
theilt man aus der Kleidung, Rang und Standt, das Verdienst eines Men-
schen

/Rememorative Zeichen sind solche, die das Daseyn einer Sache in der vergan-
genen Zeit bezeichnen, dergleichen sind alle Aufschriften und inscriptionen.
Überhaupt {_haben_} alle Menschen gern ihr Andencken auf die künftige Zeit fort-
pflantzen wollen. Aber dergleichen Denckmähler verliehren mit der Zeit
ihre Bedeutung, weil man die Sprachen, worin sie abgefaßt sind, oft
nicht kennt, oder den Mann, von dem sie handeln. Aber auch die Natur
hat uns rememorative Zeichen hinterlaßen. Die Er«t»dschichten halten Zeichen
des ehmaligen Zustandes der Erde in sich; wir finden Muschelschichten

/ in

|P_138

/in großen KalckGebürgen; im HartzGebirge Gerippe vom Rinoceus
und Hippopotamus, daß zeigt vom alten Zustande der Welt; denn
diese Thiere müßen sich, dort ehemals aufgehalten haben, oder hingeschwem@mt@
seyn. Das studium des Alterthums oder der Antiquen, und Archaeologie
gründet sich blos darauf. Dies studium ist erst seit einem halben seculo
in Aufnahme gekommen. Es gehet darauf hinaus, aus der Kunst und
sculpturen der Alten, und in ihren Müntzen die Geschichte und Geschicklich-
keit der Alten, und selbst ihre Religion zu lernen. Es ist dies eine Art
von neuer Unterweisung, die, seit dem Winckelmann in Rom war,
in Schwung gekommen ist. Man untersucht darin unter andern, «d»waß
die Gämmen der Alten wohl haben bedeuten sollen. Menschen wollen
immer gern ihr Andencken auf die zukünftige Zeit erhalten; dazu «dien»
dienen so gar die Grabhügel. In Deutschland giebt es in Wäldern
Steinhaufen, welches Oerter, wo man Menschen ermordet hat,
und wo ein jeder immer einen Stein hinzuwirft, welches sich von der Zeit
des Feden- und FaustRechts herschreiben muß.

/prognostische Zeichen sind viele Natur Dinge aber wir suchen auch
viele da auf, wo uns die Natur keine hat geben wollen. So wollen
wir z.B. aus den gegenwärtigen aspecten des Mondes die künfti-
ge Witterung errathen, weil es dem Seefahrer, dem Calendermaher
nützlich ist. Aber doch hats bis dato Keinem in diesem Stück gelingen
wollen; denn wir haben kein ander Gesetz etwas zu schließen,
als die Veränderung der Luft; aber dabey concurriren noch so
viele «all» andere Ursachen, daß wir auf alle unmöglich Rücksicht
nehmen können. Daß sich die Witterung nicht nach dem Monde
richte, ist ausgemacht. Die Ärtzte bedürfen vieler prognostischen
Zeichen, und deshalb giebts eine aparte Wißenschafft davon.
Daß Facies Hypocratis, ein Gesicht, worin Zeichen des Todes
sind, bey dem der patient sagt, daß er sich sehr wohl befinde,
ist ein Zeichen, daß den nahen Todt zuvor anzeigt.

/Es giebt Zeichen, die man Symbola nennt; diese sollen Eigenschaf- 

/ ten.

|P_139

/Eigenschaften der Dinge bedeuten. Mit diesen Symbolen ist in der
Welt immer viel Unfug getrieben worden, und die Menschen haben
sich viel Verwirrung damit zugezogen. Die Vielgötterey ist höchst
wahrscheinlicher Weiße ein Mißverständniß der Symbolen. Denn
manche Symbolen sind so unbedeutend, daß es nicht zu «bedeu» begrei-
fen ist, wie sie von so wichtigen Dingen haben Abbildungen seyn können.
z. B. die Magna Mater Deum war ein schwartzer Stein. Eben so muß
es mit dem schwartzen Stein der Araber in der {_Caba_→_Ciabe_} gekommen seyn; der
menschliche Verstand verwirrt sich leicht, und macht das Symbolum zur
Sache. Eine Sache, die anfänglich zum Symbolo diente, ist hernach
für die Sache selbst angesehen worden. Heilig ist doch am Ende nicht
anders, als der gereinigte Wille, alles andere ist im Grunde nur ein
Symbol, daß dazu dienen soll, den Willen des Menschen zu heiligen.
In der Vielgötterey der Egytaer kommen so viel Ungereimtheiten
vor, daß man dieses mit dem Verstande der Nation gar nicht «tra»
@tr@äumen kan. z. B. die Hochhaltung der Zwiebel. Es scheint aber,
daß anfänglich alle Thiere, die im Tempel aller Götter in be-
sondern Nieschen aufbehalten waren, nichts anders als Wapen
gewesen sind. So wie es dergleichen noch jetzt bey den Indianern
giebt, da einige Füchße, andere Wölfe, Bieber, u.s.w. heißen,
welches Wappen sind, die jede Nation in ihre Bogen und Bäu-
me einschneidet«,». So ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Crocodill
anfänglich das Wapen einer Stadt gewesen, die Crocodilopolis
hieß, die entfernt vom Nill lag, und tiefe Canäle nöthig
hatte, um das Waßer auf die Stadt zu leiten. Daher führte
sie einen Crocodill im Wappen, ohne ein so garstiges Thier zu
verehren. Wir finden, daß unter den ächtesten Wilden ein
Gebrauch der Symbolen ist, welches nichts anders als Abbil-
dungen des höchsten Wesens seyn sollen. Das Manita der Wilden

/ ist.

|P_140

/ist eine abgezogene Haut von einem Wiesel, oder von einem abge-
zogenen Vogel, welches bey ihnen eine große Heiligkeit hat.
Mann will damit sagen, es sey dies ein Geist, der den Einfluß
der Gottheit andeute, und daß dient ihnen denn zum Tolism{_a_}en.
und Amulet. Diese beyde Stücke sind abergläubische Zeichen
vieler Völcker, die einen unmittelbaaren Einfluß der Gottheit
auf die Menschen beweisen sollen. Da hat denn einer jeder sich
besondere Zeichen umgehangen, die ihnen zum Mittel dienen
sollen, den Einfluß der Gottheit an sich zu ziehen. Das amulet
ist gemeiniglich ein Mittel gegen Gift und Kranckheiten. Der
Talismen ist ein Mittel zum Glück, die Talismane der Türcken
sind Verse aus dem Coran, wo man sich dergleichen Verse kauft,
und sie in den Turban steckt. Wenn wir die Gebräuche der
Völcker durchgehn; so finden wir, daß es anfänglich gute
Symbolen waren, wovon «aber» der Mensch aber die sittlich
gutten Begriffe fahren ließ, und auf Hirngespenster fiel.
Es giebt Mittel etwas blos durch die Stelle zu bezeichnen, daß
heißt Memoria localis. Dies Mittel ist vorzüglich in Büchern
gut zu gebrauchen. Aber den Synchronissmus in der Geschichte zu
befördern, hat man bis dato nicht Mittel finden können, um
jedem Dinge seine Stelle in der Zeit zu bezeichnen. Aber ein
solcher Character Synchronisticus, wornach man eine Begebenheit
in der Zeit bestimmen könte, wäre sehr zu wünschen. Man braucht
darzu gewiße Hauptepochen der Dinge, aber da die Natur den Welt-
lauf nicht nach den Zahlen eingerichtet hat: so kan da nichts regel-
mäßiges herauskommen. Es ist aber sonderbar, daß wenn man
die Zahl 10mahl 7. nimt: so kommt <man> «die» der Geschichte des alten
Israels auf gewiße Haupt_abschnitte, und es ist sonder-
bahr, wie die Begebenheiten so mit der Zeit zusammenstimmen

/ die

|P_141

/Memoria localis geht in Ansehung der Geographie an, aber die
Synchronistische Bestimmung, bedarf noch andere Zeichen.

/Daß, was zuerst ein Zeichen einer Sache war, wird zuletzt für die
Sache selbst genommen: die {_Beziehung_→_Bezeichnung_} hängt bey Menschen so mit
der Sache zusammen, daß sie die Sachen von den Zeichen nicht mehr
trennen können. Daß wir Dutzende und Schocke haben sind Zahl
Abschnitte die das Zählen erleichtern; die Zahl 144. nennt der En-
gländer en gros daß ist 12. Dutzend. Dutzend ist die {_Beziehung_→_Bezeichnung_}
einer Menge die dadurch leichter unter eine Einheit gebracht
werden kan. Dieser Begriff von Dutzend aber kan so confundiren,
daß eine Sache, die nicht ein Dutzend ist, uns weniger werth zu
haben scheint. Wer z.B. 11 paar Taßen kauft, wird immer glauben,
ihm fehle etwas, da er doch für 11 Gäste nicht mehr gebraucht. Es
interessirt einen gleich mehr, wenn man eine Sache nach Dutzenden
zählen kan, da dies doch ein pure Gewohnheit, die Menge nach einem
MaaßStabe zu schätzen«,». Daß geht so weit, daß, wenn man z.B.
einem Artzt 11. %.Ducaten schickt er immer glaubt, daß der Bediente
einen bey sich gesteckt habe. Es heißt in China, daß der chine-
sische Keyser 9999 Schiffe habe, und da frägt immer jeder gleich,
warum hat er nicht eins mehr? Wir können uns gar nicht befrie-
digen, daß das eine noch fehlt, da es doch nicht nöthig ist, da er
nicht mehr braucht.

/Das menschliche Gemüth hengt einer Gewohnheit nach, so, daß das,
was anfänglich ein willkührliches Zeichen war, zuletzt mit der
Sache so verwebt wird, daß wir glauben, die Sache «oh» könne
ohne daß nicht vollständig seyn. Vor Alters gab man nicht
«gleich» leicht zu daß 13. Gäste am Tische waren, weil, wie man
sagte, einer von den Gästen in dem Jahr sterben müßte;

/ wie wohl

|P_142

/wie wohl daß ein sehr läppischer Einfall war. Es ist kein Grund
davon, warum die Zahl 12. allenthalben so gebraucht werde. Viel-
leicht komts von den 12. himlischen Zeichen her. Die alten Goten hat-
ten immer die Zahl 12. sie hatten z.B. 12. Richter. Bey der Stoneheng¿
in England giebts 12. große Steine, die diese 12 Richter bedeutet
haben mögen. Die vor heilig gehaltene Zahl 7. ist durch ihre Art
von Erudition unter den Syrischen Volckern eingeführt worden,
9 ist «¿¿»Indostan die heilige Zahl; und die Nordischen Volcker hatten
ehemals die Zahl 9. allerwärts. Denn sie opferten z.B. immer
9 Thiere, in 7. können unter Zahlen die Tage des Monahts am
besten getheilt werden. 9. hat ihren Nutzen zu calculationen
von gewißen Zeit epochen und Cykles zu bestimmen, wenn ihre
aspecten wieder kommen würden. 7. mahl 9. ist 63. macht das
berühmteste Stuffen Jahr, worüber Scaliger ein dickes Buch
geschrieben hat. Es ist wunderbahr, daß unter den Califen
bey den Mahometanern die meisten im 63sten Jahre gestorben
sind.

/Jede Zahl, die man voll nimt, dient dazu, die Summe beßer zu
behalten. Mancher Mensch setzt Ehre und Redlichkeit aufs Spiel,
um nur seine Zahl voll zu machen; er wagt das äußerste, um
nur die volle Zahl zu haben. Die Ursache davon liegt in dem
natürlichen Gesetz der assotiation der Vorstellungen. Die Ge-
wohnheit, solchen Mitteln des Behaltens nachzuhengen, macht,
daß es sich nicht mehr <vom> object trennen läßt, und daß wir
glauben, in der Sache selbst liege ein Grund, da doch nur in der
Gemächlichkeit des Gedächtnißes der Grund liegt, sich einer solchen
Zahl zu bedienen. Unter denen prognostischen Zeichen, komt
auch der Traum vor, der zu allen Zeiten von den Menschen für et-
was wichtiges gehalten ist; und ehedem hats auch aparte Traum
deuter gegeben. Das seltsamste bey den Träumen ist, daß der
Mensch, wenn er gar keinen vernünftigen Gedancken faßen kan
für Eingebungen offen zu seyn glaubt, etwas von den künftigen

/ Zeiten

|P_143

/Zeiten auf außerordentliche Weiße zu entdecken. Aber die Träume
sollen nicht die wahre Beschaffenheit der Sache; sondern alles durch Sym-
bola vorstellen. Ein Hund soll Zanck bedeuten; aber man macht aus
den symbolischen Vorstellungen offenbar, was man will. Die NordAme-
rikanischen Völcker machen aus den Träumen so viel, daß ein Krieg ange-
fangen wird, weil einem unter ihnen von einer andern Nation geträumt
hat. Sie haben ordentliche Traum_Feste, so, daß die Träume bey ihnen
oft von gefährlichen Folgen sind. Denn wenn einem Menschen geträumt
hat, er habe einen andern getödtet; so thut«s» ers wircklich. Wenn einem
geträumt, er habe die BieberHaut eines andern: so nimt er sie ihm
wircklich. Aber der andere pflegt denn gemeiniglich zu sagen, daß ihm
eben daß geträumt habe, so, daß jetzt bey ihnen die Anhänglichkeit
an die Träume aufzuhören anfängt.

/ ≥ Vom Verstande, Urtheilskraft, und Vernunft überhaupt.

/Wir sind jetzt das Feld der Sinnlichkeit durchlaufen, welches von den
Sinnen selbst anfieng, und alle Handlungen der imagination berührte:
so sind wir das Feld der Anschauungen durchgegangen. Das Vermö-
gen Dinge anzuschauen, ist die Sinnlichkeit; wir können kein Ding anschau-
lich machen, als daß wirs den Sinnen darstellen, oder es uns durch Bil-
der der imagination vorstellen. Aber wir haben noch ein ander Vermögen,
das Vermögen der Begriffe, welches Verstand heißt. Von der Sinn-
lichkeit zum Verstande ist ein wichtiger Schritt; bey uns laufen freilich
die Handlungen in einander, so, daß der Verstand und die imagina-
tion bey einem Gedancken Antheil haben. Aber, ob wir gleich gewohnt
sind, beyde Kräfte vereinigt auszuüben: so laufen beyde doch so
nahe zusammen, daß uns die Thiere in Ansehung der Sinnlichkeit
beynahe übertreffen. Bey der Anschauung ist die Vorstellung eines
Dinges immer einzeln; Anschauung kan also auch ein Thier haben, aber
allgemeiner Begriffe sind die Thiere nicht fähig, welches das Ver-
mögen zu dencken ausmacht. Die Thiere haben so gar das Vermögen
der Praesagition; aber dennoch sagt man {_nicht_→_mit_} recht, daß die
Thiere keiner Begriffe, sondern nur einzelner Anschaungen fähig

/ sind

|P_144

/sind: so fehlt ihnen das vornehmste: daß, was man bey den Thieren
analogon rationis nennet, ist die Facultas praesagiendi; und das
künftige durch eine Sagacitaet zu «at» anticipiren, wo man aus einem
Umstande in der Gegenwart das künftige entdeckt, welches ein Vermö-
gen zu Schlüßen anzeigt. Denn gemeiniglich {_können_→_kommen_} wir aufs künftige
durch eine Art von Schlüßen, weshalb wir den Thieren ein analogon
des Verstandes beymeßen. Aber ihr Vermögen der praesagition
ist blos sinnlich; das Gesetz der Phantasie ist weit regelmäßiger
bey den Thieren, als bey uns, wo es wirklich verderbt wird; aber
bey den Thieren gehts immer am Faden der Natur fort, und
stellt ihnen alles so vor, wie es nach dem vorigen Lauf mit der
Natur zusammenhieng. Sie schließen also nicht; sondern in ihrer
imagination folgen{_de_→_ die_} Bilder {_so_} nacheinander, wie das vorige mahl@.@
Der Schritt vom Thier zum Menschen, von der Sinnlichkeit zum Verstan-
de, ist also unentlich, und es findet hier gar keine Annährung statt.
Ob wir gleich in Ansehung des Körper Baues mit den Thieren in Ver-
wandtschafft stehen, indem das Skelet eines Menschen von dem
eines Affen nicht gar sehr unterschieden ist: so ist die Kluft zwi-
schen beyden doch unentlich. Der Verstand ist das Vermögen der
Regeln in abstracto, und die Sprache dient dazu, Begriffe im
Allgemeinen zu bezeichnen, daß viele Dinge gemein haben. «Wenn»

/Wenn wir fragen, was ist das Fundament des Verstandes: so sehen,
{_wir._} daß, das, was den dumsten Menschen vor dem feinsten Thiere
vorzüglich macht, die apperception oder das Bewustseyn seiner
selbst ist. Wenn ein Thier könte Ich sagen: so wäre es ein Camrad
daß {_ich_} giebt einem jeden den Vorzug, sich zum Mittelpunkt der
Welt zu machen. Daher auch bey den Thieren vieles weg fällt, z.B.
daß sie weder des Glücks noch des Elends fähig sind; denn dazu
ist eine Reflexion über den Zustand nöthig; da aber die Thiere über
ihren schlechten Zustand keine Reflexion machen können: so daur@et@

/ ihr.

|P_145

/ihr Schmertz immer einzeln fort, ohne daß sie das gantze deßel-
ben fühlen, daß man gemeiniglich Elend nennt. Wenn man Thiere im
Verhältniß mit Menschen setzt wegen der ähnlichen Handlungen, die die
Menschen mit Ihnen zugleich verrichten, wenn man. z.B. treue Hunde
bis in den Todt futtert, so thut man sehr wohl daran, aber nicht um des
Thieres willen, denn daß hat keinen Begriff von einem langen «vom»und kurtzen Leben;
sondern um in«¿» uns selbst die sanften Empfindungen zu cultiviren %und zu erhalten.
Denn da das Thier mit dem Menschen große Analogie hat, {_so muß,_} der{_,_} die Empfindungen
bey Thieren unterdrückt, sich mit der Zeit hartherzig gegen Menschen machen.
Man muß aber diese Zartheit der menschlichen Natur nicht durch einen callus
@v@erhärten laßen, weil das menschliche Geschlecht die Würckung davon empfin-
den würde. Durch die Jagd, und durch das SchlächterHandwerck haben manche
es so weit gebracht, daß sie die Menschheit abgelegt haben. Es ist aber bey
@uns@ eine «immagin» illusion der imagination, wenn wir bey Thieren eben
den Gedancken von Undanckbarkeit vermuthen als bey Menschen. Man
hat in Griechenland eine Glocke, woran der ziehen muste, dem Undanck wie-
derfahren war. Nun geschahe es einmahl, daß man sie lauten hörte.
Als man hinzu kam, sahe man einen alten Esel der daran «zeh» zerrte, als
man sich erkundigte, wem er gehöre; so fand man, daß er einem Athe-
nienser gehörte, der ihn wegen seines Alters entlaßen hätte. Nun wurde
dieser Bürger aber verpflichtet, den Esel auf zeitlebens zu unterhalten,
weil der Esel auf eine so sonderbare Art den Undanck seines Herrn
entdeckte. aber eigentlich zog der Esel an der Glocke, um den Riehmen
derselben zu nagen. Es sind solche Versorgungen der Thiere eine sehr
gute Sache; denn sie unterhalten bey uns sympatetische Empfindungen.
Smith sagt in seinen moralischen Empfindungen: Ein Mensch der das Bret
womit er sich im Schifbruch das Leben rettete, so gleich zerhacken und
verbrennen kan, muß ein schlechter Mensch seyn. Denn durch ein
entgegengesetztes Betragen cultivirt der Mensch seine tugend-
hafte Gesinnungen gegen Menschen. Im mosaischen Gesetz fin-
det man viel Dinge, die darauf einschlagen, z.B. daß man
wenn man die Jungen aus einem Nest nimt, die Alten soll
fliegen laßen. Ob wir gleich gegen die Thiere keine Pflichten

/ haben

|P_146

/haben: so haben wir doch die Pflicht, die Gefühle in uns ungekränckt zu er-
halten.

/Es ist gewöhnlich daß man die Sinnlichkeit, daß untere ErkenntnißVermö-
gen, und den Verstand das obere Erkenntniß-Vermögen nent. So wie das was
regieret, das obere genannt {_wird_}, weil es erhabener und vornehmer ist: so
bedient sich auch der Verstand der Sinnlichkeit, unterwirft sie seinem
Regeln, und bedient sich ihrer zum Dencken. Die Sinne sind entbehrlicher
als der Verstand, aber auch mit purem Verstande können wir ohne
alle Anschauung keinen Schritt weiter thun; denn an sich selbst hat
der Verstand kein Vermögen zu dencken, sondern nur die Refle-
xion, so wie wir auch sehen daß Thiere ohne Verstand recht gut
zurechte kommen. Der Mensch wird nicht durch Instinct wie die
Thiere gelenckt, sondern ist seinem eigenen Vermögen zu dencken
gantz überlaßen, folglich ist der Verstand das vorzüglichste Vermö-
gen. Nichts gefällt uns, wenn es nicht am Ende eine Unterhaltung
vor den Verstand ist, so daß der Verstand eine Regel herausbringt.
Selbst die Gegenstände der Sinne, die blos dem Auge gefallen,
suchen wir doch immer unter die Gesetze des Verstandes zu brin-
gen.

/Wir nehmen zur Obern Erkentnißkraft und Vermögen, Verstandt
Urtheilskraft und Vernunft. Diese 3. zeigen sich in den 3. Sätzen
eines Vernunftschlußes. Verstand ist das Vermögen der Regel
major propositi«¿»o; Urtheilskraft ist das Vermögen der subsumtion
unter der Regel minor propositi«¿»o Vernunft ist ein Schluß wo ich
daß auf den gegebenen Fall applicire, was die Regel im allgemei-
nen sagt. Diese 3. Vermögen sind sehr unterschieden. Einem
Mann den ich ein Geschäfte auftrage, kann ich die Regel aufge-
ben, weil er sonst nicht waiß welcher Regel er folgen soll. Aber
er muß auch Urtheilskraft haben, um zu wißen ob dies der Fall
der Regel sey oder nicht. Wenn der Richter kein judicium hat:
so sind die Gesetze umsonst gegeben. Diese Urtheilskraft hat daß
gantz besondere, daß sie sich nicht {_lencken_→_lernen_} läßt. Mann kan seinen
Verstand wohl cultiviren, indem man Regeln in abstracto erkennt
aber wenn man Gebrauch davon machen soll so heißts aqua haere@t.@

/ Wenn

|P_147

/Wenn man auf Universitaet das ausübt, was man praxis nennt,
indem man sich frühzeitig angewöhnt einen Gebrauch von der Regel zu
machen: so ist daß das eintzige, was man in Ansehung der Urtheilskraft
thun kan. Wir können den Menschen nicht durch Vorschrifften informiren,
wie er seine Urtheilskraft gebrauchen soll; denn da werden dies wieder
neue Regeln, ohne daß gezeigt werden kan, wie wir von den Regeln Ge-
brauch machen sollen: die Urtheilskraft ist oft rarer als der Verstand. Aber
d{_er_→_ie_} Cultu{_s_→_r_} der Urtheilskraft ist etwas so wichtiges, daß es nicht genung
ist, sich mit Regeln zu versorgen. Die Schule kan den Mangel des Mutter-
witzes ersetzen, wo der Fehler im Verstande steckt. Aber den Mangel
der Urtheilskraft kan nichts ersetzen; sie kann nicht gelernt werden,
denn sie wird durch die Natur gegeben.

/Wir cultiviren unsern Verstand durch Kentniße, indem wir un-
sere Verstandes Begriffe erweitern. Im Leben lernen wir Gebrauch
von diesen Kentnißen machen. D.i. wir cultiviren die Urtheilskraft,
und weiter hin bey reifern Jahren, wenn wir den mannigfaltigen Ge-
brauch unserer Kentniße übersehen, cultiviren wir unsere Vernunft,
«Wer einen Plan entwirft braucht Vernunft». Um was zu lernen
braucht man Verstand, um es anzuwenden Urtheilskraft, und um
selbst zu dencken Vernunft. Wer einen Plan entwirft, braucht Ver-
nunft, wer ihn ausführt Urtheilskraft, und wer ihn faßt Verstand,
Zum Verstande des Menschen gehört Geschicklichkeit, d.i. wißen
und können. Zur Urtheilskraft gehört Klugheit. D.i. die Art seine
Geschicklichkeit wohl anzulegen. Denn ein Mensch kan viel Geschick-
lichkeit haben, weiß sie aber nicht an den Mann zu bringen, weil ihm
Klugheit fehlt. Weisheit ist die Fähigkeit über die EndAbsicht aller
seiner Geschicklichkeiten urtheilen zu können. Dazu gelangen aber
die Menschen selten, daß sie, wenn sie alle ihre Absichten klüglich aus-
geführt haben, einsehen, ob sie dadurch zu ihrem {_wahren_} Zweck etwas beitragen.
Zu einer solchen Reflexion kommen Menschen selten; denn sie ist
ordinair von der Art, daß sie viel vom vermeint{_@en@_→_lichen_} Interesse des
Menschen wegschaft, und bestehet also mehr im Entbehren, als Erwerben.

/ Also

|P_148

/Also Verstand gehört zur Geschicklichkeit, Urtheilskraft zur Klugheit
und Vernunft zur Weisheit. «¿»Lernen, das gelernte brauchen, und selbst
dencken macht den Unterscheid, zwischen Verstand, Urtheilskrafft und
Vernunft aus. Zur Vernunft wird Selbstdencken erfordert. Wer
die Gedancken eines andern copirt, zeigt Verstand aber keine Vernunft.
So kan man ohne Vernunft philosophie lernen; denn man braucht
nur Verstand {_umb_} eines andern Systhem auswendig zu lernen; aber
ein solches Buch selbst beurtheilen zu können, dazu gehöret Ver-
nunft. Verschiedene werden gantz irre geleitet, wenn sie glauben
durch instruction Philosophie zu lernen. Denn diese bestehet nicht
in den mannigfaltigen, daß man lernt; sie kan daher nicht ge-
lernt werden, sondern man muß philosophiren lernen. Denn
wo findet man eine Philosophie? Es finden sich viele solche Bücher,
aber es ist streitig, ob irgend eine Philosophie sey. Daher hat man
kein ander Instrument Philosoph zu werden, als die Methode
zu philosophiren. Einer mag also die Cortesianische oder Wolfische
Philosophie gelernet haben: so ist er darum kein Philosoph,
denn er hat nicht selbst dencken können, um die producte eines
fremden Verstandes zu beurtheilen. Folglich ist der Sitz der Phi-
losophie bey manchen nicht in der Vernunft, sondern in Ver-
stande, denn man hat einmahl etwas auswendig gelernet, ohne
den Werth deßelben zu untersuchen. Polyhistores, Philologen
haben alles, und auch Philosophie gelernet, aber über den Werth
deßen, was sie gelernt haben, können sie kein Urtheil fällen. Sie
haben Gedancken gelernet, ohne selbst dencken zu können. Die-
ser Unterschied ist so wesentlich, daß die Jugend durch der-
gleichen verkehrte Anleitung verderbt werden kan. Denn wenn
man einen Philosophie mit großer Mühe gelernet hat, und dann
an einen andern Ort komt wo diese nicht gilt; so weiß man
nicht; was man für eine Richtschnur hat.

/Vernunft i{_n_→_m_} theoretischen Gebrauch beruhet auf principien
im pracktischen Gebrauch auf Maximen. Mann kann bisweilen

/ irren

|P_149

/irren, wenn man aber nur nach guten principien verfährt
um Wahrheit zu suchen: so schadets nicht, sie auf einmahl verfehlt
zu haben. Denn wenn mein principium nur gut ist: so werde ich
den Irrthum wohl gewahr werden; aber wenn das principium falsch
ist: so ist der Schade wesentlich, und daß, was es beweißt, trift
nur durch einen Zufall ein. Eben so kommts im pracktischen nicht
darauf an, daß man eine gute Handlung einmahl ausübt, son-
dern auf Maximen. Der Mensch ist im pracktischen so viel
werth, als er gute maximen hat: denn der böse Mensch thut
wohl auch gutes, aber ohne maximen. Man kan viel vernünf-
teln über einerley Dinge. z. B. Ahndung, Sympathie, Gespenster p.
und auf scheinbare Art dergleichen Dinge verwerfen, oder bestä-
tigen. Aber wenn ich daß auch bey Seite setze und mir vorstelle:
die Möglichkeit der Gespenster kan ich durch die Vernunft nicht dar-
thun, ich weiß aber, daß ich nichts annehmen muß, wovon wir we-
der ein Beyspiel in der Erfahrung, noch die Vernunft die Möglich-
keit lehrt: ich kan also die Gespenster nicht annehmen; denn
sonst werde ich <in> meinen Urtheilen keinen sichern Leitfaden haben.
Es giebt dergleichen Dinge viel. z.B. die Einbildungskraft schwan-
gerer Weiber, wo man wunderbare Aehnlichkeit findet, die
aber nur immer hinter her erzählet werden. Denn wenn ein-
mahl ein solcher Fall trift, so besinnt sich die Mutter auf einen
Zufall in den 9. Monathen ihrer Schwangerschafft, der damit
Analogie hat, woran es denn nicht fehlen wird. Es mag nun
davon vorgegeben werden was da will, so folgt doch offenbahr,
daß, wenn man einräumt daß die imagination schöpferisch sey,
nicht nur in Ansehung der Begriffe, sondern sogar ihre Gegenstände
hervorbringen könne, daß, wenn der Mutter eine Erdbeere
aufgefallen, oder sie von einer Kohle afficirt wird, und sie
sich an die Stelle gefaßt hat, bey dem Kinde daher die Feuer
und Muttermahle entstehen. Wenn man einräumt daß

/ die

|P_150

/die imagination daß hervorbringen könne: so müste das menschliche Ge-
schlecht schon längst von seinem original abgewichen, und gantz metha-
morphosirt seyn, und doch gehen die Zeigungen immer nach einem
Gesetze fort, und in der gantzen Natur, ist nichts unwandelbarer als
das Uhrbild des Menschen.

/Viele Leute zeigen viel Vernunft im detail und nicht im generalen
es fehlt ihnen an rechten principien, daher können sie alles er-
klären, was ihnen mit einem Schein vorgebracht wird; und
solchen Dingen die ihre Vernunft umkehren können, gehen sie nach,
suchen sie mit vielen Fleiß möglich zu machen, so, daß sie in
einzelnen Fallen viele Gaben zu vernünfteln zeigen, aber die
rechte Vernunft die nach principien gebraucht wird, haben
sie nicht. Es giebt also eine Vernunft, die Gesetzgebend,
legislatoria heißet, und eine andere die anwe«s»ndend, admi-
nistrans ist. Menschen haben Vernunft: aber es komt darauf
{_an,_} wie sie sich derselben bedienen. Es wird oft von jungen Leuten
gesagt, der Mensch hat keine Vernunft, wenn sie ihre Güter
verschwenderisch durchbringen. Aber er hat so viel Vernunft
wie ihr wenns aufs vernunfteln ankommt, aber in Ansehung
deßen, daß er sein gantzes Verfahren, nach seinen Zwecken über-
legen soll, ist er zu flüchtig. Wir wiederstreiten uns oft in
Beurtheilung anderer; der eine sagt der Mensch hat viel Ver-
nunft. D.i. er ist scharfsinnig um worüber nachzudencken.
Ein anderer sagt der Mensch zeigt keine Vernunft, nemlich
wenn er sich der Geschicklichkeit bedienen soll. Wir brauchen
also eine Vernunft, die auf der Anwendung beruht. Diese
aber bekommen wir gemeiniglich erst, wenn wir alt wer-
den, wenn schon viel vom Leben verdorben ist, und die Leb-
haftigkeit oder das Genie, durch das wir die Geburte{_r_→_n_} der
Vernunft wohl führen können, abge{_winnen_→_nommen_}, und die ge-
läuterte Einsicht gewachsen ist, denn haben die Leidenschaf-
ten nicht mehr die Gewalt sich gegen die {_Menschen_→_Vernunft_} zu
empören, diese Gesetzgebung der Vernunft ist etwas we-
sentliches, das Hauptgeschäft, und die gantze Würde der Vernunft.

/ Durch

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/Durch den Verstandt erwirbt das menschliche Geschlecht sich
Kenntniße, die Urtheilskraft bestimt die Anwendung derselben, und
durch die Vernunft erweitern wir unsere Begriffe. Man sagt
von manchen Menschen er ist bornirt. D.i eingeschränkt. Der bornir-
te Begriff steht dem erweiterten Begriff entgegen. Durch Wißen-
schafften können wir zwar unsere Begriffe vermehren, aber wir
werden sie nicht dadurch erweitern. Die Erweiterung des Begriffs
komt auf principien an, wornach wir alle unsere Erkentniß brau-
@c@hen. Ein Mensch ist bornirt, wenn er an dem, was er gelernt
hat, fest hängt, und sich nicht davon los machen kan, also das erlern-
te nicht einer höhern Prüfung unterwerfen kan. Der erweiterte
Begriff komt nicht vom lernen her, sondern beruht auf diesem
talent der Vernunft, über das gelernte urtheilen zu können.
Also der erweiterte Begriff muß immer aus dem Menschen
selbst genommen seyn, ohne, daß man seine Erkenntniß nach
einem erweiterten Begriff bildet, kan man die Schwächen dersel-
ben nicht erkennen; aber das principium um von einer Sache anders
oder gar das Gegentheil zu dencken, kan man nicht lernen, und
wer das vermag, zeigt einen erweiterten Begriff. Man kann
mit einigen Menschen gar nichts anfangen, weil sie sich zu einge-
schränckte Begriffe von dem machen, was sie gelernt haben.
Sie nehmen keine idee an, die nicht in ihre eingesogenen Begriffe
paßt, und konnen sie nicht faßen. Die gröste Gelegenheit zur Erwei-
terung des Begriffs ist eine Art von Scepsis, alles angenommene
zu schütteln und zu ritteln, und darüber Zweifel zu erregen,
damit man aus höhern principien als aus der Schulweißheit ur-
theilen kan. Man sagt: der Mensch hat einen erweiterten Begriff,
wenn er in Ansehung der Gegenstände nicht in einem zu engen
horizont eingeschloßen ist, dazu dient Geographie %und Historie

/ Daß.

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/Daß man nicht glaubt, der Ort, wo man «¿»urtheilt, sey ein abgenson-
derter Planet, sondern man muß wißen, wie auch andere urtheilen.
Auf diese Art giebt die Kenntniß von der Verfaßung der gantzen
Welt Anlaß zur Erweiterung der Begriffe, wenn der Mensch
nur irgends Talent dazu hat. Ein Mensch kan bis an den Halß
gelehrt seyn, und sehr viel Schulkentniß haben, und er ist doch
bornirt. In Schulen kan man sehr viel verderben, und den Menschen
bornirt machen, indem man ihn immer auf die Autoritaet ver-
weißt, und nicht selbst urtheilen läßt. Man erweitert seine Be-
griffe, wenn man ihm erlaubt, selbst zu urtheilen.

/Mann erweitert seine Gesinnungen, wenn {_man_} auch an das Weltbeste
denckt. Der Patriotismus ist nur ein enger Begriff, und kein er-
weiterter; daher haben einige, und vorzüglich Schweitzer mit Un-
recht dagegen declamirt, daß man die cosmopolitische Gesinnung
annehmen, und immer auf das Weltbeste, und nicht so sehr auf
das beste des Landes, worinnen man lebt sehen solle; und haben pa-
triotisme, wenn er auch mit dem Untergange anderer Menschen und
Staaten verbunden wäre sehr hoch gepriesen. Aber der Antheil, dem
der Mensch am großen Weltbesten nimmt, ist seinem eigenen und
seines Landes Besten vorzuziehen. Denn durch das allgemeine Welt
beste, wird durch das privat_Beste jedes Staats am sichersten be-
stimt. Religion nach erweiterten Begriffen ist die beste; und
alle Religions Feindtschaften kommen von den bornirten Begriffen
her, daß man nicht einsieht, daß, das, was Satzungen eines Landes
sind, nicht für die gantze Welt gelten kan. Dazu kommt noch das en-
ge Hertz, wenn {_man_} nicht am Wohl aller Antheil nimt. Man findet Men-
schen, die überaus große subtilheit beweisen, und über Gegenstände
mit großer Scharfsinnigkeit der Vernunft urtheilen; aber sie
können dehmohnerachtet ihre Begriffe nicht erweitern %.und einsehn, wie
dieser Begriff mit dem gantzen Systhem ihrer Erkenntniß zusammen-
hängt. Wir werden gewis nicht recht Geographie lernen, wenn wir

/ von

|P_153

/von den Städten anfangen wollten; sondern wir fangen vom gantzen {_an_}thei-
len es in Land %.und Meer, dan theilen wir wieder die größern Theile, bis wir
endlich auf die Städte kommen. So handelt auch der Mensch, der nach erweiterten Be-
griffen verfährt. Er macht sich erst ein Systhem der Erkentniß, und den sieht
er immer, wie etwas mit den übrigen Erkentnißen zusammenhängt, und was es
dazu beytrage. Der Zusammenhang solcher Erkentniße komt immer daher, daß
sie sich unser denckendes subject als ein einfaches vorstellt, so, daß alles zer-
gliedert ist, und wir immer sehen können, wie etwas mit dem Systhem zusammen-
hengt; wir müßen also nicht von den Theilen zum gantzen, sondern vom
gantzen zu den Theilen fortgehen.

/Das Vernünfteln ist das Urtheil der Vernunft, bey dem, der im gantzen kein Ur-
theil fällen kan. Man sagt im MilitairStande: der Mousquetier muß nicht raisonni-
ren, d.i. er muß nicht über die Theile urtheilen, weil er keinen Begriff vom gan-
tzen {_hat_}. Weil das Urtheil über die Theile von der Richtigkeit des principii de-
pendiret: so muß der, der das principium nicht kennt, nicht darüber raisonniren,
denn er kan den ersten Grund, warum so verfahren wird, nicht einsehen; folg-
lich ists seinen Einsichten nicht gemäß, darüber zu urtheilen. Das publicum soll
nicht über die Gesetze raisonniren, in der Religion soll das publicum nicht raison-
niren, sondern blos lernen; aber der, der raisonniren soll, raisonnirt unglücklich<er>
Weiße selber nicht, und da andere es nicht sollen; so weiß man nicht, ob
der blinde Zufall uns Aufklährung in der Religion geben soll. Daher muß
man raisonniren, und jedermann ist dazu verbunden; denn wenn einer auch
falsch raisonnirt: so schadet daß auch der obern Gewalt im Staate nicht.
Die Unvernunft cultivirt beym raisonniren die Vernunft; denn wenn der
Mensch nicht raisonniren sollte: so müßte alle NaturFähigkeit, aus Mangel
des Gebrauchs stumpf werden. Daher ist dem menschlichen Geschlecht nicht
anders zu helfen, als daß sie über alles critisiren, und so ihre ideen ver-
beßern; sie müßen ja demohnerachtet doch thun, wozu sie gezwungen werden.
Autoritaet und Zwang verengt die Begriffe; hingegen Freyheit erweitert
sie. Kein Volck hat bis auf den geringsten Menschen, so viel Verstand als
die Engländer. Daß beruht auf der großen Freyheit, weil ein jeder alle
seine talente nach seinem Kopfe und Gefallen ausbreiten kan.-. Franckreich
ist das einzige Land, wo bis auf den gemeinsten Mann alles conduisirt ist.

/ Philosophie

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/Philosophie ist die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft. Der Philosoph
{_muß daher_} vom Vernunftkünstler unterschieden werden; {_¿_} der seine Vernunft mehr in An-
sehung besonderer Zwecke des Gebrauchs cultivirt, {_¿_} der also producte der Ver-
nunft hervorbringen kan. Dergleichen sind die Mathematiker, Physicer. pp {_¿_} Der
Philosoph aber zeigt an, wozu daß alles zu gebrauchen sey. Daher können nur
vom Philosophen die Vorschriften vom Gebrauch aller unserer Erkentniße
hergenommen werden; da ist die Vernunft also wircklich Gesetzgebend. In
der Mathematic ist eine besondere Art von Geschicklichkeit unserer Ver-
nunft, probleme aufzulößen. In der Physic ist eine Geschicklichkeit, Erschei-
nungen in der Natur zu erklären; In der Logic ist eine Geschicklichkeit, Ver-
standesHandlungen in ihre Elemente aufzulößen. Aber die Philosophie
zeigt, was wir bey diesem allen vor einen letzten Zweck {_haben_}, sie giebt also
die obersten Principien und Maximen; und dadurch erhält die Philosophie
ihre wahre Würde. Das übrige, was man in Systhemen vortragt, sind
nur die Bearbeitungen und Übungen der Vernunft, zur Einsicht besonderer
{_su_→_O_}bjecte zu gelangen. Aber das {_o_→_O_}rganon der Philosphie, daß die obersten
Principien und Gräntzen unseres VernunftsGebrauch enthalten soll, ist
die oberste Stuffe der Vernunft.

/Man drückt die verschiedenen Arten der Vernunft so aus: der Mensch
ist gescheit, d.i. er hat Urtheilskraft. Mann nennt einen Menschen
verschlagen oder verschmitzt; wenn er viel Vernunft zeigt, in An-
sehung des Gebrauchs gewißer Mittel, ohne daß der Zweck in Anschlag
komt, um durch diese Mittel anderer Absicht rückgängig zu machen,
oder seine eigene Absichten durchzusetzen. Man nennt einen Menschen,
der durch Schaden angeführt ist, gewitzig, wenn er durch Schaden
klug geworden ist. Man nennt einen einfältig, der wenig Verstand hat,
dumm nennt man denn, der gar keine Urtheilskraft hat. Einfalt
bedeutet den Mangel an Verstand; Blödsinnigkeit bedeutet einen
«g¿» geringern Grad von Verstand.. Mancher nennt den andern
einfältig, weil sich der andere um gewiße Kenntniße, gar nicht
bekümmert; Blödsinnigkeit aber ist das wahrhafte Unvermögen

/ Un- 

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/Unwißenheit muß man nicht vor Dumheit ausgeben. Blöd ist ein höfli-
cher Ausdruck für einen Menschen, der gantz unfähig, und ohne Verstandes
fähigkeiten ist. Albern wird nur beym Witz gebraucht, wenn einer einen
sträflichen Überfluß von Witz, und dabey keine Urtheilskraft hat. Es
giebt dies viel zu lachen, denn er ist immer übel angebracht.-. Man
hat noch ein paar Worte. Wahnwitz und Wahnsin. Ein Mensch ist wahnsin-
nig in Ansehung der Einbildung, wenn er etwas in den Sinnen zu haben
glaubt, was er nur in der imagination hat. Wahnwitz ist, wenn mann
die Vernunft «d¿» nach falschen principien braucht, und die Vernunft
sich falsche Grundsätze macht. Der Mensch klügelt, wenn er falsche
Grundsätze hat, und aus ihnen falsche Folgen zeigt. Wie Wahnwitz und
Aberwitz unterschieden sey, ist schwer anzuzeigen; es komt dabey auf
den Grad des Wahns an.

/Um einen Menschen als einfältig zu bezeichnen, sagt man: er ist kein
Hexenmeister; er hat das Schießpulver nicht erfunden; er wird das
Vaterland nicht verrathen. Dies sind lauter böse Dinge, die man
einem solchen Menschen nicht zutraut; «als bey einem Klugen» Wir glauben
also bey einem dummen Menschen für Schaden sicherer zu seyn, als bey
einem Klugen. (so wie der Großsultan seine Weiber nur dem unvermögen-
dem anvertraut) Aber dieses principium ist sehr falsch; denn es ge-
hört nicht viel Klugheit dazu, um zu schaden; Im gegentheil kan der
Dumme mehr schaden; denn ein Mensch von Überlegung sieht immer,
welcher Schade auf ihn selbst zurückfallen werde. Die Natur hat auch
gewis gute Eigenschaften vereinbart, und nicht Klugheit mit Arglist
verbunden. Eine Uhr, die ein schlecht Gehäuße hat, taugt gewis nichts,
und wo ich wahrhafte Redlichkeit antreffe da ist auch Verstand. Die
Natur hatte sich die Mühe gegeben, die Rechtschaffenheit der Seele zu
bilden, und sollte den Menschen dumm gemacht haben? Zwar ist
jeder {_nicht_} von gleicher Behendigkeit der Begriffe, aber ordinair zeigt sich,
daß die Menschen von behenden Begriffen, wenig Einsicht haben. Von
einem andern, der langsam von Begriffen ist, sagt man: er hat
wenig Verstand. Aber laßt ihm nur Zeit, die Begriffe zu untersuchen:

/ so.

|P_156

/so wird er sein Talent wohl zeigen. Folglich kan man nicht sagen, daß man
bey der Dumheit sicher sey. Denn die Geschicklichkeit andere zu betrügen,
erfodert nich viel Verstand, und es ist mehr Ehre, betrogen zu werden,
denn daß zeigt, daß man Zutrauen in die Rechtschaffenheit anderer setz@t@
und daß man lieber etwas leiden, als jenes misantropische Mißtrauen
hegen will. Man wird also den Verstand aus der Geschicklichkeit zu betrüg@en@
nicht beurtheilen können.

/Wir bedienen uns des Witzes zum Zeitvertreib, und der Vernunft aus Pf@licht@
Daher ist alle Ausübung der Vernunft für uns ein Geschafft. Allein die
Menschen rufen die Vernunft gern von ihrem Posten ab, und überlaßen
sich lieber der sorglosen und angenehmen Thierheit, und allen Spielen
ihrer Launen. Die Vernunft ist die Eigenschafft des Menschen, die
er zwar am meisten hochachtet, aber doch nicht liebt, und sich daher ihrem
Zwange zu entziehen sucht. Daher suchen sie rauschende Geträncke, Zer-
streuungen, und faßeln in Erholungen herum. Die Vernunft ist ihnen
zu ernsthaft, und schränkt sie zu sehr ein. In Gesellschaften mit
seiner Vernunft prahlen zu wollen, macht nicht beliebt, sondern Thorheit
mit etwas Vernunft vermischt, giebt andern in Ansehung ihrer einen
Werth; denn sie glauben nun, sich auch negligiren, und sich einige Feh-
ler nachsehen zu konnen. Der Verstand geht mehr aufs gegenwär-
tige, so fern es aufs vergangene beruht. Die Vernunft geht
mehr aufs Zukünftige, weil daß geschloßen werden muß.

/ ≥ Von der Distraction

/Man sagt: dissipiren und distrahirt seyn. Die Dissipation geschiehet
willkührlich, wenn man seine Aufmercksamkeit wovon ablenckt, weil
daß die SeelenKräfte vermindert, und die GemüthsFähigkeiten ein-
schränkt, wenn die Aufmercksamkeit auf einen Gegenstand lange
Heftet. Um also das Gemüth wovon abzubringen, ists {_artig_→_nöhtig_} das Gemüth
auf andere Gegenstände zu lencken; daß geschieht hauptsächlich, wenn
man viele kurtze Beschäftigungen hinter einander treibt. Der Dicours
giebt immer was nützliches zu sprechen, und dissipirt beßer als irgend etwas.
Man geht auf Reißen um sich zu dissipiren u s.w.

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/Distrahirend ist daß, was unser Gemüth unwillkührlich beschäftigt, und wo wir
wieder unsern Willen occupirt werden. Die Distraction macht, daß man von
dem Gegenstand abgezogen wird, worauf man seine Aufmercksamkeit richten will.
Es ist daß ein großes Übel und Schwäche. Denn es zeigt gewis eine große Schwäche
an, nicht einmahl die Fähigkeit zu haben, seine Aufmercksamkeit worauf zu richten.
Man muß daher sorgfälltig alles vermeiden, was uns in Distraction verpflechten
kan. Dahin gehört das Romanen leßen. Denn da man nicht nöthig hat, einen
Roman zu behalten: so schweift man mit seinen Gedancken herum, heckt in
dennselben einen neuen Roman aus, und giebt dadurch seiner imagination
einen Hang von den Objecten abzuweichen. Ein von einer Kranckheit recon-
valescirender Mensch ist eine gantze Weile nicht fähig, seine Aufmercksam-
keit worauf zu richten, und in der Hypochondrie ist die Distraction das
höchste Übel. Es ist ein Druck auf unser NarrenSysthem, wodurch unsere
Vernunft, auf 100ley objecte abgezogen wird; und gewiße Gedancken
kan sich der Hypochondrist gar nicht aus dem Sinn schlagen. Gewiße Men-
schen {_sind_} habitu{_a_→_e_}l{_«iter»_} zerstreut, %und immer gewohnt, mit ihren Gedancken aus
zuschweifen; In Gesellschafften und im Discours glaubt man, daß ein
solcher nicht recht bey Verstande ist. Man hat Personen, die sonst mit
Nachdencken beschäftigt sind, und sieht ihnen solche Thorheiten mit Nach-
sicht nach, aber man muß doch solche Schwäche nicht einwurtzeln laßen.
Es ist eine besondere Handlung: seine Gedancken zu samlen. Man
samlet eine Gedancken aus einer lebhaften, und aus einer Gedancken-
losen Zerstreuung. Seine Gedancken aus einer lebhaften Zerstreuung
zu samlen, ist sehr leicht und heilsam. Der, der in einer muntern Ge-
sellschaft, in einer lebhaften Zerstreuung war, wird seine Gedancken
bald samlen, und wird denn weit aufgeräumter seyn. Aber aus
einer Gedanckenlosen Zerstreuung ist sehr schwer sich zu samlen, und man
sinckt immer wieder hinein. Denn da die Menschen unwillkührlicher Weiße
abgezogen werden: so werden sie immer wieder ihren Willen fortgeführt, %.und es ist
daher schlim, in einem solchen Zustande zu seyn; denn man kan sich schwerlich aus demsel-
ben samlen. Man kan aus seinem Schlummer nicht zurückkommen; denn solche
zerstreute Leute sind ordinair wachende Träumer. Mann kan sich wohl eine Gedan-
kenlosigkeit erlauben, aber nur, wenn man vorher lange gedacht hat, denn dadurch
recolligirt sich das Gemüth. Doch ist zu Erholung des Gemüths beßer; daß man es
im Spiel beschäftigt. D.i. dem Gemüt«z»h so viel zu thun giebt, als es selbst bequem
findet. Denn unser Gemüth hat das eigen, sich durch das abwechselnde beßer zu erholen,

/ als

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/als durchs nichts thun. Denn das Gemüth ist immer in Thätigkeit, und wenns nicht zu
thun hat: so arbeitet es an sich selbst, da ists also beßer, dem Gemüth an die
Stelle eines schweren ein leichter Geschäft aufzugeben.

/Wir gehen vieler Kentniße durch die distraction verlustig. Auf Reißen vergießt
man durch dieselbe die Schönheit der Gegenden; Von der Erzählung vergießt man das ange-
nehme und reitzende. Die Frauenzimmer sind den distractionen selten unterworfen, und
daß schickt sich auch für sie. Es kan wohl manchmahl kommen, aber gewöhnlich ists nicht ihr Fehler.
Aber wenn der gemeine Mann zerstreut ist, so hat er immer Schelmstücke im Kopf. Entwe-
der hat er was böses gethan, worüber ihm das Gewißen plagt, oder er hat eine Absicht
die er noch ausführen will. Aber bey Leuten die viel zu dencken haben ist das ein ordinairer
Zustandt.

/Man nimt an, daß gewiße Menschen sich ihres Verstandes nicht allein zu bedienen, nicht be-
fugt sind, sondern nur in assistentz eines fremden Verstandes urtheilen könne, und
solche nennt man unmündige. Einige sind unmündig den Jahren nach; sie können sich nicht
nach ihrem eigenen Verstande und Vernunft richten, sondern müßen unter der
assistentz und Direction eines fremden stehen. So giebts auch eine Minnorennitaet
dem Geschlecht nach; denn gewiße Einsichten und Geschäfte sind gantz außer der
Sphaere des Frauenzimmers. Sie dürfen sich da nicht ihrer eigenen Vernunft bedienen,
sondern müßen sich den Ausspruch einer fremden Vernunft unterwerfen; so bald
etwas ins publicum läuft, müßen sie sich auf fremde Vernunft beziehen.

/Bey Kindern ist die Unmündigkeit natürlich. Den Vormund eines Frauenzimmers
nennt man Curator. Wenn man dies in Ansehung des menschlichen Geschlechts über-
legt: so finden wir daß wir alle unmündig sind den Jahren nach, und daß un-
ser Verhalten immer von einer fremden Vernunft vorgeschrieben werden muß¿
Im Staat bleibt das publicum unmündig: die oberste Gewalt giebt Gesetze,
und das publicum muß sie befolgen. Von einem freyen Staat kan man sagen,
er ist zur Mündigkeit gekommen. In Ansehung der Religion ist ein Stand, der die
andern als unmündig erhalt: Kein anderer Stand darf sich ihrem Urtheile; entg@e@-
gen ohne Vermeßenheit seiner eigenen Vernunft gebrauchen. So wird ein
guther Theil der Menschen in der Unmündigkeit erhalten, so sehr man sich auch ver-
{_laßen_→_beßern_} würde, wenn man sich dieser Unmündigkeit begeben könte.

/Gewiße Leute sind in einer Art von Unmündigkeit, z.B. Gelehrte in %.bürgerlichen Sachen
weil sie sich nicht damit beschäftigen konnen. Wenn ein Mensch recht commode leben
wollte: so müste er sich einen halten, der für ihn Gedächtniß hätte; einen andern, der
für ihn Verstand hatte, einen 3ten der für ihn Gewißen hatte. Aber am Ende komt¿
doch daraus hinaus, daß ein jeder Mensch suchen muß mündig zu werden, sich selbst
von seiner gantzen Pflicht zu informiren, damit er nicht nöthig hat, sich auf die

/ Außage

|P_159

/Außage einer fremden Vernunft zu verlaßen. Und wenn man annimt,
daß man den Menschen in der Unmündigkeit erhalten müße: so faßt man da-
bey boshafte Grundsätze. Bey Gelegenheit einer PreißFrage: obs rathsam
sey, Leute im Irrthum zu erhalten, gabs sogar Geistliche, die diese Mey-
nung mit Ja beantworteten, daß das gemeine Volck sich gefallen laßen
müßte, was man «@ihm@» ihm als wahr vormahlt. Aber daß ist ein Grund
satz des Betrugs, und die Meynung, daß es noch gegenwärtig, ehe das Volck
zu beßern Einsichten käme, Nutzen schaffen könne, ist irrig. Denn der Irr-
thum kan wohl eine Weile, aber nicht lange dauren. Es ist kein Mensch da-
zu berechtigt, durch Vorwand un«s»d eitele Hofnungen, andere in Irrthü-
mer zu leiten. Die Menschen haben ein vorzügliches Recht dazu hinter die
Wahrheit zu forschen, und es ist falsch, daß ein stupides Volck leichter zu regieren
sey, als ein aufgeklärtes. Denn die Stupiditaet der Menschen, hat häufige-
re Empörungen «ge»<er>zeigt, als die Aufgeklärtheit der Leute. Denn diese
letzten sehen bald, daß es beßer sey, Lasten zu ertragen, als sich blindlings
in eine Anarchie zu stürtzen. Der Despotismus hat die meisten Empö-
rungen verursacht, denn zuletzt, wenn ein Volck, daß man in der Unmün-
digkeit erhält, sieht, daß seine Rechte gantz verletzt werden: so verlierts
alle Gedult, und ein Mensch, der Vernunft hat, kan nicht beßer regiert, wer-
den, als mit Vernunft. Überhaupt sind daß sehr schlechte Grundsätze, und
alle vermeintliche Schaden, die aus der Aufklärung entstehen konten, sind
Grillen. So hat man ehedem so sehr wieder die Reformation geschrien,
und hat in der Folge doch gefunden, daß sie den Schaden bey weitem nicht
hervorgebracht hat, denn die Unwißenheit verursachte. Man glaubt,
daß durch die Abschaffung der Ceremonien die Leute die Anhänglichkeit
an die Religion verliehren würden. Die Erfahrung aber hat gewiesen,
daß die Menschen grade destomehr auf der andern Seite ausgeschweift
haben, und desto größere Schwärmer geworden sind. Es kan also nichts
schlechters gedacht werden, als wenn Menschen solche Grundsätze {_haben_}, zu suchen,
andere Menschen im Irrthum zu erhalten, sich zu hüten, jemanden
im Schlaf der Unwißenheit zu stören, oder ihn wohl gar in neue
Irrthümer hinein zu stürtzen, wenn sie sich aus der Unwißenheit,
sich selbst gelaßen, wohl würden herausgewickelt haben. Dazu be-
rechtigt keinen ein Vorsatz, von der Erwerbung eines vermeintlichen

/ Nutzens

|P_160

/Nutzens; denn dieser kan fehlschlagen, und es ist Herabwürdigung der
Würde der Menschheit, wenn ich ein freyes Geschöpf so trachiren will,
daß er einer fremden Vernunft folgen soll. In Ansehung der Begriffe
müßen die Menschen frey seyn, ohnerachtet sie in der bürgerlichen Ver-
faßung nichts unternehmen dürfen, indem sich ja doch keiner wiederse-
tzen kan. Aber selbst die Regierung gewinnt bey der allgemeinen Auf-
klärung, der Regent kan selbst im Wahn stecken, und sich Vortheile
imaginiren, die nichts taugen. Wenn wir die Quellen der Verbeßerung
also verstopfen: so ist alle Hofnung verschwunden. Es sind daß unverzei-
liche Sünden; denn sie vernichten den gantzen Plan der Vorsehung mit
dem menschlichen Geschlecht, so, daß keiner zur Vollkommenheit fort-
schreiten kan. Welches würde die Maxime der gesunden Vernunft
seyn? Einige sind trotzige mit ihrer gesunden Vernunft, und spotten
über die Wißenschafften, grade als wenn die Wißenschafften dadurch
entbehrlich werden, wie wohl das wahr ist, daß die gesunde Vernunft
den Gebrauch aller Wißenschafften bestimmt. Sie sind aber gar tro@t@-
zig auf ihre gesunde Vernunft, so, daß sie alles Schulwißen für
unütze ausgeben: so giebt mancher Fuchß die Trauben für unreif aus,
weil er sie nicht erreichen kan. Eben darum, weil der gesunde Ver-
stand ein alltags Verstand ist, ist er desto brauchbarer; alle Wißen-
schafften haben gewiße Zwecke, und brauchen dazu gesunden Ver-
stand. Wir müßen aber einen Grundsatz haben, damit der gesunde
Verstand immer gesund bleibe, und immer gute Diaet halte, damit er
nicht Kranckheiten einreißen laße; denn die gesunde Vernunft ist
sehr leicht zu verführen; sie ist wie die Unschuld eines guten liebens-
würdigen Mädchens. Sie ist zwar liebenswürdig, aber leicht zu ver-
führen; ich muß sie also erst vor Versuchungen sichern; eben so ist
der gesunde Verstand, wenn er nicht gute Grundsätze hat. Er be-
merckt ohne dieselben nicht die Veränderungen, die in seinem
Zustande vorgehen, und bekomt so ein Vorurtheil nach dem ander@n.@
So sagt mancher Mensch, ich bin gar nicht abergläubisch,

/ und

|P_161

/und eben den ist sein Kopf voller Aberglauben, weil ihm die Ma-
xime der gesunden Vernunft fehlt. Dieser Grundsatz ist: die SelbstEr-
haltung der gesunden Vernunft, nicht des Menschen, sondern der Vernunft,
d.i. ich muß nichts annehmen, daß den freyen Gebrauch meiner Vernunft
unmöglich machen würde. Die Vernunft muß sich daß zum Haup«fs¿¿»tGrund
satz machen; daß, wenn sie Dinge gleich nicht für unmöglich erklären
kan, sie sie doch nicht so gleich annimt. z.B. wenn mir jemand von Gespen-
stern erzählet, wovon eine Erfahrung doch nichts bestimtes lehrt: so liegt
hier die Maxime zum Grunde in der Vernunft: Wenn ich das einräume: so
fällt der Gebrauch der Vernunft ubern Haufen. Wenn jemanden ein Kind
gebohren wird, das einem andern ähnlich, der starck in dem Hauße ver-
kehrt, so sagt man: die imagination hat daß gemacht. Aber wenn daß
wäre: so würde meine Vernunft in Ansehung solcher Erscheinungen
gantz überflüßig seyn, und ich weiß denn nicht mehr, wo ich die Ursache
aufsuchen soll. Wenn ich die Gespenster nicht attrapiren kan:
so kan ich in der Erfahrung keinen ErklärungsGrund solcher Er-
scheinungen finden. Die Maxime meiner Vernunft erfodert
also, daß ich nichts einräume, was mich meiner Vernunft berau-
ben würde. Wenn also dergleichen Dinge vorgegeben werden:
so sage ich, ich kanns nicht annehmen, weil ich dadurch in die Verlegenheit
gesetzt werde, 100 alten Weibern zu glauben. Von allen vorgege-
benen wundersahmen Dinge also, die, die nicht mit den Regeln der
Vernunft, zusammenhängen, kan ich also sagen: haec omnia incre-
dulus odi; denn sonst i{_n_→_st_} meine Vernunft {_gehört_→_gestöhrt_}, und ich kan nicht sicher
seyn, ob nicht solche Vorfälle sich ereignen können. Zu dieser Maxime ge-
hört keine speculative Vernunft; ich darf nur immer nachdencken: kanst
du dich hier der Vernunft regelmäßig bedienen oder nicht? Es geschieht am
Ende doch, daß sehr hoch getriebene Bestrebungen der Vernunft uns auf
einen gewißen punckt zu bringen, eine Mysologie der speculativen
Vernunft hervorbringen. Dieser Haß der speculativen Vernunft, ist ein
Zustand, der viel Gelehrte betroffen hat, wenn sie ihre Untersuchungen so hoch ge-
trieben hatten, bis zu den ersten Quellen der Dinge zu kommen, und sich hernach

/ in

|P_162

/in ihrer Erwartung getäuscht fanden. Wir haben viele Sätze als Fragen für
unsere Vernunft mit denen wir aber nicht recht fortkommen können. Der Be-
griff von der Natur und Bestimmung unserer Seele, von einem WeltRegierer
dies alles sind Dinge, von denen uns, wenn wir uns darin vertiefen nicht ge-
hörige Antworten von der Vernunft gegeben werden, wenn wir die gehörigen
Schrancken beobachten. Wenn Menschen in solchen Sachen von ihrer Vernunft sehr
viel vermuthen, und hernach ihre Erwartung nicht erfüllt sehen; so faßen sie
einen Haß gegen die Vernunft, werden allen Nachforschungen abtrünnig, und
sagen, es ist umsonst seine Vernunft in Ansehung deßen zu gebrauchen, was
den Höchsten Zweck bey sich führt. Daher findet man viel Bücher de vanitate
scient<i>arum, so viel ist gewis: ein Haß der Vernunft ist die größte
Verzweifelung, in die sich ein Mensch stürtzen kan, denn was bleibt
ihm als denn für ein Werth als Mensch übrig? aber ein Haß gegen die
speculative Vernunft ist nicht so übel, denn man darf sich nur {_an_} das practis@che@
halten, wenn man die speculative Vernunft aufgeben will. Die speculati-
ve Vernunft allzu hoch zu spannen, taugt gar nichts. Denn daraus ent-
springt auch eine Mysantropie, die den edlesten Seelen anwandelt, wenn
sie sehen, wie wenig Vertrag und {_w_→_@n@_}ie Feindschaften unter den Menschen
sind; und da hätte man wohl Ursache, schlechte Gesinnungen gegen die
Menschen zu faßen. Wenn man aber auf der andern Seite sieht,
daß dergleichen Sachen gemeiniglich nur aus Noth geschehen, weil einer
in des andern Hertz nicht sehen kann, und sich also auch v{_o_→_e_}rstellen muß; und
daß dieses schwächen mit der Zeit angewöhnt werden können: so findet man
zuletzt, daß das menschliche Geschlecht, doch nicht so vernachläßigt sey,
als es Anfangs schien. So ists auch mit dem Wiederwillen gegen die
Wißenschafften, wo man daß haßt, was man trachten sollte, liebens-
würdig zu machen. Ein solcher Überfluß hengt mit einer guten Laune
gar nicht zusammen.

/ ≥ Vom Ingenium oder Kopf.

/Kopf bedeutet den Inbegriff aller talente, die zur Erkentniskraft gehören
Hertz hingegen in dem Inbegriff aller Triebfedern die dem Willen
bewegen, und der Grund alles Thuns «¿¿»oder laßens sind. Das Wort
ingenium kan nicht Genie genant werden weil dies noch eine nähere
Bedeutung hat.

|P_163

/Es giebt eine große Verschiedenheit von Köpfen, obgleich die ingredien-
tzen, woraus die zusammen gesetzt sind, dieselben sind. Die große
Verschiedenheit der Köpfe komt auf die Verschiedenheit der proportion in
den Talenten an. Bisweilen, aber selten, komts auf die Verschiedenheit
der talente an. Die Proportion unter einzelnen talenten, ohne daß die talente
zu groß oder zu klein seyn dürfen, ist schon hinreichend, eine erstaunliche dispro-
portion unter den Köpfen zu erregen. Denn die talente sind so mannigfal-
tig, daß die verschiedene Position derselben, eine große Mannigfaltigkeit
von producten hervorbringen kan. So wie der verschiedene Bau der
Muskeln, im Gesicht des Menschen, so viel 1000. pysiognomien zuwege
bringt: so ists auch innerlich mit der proportion der talente. Bey der Erzie-
hung der Kinder, sollte man vorzüglich darauf sehen, daß man nie ein
talent vor sich alleine bearbeitet, sondern daß man alle insgesamt cul-
tivirt, damit man sie proportionirlich cultivire. Mancher Mensch ist ein Narr,
nicht, weil er nicht Urtheilskraft hat, sondern weil {_er_} in proportion seines Faden
Witzes, und seiner ziegellosen imagination nicht zureichende Urtheilskraft
hat, um die extravagante dosis vom Witz zu moderiren. Es fehlt solchen
Menschen nicht an Urtheilskraft, nur in proportion der Fruchtbarkeit ihres
Witzes sollten sie mehr Urtheilskraft haben. Wenn wir also ein talent
der Gemüthskraft cultiviren: so können wir dabey nach einer solchen dis-
proportion verfahren, daß einer doch ein Narr wird. Denn wenn wir etwa
das Gedächtniß sehr versorgen, und den Verstand dabey verabsäumen:
so kan nichts unertraglicher seyn. Denn es ist der Kopf voll von Kentnißen
die nach keinem Gesetz zusammenhengen; er ist wie eine alte Rüstkammer
worin alles untereinander liegt. Vernunft und Verstand nicht cultiviren
wollen, giebt aufgeblaßene und gelehrte Thoren, die ihr Wißen über
alles hoch schätzen. Dergleichen sind die philologen und litterati, jene großen
BücherKenner, die sich historisch durch alle Wißenschafften durchgearbei-
tet haben, ohne daß die Vernunft ihnen gesagt hätte, wozu daß alles
gebraucht werden soll. Sie sind voll erstaunenden Eigendünkels, und
halten sich für die adepten der Weisheit, und sind doch mit ihrem Wi-
ßen der Welt sehr wenig nützlich. Aber die proportion der Cultur der
Talente recht zu wißen, ist sehr schwer, und wir müßen dabey fast
alles auf den Zufall ankommen laßen; denn die Menschen können

/ daß

|P_164

/daß, wozu sie auf erlegt sind, nicht errathen«,». Sie wählen so wie ihnen
etwas angeboten wird, oder so wie der Zwang sie führt. Unter dem
wenigen, was sie können, wählen sie nach ihrem vermeynten Geschmack¿
aber sie haben noch keine Kentniße, und treffen daher auch noch keine rech@te@
Wahl. So kommen Menschen oft zu einem Beruf, der ihnen gar nicht angemeßen
Aber gemeiniglich hat der Mensch außer seinem Beruf noch ein ander Steck@en@
Pferd, daß seinem Geschmack mehr angemeßen ist, indeßen, daß er sich mit
seinem Amte und Pflicht beschäftigen sollte. Vor sich aber nimt er aber sol-
che Dinge vor, worauf sein talent ge@{_sinnt_→_stimmt_}@ ist. Weil aber kein Mensch
so hat wählen können, wie es der Cultur seiner Gemüthskraft ange-
meßen ist: so ist alle Wahl der Tugend zweifelhaft, und man hat kei-
nen sichern Probierstein, wie man die talente cultiviren müße; und nach
«¿¿»welchen Zwecken man die Cultur aptiren müße. Nach dieser proportion
der talente die den characterisirte, nennt man die Menschen witzig, judi-
cieuss, scharfsinnig, verständig, vernünftig p.p. ja nachdem man glaub@t@
daß in ihnen eins von diesen talenten vorzüglich hervorsteche. Man
benent auch Köpfe nach den Künsten, wozu sie am meisten aufgelegt
sind. So hat man poetische, historische p.p. Köpfe. Ein empirischer
Kopf ist der, der excellent ist, Beobachtungen zu machen, die sehr subtil
sind; ein solches talent ist nicht so was gemeines. Man hat ferner vor-
sichtige, philosophische, mathematische p.p. Köpfe. Zwischen diesen
verschiedenen Köpfen giebts sehr nahmhafte Unterschiede, so daß
mathematic und philosophie, wenn man sie gleich beyde alligiren
kan, die Zwecke der Vernunft zu erreichen, doch hetterogen sind, daß
eins durch das andere nicht kan vollendet werden. Der philosoph
erkennt alles nach Begriffen; der Mathematiker erkennt alles in der
Construction der Begriffe. Der Mathematiker kan die Sache nicht, «d¿»
wie der Philosoph aus Begriffen beweisen; sondern er muß den
Begriff in der Anschauung darlegen. Der Philosoph kan seine
Begriffe nicht in der Anschauung darstellen. Da ihm also dieses Mi@ttel@
fehlt: so kan der Mathematiker wenn er zu philosophiren anfängt
nicht vom Fleck kommen; und der scharfsinnigste Matematiker

/ macht

|P_165

/macht beym philosophiren Fehlschlüße, die man ihm in der Mathema-
tik nicht verzeihen würde. Der GängelWagen der Figuren hilft dem
Matematiker, und differirt vom Philosophen; wenn sie gleich übrigens
darinnen überein kommen, daß sie beyde Vernunfts-Beschäftigungen
haben; und also in jener übereinstimmen. Der Philosoph bedarf schon
mehr Witz, und eine besondere Aufmercksamkeit, wenn er ins spe-
culiren komt. Der Mathematiker kan seine Begriffe neben sich
@hin@stellen; aber der philosoph muß seine Begriffe vor sich schwebend
@er@halten; dadurch werden alle seine Betrachtungen viel tiefer %.und
ermüdender. Wenn man sich also vorstellt, wenn man einen Mathema-
tiker persuadiren könte, sich der philosophie zu ergeben, daß dieses
große Aufklärung geben würde; so schließt man falsch. Der große
Newton schrieb als er alt war einen Commentar über {_die_} Apocalypse
welches von seinem philosophischen Kopfe sehr hetterogen ist. Gemei-
niglich probiren sich die Köpfe selber aus, und dadurch geschiets denn, daß
@di@e Beschäftigungen so werden, wie die Anlage der Natur war.

/Ein allgemeiner Kopf hat gemeiniglich kein ausgezeichnetes Verdienst
@in@ Ansehung eines oder des andern Gegenstandes. Dieses betrift die
allergrößsten Köpfe. Leibenitz steht darin den Newton weit nach, weil
er seine Gelehrsamkeit allzu vast machte, und alles erlernen wollte. Mit
@die@ser Art von polie Histoire oder mit dieser Begierde, das gantze
@Fe@ld der Menschlichen Kentniße allein befaßen zu wollen, sind große
@t_→_T@alente, aber auch große Eitelkeit verbunden, und ein solcher nützt
@de@m gemeinen Wesen nicht viel. Die Geschichte erwehnt solcher
@die@ in allem Meister waren z.B. der Schottländer Crichton zur Zeit
Jacobs_des_1ten der in allen Dingen excellirt haben soll. Leonardo
¿¿_Avinci war ein berühmter Mahler und der Stifter einer beson-
dern Schule von Mahlern, und wird als das vollkommenste product der
Natur vorgestellt. Er war schön von Gestalt, hatte ein rechtsafenes
¿Hertz, war ein großer Zeichner und Mahler, und in allen Wißenschaf-
ten gantz vollkommen, so, daß kein Fehler an ihm war. Als er
sterben wollte, besuchte ihn Frantz_I: da richtete er sich noch auf und
starb in deßen Armen. Die Geschichtschreiber erschöpfen sich

/ gantz

|P_166

/gantz, wenn sie daß vorzügliche und allgemeine dieses Mannes bewun-
dern. Solche allgemeine Köpfe hinterlaßen keine producte, die sich
in einem Stück vorzüglich auszeichnen.

/ ≥ Vom Genie

/Dieses Wort wird sehr gemisbraucht, und hat Anlaß zu Untersuchun-
gen gegeben, die sehr vergeblich {_sind_}; worin man es gantz genau zu entzif-
fern gesucht hat, was man damit meine. Gerhard, ein Engländer, hat
vom Genie geschrieben, und darüber die besten Betrachtungen angestellt;
ob die Sache sonst gleich in allen Autoren vorkomt. Genie ist die Originali-
taet des Talents. Es komt von genius her, welches einen eigenthüm-
lichen Geist bedeutet, der den Menschen immer begleitet, der ihm schon
von der Geburt an beygesellt war, und ihn regiert. Man kan
das Genie auch einen eigenthümlichen Geist nennen, nur, daß man
unter Geist kein Gespenst verstehen muß, sondern so fern der
Geist im Menschen was eigenthümliches hat, daß nicht mit andern
gemein ist. Die Franzoßen können das Wort Geist nicht ge-
brauchen, weil Esprit bey ihnen so viel als Witz bedeutet; der
Witz aber ist beym Genie {_nicht_} das vorzüglichste. Daher haben die Fran-
zosen den Ausdruck Genie aus dem lateinischen genommen.

/Wir können die talente, die dem Grade nach vorzüglich sind, noch nicht zu
Genies machen, sondern es muß eine ursprüngliche originalitaet da seyn¿
original heißt negativ daß, was nicht nachgeahmet ist. 2tens Etwas nach
positiven Gründen origales ist, wenn etwas Nachahmungswürdig ist,
weil es keine Copie ist, sondern ein original heißen kan, daß nachgeahmt zu
werden verdient. Man kan so gut originale Narren, als original kluge
Leute haben, {_womit _→_wenn es_} gleich viel ist, wie etwas beschaffen ist; denn man
darf etwas nur nach einem auserordentlichen Plan anlegen: so ist origi-
nalitaet darin. Denn nichts ist dem Genie wiedriger, als der Nachahmungs
Geist; im Gebrauch der talente muß etwas eigenthümliches da seyn. Daß
der NachahmungsGeist das Gegentheil alles Genies ist, siehet man schon
aus der Bedeutung des Worts. Dan Genie komt her gignere; es müßen
also die producte uns schon angebohren seyn, und unserer Natur
gleichsam eigenthümlich seyn. Wenn ich sage: der Mensch hat Genie: so
heißt daß, solche producte würde kein Mensch durch Erlernung hervor

/ gebracht

|P_167

/gebracht haben. Erlernung ist Nachahmung; es darf dazu also nichts
weiter erfodert werden, und setzt keine Vorzüge der Geburth voraus, son-
dern nur Fleiß. Durch Fleiß muß man den Mangel ersetzen, wenn die
Natur uns stiefmütterlich vers{_a_→_or_}gt hat. Das Genie aber muß von Natur da-
seyn, indem es uns kein Lehrer geben kan, sondern die Natur allein, und aus
dem Menschen entspringen muß, z.B. witzig zu seyn, kan kein Mensch ler-
nen. Das nach«dencken»<sprechen> benimt dem Witz seine Schönheit, und sogar den Nah-
men des Witzes. In dieser originalitaet und Unabhängigkeit von allen
Mustern wird also Freyheit vom Zwange der Regeln erfordert. Der
NachahmungsGeist besteht aber darin, daß man ohne Regeln keinen
Schritt thun kan, sondern immer Vorschrifften unterworfen ist, derer
man sich ängstlich bedient. Schakespear ist ein Kopf von der Art die man
Geniesnent; er hat seine theatralischen Stücke so abgefaßt, daß sie allen
Regeln Trotz geboten haben. Er hat weder die Einheit des Orts noch der
Personen beobachtet, nicht aus Unwißenheit, sondern weil seine Ein-
bildungskraft einen weiten Raum haben muste, und sich nicht einkärckern
ließ, obs aber rühmlich sey ihm nachzuahmen, oder obs ein Fehler sey,
ist eine andere Frage.-. Denn man kan nicht sagen, daß die Regello-
ßigkeit hier eine gute Seite des Genies war, sondern es war ein
Fehler, aber die Fruchtbarkeit des Genies ersetzte ihn wieder. So viel ist
gewis, daß der Zwang der Regeln bey vorzüglichen producten des Genies
aufhört; denn das Genie ist der Meister der Regeln, und nicht sein Sclave {_NB._}
@Ei@n Genie, daß vom mechanischen Kopf himmelweit unterschieden ist, ist der, der
im Lauf der Dinge eine Epoche macht, und nur zu gewißen Zeiten erscheint, und
den reformen macht, daher sind die Genies gemeiniglich unwillkommen, und werden
nicht sehr geachtet, weil sie Unruhen erregen, und Staaten in Unordnung brin-
gen. Beym Genie komts also nicht so sehr auf die Größe des talents, sondern auf
die besondere Stellung deßelben an. Swift und Lichtenberg sind gantze ori-
ginale in der Satyre, so daß man gleich sieht daß kein Mensch so dencken würde; da-
her erregen ihre Schriften so sehr das Lachen. Das Genie ist also doch auf die Dis-
proportion gebauet, wie eine Mißgeburt, bey der einige Glieder übel gestaltet
sind, die im übrigen aber gesunde Gliedmaßen hat. Es ist sonderbahr daß
Aristoteles, Socrates, Pope, welches vorzügliche und große Genies waren «puk»
@b@u«¿¿»klich waren.

/Es giebt indeßen in Ansehung der Originalitaet des Genies Affen. In keinem

/ Lande

|P_168

/Lande giebts so viel Leute, «s»die sich durch Abweichung von der Regel, originalitaet
zu verschaffen suchen als in Deutschland. In Franckreich oder Engeland hat
man doch nie von einer kauderwelschen Sprache gehört, als vor kurtzen in
Deutschland, da man der Sprache eine neue Form geben wollte, blos um ein Genie
zu scheinen. Daß ist sehr leicht, und wenn das Genie nicht anders ist, als das fratzen-
hafte, so wäre es sehr leicht ein Genie zu werden

/Das positive beym Genie ist das schöpferische, oder das productive aus eigenthümlichen
Talenten. Die Origininalitaet muß also in der Fruchtbarkeit der Talente bestehen.
Man findet bey einigen Leuten Anlagen von Genie, daß hie und da durch ihre ima-
gination unvollendete Ideen hervorgebracht werden, die uns eine Außicht zu neuen
Bildern angeben. Schwärmer scheinen immer Leute zu seyn, die man markirte
Genies nennen könte. Die Natur ist nicht fertig geworden sie zu genies zu machen¿
Aber der Philosoph freuet sich immer, wenn er solche Leute findet, indem er von
ihnen immer viel characterisches abnehmen kan. Dergleichen war Swedenberg seine origi-
nalitaet gräntzt am Wahnsinn. Daher auch einer der Alten sagt, daß Raserey und
genie nicht weit von einander sind. Der Schwärmer und Enthusiast geben den Stoff
das eigentliche des Genies abzuzeichnen. Einige Leute können in das schwärmerische
der imagination Verstand hineinbringen; denn so wie die, die über den Virgil oder
einen andern Autor commentiren in allem Geheimniße finden wollen; so kan ein ge-
schickter Mann aus allen verwilderten Einfällen eines andern Verstand herausbringen

/NB. Wenn die Regeln blos conventionell sind: so kan man am ersten davon abweichen
So hat jedes Theater conventionelle Regeln. Wenn das Genie aber auch Nachsicht ver-
dient, wenn es sich den Regeln nicht bisweilen unterwirft: so kan man doch nicht sagen,
daß es ein eximirter Kopf sey, und sich über alle Regeln wegsetzen könne. Es ist
daß nur eine Nachsicht, die man ihm erlaubt, und hat Aehnlichkeit mit der licentia
poetica. In Ansehung des Zwangs, worin der Dichter steht, wirds ihm nachgesehen,
wenn er sich manchmal die Freyheit nimt, etwas von den Regeln der Sprache ab-
zuweichen, aber deshalb ist er noch nicht von allen Regeln freygesprochen.

/Es ist dem Genie nichts mehr zuwieder, als ein Mechanissmus in der Erziehung. Die-
ser findet sich vorzüglich unter den Deutschen. Denn bey keinem Volck in Europa
ist weniger Originalitaet als bey den Deutschen, indem schon der Schlag der
Nation dazu geeignet ist nachzuahmen. Die Engländer werden gar nicht nach
solchen Zwang erzogen, und da sie weniger eingekerkert werden, so wachsen
sie desto freyer auf. Man kan in unsern Schulen nichts absurders lesen, @als@
eine Schulchrie: der junge Mensch sucht Phrases, {_plaudert_→_plündert_} so viele autores
und stoppelt etwas zusammen, daß einem gestickten Mantel ähnlich sieht
und den freut er sich hertzlich, wenn das so hoch klinget. Eine imatio ciceron@is@

/ unterdruckt

|P_169

/unterdrückt den Kopf erstaunlich, den nachäffen kan man dem Cicero wohl
aber ihn nachahmen, und es ihm gleich thun, daß kan ich von keinem Kinde verlan-
gen. Dieser Mechanismus der Köpfe verdirbt also gar sehr. Gewiße Stände
erfordern den Mechanismus, im Militair_Stande ist er sehr nützlich, und es besteht
eben darinnen der Vorzug der Europäischen Nation. Denn die orientalischen Völcker
können in einem Gefecht nicht gewinnen, daß gegliedert geführt wird; denn wenn
der Mensch die völlige Abgemeßenheit der Machine {_hat_}: so ist er unwi¿erstehlich.
Wenn Leute ein Chor agiren, so kan ihnen nichts wiederstehen, und sie werfen
die einzelnen Mächte leicht übern Haufen. Im civilwesen aber taugt der mechanis-
mus nichts; auch hat er im Militairstande einigen Nachtheil. Denn wenn er da
gar zu hoch steigt, so gehen die wircklichen Genies aus dem Dienst. Im Civil_We-
sen kan man auch eine Art von Mechanismus nachsehen, nemlich die Ordnung.
Aber wenn es so weit geht, daß alles so eingerichtet, um wie nach einer Tabelle
zu verfahren: so ist kein Mensch mehr der denckt. Aber das mechanische
in der Führung ist die Basis der großen Verbindung mit den Menschen,
und macht die Ausführung vieler Sachen möglich.

/@1.@ Zum Genie wird erfordert Empfindung, Urtheilskraft, Geist, und
Geschmack. Also Empfindung. d.i. die gantze Sinnlichkeit und imagi-
nation, denn diese macht die Empfindungen aus den Wahrnehmungen
der Sinne wieder rege. Es wird beym Genie Stärcke, Klarheit, Man-
nigfaltigkeit, und ein großer Umfang der Anschauung erfordert. Sie
müßen hauptsächlich bey Poeten und Mahlern seyn; beym Milton und
Schakespear sind sie vorzüglich anzutreffen.

/2.) Unter Urtheilskraft verstehen wir alles daß, was die producte der
imagination der Wahrheit angemeßen machen kann. Den bey aller
ihrer Fruchtbarkeit weicht die imagination oft von der Natur ab; Ur-
theilskraft ist also die {_Cursus_→_Censur_} des Genies, die sie der Disciplin unter-
wirft. Genies sind anzusehen, wie Schooßkinder der Natur, die sie
mit vorzüglich großen Talenten ausgerüstet hat, die aber wie alle
Schooßkinder erzogen sind.

/3) Geist. Im Deutschen kommt das Wort Geist mit Genie überein. Man sagt
nicht der Mensch hat den Geist, sondern er hat Geist, es wird also hier
als ein praedicat gebraucht. Man sagt die Gesellschaft hat Geist. d.i.

/ etwas

|P_170

/etwas was sie belebt, den, daß, was alle unsere Talente belebt, ist
der Geist. Es giebt Personen die durch ihr Gespräch eine gantze Ge-
sellschafft aufmuntern können; Geist herscht in Mahlerey: vom Hol-
länder sagt man, er mahlt ohne Geist. Geist ist die idee worinen
alle andern Vorstellungen ihre Vollendung bekommen, und die durch
einen product durchscheint. Daß eine solche idee zum Grunde gelegen
hat, muß aus dem product erhellen. Wenn Geist in der Gesellschafft
war, so kommt man unterhalten und belehrt heraus. Das Vermögen
diese Ideen zu unterwerfen, zeigt große Vorzüge des Talents an.

/4.) Der Geschmack macht das product des Genies so, daß es mit jeder Em-
pfindung zusammenstimt. Es muß nicht nur mit PrivatEmpfindung
übereinstimmen, sondern allgemein und gesellschaftlich werden können.
Daher ists kindisch zu sagen: jeder hat seinen eigenen Geschmack, denn ein
solcher hat gar keinen Geschmack, weil der Geschmack darinnen bestehet,
daß eine Sache auch vor andern gilt. Der Geschmack ist eine Eigenschafft
in uns, die blos auf die Geselligkeit hinausläuft, daß wir nicht blos
auf unsere, sondern auch auf anderer Geschmack reflexion nehmen.
Kein Mensch hat Geschmack, der nicht eine gesellige {_Meyn_→_Neyg_}ung hat.
Der Geschmack bedeutet eine Condescendentz in den Empfindungen.
Wir finden daß in den Gefühlen der Menschen etwas allgemeines
ist; und ein Mensch hat Geschmack, wenn er auf eine solche Art
zu empfinden fähig ist, daß sie mit vieler anderen Empfindung
übereinkomt.

/Das Wesentliche des Genies ist also Geist, oder das schöpferische
Vermögen, daß die Reihe der Vorstellungen hervorbringt,
und Urtheilskraft oder das kritische Vermögen. Urtheils-
kraft ohne Geist, und Geist ohne Urtheilskraft macht kein
Genie aus. Die minder wichtige und zum Genie gehörige ist
die Empfindung und Geschmack.

/Man drückt sich vom Menschen so aus: er hat genie, oder: er
ist ein Genie. Das letzte bedeutet die Originalitaet des Kopfs.
Der Mensch hat genie will so viel sagen: Der Mensch hat
eine Anlage und Vereinbarung aller seiner talente, die

/ vorzüglich

|P_171

/vorzüglich zu einer oder der andern Art von Ausübung gestimmt
sind. Aber worauf die Vereinbarung aller Talente gerichtet seyn
mag, ist gemeiniglich schwer zu entdecken, da es doch in der Wahl der
Lebens-Art sehr nutzbar ist zu wißen, welches wohl das Geschäft
seyn möchte, das man nach seiner gantzen Anlage am besten
ausrichten könte. Daß können die Menschen gemeiniglich erst
spät, wenn sie ihre LebensArt schon lange getrieben haben. Wenn
der Mensch seine Naturbestimmung erfüllt: so kan man noch nicht
sagen er hat Genie, indem er alsdenn nichts vorzügliches leistet. Da-
her geschieht es, daß man bey den Talenten genies zu suchen gewohnt
ist, die durch Erlernung nicht cultivirt werden können, und an
deren Stelle nicht Fleiß gesetzt werden kan. Man pflegt nur
bey denen Genie zu suchen, die vorzügliches talent bey Dingen
haben, die nicht durch Fleiß erlernet werden können. z.B.
wenn ein Mahler nicht blos Copist in der Natur, sondern
Schöpfer in den Gemählden ist. Es giebt gute Mahler in Anse-
hung deßen, was das nachahmen betrift, aber sie können
keine neue Compositionen entwerfen. Genie ist also daß
wo Fleiß den Mangel der Talente nicht ersetzen kan. Derglei-
chen sind alle producte der imagination. Einen guten Mathe-
matiker nennt man nicht ein genie, hingegen bey Dichtern
sucht man Genie. Bisweilen setzen wir Genie auf die Erfindung
einer mechanischen Kunst, wo die Natur allein alles gethan
hat. Autodidacten, die Dinge ausfindig machten, ob sie
gleich schon bekandt sind, nennt man genies, weil ihnen das
talent angeboren ist, und das product gleichsam durch sie
selbst erschaffen ist; daraus ist zu ersehen, daß es beym
genie nicht auf die Größe des Talents ankomme, sondern
darauf, daß es {_nicht_} in der Nachahmung geschehen muß.

/ Wir

|P_172

/Wir können das Genie mit einem Baum vergleichen; das genie
schießt seine Wurtzeln in der Urtheilskraft. Von Deutschland kan
man nicht sagen, daß da die Natur so freygebig mit genies gewesen
sey, aber das vorzügliche bey ihnen ist Urtheilskraft, welches eine
sittsame Eigenschaft ist, die nicht an wichtigen producten fruchtbaar
ist, sondern auf eine bescheidene Abwiegung der Wahrheit ab-
zweckt, und auf Ubereinstimmung mit den Zwecken. Ihr Nutzen
ist mehr negativ als productiv. Das genie schießt in die K{_er_→_ro_}-
ne, bey dem der das vorzüglichste talent der imagination ist,
nemlich bey der productiven, die selbst neue Bilder hervorbringt.
Am meisten schießt das genie in Italien in die Krone, denn da
giebts die grösten producte der imagination, d.i. des Talents
der Sinnlichkeit, das productiv ist, Gegenstände in ihrer voll
kommensten Art hervorzubringen, z.B. Mahlerey, Bildhauer
kunst, Baukunst pp. Bey diesen hat der Verstand immer
seinen Antheil, aber das wesentliche besteht doch in der
Richtung der imagination auf Neuigkeit Lebhaftigkeit p.p.
In die Blüthe schießt das Genie beym Geschmack. Franckreich
ist der Sitz des Geschmacks, welcher in der Wahl bestehet,
die jedermann gefällt. Dieses Vermögen gesellschaftlich
zu wählen, ist bey denen Nationen am grösten, die die Meister
in der Gesellschaftlichkeit sind. Doch aber ist die Blüthe {_nicht_} das
wesentliche des Genies. Denn der Geschmack thut nur die
Feinheit zu den Producten des genies hinzu, um es gleichsam
zu polieren und zu glätten. Denn das Genie kan rohe
producte hervorbringen. z.B. Schakespear, und da zeigt
das Genie seine gantze Kraft, und läßt sich nicht durch das
Beyspiel einschräncken. Ein Mensch hat Geschmack wenn er für

/ jedermann

|P_173

/jedermann und nicht blos für sich wählt. Ein Mensch in der Einsamkeit
wird immer appetite behalten, und gewiße Dinge werden ihm
immer angenehm oder unangenehm seyn. Geschmack aber kan
er nicht haben, weil er nichts für die Gesellschaft wählen kan.
Der Verstand beurtheilet alles nach der Wahrheit; der Geschmack
hingegen nach der Sinnlichkeit eines jeden. Je größer also die Ge-
fälligkeit in einem Volck ist, desto freyer werden sie im Geschmack
seyn, und dadurch die Gesetzgeber des Geschmacks werden.
Und daß sind die Franzosen wircklich, wovon die Ursache ihr
Hang zur Geselligkeit, die in diese Nation mehr, als in eine
andere gelegt ist; und schon die alten Gallier werden uns als
solche «L»gesellige Leute beschrieben. Montesquieu wird we-
gen seinen Schriften außerordentlich bewundert. Indeßen
ist darin doch mehr Blüthe als Wurtzel, und durch sein Buch
hat niemals eine Gesetzgebung zu Stande gebracht werden
können. In England gehen die Producte immer auf einen
Zweck hinaus, mit größten Fleiß legen sie alles auf den
Zweck an, daß etwas zu Stande gebracht werden könne.
Hier schießt das Genie mehr in die Frucht. Wenn einerley Ge-
genstand von verschiedener Nation behandelt wird: so fin-
den wir doch, daß der wirckliche Werth mehr in den Schriften
der Engländer, als bey andern gefunden wird.

/Beym Genie ist der unerforschlichste Theil das, was man
Geist nennt, das auszufinden, was man in allen producten
des Menschen Geist nennen kan, ist eben so unmöglich als es ist,
einen Geist in der Erscheinung mit Händen zu faßen. Unter
Geist versteht man das, was belebt. Was aber das sey, was
in den producten der imagination belebend ist, ist schwer auszu-
finden. Wir finden daß ein Ausdruck in einem Dichter solche «A»Effecte
thun kan, daß alle unsere Gemüthskräfte bewegt werden, daß unser

/ Witz

|P_174

/Witz anfängt in ein Spiel zu gerathen, daß unser Verstand Stoff
zum dencken bekomt. pp. Dieser Geist ist nicht pure Lebhaftigkeit;
denn durch Lebhaftigkeit, kan der Mensch sehr überlastiget seyn; sondern
Geist ist das {_Wort_→_was_} da{_«s»_} würcklich belebt. Beym Geist ist der Mensch nicht allein
lebhaft, der ihn hat; sondern seine Lebhaftigkeit, geht sympathetisch.
in das Leben anderer über, was daß aber sey ist schwer ausfindig zu ma-
chen. Wir finden aber doch daß in Schriften Geist sey; man kan nicht sagen,
worin das steckt; aber es scheint, daß wir einen gewißen Saamen zu neuen
Kentnißen einge«z»sogen haben, und mit neuen Gedancken beschwängert sind:
man hat sein talent mit neuen ideen beladen. Zu dem was Geist heißen
soll wird etwas erfordert, das speciale idee heißt. Die Idee be-
steht darin, das wesentliche aus den Dingen zu ziehen, was in ihnen wohnt,
und wozu das übrige nur ein Zusatz und vehiculum ist, zu dem, was
die wahre Frucht gewißer Erkentniße ausmacht. Formey hat aus den
Wercken des Rousseau einen Auszug gemacht, welcher aber nichts,
als die allgemeinen ideen enthält, wobey denn vieles hinzugesetzt ist,
um das Werck auszudehnen. Die Hauptideen, die in den Schriften regieren,
sind oft so schwer herauszubringen, daß der Autor selbst sie oft nicht he-
raus bringen kann, und ein anderer ihm manchmahl beßer sagt, was
die Hauptidee war. Wenn aber in den Producten etwas ist, daß durch
das gantze einstimmig lebt: so nennt man das Geist. Es kan ein Buch
sehr viel Witz enthalten, und sehr unterhaltend seyn, aber doch noch
sehr weit vom Geist unterschieden seyn. Denn der Witz ist eine
Art von Ackerwerck, daß zwar belustiget aber nicht oft kommen
muß, so wie die Süßigkeit: Aber der wahre Geist strengt unsere
eigene Talente mit an, und macht sie dem originale ähnlich.

/Es giebt gewiße Schrifsteller, die aus sich selbst Dinge hervorbringen,
die sonst zwar nicht unerhört sind, die sie aber doch ohne alle Belehrung
haben zu Stande bringen können. Dies sind die Eleves de la Nature, die
von selbst dazu gelangt sind, was andere durch viel Fleiß haben
erlernen können. Kein Land enthält nach proportion der Einwoh-
ner so viel Eleves de la nature als die Schweitz, und selbst unter
den Bauren findet man sie in Menge. Es sind unter ihnen Philosophen

/ ohne

|P_175

/ohne es selbst zu wißen, da doch in ihrem Thun so viel philoso-
phie, und in ihren Reden so viel originalitaet ist, daß man sich
darüber verwundern muß, so, daß diese Menschen wohl verdienten,
daß man den seltenen ihrer Eigenschafften nachspührte. So hat
man in der Schweitz wahre mechanische Köpfe, die es allein durch
sich selbst geworden sind. Man hat z.B. Brücken durch mechanische
Kunst erbaut, die viel wundersahmes haben. Von diesen sind
die Autodidacteri zu unterscheiden, denn diese bedürfen große
Arbeit und Fleiß, und gelangen mit großer Mühe zu dem,
wozu sie durch eine kurtze Belehrung von andern würden ge-
bracht seyn. z.B. in der Mathematik, Mahlerey. p.p. Daß sind
keine genies, sondern einsichtsvolle Leute die auf etwas verfallen,
worin sie sich einmahl verliebt haben: diese bleiben gemeinig-
lich in sehr engen Schrancken. Die wahren genies aber fangen da-
mit an, daß sie etwas vornehmen, daß selbst ein anderer,
dem die Sache schon bekant war, nicht anders würde zu Stande
gebracht haben. Musici setzen darin eine große Geschicklich-
keit, wenn sie auf einem Instrument einen Ton hervorbrin-
gen können, denn ein ander Instrument hat. z.E. auf der Hautbois
einen Flöten Ton zu blaßen, ob der Ton gleich an sich selbst
nicht angenehm ist. Was @oso@ außerordentlich ist, aber am
Ende doch keinen Werth hat, wird durch diese Seltenheit
und Kunst die dabey nöthig ist, angenehm, und so bewundern
wir Leute, die ohne Hülfsmittel bey allen Hindernißen es
so weit gebracht haben.

/Man könte fragen ob die Lust zu Geschäften mit der Na-
turgabe zu denselben immer übereinstimme, und ob die Natur
uns so geordnet habe, daß sie uns dazu, wozu sie uns das Talent
gab, auch den Hang gegeben hat. Mann sollte dencken, die Natur

/ würde

|P_176

/würde keinem Thiere einen Instinct gegeben haben, ohne
ihm auch das Talent dazu zu geben. Aber die Erfahrung will
beym Menschen nicht damit übereinstimmen. Es kan seyn,
daß <das> des Menschen vorzüglichstes Talent sey, wozu er den mei-
sten Hang hat, aber oft kan der Mensch wenig darmit nutzen. Kein
Mensch komt dahin, wohin ihn die Anlagen der Natur würden bestimmt
haben, sondern fast alles komt auf den Zufall an. Manche Menschen
haben ihr Steckenpferd, woran sie ihre Belustigung finden, sie mögen
dazu Talent haben oder nicht. Das beweiset, daß das Talent nicht
immer mit dem Hange übereinkomme. So hat bisweilen ein Jurist
großen Hang zur Poesie, und versäumt wohl d{_¿¿¿_→_ar_}über sein Amt;
wenn er gleich critisiret und heruntergemacht wird. Er kanns
einmahl nicht beßern, daraus sieht man daß der Kitzel zum
Dichten das angenehmste von der Welt seyn muß. Ein gewißer
Hang beweist also nicht immer das Talent, aber es zeigt sich
doch immer aus dem Verhalten des Menschen. Zur Pflicht über-
nimt man das Amt, und aus LieblingsBeschäftigung ein ange-
erbtes Geschäft.

/Praecocia ingenia sind Kinder von vorzüglicher und sehr
fruhzeitiger Entwickelung der Fähigkeiten. Dies bedeutet
aber gemeiniglich, so wie die zu früh ausgebrochene Blüthe
eines Baums {_keine_} Frucht. Berrentis, der im 13ten Jahr Doctor in allen
Facultaeten war und Heincke, sind Wunder von Kindern
gewesen. Aber der Erfolg hat gewiesen, daß wenn sie gewach-
ßen sind, ihr Geist eben kein vorzügliches talent bewiesen hat.
Das genie wird oft durch cyklopische Gelehrsamkeit niedergedrückt
d.i. durch Gelehrsamkeit, wozu der Mensch Gedächtniß nöthig hat,
und wo die Urtheilskraft nicht Kräfte genung hat, allein den Stoff
des Gedächtnißes zu bearbeiten, und das wahre genie unter der
Last einer so vasten Gelehrsamkeit niedergedruckt wird. Leibnitz
war eines der vorzüglichsten genies; aber da er sich durch sein Talent locken
ließ, alles wißen zu wollen, so geschahe es daß er in keinem excellirte

|P_177

/ ≥ Von der Gewohnheit

/Gewohnheit kan den Mangel der Talente ersetzen; sie besteht in der
Leichtigkeit der Ausübung und macht die Arbeit leicht. 2tens macht sie die
Leiden leicht. Das Leiden wird leicht dadurch, daß man ihm entgegen ar-
beitet, so, daß der Mensch sich einen habitus erwirbt, den Unannehm-
lichkeiten des Lebens einen gewißen Muth entgegen zu setzen.
Aber gewiße Beschäftigungen bringen durch die Gewohnheit
Leichtigkeit zu wege, welches das Talet forthilft, und daß
ist die routine. Bey gewißen Leuten bewundert man ihre Ge-
schicklichkeit, da sie doch nichts weiter als routine haben. Denn
wenn etwas bloßer Mechanismus ist: so bringt die routine
einen analogen von Gelehrsamkeit zu wege; denn wenn
einerley Vorschriften da sind: so findet man sich leicht in alles
z.B. in die Jurisprudentz, aber wenn in der Welt der Mecha-
nismus etwas überschwemmet, und die «rot» routine nur den
Unterschied ausmacht, so verliehrt sich zuletzt alles genie; denn
es hat denn keine Nahrung. Es ist da gleichsam eine spanischer
Klepper für einen «Zug» <Pflug> gespannt. Denn wo peinliche Befolgung
der Regeln nöthig ist, da ist das genie überflüßig.

/Nelly in Florentz bemerckt (welches aber wohl unnütz ist)
daß es seine Melempsychosis des genies gäbe. Er will es vor-
züglich bey 3. Personen bemerckt haben, daß der Geburtstag
des einen der Sterbetag des andern war. Am SterbeTage des
Argelo wurde Galilaei gebohren, und am Sterbetage dieses
Mannes wurde Newton geboren. Aber als Newtons Mutter
schwanger war, lebte ja Galilaei noch, und das Kind mußte
doch in Mutterleibe eine Seele haben.

|P_178

/ ≥ Zweyter Haupttheil der Anthropologie
/Vom Gefühl der Lust und Unlust

/Wir haben bisher von Sinlichkeit %und Verstand geredet, oder von un-
serm Erkentnißvermögen. Denn wir können alle Vermögen des Men-
schen in 3 quartiere eintheilen, nehmlich, 1tens in das Erkentnißvermögen
2tens in das Gefühl der Lust und Unlust, 3tens in das BegehrungsVermogen,
oder den Willen. Alle unsere Vermögen laufen auf Thätigkeit und
Ausübung hinaus, und der Mensch hat in sich principia der Handelns.
Zu dem Behuf hat er Vorstellungen von Erkentnißen von Lust und
Unlust, und von Bestimmung ihrer Kräfte, den Gegenstand herbey
zu bringen oder abzuhalten.

/Wir haben das Capitel von der Erkentniß abgehandelt, und kommen
jetzt zum Gefühl der Lust und Unlust. Dies ist ein interessanterer
Gegenstand. Bey der Erkentniß interessirte uns noch nichts, weil
wir da noch nicht erkannt hatten, ob etwas unserer Neigung
gemäß sey. Nun aber fragen wir nach den Bedingungen, unter
denen das erkante ein Gegenstand unseres Vergnügens {_auf_→_oder_} un-
serer Unlust sey. Es ist schwer zu erklären, was Lust oder Unlust
sey, und eben so schwer ist es zu erklären was Vergnügen oder Schmertz
sey.

/Vergnügen ist das Gefühl von der Beförderung des Lebens, Schmertz ist das
Gefühl von der Hinderniß des Leben{_s, u_→_s. U_}nter Vergnügen verstehen wir
nicht das Gefühl des Lebens; denn beym Schmertz fühlen wir das Leben
eben so wohl, und wohl noch stärcker. Beym Schmertz wird dem Menschen
das Leben erstaunlich lang, hingegen beym Vergnügen daurets ihm
kurtz. Also macht nur das Gefühl von der Beförderung des Lebens
das Vergnügen aus. Das Hinderniß des Lebens macht auch noch
nicht den Schmertz aus, sondern es muß ein Gefühl von der Hinder-
niß des Lebens da seyn. Es kan ein Hinderniß des Lebens nur
klein seyn, in einem organ kan eine Hinderniß des Lebens erregt
werden, aber das Gefühl dieses Hindernißes des Lebens kan groß

/ seyn.

|P_179

/seyn. z.B. bey Zahnschmertzen. Eben so kan die Beförderung des Lebens augen-
blicklich seyn, und hinter her noch eine Schwäche des Gemüths zurücklaßen, so
wie es viel dergleichen Vergnügen giebt, die hinter her mit einer Art von
Unmuth begleitet sind. Aber so lange ein Vergnügen daurt, ist doch ein Ge-
fühl von der Beförderung des Lebens. Unser Leben besteht in der Thätigkeit.
Diese Empfindungen von Vergnügen dienen dazu, unsere Thätigkeit zu be-
fördern, andere hindern sie, und das Gefühl von den Hindernißen der
Thätigkeit des Lebens ist der Schmertz; das Gefühl aber von der Beförderung
der Thatigkeit des Lebens ist das Vergnügen, dies finden wir in allen Zeit
Verkürtzungen, und wir können so gar das Vergnügen des Lesens
dahin zählen, wir finden eine harmonische Bewegung aller unserer Ge-
müthskräfte. Bey der Music und Poesie, welches ein Gefühl von der
Beförderung des Lebens ist. Viele vermeinte geistige Vergnügen sind
indirecte doch körperlich, wenn wir gleich davor halten, daß nur unser
Geist dadurch in Vergnügen «ge»<er>halten werde. z.B. die Music. trägt zur
Verdauung und Gesundheit bey, und da wird unser Gemüth «doch» <durch> das
Wohlbefinden des Körpers mit in Bewegung gesetzt, welches man das
idealische Vergnügen nent.

/Es frägt sich ob das Vergnügen vor sich alleine existiren könne, und ob wir
jedes mahl eines Vergnügens fähig sind, oder ob vor jedem Vergnügen
ein Schmertz vorher gehen muß, so, daß, das Vergnügen nur eine
Aufhebung des Schmertzes sey? Hier scheint das menschliche Leben melan-
cholisch zu seyn, und nichts zu enthalten, daß einen Werth hätte. Wenn
Vergnügen das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist.-. so setzt doch
dies eine Hinderniß des Lebens voraus; denn es kan keine Beförderung
erfolgen, wenn keine Hinderniß vorhergeht. Wenn also das Hinderniß
des Vergnügens der Schmertz ist: so setzt das Vergnügen den Schmertz voraus.
Wenn wir unsere Lebenskraft über die Maaße vergrößern wollen, um
aus dem Zustande der Gleichgültigkeit heraus zu gehen: so bringen wir einen
entgegengesetzten Zustand hervor; und vergrößern wir die Lebenskraft
über die gebührende Maaße: so bringen wir ein Hinderniß hervor. Die
Lebenskraft hat ein Maaß, worinnen weder Vergnügen noch Schmertz ist
nehmlich das Wohlbefinden. Wenn dieser Zustand durch irgend

/ eine

|P_180

/ein Hinderniß verringert ist, so ist eine Beförderung des Lebens möglich,
wenn dieses Hinderniß des Lebens aufgehoben wird. Das Vergnügen
kan also nur auf einen Schmertz folgen. Wenn wir unsere Augen
{_mit_→_auf_} dem Lauf der Dinge richten: so finden wir: in uns ist ein Trieb
der uns augenblücklich nöthigt aus unserm Zustand heraus zu gehen.
Wir werden durch einen Stachel dazu genöthigt, durch eine Trieb-
feder, wodurch alle Menschen (und Thieren) in Bewegung gesetzt wer-
den. In Gedancken ist der Mensch immer gequält, wir gehen conti-
nuirlich aus dem gegenwärtigen Zustande hinaus in einen anderen, man
lebt immer in der künftigen Zeit, und kan sich in der gegenwärtigen
nicht verweilen, sondern ist immer genöthigt auf künftige prospecte
zu gehen. Alles daß aber, was mich nöthigt, aus meinem Zustande
herauszugehen muß doch ein Schmertz seyn. Und daß das Vergnügen
uns nicht lockt auf die Zukunft hinaus zu gehen; sondern eine Art
von Unglück den Menschen anficht, seinen kleinen Schmertz zu lindern,
sieht man daraus, weil man sich schon im Voraus einen Gegenstand
des Vergnügens sucht, ohne noch den Gegenstand des Vergnügens
zu kennen, und also ihn nur als eine Hülfe für die Unruhe die
ihn treibt und quält sucht. Denn wir sehen deutlich, wenn der
Mensch immer continuirlich beschäftigt ist, sich immer Plane macht:
so lockt ihn nicht ein Vergnügen, das er prospicirt, sondern er
sucht es erst zu erlangen, und ist also getrieben worden, aus
dem Zustande des Schmertzes heraus zu gehen, um sich Linderung
deßelben zu verschaffen. Der Mensch ist also in einem unauf-
hörlichen Schmertz, und Schmertz ist der Sporn zur Thätigkeit
in der menschlichen Natur. Unser Loos ist so beschaffen, daß
nichts bey uns dauerhaft ist, als der Schmertz, bey dem einen
mehr, bey dem andern weniger, aber so, daß es doch bey
allem bleibt, so, daß die Vergnügen nur kleine Linde-
rungen der Schmertzen sind. So ists mit dem Menschen
beschaffen; wie es mit den Geschöpfen anderer Planeten
beschaffen seyn mag, wißen wir nicht. Das Vergnügen
ist nicht positiv, sondern nur eine Befreyung vom

/ Schmertz.

|P_181

/Schmertz, die aber nur blos negativ ist. Hieraus folget, daß wir
beym Vergnügen niemals anfangen können, sondern immer beym
Schmertz, und daß das Vergnügen nur auf den Schmertz folgen kan,
denn weil es nur eine Befreyung vom Schmertz ist: so kan es nicht zu
Anfange seyn. Das Vergnügen kan also nicht in eins fortdauren, sondern
es muß sich mit dem Schmertz zusammen vereinigen, um sich alle Au-
genblicke durch den Schmertz durch zubrechen, denn darin besteht eben
das Vergnügen. Der Schmertz aber kan in eins fortdauren, und kan
langsam und allmählig gehoben werden, und den bemercken wir
das Vergnügen nicht. Aber die augenblickliche Hebung des Schmertzes
macht daß in uns, was wir ein nahmhaftes Vergnügen nennen können.
Wir finden uns continuirlich mit namenlosen Schmertz afficirt, wir
nennen es Unruhe, Langeweile, und je mehr Lebenskraft ein
Mensch hat, desto stärcker fühlt er das. Ohne daß etwas körperliches
ihn plagt, ist das Gemüth von namenlosen Schmertzen gefoltert, und
handelt ohne daß es genöthigt wird, etwas vorzunehmen. Menschen
laufen deshalb in Gesellschaften, wenn sie sonst keinen Geschmack
finden, und ob sie gleich in denselben Mißvergnügen fühlen: so hebt
@d@och der Wechsel der mancherley Eindrücke ihren Schmertz. Aus eben
diesen Ursachen haben sich auch viele Menschen das Leben genommen,
und der großte Theil solcher melancholischen Leute, komt auf das
Laster des Selbstmordes, weil der Stachel des Schmertzes sie ver-
folget, daß sie kein anders als dies Mittel dawieder finden. Denn
nach gerade hören alle LinderungsMittel deßelben auf. Es ist
gantz gewis daß die Einrichtung der Vorsehung so ist, daß wir
durch den Wechsel des Schmertzes zur Thätigkeit getrieben wer-
den sollten. Kein Mensch kan am Genuß der Ergetzlichkeiten
Vergnügen finden, sie werden ihm mit der Zeit schaal. Der
Mensch kan kein wahres Vergnügen genießen, als allein in
der Arbeit, diese ist ihm dermaaßen nothwendig, daß er in Er-
mangelung derselben seine Zeit nicht so gut passiren würde, als
bey der Arbeit selbst. Das Vergnügen bey der Arbeit bestehet
in der Reaction gegen den Schmertz, dem der Mensch unterworfen

/ seyn

|P_182

/seyn würde, wenn er nicht seine Kraft anstrengte ihm zu entgehen.
Die Arbeit hat Ungemächlichkeit an sich selbst, aber sie sind doch klei-
ner, als wenn wir ohne Arbeit sind. Da der Mensch also in der Arbeit
Unterhaltung suchen muß, so muß sein Leben wahrlich sehr elend seyn.
Und da dem Menschen alle Zerstreuungen keine LinderungsMittel
sind, so muß er in einer Unruhe seyn, die ihn beständig nöthigt aus
seinem Zustande heraus zu gehen.

/Die Menschen glauben es sey undanckbar gegen die Schöpfung, wenn
wir von der Vorsehung so reden wollen, daß sie uns in einen
beständigen Schmertz versetzt habe. Aber es ist dies eine weiße
Einrichtung der menschlichen Natur, um uns zur Thätigkeit zu
bringen. Wir würden beym Vergnügen nicht aus unserm Zu-
stande herausgehen wollen, noch was neues «an»<vor>nehmen wollen.
Wir werden das Leben glücklich nennen, daß mit allen Hilfsmitteln
wieder den Schmertz versehen ist; denn wir haben keinen andern
Begriff vom Glück. Zufriedenheit ist, wenn man in dem Zu-
stande worinnen man ist, zu beharren denckt, %und alle Mittel des
Vergnügens entbehren will, sie ist die Entbehrlichkeit alles Ver-
gnügens, der Zustand des Wohlbefindens, worin man aller Gegen-
mittel gegen den Schmertz überhoben ist. Aber diesen Zustand finden
wir bey keinen Menschen. Es kan ein Mensch wohl sagen: ich bin mit
{_dem_} Gantzen meines Zustandes zufrieden. D. i. ich kan BeförderungsMittel
wieder den Schmertz haben, den wir genießen gewiße Dinge, die
unmittelbar, und an sich unangenehm sind, und von denen man
nicht den geringsten Begrif haben könte, warum wir sie genießen,
wenn sie nicht plötzlich vor Freuden, und indem sie verschwinden uns
Vergnügen machen. Der Tobackrauch macht bey jeden Zuge wie-
drigen Geschmack, der aber in demselben Augenblick wieder ver-
schwindet, und dieser Reitz macht uns Vergnügen. Was hätte
man nun nöthig, sich unangenehme Empfindungen zu machen, wenn
die Linderung des Schmertzens nicht Vergnügen wäre? Wir sehen
daß Menschen bey einer Pfeife Toback eine besondere Unter-
haltung finden. Die Ursach davon ist, weil Nichts da ist, das einen
beständigen Eindruck machte, und der Eindruck so oft wiederholt
werden kan, und so oft wieder verschwindet. Er hat hiebey
2 Vortheile. 1) zerstreut ihn die Mannigfaltigkeit der Eindrücke
2. Vergnügt es ihn, weil die Eindrücke so gleich wieder verschwinden.

/ Alle

|P_183

/Alle Genießmittel die wir einmahl wieder laßen können, sind von
der Art, daß sie unmittelbar angenehm sind. Dahin gehören alle Tobacks
sorten {_unter andern das tobacks Kauen_}, welches nichts als eine ätzende Schärfe erregt, die aber in der
Folge durch den Reitz den sie hat, wieder vermindert wird. Da-
her ists eine Unterhaltung, das Gemüth von den Sorgen abgezogen
@die@ es sonst continuirlich anfechten. Warum suchen Menschen den
Rausch des starcken Getränckes wieder die lange Weile? (Langeweile
ist der Inbegrif des unnenbaren Schmertzens.) Bey allen wilden
Völckern und gemeinen Leuten finden wir, daß sie den Rausch
suchen, so, daß der Bauer kein starck Geträncke verlangen wür-
de, wenn er nicht wüßte, daß es ihm einen dauerhaften Rausch
verursachen würde. Der Rausch macht ihn fühllos gegen die unauf-
hörlichen Unruhen des menschlichen Gemüths, und er kan sich dadurch
mit Blendwercken und leeren Hofnungen das Übermaaß seines
Schmertzes lindern. Kein Vergnügen kan in uns fortdauren,
sondern der Schmertz muß sich immer mit einmengen. Das Ver-
gnügen im Wohllaut kan ohne dissonanzen nicht statt finden.
Das Saltz ist eine Art von Reitz, in den Speißen liegt aber et-
was wieder diesen augenblicklichen Schmertz, daß gegen ihn wirckt,
so daß er gleich wieder gehoben wird. Durch solche Antriebe
wird unsere Thätigkeit bewegt, etwas zu schaffen, und unser
thierisches Leben würde ohne solche kleine Schmertzen nicht befördert
werden können.

/Können diese Vergnügen eine größere Summe ausmachen, als
der Schmertz? Nein, weil sie nur Hebungen sind, so können sie nur
so viel ausmachen als der Schmertz selbst, und oft noch weniger
denn bey einem langsam aufgehobenen Schmertz, fühlen wir die Auf-
hebung nicht, und in der plötzlichen Aufhebung allein besteht das
Vergnügen. Unser Leben kan also wohl mit sehr lange daurenden
Schmertz, aber nur mit Vergnügen, daß mit Schmertz verknüpft
ist verbunden seyn, und es ist wenigstens beym Menschen immer der
Wunsch da, auch aus dem grösten Vergnügen heraus zu gehen. z.B.

/ Leute

|P_184

/Leute, die große Erbschaften erhalten, haben immer sehr große
Unruhen.

/Alles dieses angeführte enthält die Behauptung des Grafen
Veri, die von einigen gemißbilliget wird, aber doch richtig ist,
und worauf die wahre oeconomie der menschlichen Natur ge-
gründet ist. Sin«¿»d bey der Religion die Verheißungen von
der Freude des Himmels daß, was die Menschen zur Beobachtung
der Gesetze antreiben soll? Nein, vielmehr nöthigt sie sie
vor die Furcht, vor den Strafen, sich den ReligionsGesetzen
zu unterwerfen. Dies ist so sicher, daß da Mahomet ver-
sucht hat, den Himmel mit lauter sinlichen Wollust anzufül-
len, dies doch eben so gewirkt hat, als wenn wir unnenbare
Freuden versprechen. Aber der Schmertz {_wird_→_würckt_} kräftiger
denn davon können wir uns einen faßlichern Begriff machen,
daß das wahr sey zeigt sogar die mosaische Geschichte des Men-
schen. Der Mensch konte die immerwährenden Vergnügen nicht
aushalten, daher verfiel {_er_} darauf auch das Verboth zu übertreten.
Darauf muste er arbeiten, weil er von Natur faul ist. In dem
Zustande des Herumschlenderns konte er nicht bleiben, daher
muste er in diesen Zustand kommen. Die schönen Künste, Poesie,
Mahlerey, sind alle Hilfsmittel wieder den idealen Schmertz.
Ein Mensch der vollig gesund wäre am Geist, würde die schönen
Künste nicht achten. Sie enthalten unaufhorliche Eindrücke
auf das Gemüth, wodurch der Mensch{_en_→_ in_} diversion gesetzt
wird, immer etwas zwischen den idealischen Schmertz zu men-
gen. Denn da die schönen Wißenschafften eine solche Mannig-
faltigkeit haben, daß sie es niemals bis zum völligen Über-
druß bringen können: so sehen wir, daß die schonen Künste
auf verfeinerte Seelen tiefe Eindrücke machen, daß ist,
auf Seelen, die durch den idealischen Schmertz gereitzt sind,
und also auch idealische Heilmittel haben müßen.

/Beym Vergnügen wird jedermann die Zeit kurtz, und
beym Schmertz lang. Wenn das Leben zu Ende ist, so

/ ist

|P_185

/ist daß was mit Vergnügen durchflochten war, kürtzer gewe-
sen, als daß was mit Schmertz durchflochten war. Nun ist es
offenbahr, daß, da uns die Vergnügen des Lebens kürtzer
werden, so muß es nichts positives seyn, und da es uns beym
Schmertz lang wird: so muß der Schmertz das rechte Gefühl des
Lebens enthalten. Wir können uns daher das Leben nicht vergnügt
machen, ohne es zu verkürtzen. Jeder Theil des Tages wird uns
immer lästig, wir wünschen immer die folgende Zeit herbey, und
daß die gegenwärtige doch erst verstrichen wäre. Also muß selbst
das glücklichste Leben mit continuirlichen Schmertz beladen seyn
sonst würden wir nicht so froh seyn, die Zeit zu Ende gebracht zu
haben.

/Es scheint daß eine besondere Einrichtung mit den Bewohnern
dieses Planeten zu seyn, daß bey uns der Schmertz die Trieb-
feder ist. Vergnügen hängen nur vom Schmertz ab. Wir mö-
gen ihn nun Sehnsucht oder Unruhe des Gemüths nennen: so
ists doch immer ein Stachel, einen neuen Zustand zu suchen, denn
wir Vergnügen nennen, weil er uns von der gegenwärtigen
Unruhe befreyet, und {_dennoch_→_darnach_} benennen wir unsern Begriff
von Glückseeligkeit. Wenn jemand die menschliche Natur
deshalb als hart behandelt halten wollte, sie haben eine me-
lancholische Bestimmung: so irrt er: den nach unserm Begrife
von Glück, ist das Glück was uns vom Schmertze befreyet. Der
Mensch kan sich nichts vorstellen, das ein dauerhaftes Vergnügen
wäre, worin sich nicht Furcht und Hofnung abwechselte. Ma-
homed sagt von dem Paradiese im Himmel, daß es einen sehr
@re@ichlichen Vor{_satz_→_raht_} an Nahrungs_Mittel, und sehr große Ver-
gnügen mit dem weiblichen Geschlecht mit den sogenanten
schönen Huris enthalten werde. Aber dadurch lockt er die
Menschen nicht sehr, sondern die Furcht vor den Übeln in der
Zukunft thut mehr {_a_→_E_}ffect, denn wir können die idee von einem
gantz ununterbrochenen Glück gar nicht dencken. Denn unsere Begriffe

/ vom

|P_186

/vom Glück hängen von dem Wechsel zwischen Vergnügen und
Schmertz ab. Der Himmel hat uns nicht zu genießenden sondern
zu thätigen Wesen gemacht. Wir haben Talente der Vernunft
und körperlichen Kräfte, um unsere Zwecke zu erreichen. Da-
mit wir nun thätig wären, ist uns der Schmertz zum Wechsel ge-
geben, um in uns Thätigkeit hervor zu bringen. Daß war
der Zweck der Natur, von dem freylich das meiste bey uns auf
{_Glück_→_lauter Müh_}seeligkeit hinaus läuft, indeßen wißen wir noch nicht
was uns am Ende bevorstehet. Und wir finden auch daß wir
in diesem Zustande, nach unserm Begriff von Glückseelig-
keit glücklich seyn können.

/Die Arbeit ist die Art die Zeit zu besetzen, die wird nicht an-
ders ausgefüllt als durch Arbeit, denn die Vergnügen berauben
sich selbst ihres eigenen Genußes, und werden mit der Zeit
schaal. Arbeit ist aber eine erzwungene Beschäftigung,
und unterscheidet sich von der Beschäftigung der Muße, da-
durch daß sie Beschwerden bey sich führt, die man nur eines
Zweckes wegen übernimt. Man sollte daher dencken, die Ar-
beit könte nur in Ansehung des Zweckes vergnügen, allein
die Arbeit muß unsern Gemüth mehr Ruhe geben, der Zweck
hingegen kann das Vergnügen des Menschen nicht befördern.
Denn der Besitz des Vergnügens macht nicht das Vergnügen
aus, sondern wenn mans im prospect hat. Da die Arbeit
doch aber nichts weiters als eine Bemühung ist, so kann sie
darzu dienen, uns zum Glück des Lebens fähig zu machen,
indem sie den Schmertz abhält, denn über die Arbeit vergeßen
wir die unnenbare Leiden die uns verfolgen.

/Die Leidenschafft zum Spiel wird bey allen Nationen ange-
troffen; selbst die canadischen Wilden hazardirten sehr, und
die Sine«@b@»ser sind dem Spiel bis zur Raßerey ergeben, so
daß sie Weib und Kind und sich selbst zum Sklaven spielen.
Das Interesse beym Spiel dient dem Spiel zur Belebung,
es enthält dadurch einen so großen Reitz, daß es den grösten
Theil unser Gesellschafft ausmacht. Die Ursache ist Furcht und

/ Hofnung

|P_187

/Hoffnung wechseln beständig im Spiel, man verläßt jeden Au-
genblick den Gegenstand seiner Empfindung, so wie die Charten
sich alle Augenblick verändern, und die Eindrücke haften niemals
lang. Aber wir konnen doch kein continuirliches Vergnügen da-
rin finden, weil wir auch immer Furcht dabey haben, da aber in
einer situation eine größere Manigfaltigkeit von Eindrücken
und verschiedenen Lagen ist, und man in solcher Furcht und
Hofnung immer vergnügt ist, da wir noch immer eine Ver-
beßerung des Prospects vom Glücke glauben; so macht das
Spiel eine Unterhaltung, die uns flüchtig aus einem Zustande
@in@ den andern führt, und so hat dieser continuirliche Uber-
@ga@ng aus einem Zustand in den andern etwas belebendes.
Das Gemüth ist dabey agitiret, und geht durch allerley Affecte.
Ein vernünftiger Mann der sich zum Spiel setzt, kann doch den
Gewinn zu seiner Absicht nicht machen, sondern er muß
glauben daß er wenigstens am Ende Charten Geld wer-
de bezahlen müßen. Daher muß seine Absicht doch was
anders seyn als zu gewinnen. Während dem Spiel ist freylich
@s@eine Absicht immer zu gewinnen, aber darum hat er doch
das gantze Spiel nicht unternommen. Es ist hier lauter
Hofnung und Furcht, die im Grund alle vergebens sind, aber
man zerstreut sich doch während diesem Zustande, und hat
@de@n Schmertz, der die Menschen unter dem Namen der
langen Weile quält, zerstreut. Ein solches Übel dergleichen
die lange Weile ist, weiß man gemeiniglich nicht zu nennen,
@n@och die Gegenmittel dagegen zu sagen. Dieses Uebel
der langen Weile entspringt aus dem Stachel der Thätig-
keit. Man wird sich also immer beßer befinden, wenn man
spielt, als wenn man sich gäntzlich unthätig beweisen soll.
Es ist gewöhnlich daß Menschen sich ein ruhiges Alter auf dem
Lande versprechen, und das scheint der prospect zu seyn, der

/ alle

|P_188

/alle ihre Wünsche beschließt. Aber die Erfahrung zeigt
daß das Landleben ohne Arbeit nicht mit Vergnügen
kan getrieben werden, und daß man lange Weile hat,
und nicht anders Ruh«@m@»<e> findet, als in der Arbeit, indem man
sich durch Arbeit wieder einen neuen prospect macht. Dies
geht so weit, daß es noch keinem Romanschreiber gelungen
ist, eine glückliche Ehe zu schildern; sondern er kan nur die
mancherley Hinderniße der beiden verliebten «S»schildern,
so, daß das Ende der Liebes-Schmertzen zugleich das Ende
der Liebe ist. Denn der Besitz schwächt den Reitz, und
setzt ihn zu einer ruhigen Empfindung herab. Einige haben
einen Roman bis über die Heyrath continuiren wollen
z.E. der Thomas Jone das Fielding; aber der Verfaßer
hat doch eine Eifersucht in diese Ehe hinein bringen müßen,
um sie interessent zu machen, daraus läßt sich die Frage
der Alten beurtheilen, wie wir den Werth des menschlichen
Lebens schätzen «zu» können, und ob mehr Vergnügen oder
Schmertz im menschlichen Leben ist? Diese computation ist
vielfältig in den Schulen der Philosophen angestellt, die
Stoiker sagten der eigen{_tliche_→_thümliche_} Werth des Menschen sey die
Tugend, und die physischen Übel wären der Wegstein
und die Folie, worauf die Tugend gläntzen könte. Nichts
in der Welt hat {_einen_} Werth sagt Zeno als das Bewustseyn
seiner eigenen Würde, alles übrige ist nichts. Vergnügen
und Übel hat wenig unterschiedenes. Das Vergnügen ist
vorübergehend, und der Schmertz übt unsere Standhaf-
tigkeit, und erhöht dadurch unsern persöhnlichen Werth.
Bey Nationen denn die Natur alles gegeben hat, finden
wir daß sie in einer solchen Unthätigkeit leben, daß sie
zuletzt weniger wahrhafte Vergnügen des Lebens genießen
als andere, denen es die Natur schwerer gemacht hat. In
unserm Lande ist der Schmertz, denn die Kälte der Luft und

/ die

|P_189

/Schwere der Arbeit uns verursacht, ein starcker Stachel unserer
Thätigkeit. Der Stoicker sagt also: im Menschen steckt der wahre Werth,
Schmertz ist nichts böses, indeßen ist er uns in der Summe des Lebens
angemeßen, daß er das Übergewicht hat. Daher sagte er: sustine et
abstine, lerne duldsam und enthaltsam seyn, damit du nicht verzär-
telt werdest, und kein Vergnügen dir zur Bedürfniß werden läßest.
Man muß sich die Vergnügen so erlauben, daß man sich mehr von ih-
nen trennet, als sich ihnen ergiebt, d.i genigsam seyn. sustine
drückt daß aus, daß der Mensch nicht auf die Vergnügen rechnen könne.
Epicur empfahl das vergnügte Hertz, das so sehr blamirt ist, daß
aber in nichts weiter als in der Sorgenfreyheit bestand. Sonst war
sehr wenig vom menschlichen Vergnügen in «dem» <seinem> Garten. Das vor-
nehmste bestand darin, daß sie Brey aßen, Waßer trancken, und
freundliche Gesichter machten. Jetziger Zeit würde man sich
wohl dafür bedancken, so epicurisch tractirt zu werden. Die Epi-
@cu@rer unter den Alten waren also die rechtschafnesten Leute.
Sie behaupteten daß der Mensch beym tugendhaften Verhalten
das gröste Vergnügen genöße. Man sieht also doch, daß Epi-
cur sich in den Schooß der Tugend retiriren muste, weil er in
der Welt kein Glück fand. Lucretz beschreibet die Geburth
eines Kindes und sagt: das Kind fängt mit bangen Winseln
an, wie daß einem Geschöpf zustehet, auf welches eine
solche Reihe von Übeln wartet. Die Standthaftigkeit
macht den Menschen von dieser Reihe von Übeln unabhängig.
Einige haben geglaubt, man würde, wenn man {_von_} vorne zu
leben anfienge, einen beßern Gebrauch von seinem
Leben machen können. Indeßen findet man doch je
älter man wird, desto mehr hat man gewonnen, je länger
daß ist, was man vor sich hat, desto mehr Muth faßet man;
wenn aber das Leben zu Ende ist, so fürchtet man doch den

/ Todt.

|P_190

/Todt. Daraus sollte man dencken müste folgen, daß ein
Ubergewicht von Vergnügen in unserm Leben seyn müste, aber
daß wiederlegt nichts, denn dies ist eine thierische Furcht,
und unsere Imagination nährt uns mit Hofnung, und so
sehr diese Hofnung auch illusion ist, so unterhält sie doch un-
ser Gemüth immer. Daher ist {_es_} nicht{_«s» zu_} verwundern, daß wir
am Leben Verdruß haben, und doch den Todt fürchten
können. Wenn man das Leben genoßen hat, und noch
mit möglich guter Gesundheit begabt ist; so scheint doch
alles nicht der Bemühung werth zu seyn, die wir uns
dam{_i_}t geben, so daß jünger seyn zu wollen, einen Hang zu
eingebildeten Vergnügen anzeigt, die der Mensch haben zu
können glaubt, oder er hat die Sache nicht genung überlegt,
und besinnt sich auf das beschwerliche seines vorigen Lebens
nicht, folglich wird kein vernünftiger Mensch wünschen, sein
Leben noch einmahl zu haben. Denn der Stoiker hatte Recht,
daß der Schmertz den Überfluß des Lebens ausmacht. Veri
sagt: es ist nicht allein kein Ueberschuß des Vergnügens
zum Schmertz, sondern der Mensch kan auch kein Vergnügen genie-
ßen. {_wenn nicht Schmertz vorher gegangen ist._} Daher sagte Socrates als ihm an dem Tage, da er die
Giftbecher trincken sollte, die Feßeln abgenommen waren,
und er sich an der Stelle kratzte, die ihm von dem Druck
der Feßeln juckte: so folgt Vergnügen auf den Schmertz.
Den jede Befreyung vom Schmertz ist die Ursache des Ver-
gnügens. Die Begierde, die Sehnsucht macht, daß uns etwas
hernach vergnügt; würden wir nicht durch diesen Stachel
angetrieben seyn, und würden wir nicht Schmertz bey uns
fühlen: so würde das Vergnügen nicht mehr ein Vergnügen seyn.
Voltaire sagt: die Vorsehung hat uns wieder die Übel dieses
Lebens. 2. Mittel gegeben: die Hofnung und der Schlaf. Der

/ Schlaf

|P_191

/Schlaf ist etwas so nothwendiges, uns einen Theil der Zeit
außerhalb der Empfindung zu setzen, daß, wenn wir den Schlaf
nicht hätten: so wüsten wir nicht, wie wir die Triebe auf neue
Vorstellungen immer befriedigen könten. Diese 8 Stunden die
@de@m Leben abgerechnet werden, sind eine wahre Erholung, und mit
neuen Hoffnungen geht man folgenden Tag in die Welt.

/Man macht die Anmerkung, der Mensch hat so lange gelebt, nicht
@so@ viel als er genoßen hat, sondern so viel als er gethan hat.
Es ist besonders, daß man auf Reisen findet, daß die Meilen
@in@ gut bewohnten Ländern kurtz sind. Da nun die Meilen doch
die zeitlichen Abschnitte sind, worauf die Zeit, die man gereißt
zu haben glaubt, eingetheilet wird: so ists geschehen, daß die
@so@ in «¿»@Lä@ndern reisten, wenn eine Meile zu Ende war, noch nicht
lange gereißt zu haben glaubten, weil sie keine Abwechselung
hatten. Wenn man aber in sehr bewohnten Ländern reißet,
@so@ hat man so viele Dörfer gesehen, und glaubt deshalb man sey
eine lange Zeit gereißt, und rechnet daß für einen langen Weg,
deshalb sind die Meilen in Pommern lang, und näher nach Berlin
kurtz, weil der der die Meilen einrichtete diese Täuschung nicht
bemerckte. Ein Mensch der sein Leben wohl versorgt hat, glaubt
daß er eine lange Zeit gelebt hat, wenn er aber lauter Vergnü-
gen aufsucht, so verschwindet die Zeit so, daß er gar nicht gelebt
zu haben scheint. Daher klagen nur die Nichtsthuer über die
Geschwindigkeit der Zeit. Die Arbeit und Beschäftigung ist daß,
was uns die Zeit wircklich macht. So haben wirs also in unser Ge-
walt das Leben abzukürtzen, dagegen verlängert man sein
Leben durch Handlung. Daher sieht man daß die Zufriedenheit
mit seinem geführten Leben nicht auf dem Genuße, sondern
auf Handlungen beruht.

/Glückseeligkeit ist eine Art von Ideal, wovon wir uns keinen
Begrif machen können, worin wir sie setzen sollen; wenn wir

/ nehmlich

|P_192

/nehmlich unter Glückseeligkeit die gröste Summa von Freuden ver-
stehn, d.i. die völlige Befriedigung aller Neigungen. Wir können
uns nicht einmahl die Möglichkeit davon vorstellen, ein aus lauter
Vergnügen zusammengesetztes Leben zu genießen. Wir können
da niehmals ein vollendetes Gantze herausbringen, womit wir völlig
zufrieden seyn könten. Dies ist also eine Einbildung die keine
Begriffe correspondiret. Etwas näher könten wir uns einen
Begriff machen von einer Zufriedenheit, die aus der Genügsam-
keit entspringt, wo sich der Mensch von alle dem gantz entwöhnt,
was zum «un» entbehrlichen Genuß der Vergnügen gehöret, und
sich daran gewöhnt entbehren zu können. Da kann er sich eine
Zufriedenheit vorstellen, die auf sehr wohlfeilen Bedingungen
beruht. Aber auch von dieser kan er kein recht Beyspiel geben,
denn wie viel können wir entbehren{_, _→_? wenn wir entbehren_} so fehlt uns die Trieb-
feder zum Handeln, daher kann man nicht recht einsehen, wie
die Zufriedenheit eine Triebfeder zum Handeln seyn soll,
weil sie negativ ist.

/Die Untersuchung der Alten vom höchsten Guth bestand darin, sie
fanden: wir können die Zufriedenheit der Seele nicht im
physischen, sondern müßen sie im moralischen setzen. Der Bey-
fall denn der Mensch sich selbst giebt, muß die Triebfeder zum
Handeln enthalten. Daher schloßen sie, der Schmertz ist kein
böses, sondern ein Übel, das Laster allein ist was böses. In
der That muß man sagen die physischen Übel sind nichts böses oder
verabscheuungswürdiges, sondern ein Ubel daß sich vor die Ver-
nunft sehr wohl schicken kan. Strafen sind für die Lasterhaften
recht gut, aber das Laster selbst ist nicht beyfallswürdig. Schmer-
tzen können gebilligt werden, aber Laster nicht. Lügen, die man
verübt hat, wird einer dem andern nicht erzählen, aber Schmer-
tzen sind in Errinnerung angenehm. Die Errinnerung aber
an schlechte Streiche schlägt nieder. Das Böse ist nicht blos moralisch.

/ Wir.

|P_193

/Wir unterscheiden die Gleichgültigkeit und Gleichmüthigkeit.
Gleichmüthig ist der, der sich nicht erfreut, nicht betrübt. Aber gleich-
gültig d.i. unempfindlich zu seyn ist eine Schwäche Gleichmüthigkeit
aber ist eine Stärcke, beides sind Eigenschaften der Seele. Gleichge-
wicht ist ein Zustand durch Uberlegung, wo man zu 2. entgegen gesetz-
ten Dingen durch gleiche «Triebe» Gründe angetrieben wird. Gleichgül-
tigkeit ist eine Gemüthskranckheit. Gleichmüthigkeit aber entspringt
aus andern Triebfedern, und ist die Eigenschaft eines Weisen, der
in dem beharrlichen Zustande des Gemüths ist, sich weder zu freuen
noch zu betrüben. Thiere sind weder der wahren Freude noch Traurig-
keit fähig, denn diese bedeutet eine reflexion über den Zustand, wor-
nach man sich des jetzigen und des vorigen Zustandes bewust ist. Die
Thiere haben zwar Regungen und Schmertz aber keine Begriffe
davon. Daraus sehen wir, daß die Traurigkeit ein neuer Schmertz
über unsern unglücklichen Zustand ist, indem wir diesen Übel
ausgesetzt sind, daher Kranckheiten, die das Gemüth niederschla-
gen, al{_@s@_→_le_} aus Überlegung entspringen, aber bey Kranckheiten die
mit Schmertzen verbunden sind, faßt man Muth. Beym Schmertz
kann man wacker seyn, aber die Traurigkeit beruht auf den
Gemüthern; wir haben aber ein Vermögen daß uns so wohl wieder
Freude als Traurigkeit starck machen kan; denn Schmertz können
wir dadurch nicht verhüten, aber doch die Traurigkeit. Die {_Wich_→_Nich_}-
@ti@gkeit des menschlichen Lebens kans nur machen, daß wir
unsern Zustand für so unglücklich nicht halten, denn wir sehen
es dauret ja alles nicht lange. Das benimt den Dingen des
Lebens ihren Werth, und läßt nichts übrig, als was einen gro-
ßen Werth hat. Von der Freude sich übernehmen zu laßen,
ist was kindisches; man verlacht. z.B. einen Menschen der
sich freuet, daß er ein Spiel gewinnt. Man mißgönnt ihm
sein Glück nicht, aber schätzt ihn doch gering. Denn es ist

/ ja

|P_194

/ja nicht von großer Erheblichkeit daß einen so erfreuen könte.
Man behält doch im Leben nichts wichtiges übrig, als die Rechtschaffen-
heit, so, daß wir am Ende sehen, wir kriegen nichts heraus, was da
einen bleibenden Werth hätte, als was zu unserer Person selbst ge-
höret. Die Grundsatze des Wohlverhaltens geben ihn. Diese geht
uns selbst an, und liegt in unserer eigenen Natur, alles andere ist
betrügerisch und blendend. Das Zeugniß des Wohlverhaltens
ist allein im Stande, die Gleichmüthigkeit zu erwecken, und uns
am Ende unsers Lebens einen Werth zu geben.

/Laune und humeur ist eine besondere disposition des Gemüths
die der Mensch nicht in seiner Gewalt hat, nach der ihm die Welt
in verschiedenen Farben erscheint, so wie sich seine Gemüthsdispo-
sitionen verändern. Die Gleichmüthigkeit beruht bisweilen auf
dem temperament, aber denn ists nur eine Art von Gleichgültigkeit,
wo man starck ist, und weder in ausgelaßene Freude noch
Traurigkeit versetzt wird. Diese Gleichmüthigkeit ist dem
launischen Zustande entgegen gesetzt, wo man dem Wechsel
des GemüthsZustandes unterworfen ist, und bald verdrießlich,
bald vergnügt. Dazu kan zum Theil Kranckheit Anlaß geben,
aber sich solcher Schwäche zu überlaßen, ist die gröste {_Ver_}Nachläßi-
gung seiner selbst. Andere Menschen leiden davon nicht so viel,
als die launisch geplagten Menschen selbst. Das launigte aber
gehört zum talent, und besteht in der originalitaet eines will-
kührlichen Standpunckts, Dinge anders, als andere Menschen
anzuschauen. Einer sieht an einem Tage den Putz eines
Frauenzimmer mit Vergnügen; einen andern Tag
sieht ers vor Kinderpoßen und Eitelkeit an, nachdem ihm
der Kopf stehet. Ein solcher Mensch heißt launigt, weil er
solchen unwillkührlichen dispositionen unterworfen ist. Ein

/ solcher

|P_195

/solcher Mensch ist un{_v_}ertragsam und unleidlich. Aber launigt zu
seyn, wo man Dinge von einer originalen Seite betrachtet ist sehr
herrlich, und schickt sich vors Leben der Menschen beßer{_. A_→_, a_}ll{_@e@_→_s_} gravitae-
tische Art über andere zu urtheilen, und Dingen eine Wichtigkeit
zu geben die sie nicht haben. Democritus war der Philosoph der
guten Laune, und sagte: im Leben des Menschen ist gar keine
Wichtigkeit; es ist alles ein pures Kinderspiel. Die Klagen der
Menschen über ihre Übel sind Klagen der Kinder, die ihr Spiel-
Zeug verlohren haben. Eingebildete Übel sind es die den Menschen
quälen. Aller Menschen große Wichtigkeiten, wobey sie so gra-
vitaetische Mienen machen sind lauter Kinderspiele. Selbst über
ihre Übel haben sie mehr Ursache zu lachen. Die Übel worüber die
Menschen das gröste Geschrey machen sind phantastisch. Wir
haben in der That Ursache mit einer guten Laune, das Spiel der
Ubel in der Welt «ein»<an>zusehen. Diese gute Laune ist dem Menschen
nützlich, und macht ihm zu einen guten Gesellschafter. Heraclit
nahm die finstere Laune an, als wenn alles beym Menschen
einen in einen traurigen Zustandt versetzen müßte. Frey-
lich wenn ich die Bösartigkeit der Menschen ansehe, so empfind
ich ein gewißes grauen. Aber dies thun sie sich selber an,
und die Natur hat es nicht über sie verhängt. Am Ende sehe
ich doch, daß der, der Ehre und Redlichkeit um eines «Verdienstes»
Gewinstes verliehret, nicht verdient daß man über ih«m»n
Trähnen vergießt. Der Mensch ist ein Thor, und also ein
Gegenstand des Spottes seiner vielen Thorheiten, denen er
sich aus Thorheit ergiebt

/Empfindsamkeit ist ein Vermögen, Empfindlichkeit eine Schwäche,
und Empfänglichkeit der Eindrücke. Empfindsam muß ein Mann
seyn; denn er muß doch daß empfinden können, was er in
der Person eines andern verhüten soll, die ihn warum bittet.

/ Diese.

|P_196

/Diese Empfindsamkeit ist eine Art von Theilnehmung an andere@n_→_r@
Empfindungen, sie ist ein Vermögen daß mit einer delicatesse
verbunden ist, den Verdruß bey andern zu verhindern. Aber
Empfindlichkeit ist eine Schwäche, selbst sehr starck afficirt zu wer-
den. Empfindsamkeit ist ein Vermögen zu urtheilen, aber Em-
pfindlichkeit ist die Schwäche, nicht gerührt zu werden. Es ist
ein erbärmlicher Zustand, gleich von allen Gegenständen so
sehr getroffen zu werden, daß man darüber aus der Gleich-
müthigkeit gesetzt wird, und es kan daß nur dem schwachen
Geschlecht zugeeignet werden. Empfindlich ist der, der wie-
der seinen Willen zu Empfindungen hingerißen wird; aber
empfindsam ist der, der wohl zu unterscheiden weiß, was
Empfindung erregt, ob er sich ihnen überlaßen, und sie wie-
der aufheben kan wenn er will.

/Man hat seit einiger Zeit von der Empfindlichkeit (die man
falsch Empfindsamkeit nennet) von der weinerlichen und der
schmeltzenden Sympathie viel Wesens gemacht. Aber daß
sind m{_@ä@_→_ü_}ßige Empfindungen, die den Menschen entnerven,
und sein Hertz welck machen. Sie wird in den Romanen sehr
cultivirt, und ist mit lauter leeren Wünschen angefüllt.
Empfindsamkeit aber muß jeder Mensch haben, sie ist dem {_er-
sten_→_rohen_} Wesen entgegen gesetzt, da man glaubt, was mich
nicht incommodirt, incommodirt keinen. Sie setzt einen
Grundsatz der Theilnehmung und delicatesse im Urtheil
voraus, die gute Laune ist daß, was man jederzeit bey
allen wünschen möchte: sie hält schwer{_er_} als die pathetische
Beredtsamkeit. Bey einer pathetischen Declaration
wird wieder den Leser mit lauter Verwünschungen gere-
det; lasterhafte Menschen sind freylich ein Gegenstand

/ der

|P_197

/der Verabscheuung, aber die Verabscheuung kan auf
der einen Seite mehr Verachtung als Haß, und auf der
andern Seite mehr <2>Verachtung als <1.>Haß enthalten. Es kan
etwas ein Gegenstand des Haßes seyn, aber warum
sollen wir uns mit Haß anfüllen? Das Gemüth ist niemals
in der liebenswürdigsten Faßung, wenn ich jemanden haßen
kan. Wir wollen also das Böse so verabscheuen, daß das mehr
mit der Verachtung zusammengräntzt, und nun können wir
uns der guten Laune überlaßen. Wenn man das ungereimte
des Geitzes betrachtet: so ist daß eine weit inniglichere Art
des Abscheus, wenn sie auf Verachtung, als wenn sie auf Haß
gegründet ist. Denn dem was man haßt, legt man noch immer
einen Werth bey, so bald man aber einen verachtet: so hat
dieser keinen Werth mehr für uns. Bey der Frömmigkeit
Arbeit p.p. sollte eine gute Laune seyn, so daß der Mensch
alles in guter Laune thäte, und sich nicht eine angemaßte
Wichtigkeit seiner Geschäfte gäbe, da doch im Grunde in
allen Handlungen nicht der Grad der Vortreflichkeit ist,
den man sich vorstellt. So wird man alle Vortheile des Le-
bens nicht gar zu groß achten, daher laßt uns das Spiel
des Lebens mit guter Laune treiben, das gravitaetische Ge-
sicht schickt sich gar nicht für die Situation eines Menschen,
worin er als Mensch ist. Er ist ja ein Ball des Glücks, er
sey also frölich, denn wenn er nicht gute Laune haben will
wer soll sie den haben? Der Bösewicht doch gewis nicht.
Das muntert selbst denn auf, wenn wir etwas verabsäu-
mungswürdiges betrachten, und macht uns bey andern
beliebt. Man hat auch Beyspiele von standhaften Men-
schen die bey guter Laune gestorben sind. Denn es

/ ist

|P_198

/Denn es ist ja einmahl nichts weiter zu thun, als standhaft
zu seyn. Daher habe man sich bey seinem Tode nicht als wenn
das gantze Weltsystem über Haufen fallen müste. Was ich
zu sehr mit angestrengten Fleiß thue, das thue ich ungerne
aber mit guter Laune thue ich etwas gerne.

/Man sagt: sich etwas zu Gemüthe ziehen, und sich etwas zu Her-
tzen nehmen. Man muß sich nichts zu Gemüthe ziehen, aber
vieles muß man zu Hertzen nehmen. Sich etwas zu Gemüthe
ziehen, heißt sich dem Schmertz gäntzlich überlaßen. Denn
der Schmertz ist nur der Mangel der Thätigkeit. Man
muß also etwas thun, «um» den Gegenstand des Schmer-
tzes zu heben, oder etwas de«nn»m Schmertz entgegen würken-
des zu Stande bringen. Man verachtet einen Men-
schen der über ein Unglück Trähnen vergießt, und nicht
lieber Muth faßet, um es wieder zu ersetzen. Er
muß in seinem Gemüthe nicht den Wurm nagen laßen,
sich nicht mit dem Stachel quälen laßen, ohne dadurch
zur Thätigkeit angetrieben zu werden. Indeßen
haben doch Geistliche behauptet, daß Buße eine innere
{_Ruhe_→_Reüe_} sey, die in einem selbst quälen bestände, daß
man nicht lange genung fortsetzen könne. Reue
aber hat als Reue keinen Werth, sondern nur in so fern
sie die Triebfeder zur Beßerung ist. Die Reue ist also
ernstlich, wenn sie so geschwinde, als möglich zu guten
Thaten übergehet. Wer da glaubt daß die Reue an
sich einen Werth habe, irret sich sehr. Thue was gu-
tes dazu ist {_dir_} der Schmertz gegeben; denn wie kan die
Vorsehung verlangen, daß der Schmertz blos an
unser Hertze nagen soll? Der Mensch wird durch
den Gram abgezehrt und denn h. $eautou$ $timorame-
nos$ des Terentz gleich. Wir müßen mit allen

/ Vergnügen

|P_199

/Vergnügen so häuslich zu Rathe gehen, daß wir es immer
steigern können. Denn kein Vergnügen erhält sich immer
in derselben Art, und wenn es in der Abnahme ist, so schlägt
die bloße Verminderung deßelben so nieder, wie die
gäntzliche Entbehrung. Vergnügen muß man in der Ju-
gend nur sparsam genießen, damit man immer steigern
könne, denn der Nachgeschmack eines {_großen_→_genossenen_} Vergnügens
verursacht Traurigkeit. Wenn das Vergnügen mir aber noch
bevorstehet: so habe ichs im prospect; ists aber vorbey, so kan
ich nicht mehr in die Zukunft sehen, wir haben also Ursach uns
in unserm Leben immer etwas vorzubehalten. Das Vergnü-
gen im Nachgeschmack ist das kräftigste. Eine Rede wenn
sie sich mit einem starcken Ausdruck, eine Mahlzeit wenn
sie sich zuletzt mit etwas frölichem endiget erfreuet, wenn
aber das Ende schaal ist, vergießt man alle vorige Ver-
gnügen, der Schluß des Lebens muß also immer die satis-
faction unsrer selbst enthalten. Die Jugend hat große
Ursache «ist» ihr Vergnügen so auszuüben. Es giebt Vergnü-
gen die activ sind, und Vergnügen die eine Abnutzung sind.
Die Vergnügen des Safts und des Gebrauch des Geschlechts
Vermögens sind eine wahre Abnutzung. Um ihr Vergnü-
gen zu sparen, muß sich die Jugend also am meisten den
Vergnügen entgegen setzen, die in der Abnützung bestehen.
Wer sein Geschlechts Vermögen verschleudert hat, hat
sich ein sehr schaales Alter aufgespart. Die Vergnügen
an schönen Künsten und Wißenschaften setzen uns in
den Zustand, uns mehr dergleichen zu verschaffen. Es
cultivirt unsere talente überhaupt, und jede Verbeße-
rung unserer talente ist ein fond von wahren Vergnügen.

/ Dagegen.

|P_200

/Dagegen giebts Vergnügen die nicht eine Cultur sondern
eine Abnutzung sind. So ist die wilde Lust in Gesellschaf-
ten, wo mans nur aufs Saufen anlegt, eine Hinderniß
mehr Vergnügen zu genießen. Je mehr man schwelgt,
desto mehr Vergnügen muß man im Alter entbehren. Alle
idealische Vergnügen aber setzen den Menschen in den
Stand, noch mehr derselben zu genießen. Die Unterhal-
tung mit dem andern Geschlecht in gesitteter Gesellschaft
setzt uns in den Stand dies Vergnügen noch ofte zu ge-
nießen, denn es cultivirt unsere talente. Wenn dies
Vergnügen aber blos auf den Genuß gehet, und auf
daß was die Sinne angehet, wie wir die Sinne recht con-
tentiren können, so ists eine Abnützung. Die Jugend
muß sich erst cultiviren, und sich so das Vergnügen auf
die Zukunft ersparen, daß sie alles entfernen, was sie
des Vergnügens unfähig gemacht. Nichts ist mehr culti-
virend, als Gesellschaft mit gesitteten Personen von
gutem Geschmack. Solche Gesellschafft wenn sie gleich
genirt ist, und uns nöthiget, auf uns selbst mehr Acht
zu haben, als in der rohen Gesellschafft, wo wir uns
gleich durch eine convention freysprechen, von aller Art
von Bedencklichkeit, und Achtsamkeit, ob sie uns zwar
nicht in den «Stand» Zwang der Achtung versetzen. So
sind solche Gesellschaften, doch die großte cultur un-
ser talent, denn sie verschaffen uns Geschmack an dem,
was uns fähig macht, immer so viel Vergnügen des Le-
bens zu genießen. Wenn wir also unsern Geschmack
so verfeinert haben, daß wir solcher Vergnügen
fähig sind: so konnen wir sie hernach alle Tage haben.
Aber nicht bey jenem ungesitteten Gesellschafften

/ über

|P_201

/über die Lord Schestefield klagt, daß die Engländer mit
keinem als ihres gleichen umgehen, weil es ihnen beschwerlich
ist, in Gesellschaften zu gehen, und sich zwang anzuthun. Wir
können fast nichts thun, ohne dazu gezwungen zu werden,
denn nur gezwungen gehen wir aus der Faulheit heraus.
Hat man sich aber einmahl Geschmack erworben, so sucht
man beständig solchen Umgang. Und so ists auch in dem Um-
gange mit wohl erzogenen Frauenzimmern. Man nimt
mit der Zeit ihre Manieren an, findet Unterhaltung, und wird
zuletzt selbst ein guter Gesellschafter, und giebt sich deshalb
Beyfall, in dem man davon auf das künftige Leben eine Quell
von Vergnügen voraussieht.

/Vergnügen sind mit Ungemächlichkeiten verbunden, der
Schmertz aber ist thätig und wacker. Vergnügen machen
allemahl weichlich, wenn sie uns zu Theil werden, ohne daß
wir uns darum so sehr bewerben dürfen. Die Ungemächlich-
keit hingegen macht uns neuer Vergnügen fähig; aber das
Vergnügen macht uns nur stumpfer zu neuen Vergnügen,
so, daß der Stoiker Grundsatz, sustine et abstine ein
Grundsatz zum folgenden Vergnügen ist. Lerne erdulden
und enthalte dich der Vergnügen, denn jedes Vergnügen
was ich mir jetzt versage, praeparit sich noch auf ein künfti-
ges. Alle Dinge sind im Vorschmack die vorzüglichsten;
der Bräutigam ist am glücklichsten. Die Gegenwart zerstreut
die Blendwercke der phantasie, und der Ehemann sieht die
Sache mit gleichgültigen Mienen an. Man irrt sich wenn man
glaubt, daß man ein glückliches Leben führen werde, wenn
man des Gerüchts und der Plackereyen des Amts und der Städte
könte überhoben seyn, aber ist man auf dem Lande: so fängt
man bald an lange Weile zu fühlen. Wenn wir uns also die Ver- 

/ gnügen.

|P_202

/gnügen immer aussetzen, so machen wir uns fähig, mehr
derselben zu genießen. So wie mancher Mensch um desto
weniger frühstückt, um am Mittage desto mehr zu eßen.
Man setzt sich also vor, das Vergnügen mit langsamen Zügen
zu trincken: da unsere {_Vergnügen_→_Neigungen_} uns hintergehen: so müßen
wir sie wieder hintergehen, denn bestürmen können wir sie
nicht. Wir betrügen sie aber mit ihrer eigenen Einstimmung.
Denn wenn der Mensch sich immer etwas auf die Zukunft er-
spart: so findet er mit der Zeit, daß er des Vergnügen
sehr wohl gäntzlich entbehren kan. Während der Zeit hat
er also seine Denckart gestärcket, und aus dem Zustande
herausgebracht, wo man immer gleichsam Wünsche befrie-
digen will, denn so wie man schon Kinder angewöhnen
muß etwas zu entbehren, um ihren Eigensinn zu brechen,
so haben wir Klugheit in Ansehung unsers eigenen Gemüths
nöthig, daß wir es in eine solche Verfaßung setzen,
daß es wahrer Vergnügen des Lebens fähig wird. Ohne
Grundsätze wird kein Mensch glücklich, denn in ihm muß
der Quell der Glückseeligkeit seyn, und glücklich ist der,
der in der Jugend schon frühzeitig daran arbeitet. Dies
ist die Zeit wo man gute Gewohnheiten annehmen kan,
so daß man zuletzt, aus einem guten Hang so verführt,
wie andere sich Mühe geben müßen zu verfahren.

/Die Vergnügen verschwenden die Lebenskraft, die Un-
gemächlichkeiten con{_cen_}triren sie. Beym Vergnügen wird
zwar die Lebenskraft auf einen Augenblick excitirt,
aber eben dadurch verschwendet. Wer Toback raucht,
verschwendet seine Lebenskraft, indem er sein salivam
auswirft, denn daß ist kein sputum sondern ein
Auflößungs_Mittel der Speißen. Uberhaupt be- 

/ stehen

|P_203

/bestehen alle unsere Vergnügen in excretionen, die Elemen-
te des Lebens sind, und also der Lebenskraft Abbruch thun.
Dahero heißts, sein Leben erhalten, wenn man sich vieles ver-
sagt, und nicht so gierig alle Vergnügen verschluckt, so viel {_man_}
kan{_, «man»_} gleichsam, als wenn sie verboten wären. Es ist mehr
Klugheit an uns selbst, wenn wir unser Leben mehr zu em-
pfinden suchen. Der Genuß der Vergnügen bestehet also im
Abbruch, ausgenommen das Vergnügen des Geselligen. Dies
sind nicht Erschöpfungen sondern Ermunterungen, indem sie
allen unsern Talenten Arbeit geben. Dazu wird kein organ
unsrer Lebenskraft verwandt, aber das principium des
Lebens steckt in dem denckenden Geist. Daher ist das gröste
Vergnügen daß, wornach man geschickter geworden ist.
Solche Vergnügen machen, daß man so gar im Genuß mehr
@v@ertragen kan, und befördern überhaupt das Wohlbefinden
des Körpers.

/Wir urtheilen über unser Vergnügen und Mißvergnü-
gen, ob uns daßelbe gefällt oder mißfallt. Denn ob
zwar der Schmertz unser Urtheil über den Gegenstand ist,
so fällen wir noch ein neues Urtheil, und da kan uns bis-
weilen der Schmertz unmittelbaar gefallen, ob uns gleich
der Gegenstand des Schmertzes misfällt. Eben so gefällt oft
der Gegenstand des Vergnügens, aber unser Vergnügen
über den Gegenstand mißfällt; und der Gegenstand des
Schmertzes mißfällt, aber der Schmertz kan gefallen, denn
wir haben außer den Sinnen noch ein höheres Urtheil, daß
in der Vernunft liegt. Wenn ein Sinn Vergnügen bey sich
führt; so kann die Vernunft Mißvergnügen dabey
empfinden; eben so kan die Vernunft vom Schmertz der

/ Sinne

|P_204

/Sinne Wohlgefallen haben. Ein Gegenstand kan ange-
nehm seyn, aber das Vergnügen an den Gegenstand nicht.
Die Erbschafft durch den Todt eines guten Freundes ist
angenehm, weil ich dadurch aus großer Verlegenheit ge-
zogen werde. Aber man wird sich die Freude aus dem Sinn
schlagen, und sich nicht freuen wollen, indem man sich der Gering-
schätzung würdig halten wird, daß man sich über den Todt
eines Mannes freuet, der uns so sehr liebt. Ein solcher
Mensch fühlt natürlicher Weiße die Freude, aber er ap-
probirt sie nicht. So hat der Adjunctat eine«n» Freüde über
den Todt seines Vorgängers; aber wenn er gut denckt
wird er sich die Freude aus dem Sinn schlagen. Er wird
dencken, daß andere ihm eine solche Freude verargen
müßen. Er wird also der Freude nicht nachhängen,
und ohne sich zu verstellen wird er eine Mine der Trau-
rigkeit annehmen. Mann kan aber nicht sagen, daß das
geheucheltes Beyleid sey; denn beyde Empfindungen
sind in ihm zugleich, und beyde sind gantz wahr. Er freut
sich freylich, hätte er aber diese Freude ohne den Todt
dieses Manne haben können, so würde er ihm ein
langes Leben gewünscht haben. Die Mißbilligung
dieser Freude ist eine ungeheuchelte Art von Beyleid
über den Todt eines andern, und kann die bittere
Freude genannt werden. Auf der andern Seite kan
der Gegenstand unangenehm seyn, aber der Schmertz
über den Gegenstand kan gefallen, dies heißt der
süße Schmertz, und ist in Romanen, wo man sich
einer Art von Schmertz überläßt, und es ist in der
menschlichen Natur ein Grund dazu, einen Schmertz

/ den.

|P_205

¿¿»den man fühlt zu billigen, und an seinen eigenen Schmer-
tzen einen Wohlgefallen zu haben. So kann ein Wittwer
sich oft über den Todt seiner Frauen nicht trösten; der Schmertz
selber scheint ihm etwas edles zu seyn; da der Schmertz doch
wircklich nicht edel ist, sondern man muß ihn so geschwinde als
möglich los zu werden suchen. Unthätigkeit ist niemals edel,
wenn sie auch bey den gutgemeintesten Sachen ausgeübet wird.
Man muß also den Schmertz los zu werden suchen, weil er
unsern höhern Maximen der Denckungsart zuwieder ist, wir
sind aber so geartet, daß wir in Schmertz, woran wir ein
Wohlgefallen haben ein Verdienst setzen. Ich bedaure
Personen die ich geliebt habe, indem ich mir alle das gute vor-
stelle, was ich ihnen noch hätte leisten können. Hier scheint
der Schmertz eine innere Süßigkeit zu seyn; und ist daher
wohl einem Instinct zu zuschreiben. Aber wir müßen
den Grundsatz faßen, daß wir uns bey keiner Sache auf-
halten, wobey wir nichts thun können, um das Uebel ab-
zuwenden. Ich muß sehen: ist es noch möglich, daß ich
ihm abhelfen könne, und finde ich denn, nein; so muß ich
daß auf einmahl so aus dem Sinne laßen können, als wenn
es mich gar nicht angienge. Denn wo wir nichts dabey thun
können, ist der Schmertz gantz unnütz. Wir müßen uns
also so viel als möglich gleich gültig zu werden bemühen,
nicht den ersten Tag wird man das Uebel, wenn mans so
betrachten kan mit Gleichgültigkeit ansehen, aber wenn
man den Grundsatz einmahl hat, wird«s» mans doch mit
der Zeit können. Der Stoiker sagte ich wünsche mir die
Freude nicht, daß mich ein anderer tröste, wenn ich in Noth bin,

/ sondern

|P_206

/sondern daß ich einen habe, dem ich Trost zu sprechen kan.
Darauf sagte er gleich: Wenn ich einen Freund habe, der
in Noth ist, und dem ich nicht helfen kan: so thue ich, als
wenn es mich nichts angeht. Denn da ich nichts dabey thun kan
so würde ich mein Gemüth, mit unnützen Schmertzen
plagen. Ich werde ihm gar nicht mit der hohen Miene
entgegen kommen, aber ich werde meine Seele doch frey
halten, daß sie nicht mit unnützen Mittleyden gestört
werde. Ich werde also doch das Schicksaal des andern
überdencken, ob es noch möglich ist, ihm Beystand zu leisten;
aber ist daß nicht: so laße ich Kummer aus der Seele.
Der Kummer, den Romanen geben, bläßt die Seele
mit unnützen Mittleyden auf: überhaupt ist das
Mittleyden nur geheuchelt, oder affectirte oder ge-
wöhnlich gewordene Hofnung, die aus einer Theilnehmen-
den Empfindung herrühren. Dieser süße Schmertz
macht oft das Hertz leer, weil man da in puren ideen
gutes thut, und sich Romanen im Kopfe macht, ohne
jemals etwas von dieser Empfindung in Thätigkeit über-
gehen zu laßen. Man muß sich aber niemals mit Schmertzen
plagen, sondern etwas thun, daß dem Übel abhelfen kan.
Jedermann {_be_→_emp_}findet bey sich eine {_Rache_→_Reüe_} über einen irrepa-
rablen Schaden. Wenn man aber die Traurigkeit über et-
was verschuldet hat: so muß man «et» entweder Muth faßen,
oder sich aufhängen. Denn bey der Nichtigkeit der Dinge
hat man alle Ursach, Muth zu faßen, und nicht den Werth
der Dinge so hoch zu schätzen, da ja überdem das Leben
so kurtz ist. Eins von beyden muß man also thun, entwe- 

/ der

|P_207

/entweder Muth faßen oder aus dem Leben herausgehen. Ent-
schließung muß da seyn, ewig kan man sich nicht härmen. Ob man
«al»so zwar dem Menschen anrathen muß, nicht immer sich zu härmen
und zu klagen, wenn nichts weiter dabey zu thun ist: so kann mans
doch nicht billigen, wenn jemand frölich ist, der einen andern {_un_}glück-
lich gemacht hat; und der, der wahre Reue worüber fühlt, wird
sich diese Reue nicht ausreden laßen, sondern findet Vergnügen
daran. Wir billigen die Reue eines solchen Menschen, und
je weniger sie sich durch Trost heben läßt, destomehr halten
wir von den Menschen. Dieser gute Hang, liegt im temperament
des Menschen; in der sensibilitaet, und lebhaften Gefühl des
Hertzens. Aber wenn wir die Sachen nach der Vernunft erwegen:
so sehen wir doch, in der Welt wird dadurch nichts beßer. Wir
müßen also lieber suchen, den andern den Verlust erträglich
zu machen. Es ist dies die Entschließung eines wackern Mannes.
Hast du wahrhafte Reue: so hast du auf nichts weiter zu dencken,
als es ins künftige beßer zu machen. Aber das menschliche
Hertz ist so beschaffen, daß es diese gutartige Reue appro-
biret, und dieselbe schätzt: aber manche Menschen gehen
dabey zu Grunde.

/Außer daß das Vergnügen gefällt, kan das Vergnügen auch über
@da@s Vergnügen gefallen. Es zeigt einen guten appetit an, wenn
man über viele Schüßeln ein Vergnügen {_hat_}; aber das Vergnügen
kan keinem zur Ehre gereichen. Allein, wenn man am Studieren
Vergnügen findet: so vergnügt selbst dies Vergnügen. Wenn einer
Vergnügen am Spiel findet: so vergnügt das Vergnügen selbst nicht.
Wenn aber einer sagt, er hat Vergnügen daran, wenn er einen
alten Mann unterhalten kan: so gefällt das Vergnügen selbst,
weil es wesentlich, und an sich selbst gut ist. Von der andern

/ Seite

|P_208

|P_kan der Schmertz an sich selbst mißfallen: Mißgunst
ist ein Schmertz über andere hervorragende Vollkommenheiten;
wenn also anderer Verdienst anfängt, das unsere zu verdunkeln:
so empfinden wir Mißgunst, aber dieser Schmertz über die
hervorragenden Tugenden anderer, mißfällt uns selbst, daher
suchen wir ihn und den Haß so viel als möglich zu verbergen.
Mit einigen Schmertzen aber prahlt man, z.B. mit dem mitt-
leidigen Schmertz, diesen sucht man immer auszukramen,
aber von dem ersten schweigt man still.

/Geld überhaupt erfreuet durch die Folgen, die aus dem Be-
sitz deßelben entspringen können; wer durch ein Spiel
Geld gewinnt, deßen Vergnügen ist {_wie_→_nie_} ein reines Ver-
gnügen. Ob er gleich das Geld gewonnen hat: so ist doch
bey ihm eine Art von Mißbilligung, darum läßt er sich
seine Freude, über den Gewinn nicht merken. Das selbst erwor-
bene Geld erfreut doch noch mehr, nicht so wohl der Effect
deßelben, sondern wir haben ein Vergnügen in unserer
eigenen Geschicklichkeit, wodurch wirs uns verschaft haben.
Ein Schmertz, woran wir selbst Schuld sind, betrübt mehr{_;_} die
Unbesonnenheit{_«;»_} die einem theuer zu stehen komt, betrübt
doppelt. Aber selbst, wenn man unschuldig ist, sind die Urtheile
verschieden. Der eine klagt, daß er unverschuldet leiden
muß; der andere freut sich, daß er es, ohne verschuldet
zu haben, leiden muß, der erste <ist> über die Beleidigungen
anderer entröstet, die ihm unschuldig wiederfahren. Dies
ist eine wackere Empfindung. Wer aber schuldig leidet, schämt
sich, weil er sich selbst von seinem Unrecht überzeugt hat.
Denn der Beweiß, denn sich ein Mensch selbst giebt, ist der

/ kräftigste

|P_209

/kräftigste und überzeugenste. Der Unschuldige faßt Muth; wenn
es auf Unmuth hinaußläuft, hat man gemeiniglich selbst Schuld.
Vergnügen wächst durch die Vergleichung mit anderer Leiden, und
der Schmertz wächßt durch die Vergleichung mit anderer Freuden.
Wenn man in einer Gesellschafft {_ist_}, und der Sturm draußen raßt:
so erfreut man sich in seiner warmen Stube, wenn man an den ar-
men Seefahrer denckt. Auf der andern Seite vermindert der
Mensch das Leiden, wenn er noch elendere und unglücklichere Menschen
sieht. Er erhebt sich über sie weg, wenn er nicht dieselben Gegen-
stände an sich «b»gewahr wird. Stellt euch vor, ihr wäret in einer
belagerten Stadt, und hättet nichts als Brodt und Waßer; aber
ihr wußtet daß keiner in der Stadt es beßer, sondern alle
noch schlechter hätten: so würdet ihr eine herrliche und fröliche
Mahlzeit halten. Es komt also dabey auf die Vergleichung
an. Es ist gewis, daß die fröhlichen Gesichter dem, der durch
einen Kummer genagt wird, sehr unangenehm sind, und seinen
Schmertz vergroßern. Der Unglickliche ist boshaft, und sucht
andern einen Theil seines Unglücks mittzutheilen. So bald
wir glücklich; scheinen wir uns ein großer Verdienst beyzu-
legen; wer reich ist, sieht auf den Armen herab, als auf einen,
dem er eine reproche machen könte. Aber bey seinen Unglücks-
fällen, scheut der Mensch nichts mehr, als die Verachtung
anderer Menschen. Indeßen ist die Geringschätzung eines
unhöflichen von einem im Wohlstande lebenden nicht zu separi-
ren. Daher kan man nicht getröstet werden, als wenn man
sieht, daß auch andere unglücklich sind.

/Ein Schmertz wird dadurch gelindert, daß ich mir vorstelle,
er hätte leicht größer seyn können. Eulenspiegel ein Witzling
vor 300 Jahren sagte Gott sollte ihn vor 3 Stücken bewahren.

/ 1tens

|P_210

/1tens Vor großem Glück, d.i. daß er nicht den Halß breche, weil
die Leute, wenn jemand den Arm bricht, zu sagen pflegen,
es ist ein Glück, daß er nicht den Halß gebrochen hat.

/2tens Vor starck Getränck, d.i. Waßer, weil es Mühlen treibt.

/3. Gesunden Speisen, d.i. Medicin aus der Apotheque.

/Der gemeine Mann sagt immer: Es ist ein großes Glück, daß
dies oder daß nicht geschehen ist, daß ist aber gut, wenn wir
aus allen Übeln einen Trost heraus klauben können; denn das
Leben ist kurtz, und alles interesse in demselben ist nichtig.
Das Glück macht weichlich, und das Unglück zaghaft. Doch stärckt
das Unglück auch. Ein übermüthiger im Glück ist haßens-
würdig; der zaghafte ist verachtungswürdig.

/ ≥ Vom Geschmack.

/Von dem was gefällt, kan einiges den Sinnen, einiges den Geschmack,
und einiges nach Begriffen der Vernunft gefallen. Angenehm
ist daß, was in Rücksicht auf die Sinne gefällt; schön ist etwas
nach einem allgemeinen sinlichen Urtheil. Der Geschmack ist
ein Urtheil über daß, was allgemein gefällt; das Gute
bezieht sich auf die Denckart. Die Franzosen nennen das
Sentiment, wornach man urtheilt, ob etwas vor jedermann
Beyfall findet.

/Man hat im Gebrauch unter sensus communis den allgemeinen
Menschen Verstand zu verstehen, aber, da doch sensus nicht
Verstand heißt, so könte man sagen: sensus communis
ist ein Sinn, der nicht vor sich urtheilt, sondern für alle gemein-
schaftlich urtheilen kan. Der Geschmack unterscheidet sich vom
bloßen Gefühl dadurch, daß dieses {_ein_→_im_} Verhältniß des
Gegenstandes zu einem privatSinn ist; aber das Verhält-
niß des Gegenstandes zu dem allgemeinen Sinn ist der
Geschmack. Der Mensch, dem es an seinem eigenen Tische

/ gut

|P_211

/gut schmeckt, hat einen guten appetit; man wi{_¿_→_r_}d aber nicht
sagen, er habe Geschmack; wenn er nicht so wählt, daß es auch
andern gut schmeckt. Der Geschmack ist daß, was nicht blos für
einen «in@dd@» individuellen Sinn gilt, sondern für den Sinn aller.
Der Geschmack ist also eigentlich das Vermögen mit Beyfall zu
wählen. Aller Geschmack ist gesellig. Ein Mensch, der gantz allein
wäre, würde nicht darauf sehen, was dem Geschmack gefällt.
Er wird. z.B. nicht sorgen, daß sein Hauß bemahlt, und mit Zierarten
versehen sey, sondern daß es gut dicht sey. Er wird also nach sei-
nen privatSinn wählen; und nicht nach dem was schön ist. Der Ge-
schmack ist gleichsam als der Überfluß des angenehmen anzusehen.
Wenn der Mensch an dem; was zur Bedürfniß gehört noch Mangel
hat: so denckt er nicht an Geschmack. Der Landmann wählt nur
immer nach seinem privatSinn: «und» doch putzt er sich bisweilen
am Sontage nach dem Geschmack, den jeder Mensch findet doch
zu gewißen Zeiten etwas mehr, als zu seiner Bedürfniß hinreicht,
und denn sieht er auf den Geschmack, und wählt so, daß seine Wahl
Beyfall findet. Der Geschmack ist eine Folge der Geselligkeit,
und die Cultur des Geschmack<s>, ist eine cultur des Menschen in Anse-
hung seiner wahren Vollkommenheit, die ihn der moralitaet näher
bringt. Je mehr der Geschmack beym Menschen ausgebildet
wird, desto mehr ist er empfänglich und fähig, in die gute Denckart
@üb@erzugehen. Menschen die gar nichts gefälliges haben, weil sie
daß für eine Unterwürfigkeit unter anderer Wünsche halten,
haben keinen Geschmack. Denn der Geschmack ist die wahrhafte
Gefälligkeit gegen andere, um nicht blos für sich, sondern auch
für andere zu wählen«,». «¿»Sehr geitzige Leute haben ordinair
keinen Geschmack; denn weil sie alles auf ihre privat Absichten
einrichten: so werden sie nie nach anderer Wohlgefallen wählen,

/ denn

|P_212

/denn ihr Kopf hat nicht die Richtung, so zu wählen. Ein
silberner Stockknopf sieht nicht so gut aus, als einer von porcelain,
denn da hier blos für anderer Augen gewählt wird: so sieht
man, daß der Knopf aus Silber bestehet, der andere privat
Absichten dabey haben kan; man soll aber blos da für andere wäh-
len. Dinge sind also auf den Geschmack angelegt, wenn sie
den gar keinen Nutzen schaffen, dem, der sie besitzt.

/Daß, was in der Empfindung vergnügt, ist uns in weit höherm
Grade angenehm, als was blos in der Beurtheilung des Geschmacks
gefällt. Aber daß, was den Gegenständen des Geschmacks, im
Grade abgeht, ersetzen sie durch die Allgemeinheit. Die Annehm-
lichkeit an einer geschmackvollen Sache ist klein, und doch hält
man sie von großen Werth; denn obs gleich nur in einem
kleinen Grade Wohlgefallen schaffen kan: so kan es doch einer
Unendlichkeit von Menschen daßelbe Vergnügen schaffen.
Der Geschmack besteht also darin, daß anderer Sinne mit meiner
Wahl übereinstimmen. Daher kan der Geschmack zuletzt
ein gantz wichtiger Gegenstand im gesellschaftlichen Um-
gange werden. Es ist selbst ein groß talent beym Menschen,
wenn er viel Geschmack hat; daß kan man von Franzosen
sagen. Ihre Wahl ist beßer, als anderer Nationen ihre.
Der Geschmack wird also etwas sehr wichtiges in einem
ZeitAlter der Geselligkeit. Mancher sagt: ich habe meinen
eigenen Geschmack, aber ein solcher hat gar keinen Ge-
schmack. Denn der, deßen Wahl für andere keinen Bey-
fall findet, hat keinen Geschmack. Er hat seine eigene
gute Empfindung aber für andere kan er nicht wählen.
Mann kan freylich über den Geschmack nicht so bindig
sprechen, als über einen philosophischen Satz, weil

/ die

|P_213

/die Sache nicht unter Begriffe zu bringen ist. Aber wenn
der Satz: ich habe einen eigenen Geschmack, so viel heißen soll,
als meinen Geschmack kan keiner bestreiten: so ist das falsch.
Denn wenn du dein eigenes privat_Urtheil Geschmack nennst,
@da@ du doch nicht für anderer Augen gewählt hast, wie doch beym
Geschmack geschehen soll, so kanst du nicht sagen, daß du Ge-
schmack hast. Es frägt sich: liegt in der Natur etwas, woraus
man a priori ohne anderer Be{_y_}stimmen sagen könte, daß etwas
anderer Beifall haben müste? Allerdings liegt in der Natur
der Sache etwas, woraus wir a priori beurtheilen können, daß
etwas für den publiquen Sinn sey, d.i. nicht nur angenehm,
sondern auch schön sey. Daß sieht man deutlich bey der Symetrie.
Die Abgemeßenheit und Ordnung in einem gebauten Hauße,
daß die Th{_ie_→_ü_}r nicht im Winckel angebracht ist, muß jedermann
@ge@fallen. Daß läßt sich aus der Natur der Seele beweisen;
aber die Nothwendigkeit, daß die Menschen darin übereinkom-
men müßen, können wir aus der Vernunft nicht darthun,
sondern müßen die Erfahrung befragen. Daher haben alle
Geschmacks-Sachen das besondere, daß sie vieler Untersuchun-
gen bedürfen; aber nur im Anfange, bis der Geschmack culti-
@vir@t ist. Aber wenn etwas immer Beifall gefunden hat: so
@kan@ mans für eine Geschmacks Regel annehmen. Der Geschmack
@be@trift gewi«s»ße allgemeine Gesetze unseres sinnlichen Wohlge-
fallens, so fern dieses Wohlgefallen unter einem allgemeinen
Gesetz stehet. Das Übermaaß der großen Annehmlichkeit des
Genußes heißt luxurie«ns»<s>. Das Ubermaaß des Geschmacks
heißt Luxus. Luxus ist eine Übermäßigkeit in Ansehung
des Vergnügens des Lebens; aber mit «dem» Geschmack. luxuries

/ ist

|P_214

/ist die Freßerey, wo man nicht auf die Mannigfaltigkeit
der Speißen, sondern auf große Frachten sieht, aber die vie-
lerley Gerichte auf großen Tafeln dienen dazu, daß jeder
findet was ihm schmeckt. Die Koch-Kunst beruhet auf der Wahl
des Geschmacks. Die Luxuries macht kranck, der Luxus macht
arm; denn der Geschmack ist unendlich; wir können nicht so viel
genießen, als wir anschauen können. Die Annehmlichkeit
im Geschmack hat nichts was übersättigt, indem diese Ver-
gnügen zwar klein sind, aber sich multipliciren, die Gesellig-
keit befördern, und ohne Uberdruß unterhalten werden
können. Daß, was uns dabey im Grade abgehet, ersetzen
wir durch die multiplication. Das talent des Geschmacks
ist also nicht gering zu schätzen. Es zeigt an sich einen ver-
feinerten Menschen, und bildet das menschliche Hertz
zu moralischen Eigenschaften. Wenn die GeschlechtsNeigung
auf den bloßen Genuß gehet: so ist sie von brutaler Art; durch
die Kunst des Geschmacks wird diese Neigung von den
Thieren abgeleitet. Wenn also der Dichter durch sein Gedicht
die Sinne wollüstig zu machen sucht: so thut er dem Geschmack
Abbruch. Wir müßen diese Neigung mit allerhand Täuschun-
gen so zu hintergehen suchen, daß z.B. die Dichtkunst den
Menschen von den thierischen Neigungen gantz ab-
bringen, und ihn mit andern Annehmlichkeiten unterhal-
ten kan, so verbeßern Verfeinerungen des Geschmacks die
menschliche Natur.

/Wir unterscheiden nicht, was ein Gegenstand des Geschmacks; und
was ein Gegenstand des Appetits ist. Winckelmann sagt: die
wahre {_Ader_→_Idee_} der Schönheit war bey den Griechen. Unsere Begrif-
fe von Schönheit sind partheyisch, und mehr Urtheile von
«Schönheit» Reitz. Schönheit ist aber oft nicht Reitz, und Reitz

/ ist

|P_215

/ist oft nicht Schönheit: denn daß eine betrift die Form allein.
Wenn wir allgemein für alle giltig urtheilen sollen: so muß das
Urtheil einerley seyn, ob ein Frauenzimmer als Frauenzimmer
schön ist, oder ob wir sie auch als eine verkleidete Mannsperson
für schön halten würden. Wenn etwas blos des Geschmacks wegen
für schön angesehen werden soll: so betrift das parteyische Ur-
theil nicht den Geschmack. In unser Urtheil muß sich nicht der «Ge-»
Reitz einmengen. Den der Reitz gehöret für die sinnliche Urtheils-
kraft; der Reitz, wo etwas die affecten erregt, muß von
der Schönheit in der Anwendung unterschieden werden.

/Die Mode hat einen großen Einfluß in den überhand nehmenden
Geschmack. Mode gründet sich auf Geselligkeit. Es wird et-
was allgemein angenommen, nicht, weil es schön ist, sondern
weil wir uns nicht gerne von andern auszeichnen wollen. Die
Menschen haben den Hang zu einer Art von Einförmmigkeit,
wo man sich nicht gerne auszeichnet. Die Neuigkeit muß mit
diesem allgemeinen Gebrauch verbunden seyn, und es hört
auf Mode zu seyn, wenns nein allgemeiner Gebrauch wird.
Aber da die Mode die Wahl ist, die dem Geschmack gefällt:
¿¿ kan man doch gar nicht ausmachen, was für eine Art
von Tracht die sey, die der menschlichen Bildung am mei-
sten angemeßen ist. Denn wenn wir uns jetzt {_in_→_an_} die
engen taillen gewöhnen: so lacht man über die alten moden,
und mit der Zeit komts doch wieder auf. Das Auge gewöhnt
sich so an eine Tracht, daß man sagen möchte, es ist da-
rin nichts bestimtes. Es gewöhnt sich an die variation; aber
@am@ Ende muß doch eine Art von Putz am meisten gefallen,
@s_→_w@o das Urtheil der Sinne mit der Natur übereinstimt. Aber
die Manier des Menschen, wie er sich kleiden soll, scheint durch
den Geschmack nichts bestimtes zu haben, damit er variiren,

/ und

|P_216

/und immer mehr Reitz in Gesellschafften erwecken soll. Wir
schätzen alle producte der Kunst nach der Natur. Es ist etwas dem
Geschmack gemäß, was der Natur gemäß ist. Geschmackvoll
sieht etwas aus, was auf keine Kosten durch eine vernünftige
Wahl so eingerichtet ist. Wo die großen Summen, die etwas gekostet
haben, zu sehr in die Augen fallen, da zeigt sich kein Geschmack. Er
zeigt sich also mehr, je weniger der Gegenstand gekostet zu ha-
ben scheint, und doch gefällt.

/Man muß unterscheiden: GeschmacksUrtheil, und GeschmacksNei-
gung, es ist gut, ein gesundes GeschmacksUrtheil zu haben, aber
eine declarirte Neigung für anderer Geschmack zu haben, ist
eine Schwäche. Ein Mensch hat GeschmacksNeigung, wenn er
nur auf anderer Reitz verfällt. Ein solcher zeigt ordinair
viel Eitelkeit, daß schön und angenehme beruht auf Empfin-
dungen, das gute auf Begriffen. Das Schöne steht mit dem
guten in einer natürlichen Verbindung, ohnerachtet es frey-
lich nicht einerley ist. z.B. der Koch sorgt für den Wohl-
geschmack der Sinne; der Taffel_serriener für die Schön-
heit der Gefäße, für die symmetrie im Zimmer. Aber
wenn der Koch gleich Gerichte zu machen weiß: so weiß er
sie noch nicht zu wählen: denn dazu gehört einer der
Geschmack hat: Es gehört noch ein anderes Urtheil dazu,
um über daß, was zur Empfindung gehöret, noch einen
GeschmacksUrtheil zu fällen. Aber ob die Mahlzeit gut
sey, würde der Artzt alleine ausmachen können, und
des Artztes Urtheil würde oft dem GeschmacksUrtheil
entgegen gesetzt seyn. Das gute fällt nicht in den
Sinn, sondern gehört nur vor die Beurtheilung der
Vernunft. Wenn gleich die Speißen noch so wohl schme-
kend und Beyfall finden möchten: so ist daß doch blos
durchs Wohlgefallen der Sinne. Die Vernunft aber
sorgt für die künftigen Folgen des Wohlbefindens, die
nicht in die Sinne fallen. Es frägt sich: Hengt das Schöne

/ immer

|P_217

/immer mit dem zweckmäßigen zusammen? Die Sinne urthei-
len gar nicht über die Dinge, und was den Sinnen gefällt, ge-
fällt oft der Vernunft nicht. So viel ist gewis: alles schöne muß
immer Beziehung aufs gute haben. z.B. die gute Bildung
eines Menschen beruht darauf, daß die proportion seiner Theile
so beschaffen sey, daß sie nützlich, oder doch wenigstens der
Nutzbarkeit nicht entgegen gesetzt sey. Man hält einen
Menschen für schön, wenn Leichtigkeit in seinem Körper
herrscht, weil dieser zur Brauchbarkeit tüchtig ist, so, daß
die Nützlichkeit hier bey der Schönheit hervorleuchtet, nur
mit dem Unterschiede, daß die Sinne das zweckmäßige hier
so gleich darlegen, in wie großem Grade es vortheilhaft
sey. Ohne die «M»mindeste Beziehung auf Nutzen können
wir keine Schönheit finden, wenigstens muß es dem Nutzen
nicht wiederstreiten. Eine Säule sieht schön aus, wenn sie
proportionirt ist, sich oberwärts verjüngt, und oben mit sich
eingeladen corintischen Ananten ausgeschmükt ist. Alles muß
auf den Nutzen abgezweckt seyn, sonst würde es nicht gefallen.
Einige haben geglaubt: große Ohren hören beßer, ob sie gleich
nicht gefallen. Aber daß ist falsch; sie hören im Gegentheil schwe-
rer, denn jemehr die Ohren in den Knorpeln zusammen gezogen
sind, desto beßer everberiren sie den Schaal. Man hat bey eini-
gen nationen auch bemerckt, daß ihre Ohren weit vom Kopf ab-
stehen. Es komt dies aber blos auf die Gewohnheit an, und
ist keine Natur Anlage; denn die Ohren werden von einigen
Nationen so gedrückt, daß sie ihnen nicht hervor ragen können.
Hier ist also das Schöne der Nützlichkeit nicht entgegen ge-
setzt.

/Wir finden aber auch, daß die Natur das nützliche weniger
schön eingerichtet hat, z.B. unsere Getreide Arten sehen sehr einfäl-
tig gegen die Gewächße aus, die unser Feld von selbst hervorbringt

/ Das

|P_218

/Das Unkraut blüht gemeiniglich am schönsten. Der Esel ist eins der
nützlichsten Thiere, und wurde bey den Alten auch nicht als ein Ge-
genstand des Spottes angesehen. Indeßen ist er ein sehr unansehn-
liches Thier, ob er gleich in vielen Ländern nützlicher ist {_als_} das Pferd.
Nützlicher kann nicht leicht etwas seyn, als das Rindergeschlecht,
daher auch die Kuh von den Indianern andächtig verehrt wird.
Aber man kann an ihr keine Schönheit finden. Ein Stück Rindfleisch
finden wir zwar schön; aber es ist die Empfindung im Vor-
schmack vom Genuß dieses Thiers. Natur wenn sie wie Kunst
aussieht, ist dem Geschmack gemäß. Wenn wir die Bluh-
men mit den Abwechselungen ihrer Farbe ansehen, so siehts
wie gemahlen aus. Wenn die Kunst, ob man sie gleich als
Kunst erkennt doch als Natur aussieht, so gefällt sie auch
sehr. Daher auch die engländischen Gärten sehr gefallen,
weil die Kunst darin so getrieben wird, daß sie wie
Natur aussieht. So ist auch die Beredsamkeit die beste, die
wie natürlicher Ausdruck aussieht, so daß das, was vor den
{_Nutzen_→_Augen_} aller Welt schön seyn würde, daß seyn müßte, was
der Natur ähnlich wäre. Man sieht also doch, daß hier eine Verei-
nigung zwischen Natur und Geschmack statt findet, zwischen
dem Guten was die Natur hervorzubringen sucht, und zwischen
dem Schönen.

/Die Vermehrung unserer Bedürfniße bringt Cultur, und
Cultur wieder Vermehrung unserer Bedürfniße. Wenn
Menschen in großen Gesellschaften beysammen wohnen:
so vermehren sie ihre Bedürfniße. Aber da werden auch
die Talente mehr angetrieben, für die Befriedigung
der Bedürfniße zu sorgen. Wenn endlich ein Geschmack
sich einfindet: so civilisirt cultur die Verfeinerung
des Geschmacks, und vermehrt und befördert die Ge-
selligkeit. Der Geschmack ist das Vermögen, gesellig
zu wählen, eine «¿»Fortsetzung der Civilisirung moralisirt,

/ und

|P_219

/daß ist der höchste punct, denn der Mensch erreichen
kan. So bringt die Beförderung der Geselligkeit moralitaet
in der Gesinnung hervor, indem sie den Weg darzu bahnt.
Die schönen Künste beßern den Menschen zwar nicht; aber sie
verfeinern ihn doch, und machens ihm also leicht, gut zu wer-
den. Man komt den moralischen Gesetzen einen Schritt näher,
wenn man einen Geschmack am schönen findet, und bereitet
sich sehr, Geschmack am guten zu finden. So ist die allmälige
Cultur des Menschen, wenn sie bis zur Civilisirung hinaufsteigt,
und mancherley Geschmack ausbreitet, eine Vorbereitung
zur Verbeßerung des Menschen.

/Der Geschmack befördert idealische Vergnügen, und macht uns
Vergnügen fähig, die wir durch den Genuß der Sinne nicht
haben könte. Es giebt idealische Vergnügen in der Mahlerey,
Music, in den Wißenschaften. pp. Dieser idealischen Ver-
gnügen werden wir fähig, wenn wir den Geschmack culti-
viren. Der Mensch ist immer mehr von den thierischen Bedürf-
nißen der Sinne frey, je mehr er an deren Stelle etwas
anders setzen kan. Können wir vor die grobe Befriedigung
der Sinne und vor den groben Genuß idealische Vergnügen
setzen, die gewöhnlicher Weiße mehr i«m»n unserer Gewalt
sind, und uns cultiviren; statt das der thierische Genuß
abutirt; so schwächen wir in uns die niedrige Neigung
der Thierheit. Das Vergnügen, was wir in Gedichten haben,
verdrängt «uns» je mehr und mehr, in uns den nachtheiligen «G»Hang
den wir in Befriedigung sinnlicher Begierden haben.

/Luxus ist ein Aufwand der mit Geschmack übereinkomt. Aber
bisweilen wird auch Luxus als eine Verderbniß der Zeit an-
gesehen, und denn ist er ein Geschmack, der zum Nachtheil der
sinlichen Begierden vergrößert ist. Dies ist die Schändlichkeit

/ des

|P_220

/des Luxus oder die Üppigkeit. Die ÜberhandNehmung des Ge-
werbes giebt allen Menschen zu thun; sie vermehrt aber auch die
Bedürfniße. Aber eben dadurch ist sie ein Quell von vielen guten.
Denn die Arbeit vieler Menschen kan viel hervorbringen was zu
vielen Zwecken dienen kan. Aber sie vermindert auch die Zufrie-
denheit und Gleichmüthigkeit beym Menschen; denn sie vermehrt
auch sehr unsere Sorgen. Der Luxus thut auch den Natur Bedürf-
nißen Abbruch, viele Menschen laßen eher ein natürliches Bedürf-
niß fahren, als ein stück des Luxus. Daher frägt Hume:
welcher Mensch ist arm? Der eine schlechte Mahlzeit hat? Nein
den der wird doch satt, sondern der ist arm, der keine Schue
hat, und also nicht unter Menschen gehen kan; denn da ver-
liehrt er daß, was dem Menschen das Leben süß macht.
Arm ist also der, der sich in keine Gesellschafft produciren
kan, und ein solcher ist bedaurungswürdig. Wer dem Luxus
den natürlichen Bedürfnißen auf der einen Seite Abbruch
thut, und dagegen alle Kunst auf die Schönheit verwendet:
so ist daß doch nicht so sehr zu bedauren. Der Mensch wird
dadurch nicht unglücklich, sondern ein cultivirterer Gegenstand
von Gesellschaften. Wenn Staaten im Besitz ihrer Frey-
heit zu großen Reichthümern gekommen, und zu der grösten
Üppigkeit gelangt sind, u«nd»m ihren Ausschweifungen genung
zu thun; so kann daß nicht so wohl dem Luxus als «der»
vielmehr der Luxuries beygemeßen werden. Eine luxu-
ries zeigt sich gemeiniglich an den Tischen gemeiner Leute die
einmahl tractiren wollen. Die Tische brechen von den
Frachten der Speißen, nicht der qualitaet; sondern der
quantitaet nach. So kan man auch sagen, daß ausschwei-
fende Menschen nur in Ansehung ihrer Regung, der quan-
titaet nach tadelhaft sind. Einige vornehme Herren

|P_221

/in Europa setzen ihre Pracht darin, daß sie eine große Zahl Be-
diente haben. Aber daß ist ein großer Luxus, in dem kein Ge-
schmack steckt. Wenn der Luxus recht verfeinert ist, so macht
er sparsam, und es sieht etwas noch beßer aus, wenns ohne
große Kosten zu Stande gebracht ist, selbst für den, der Zuschau-
er ist. Hume sagt: es ist eine Art von Vergnügen, daß
weichlich macht. Wenn aber Vergnügen von der Art sind, daß
sie abhärtend sind, so können wir sie nicht zum Luxus rechnen.
Er sagt also die Ausschweifungen der Engländer sind von der
Art, daß sie die Stärcke vermehren, und daß ist ihr Wet-
rennen, Jagden, p.p. die körperliche Kräfte cultiviren und
abhärten. Aerger ist freylich der Luxus, der au«¿»f Gemächlich-
keit angelegt ist, wodurch der Mensch verzärtelt wird, und
taugt nichts. Denn er entnervt den Menschen. Aber generali-
ter bestehet der Luxus in der großen Menge überflüßiger
Dinge, die eine große Menge Menschen beschäftigen. Dieser
cultivirt sehr, aber schwächt auch sehr, weil er die Sensibilitaet
des menschlichen Gemüths abnutzt, wodurch es Vergnügen fähig
ist. Denn wir werden der Vergnügen zuletzt unfähig, wenn
das Gemüth, durch eine gar zu große Menge von Vergnügen
übertäubt wird.

/Das Gute ist mit dem schönen so verbunden, daß selbst der
Schein des guten, Geschmack ist. Die Höflichkeit ist die Voll-
kommenheit in der Apparentz. Aber darum ist die Hoflichkeit
noch nicht zu tadeln. Denn wenn bey der Höflichkeit gleich nicht
Dienstgefließenheit ist: so ist daß doch die currente Men-
schenliebe, die man alle Augenblicke ausübt, und von
andern erwartet. Es ist nicht nöthig, daß man immer
einen habe, der uns freundtschaftliche Dienste erweiset

/ denn

|P_222

/denn wir bedürfen sie nicht immer. Aber höflich muß man
immer seyn, den dadurch cultiviren wir uns bestandig. Daß
man jemand mit Höflichkeit zuvorkomme, daß man ihm nachgebe,
wenn man gleich Recht hat, das alles sind Selbstüberwindungen,
wodurch man sich, «wodurch man sich» verfeinert. Daher ist die Höflich
keit nicht vor Falschheit anzusehen; denn das zurückhalten
unserer Gesinnungen ist keine Falschheit. Denn es ist doch
beßer, eine geringschätzige Meinung zu verbergen,
als sie grade heraus zu sagen; denn da die Höflichkeit
den Geschmack bildet, so praepa{_¿_→_r_}irt sie uns unvermerckt
zur {_Handlung_→_Gründung_} moralischer maximen. Durch die Höflichkeit
ist also der Mensch schon auf dem halben Wege gebeßert,
den dadurch wird er zu thätigen Dienstleistungen ange-
spornt, und so verbeßert sich nach und nach der Charackter
eines solchen Menschen.

/Wenn die Rede vom angenehmen, Schönen und guten
ist; so ist das Gute daß, was alles beschließt. Zuerst sorgte
man für das, was vergnügt, denn fürs Schöne, und denn
für das, was durch seinen Nutzen überall gut ist. Dies
besch{_¿¿_→_lie_}ßt am Ende die Gegenstände aller Begierden.
Die Meisten sind der Meinung, daß die rohe Zeit mehr
Ehrlichkeit, Gewißenhaftigkeit, und ehrliche Treue ge-
habt habe. Daß ist aber grundfalsch, denn in allen incul-
tivirten Zeiten herrschten weit gröbere Laster. Und
wenn ja einige Laster damals nicht waren: so kommt
daß daher weil die Veranlaßung zu so vielen Lastern
damals noch nicht waren. Hume führt in seiner Ge-
schichte von England einige Beyspiele von unmenschlichen
Thaten an, die jetzt nicht mehr geschehen könten, weil das

/ jetzige

|P_223

/jetzige mehr cultivirte Zeitalter auf ein solches Betra-
gen, eine solche Verachtung geworfen hat, daß kein Mensch
wenn er auch Neigung dazu hat, dergleichen zu thun, wagen
wird. Die Civilisirung macht, daß die Menschen durch
die Mode zurückgehalten werden, barbarisch zu seyn. Wir
müßen uns daß nicht irre machen laßen, daß unter cul-
tivirten Völckern Verstellung ist, dies ist so nothwendig,
daß wenn wir unsere geheime Gedancken immer wollten
ausbrechen laßen; so würde die Thorheit keinen Zügel
mehr haben. Diese dissimulation ist nicht so sehr ta-
delhaft, denn es ist beßer, daß der Mensch das fehler-
hafte vor andern zurück hält. Aber die Grobheit der
alten Zeiten, war auch noch nicht Ehrlichkeit. Denn Tu-
gend aus Maximen erfordert ausdrücklich Cultur. Im Zu-
stande der Rohigkeit kan es wohl gute Persohnen aus
Temperament geben, aber eine gute Denckart kann man
ihnen nicht beymeßen. Mann kann also glauben, daß die
Welt mit der Cultur in der Verbeßerung der Moralitaet
fortschreite.

/Mann nennt einen guten Menschen den, der sich alles ge-
fallen läßt, und von dem man kein böses zu befürchten
hat. Dies ist kein Lob für ihn; denn dadurch wird seine Schwä-
che angezeigt. Indeßen kan man sagen, der gröste Theil
der Menschen ist gut aus Unvermögen, wenn mancher
Mensch die glückliche Gabe der effronterie hat: so weiß
er sich derselben allenthalben zu bedienen. Ein solcher Mensch
traut sich selbst alles zu, kann alles wagen, und komt
niemals durch etwas in Verlegenheit, und kan sich leicht

/ zeigen

|P_224

/zeigen, wenn er nur einiges Talent hat. Ein gar zu großes
Mißtrauen gegen sich selbst bindet den Menschen, daß er
sich nicht so recht vortheilhaft zeigen kan. Diese Gabe der effron
terie kan also eine gute Gabe genennt werden, ein solcher ist
waghälsig und kan Dinge unternehmen, die Gefahr bey sich
führen. Mancher unterläßt blos Laster, weil er sich fürchtet.
«Wenn wir». Wenn wir also nur die Menschen übrig behalten soll-
ten, die das Böse, daß sie vollkommen in ihrer Gewalt {_hatten haben_→_hatten, bloß aus maximen unterlaßen haben_}:
so würden wir einen sehr kleinen Theil übrig
behalten. Der gröste Theil der Menschen ist gut aus Unvermögen.
Man glaubt aber man ist sicher bey einem Menschen, der
furchsam ist, dem aber, bey dem das Vermögen ist böses
zu thun, traut man nicht {_viel_}.

/Man unterscheidet einen guten von einem großen Fürsten.
Die Größe betrift das talent; die Güte{_,_} d{_¿¿_→_ie_} Denckart, und
den Gebrauch den man von seinem talenten macht. Da das vernünf-
tige Regieren nicht so sehr auf die talente, als auf den guten
Ge{_schmack_→_brauch_} derselben ankommt: so werden wir doch mehr durch
die Größe des talents, durch einen unermüdeten Fleiß gerührt,
als durch einen andern, der alle diese talente nicht dem Grade nach
hat, aber den besten Willen hat. Wir werden den letzten
wohl billigen; aber nicht die Bewunderung vor ihn fühlen, die
wir von dem andern haben. In der Geschichte lobt man
nicht den guten Fürsten, sondern die großen. Dann die gu-
ten waren wie ein heiterer Tag, der bald vorübergehet.
Aber die großen Fürsten die talenten zeigten, und blutige
Kriege führten, sind in der Geschichte aufbehalten. Daß muß
doch in der Natur des Menschen liegen, die noch nicht völlig
moralisirt ist. Die Menschen sind noch nicht so{_«,»_} wei{_@l@_→_t,_} daß
alle die Cultur im menschlichen Geschlecht schon entstanden wäre,

/ derer

|P_225

/derer wir fähig sind, und werden nach kindischer Weiße,
blos durch das «g»Große gerührt. Große Fürsten bekommen
bisweilen den Titel der guten, wenn sie alles böse so weit
gethan haben, daß ihnen nichts mehr übrig ist. Nun fangen
sie an, sich gut zu zeigen, weil sie kein object sich anders zu zeigen
haben. Einen solchen Character räumen wir eine unbedingte
Hochachtung {_an_→_ein_}.

/Menschen v{_¿¿_→_o_}n wircklichen Sentiments, die vom Guten afficiret wer-
den, und Theilnehmung daran haben, finden ein interesse dabey,
von Maralitaet zu sprechen. Unsere Unterredungen haben
allerley Stoff. z.B. Stadtneuigkeiten, politische Neuigkeiten p.p
Dann und wann komt eine Materie vor, die das menschliche
Hertz betrift; aber selten. Es giebt Leute von großem
Verstande, die niemals einen solchen discours führen, und
gar kein interesse dabey fühlen. Die ursprünglich guten maximen
aber können schwerlich in solchen tief gewurtzelt seyn. Russeau
%und Hune stritten, ob die Tugend ein Gesch{_@ma@_→_en_}ck der Natur sey
oder gelernt werden müße. Russeau behauptete das erste.
Hume aber wiederlegte ihm mit Recht, denn wenn wir uns
nicht cultiviren, wird kein{_e_} {_Verstand_→_Tugend_} entspringen, wenn wir
gleich die Anlage dazu haben. Wer also kein interesse an Mora-
litaet hat, kan kein guter Mensch seyn. Wenn sie in Umstände
kommen wo sie Gefahr laufen, so sieht man daß Maximen
fehlen. Disc<o>urse über die Moralitaet haben viel vorzügliches,
seine Maxime fest zu setzen, und sie bey Gelegenheit zu zei-
gen; wer also einen moralischen discours nicht goutiren kan, hat
keine bestimten Maximen gefaßt. Aber gantz was anders ist es,

/ eine

|P_226

/eine Menge moralischer Lehrsprüche her zu leyren, al@l_→_t@e Leu-
te werfen gern mit solchen alltägigen Sittensprüchen um sich,
obgleich das Fundament derselben nicht durchgedacht ist. Es ist
überhaupt nichts unerträglicher als Ermahnungen anzuhören,
denn da«s»ß sind alltägige Regeln, bey denen kein Mensch
was denckt. Solche Menschen zeigen wirklich Gleißnerey
und Verstellung. Ein Mensch der sich so sehr viel Mühe giebt,
von Menschen angesehen zu werden, muß doch vor Menschen
etwas zu verbergen haben, denn sonst würde er sich nicht
so sehr viel Mühe geben, sich eine Aussicht des guten zu ge-
ben. Discourse über Moralitaet haben was angenehmes,
der Mensch beßert sich ¿»o ipso, und gibt seinen Maxi-
men Festigkeit, ohne welche keine sichere Denckart statt
findet. Die Königin Christina dachte niemals was unklu-
ges, und that niemals was kluges. Sie warf mit Sitten-
sprüchen um sich die sie Maximen nannte. Aber Maximen
sind nicht blos Regeln der Sittlichkeit; sondern subjective
Regeln. Sie war also keine Frau von Sentiments; denn
reden kan man bald etwas, aber, daß man das, was man
redet, in seine Denckart aufgenommen habe, ist oft noch
in weite Felder.

/Das angenehme hat einigen Beyfall; das Schöne großern
Beyfall, da{_ß_→_s gute_} soll allgemeinen Beyfall haben, ohne Verhält-
niß auf irgend eine Person in Betracht zu ziehen. Wer
rechtschaffen in jeder Beziehung ist, ist gut. Es ist ein schlechtes
Zeitalter, wo man durch Ehrlichkeit «keine» Ehre erwirbt, aber
noch ein viel schlechteres Zeitalter ist daß, wo die Unehrlichkeit
keine Schande ist. Nichts erwirbt Beyfall, als was selten

/ ist.

|P_227

/ist, weniger aber als ein ehrlicher Mann kan niemand seyn.
Wenn es aber schon sehr viel ist, daß jemand ein ehrlicher Mann
ist, und ihm daß als ein sehr großes Verdienst angerechnet wird:
so kan man sich vorstellen, wie schlecht das Zeitalter seyn muß.
Verdienst ist daß, wodurch man mehr thut, als was man schul-
dig ist. Nichts ist verdienstlich, was nur accurat der Schuldigkeit
gemäß ist, wer sich aber als ein ehrlicher Mann verhält, thut
nur accurat seine Schuldigkeit, denn darum ist er noch kein Wohl-
thäter, Menschenfreund. pp. Wir sehen also, wie weit wir
noch in unsern Zeiten zurück sind; indeßen wäre freilich
die Zeit noch schlechter, wo Unredlichkeit keine Schande wäre.
Wir werden aber doch jeden, als ein unwürdiges Mittglied
unserer Gesellschafft ansehen, wenn er mit Unredlichkeit
befleckt ist

/Das Gute ist überall unsichtbar; denn es liegt immer in der
Denckart. Wir beurtheilen also alles aus den Nutzen, der aus der
Handlung entspringt. Der Lohn deßen, {_daß er_→_der_} recht handelt
ist die Ehre, die man ihm erweiset. Aber da«s»ß ist keine propor-
tionirte Art von Belohnung. Die Menschen sind zu gleichgültig
in Ansehung des schlechten oder guten Kenners davon. Daß was
uns vor die Güte des Characters selbst belohnet, ist die Gemüths
Ruhe und der Beifall den man sich selbst giebt, daß ist der größte
und vorzüglichste Lohn, der andere denn uns Menschen geben, ist nicht
unserm Verhalten angemeßen.

/ ≥ Dritter Haupttheil der Antropologie.
/Vom Begehrungs_Vermögen

/Habituelle Begierden heißen Neigungen, die nicht als ein habitus
betrachtet werden heißen instincte. Jede plötzlich entstandene

/ Begierde.

|P_228

/Begierde, ohne daß sie einen eingewurtzelten Hang zu einem Ge-
genstande hätte, nennt man Instinct. Ohne diese Begierde
konnen wir nichts ausführen.

/Alle Begierden haben Beziehung auf Thätigkeit, das object der Begierden
würcklich zu machen. Daß setzt voraus, daß das object in unserer
Gewalt seyn muß, denn sonst ist die Thätigkeit vergeblich, wenn
wir den Gegenstand der Begierden nicht in unserer Gewalt haben
Dennoch finden wir daß in Menschen Begierden auf Gegenstände
sind, wovon sie sich vollkommen bewußt sind, daß Sie nicht
in ihrer Gewalt sind. Solche Begierden sind offenbahr müßige
Begierden; es sind leere {_Einsichten_→_Sehnsuchten_}, die sich im Hertzen der Pfan-
tasten finden, die ihre Begierde auf eine Zukunft richten, in
Ansehung derer sie nichts bestimmen können. Solche Sehnsuchten
sind erstaunliche Abnutzungen der Seelenkrafte, und sind der
Thätigkeit und Wirksamkeit de{_r Natur_→_s Menschen_} sehr zu wieder, sie machen
den Menschen unglücklich und unbrauchbar für die Welt, weil
er sich mit Dingen beschäftiget, die nicht in seiner Gewalt
sind. Gleichwohl fühlt er dieselbe Anstrengung, damit
er zu Dingen angetrieben wird, die er ausrichtet. Die so
häufigen empfindsamen Seelen, sind mit lauter Sehnsucht
angefüllt, und düncken sich deshalb vortreflich. Diese Sehn-
suchten werden haup«f»tsächlich durch Romanen genährt, wo sich
Begebenheiten zu tragen, wie sie einem nur im Traum ein-
fallen können. Auch moralisten, die von lauter Großmuth Wohl-
wollen, pp. predigen, erfüllen das menschliche Hertz mit solchen
Sehnsuchten; diese leeren müßigen Wünsche, die
das menschliche Hertz, anstatt «¿»es wacker zu machen so welck
machen, bringen die besondere Wirckung hervor, daß solche

/ Menschen

|P_229

/Menschen sich vor gut halten, indem sie glauben, daß es ihnen
nur an Vermogen fehle gutes zu thun. Aber wenn die Gelegen-
heit käme, würde es sich bald zeigen, daß es pure Täuschung war.

/Es zeigt immer was süßes, wenn man zu verdienstlichen und
nicht blos zu schuldigen Handlungen sich verstehet. Denn da glaubt
man, man habe Lohn zu erwarten. Daher haben alle Menschen
die moralischen Gesetze gern, die ihnen was übles vorschrei-
ben. Aber fast alle Menschen scheinen die Vorschrifft der Na-
tur gering zu schätzen, und erfüllen also nicht einmahl ihre
Schuldigkeit, und doch wollen sie große müthige Handlungen
ausüben. Die Empfindsamkeit gehöret also zu den leeren
Sehnsuchten woraus nichts wird. Begierden sind müßig
wenn sie v{_ág_→_ague_} sind, und keinen beständigen Gegenstand ha-
ben. Man begehrt etwas, und weiß nicht was man begehrt.
Dies ist der Zustand der langen Weile, wieder die schwer
HeilungsMittel geschafft werden können. Sehr «verf@iel@-»
vervielfältigte Ergötzlichkeiten erschöpfen die Empfind-
samkeit des Menschen, so daß nicht{_s_} mehr übrig ist, daß den
Balsam der Linderung mit sich führt, der ihm sonst ein mäßi-
ges Vergnügen «ha»<ge>ben könte. Menschen die mit solchen Vapeurs
geplagt werden, sind wie Kinder die nicht wißen was
sie wollen. Ein solcher Zustand des Eckels und des Überdrußes
entspringt aus dem {_Urtheil_→_Thorheit_} alles zu versuchen, dadurch, daß Men-
schen ihre Nerven abgenutzt haben, haben sie sich eine Lebloosig-
keit zugezogen, so, daß sie in sich eine Absterbung aller Empfin-
dungen des Vergnügens fühlen. Dieser Zustand ist der horror
vacui in natura, von dem die alten Physiker sagten, wo wir nichts in
uns finden, womit wir den leeren Raum in der Seele ausfüllen können.

/ Wir

|P_230

/Wir fühlen uns beklommen und ängstlich, und wißen doch
nicht, was uns abgeht. Es ist daß der Zustand der meisten
Menschen, wo sie unfähig sind, müßig zu seyn, aber auch nicht
fähig zu arbeiten. Das Spiel ist in solchen Zustande das beste.
Es dient dazu, in diesem Zustande der langen Weile sich die
Zeit vorübergehend zu machen. Das starcke Getränck
nehmen viele Leute, weil sie es genießen müßen, um
nur ihrem Gemüth eine diversion zu machen, das in den
Abgrund der langen Weile versincken will. Die scharfe
Empfindungen des Tobacks dienen dazu, die lange Weile
zu vertreiben, weil sie oft wiederholt werden können
Die Gewohnheit starcker Reitze bringt das hervor,
daß da zuletzt der Zustand der Unempfindlichkeit entste
het, daraus folgt, daß die Jugend die Annehmlichkeiten
und Vergnügen des Lebens auf die Zukunft versparen
muß, weil sie sie dennoch immer im prospect hat.

/Man nennt einen Menschen rüstig, der thätig ist, ohne starcke Trieb-
federn. Ein Mensch wenn er auch noch so faul ist kan durch starcke
Triebfedern zur Thätigkeit angereitzt {_werden_}, aber ein rüstiger Mensch
{_ist_} der, der gern thätig ist. Läßig ist das gegentheil von rüstig.
Man nennt {_einen Menschen_} wakker (Strenuus, der mit «hertzlichen» fröhlichen
Hertzen arbeitet, so fern ein Mensch thätig, und dabey frölich ist.
Ein wakkeres Weib ist beßer für den Mann, als die schmach-
tende Schönheit, die immer mit vapeurs geplagt ist.
Dies wackere kan man sich verschaffen, wenn man sich
die Arbeit als etwas angenehmes vorgestellt, daß mit
Kunst verknüpf ist.

/Im Jahr 1740 war die LebensArt in Strasburg noch so ein
gezogen, daß der Herr im Hauße mit Kindern

/ und

|P_231

/und Gesinde an einem Tisch speißten, dadurch geschah es
daß alles unaufhörlich in einer gewißen Wircksamkeit war,
denn die Arbeiten wurden immer vor den Augen der gantzen Familie
getrieben. Dies that man selbst wenn der Mann ein litteratus
war. Aber jetzt da jeder sein eigen Zimmer hat, ist die Familie gleich-
sam zerstreuet, und jedes Mitt{_leyd_→_glied_} in der Gesellschafft muß die Unter-
haltung, die eins {_am_→_vom_} andern haben könte entbehren.

/Wir können einen Unterschied machen zwischen Hang, Instict, und
Neigung. Hang oder Penchant ist die {_immer_→_innere_} Möglichkeit zu einer
Neigung, oder die Natur-Anlage zur Neigung. Eine Neigung setzt
voraus, das man den Gegenstand derselben k{_ö_→_e_}nne, aber schon vo{_n_→_r_} der
Bekandt{_niß_→_schafft_} mit dem Gegenstande ist eine Anlage im Menschen,
von der man sieht, daß wenn sie damit bekandt werden wird, sie
sehr starcke Neigung dazu haben wird. Man kan bey Kindern schon
Herschsucht, oder die Neigung zur GeschlechterNeigung wahrnehmen.
Diesen natürlichen Hang beym Menschen zu erforschen ist von gro-
ßer Wichtigkeit. Wenn Eltern das Penchant ihrer Kinder zu
erforschen wißen, so wißen sie, wieder was für NaturAnlagen
sie zu arbeiten haben. Denn hat sie einmahl Wurtzel gefaßt, so
sucht man zu spät sie auszurotten: im Keim muß die hervorra-
gende Neigung erstickt werden. Die Menschen haben auf der gan-
@t@zen Erde einen Hang sich zu betrincken. Die wildesten Völcker, so
bald sie nur das starcke Getränck kennen, bekommen einen Hang
dazu. Menschen so gleichgültig gegen das starcke Getränck sind,
haben sehr frühzeitig diesen Hang bekämpft. Das Alter bringt
einen Hang zum Geitz, es kan sich aber glücklicher Weise ereignen,
daß die Menschen durch gesellschaftliche Vergnügen gelockt wer-
den, so daß dieser Hang keine Neigung werden kan, und diese Art
von Lebloosigkeit, (Geitz) die den Menschen hart macht sich {_recht_→_nicht_}

/ zeigen

|P_232

/zeigen kan. Die Theologen sollten daher sagen der Mensch hat einen
Hang nicht aber eine Neigung zum Bösen. Die Neigung entspringt
erst aus der Bekandtschafft mit dem Object zu dem uns die Natur
den Hang gegeben hat: Bey diesem Hange kan verhütet werden, daß
nicht eine Neigung daraus wird. Aber diesen Hang zu erforschen,
dazu gehöret viele Bekandtschafft mit Menschen in allerley Alter,
um dadurch urtheilen zu können. Zwischen Hang und Neigung
kan man den Instinckt setzen, der Hang ist nicht eine Herrschen-
de; sondern nur bey Gelegenheit entspringende Neigung, die
aber nicht auf dauerhafte Weiße herscht. z.B. scorbutische Leu-
te bekommen oft einen Hang zu bittern Sachen, die ihnen grade
am dienstlichsten sind. Dies sind Instinckte d.i. Begierden, de-
rer Ursprung uns unbekandt ist. Man nent diese Instinckte Gelü-
sten, welches von schwangern Frauen ge{_bracht_→_braucht_} wird, die diese{_n_} Appe-
ti{_¿_→_t_} bekommen, woran sie sonst niemals gedacht haben, die oft Na-
tur wiedrig sind, so daß Ihnen daraus Nachtheil entspringen kan.
Besorgte Ehemänner suchen ihnen gefällig zu werden, weil sie glauben,
daß sonst eine monstreuse Geburt erfolgen werde. Dieser Schwach-
heit der Männer bedienen sich denn die Frauen um ihre Lüsternheit
zu befriedigen. Dieses Gelüsten heißt auf lateinisch pica. Da-
her <hat> man ein Buch de pica nasi, wenn vom Reitz des Tobacks
geredt wird. Und dieses Gelüsten beym Toback ist so unwiederstehlich,
daß man nicht davon abstehen kan. Die Grönländer wenn sie den
<Schnupf>Toback einmahl gekostet haben, können ihn gar nicht wieder
laßen, so, daß sie eine Art von continuirlichen Gelüsten darnach
haben. Glücklicher Weiße findet sich, daß der Schnupftoback
den Gronländern sehr heilsam ist; denn seit der Zeit haben sie
die Augenkranckheit nicht mehr, die sie ehedem hatten. Er ist
also beßer als der Brandtwein, durch den viele Völcker ausgerot-
tet sind. Es giebt also Neigungen, die so auf den Menschen würcken

/ können

|P_233

/können, daß er ihnen nicht wiederstehen kann, der Geschlechts_Trieb ist ein
würcklich natürlicher Instinckt. Es ist eine Begierde nach einem Gegenstand,
ehe man ihn denckt. Ehe der Unterscheid des Geschlechts bemerckt wird,
entwickelt sich schon der Trieb des Geschlechts, und deshalb sucht hernach
jeder sein Geschlecht auf. Eltern haben zu ihren Kindern ohnmittelbar eine
Liebe, ohne zu wißen ob etwas liebenswürdiges «i»an ihnen sey. Dieser Na-
turtrieb der Eltern zu ihren Kindern heißt $norge$. Thiere haben daß
schon, und wenn sie sonst {_fähig_→_feig_} sind, so werden sie den hertzhaft, und setzen
sich um ihre Kinder zu vertheidigen den grösten Gefahren aus. Aber daß
dauret nur so lange als sie {_Sie_} futtern müßen, und so möchte es auch
wohl beym Menschen seyn, wenn Eltern sich nicht grade noch eine Ehre
daraus machten, ihre Kinder zu versorgen. Denn der NaturTrieb
hört mit der Hülflooßigkeit der Kinder auf. Es werden unbilli-
ge praetensionen auf die ElternLiebe gemacht: aber so bald die
Kinder der Eltern nicht mehr bedürfen, so kan wohl Danckbahrkeit
übrig bleiben, und die Eltern werden eine allgemeine MenschenLiebe
gegen die Kinder haben, für sie zu sorgen: aber die Schuldigkeit
dazu hört den gantz auf, dies liegt im Gesetz der Natur. Daher
sind sie zum hinterlaßen der Erbschafften gar nicht verpflichtet.
Manche Eltern sind affenmäßig in ihre Kinder verliebt, und ver-
ziehen {_sie_} grade so, wie die Thiere ohne Grundbegriffe von Pflichten
zu haben. Je roher die Menschen sind destomehr lieben sie ihre Kin-
der. Eine pariser Dame schickte ihre Kinder so gleich nach der Geburt
in die Normandie; daß ist schon ein aus der Art geschlagener Mensch.
Gemeine Leute trennen sich am allerletzten von ihren Kindern. So
kan man also auch Natur instincte unterdrücken

/Neigung ist eine daurende Begierde, ein daurender Grund zu begehren.
Ein Mensch der den und wenn Anlagen zu Begierden hat; hat noch
keine Neigung; denn Neigung setzt Bekandtschafft mit dem Ge-
genstande voraus, sonst ists ein blinder Instinct. Leidenschafften
sind extravagante Neigungen.

/ Affiec«¿»t.

|P_234

/Affect und Leidenschaften werden so häufig als gleich bedeutend genommen
daß sogar philosophen hierinnen fehlen. Sie sind aber so wesentlich
unterschieden, und die richtige Unterscheidung derselben, haben
so wesentlichen Einfluß auf die Führung der Menschen, und auf die
Bildung des Umgangs derselben, daß es wohl interessiren kan, den Be-
griff der Affecte zu bestimmen, und den zu den Leidenschafften über-
zugehen. Sonst gehören die Affecte in das Capitel von Lust und Unlust
z.B. Freude und Angst gehören zu den Gefühlen. Wie die Gefühle
aber in Neigung übergehen; daß werden wir beßer beurtheilen
können, wenn wir die Affecten im Verhältniß mit den Leidenschaften
betrachten.

/Wir können die Lebhaftigkeit noch nicht gleich Affect nennen. Der Acteur
muß lebhaft seyn, aber ohne Affect. Wenn einer durch seine
Lebhaftigkeit {_affect_} erregen kan: so glaubt man, er habe selbst welchen.
Aber daß ist ein großer Unterschied, der Schauspieler muß affect
erregen ohne ihn selbst zu fühlen. Wenn er eine imagination
und viel Lebhaftigkeit hat, sich in andere Gedancken zu versetzen
so ist er bey der Rolle, die er spielt im Stande, das gantze Betra-
gen eines affects vollen Menschen an sich zu nehmen, so, daß er
mehr rührt, als wenn er in Affect wäre. Hat er den {_e_→_A_}ffect in
der Empfindung, so spielt er eine dumme Person, er ist verwirrt,
verlegen pp. Aber der der sich nur in einen Affect versetzen will,
hat es beßer in seiner Gewalt, wie er seine Mienen und
Affecten einrichten muß. Es ist also schlecht vom Acteur zu sa-
gen, daß er selbst gerührt seyn muß; um andere zu rühren.
Denn alle Menschen die andere rühren wollen, z.B. Dichter sind
von den Affecten gantz leer, sie haben daß alles in der Einbildung,
und können es so lebhaft machen, daß die Liebesgedichte auf idea

/ lische

|P_235

/idealische Persohnen die schonsten sind. würcklich Verliebte wer-
den ans Dichten nicht dencken.

/Wer sich einen affect zu schildern weiß, und Lebhaftigkeit hat, der
macht seine Rolle gut, den sein Kopf ist frey und stellt sich ein
Bild in Gedancken vor, und agirt mit allen Kräften nach einen
Plan{_, d_→_. D_}aß muß anders herauskommen, als wenn die Worte dem
Menschen auf der Zunge stecken bleiben, weil er «doch» durch den Affect
aus seiner Faßung gebracht ist«, m_→_. M»ann kan sagen daß in Franckreich
mehr Lebhaftigkeit ist als Affect. Sie können einen Affect durch den
Ausdruck so lebhaft mach«¿¿»en, und mit so vieler Beredsamkeit
sprechen, so daß sie mehr mit ihren Einfällen spielen, als daß
sie selbst im Affect sind. Es ist ein Ausdruck, der eine völlige Vor-
stellung vom Affect ist, aber bey alle dem ist der Affect nur ange-
nommen. Daher kann man schrecken ohne zornig zu seyn, caressi-
ren ohne verliebt zu seyn, klagen ohne traurig zu seyn. Als
Young seine Nachtgedancken schrieb war er so wenig traurig, daß
er vielmehr in der herrlichsten Freude lebte, und fröhliches Her-
tzens war. Aber da konte er am besten klagen, wenn er die Schwer-
muth selbst aufsuchen, und sie bey andern beßer hervorbringen
mußte. Wenn einer ein Gedicht über einen Todesfall macht: so
ist das eine poetische Traurigkeit; ein solcher hat sich mehr mit
dem plan seines Gedichts zu unterhalten, als mit dem Vorfall
der ihm dazu Anlaß gab. Wenn man dichtet: so ist die erste Trau-
rigkeit schon vorbey. Manche sind inbrünstig ohne Andacht, und
es wäre auch nicht möglich, daß der Prediger immer einen Affect
fühlen sollte bey dem was er vorträgt. Denn die menschliche
Natur erträgt nicht so viel Anfälle aufs Hertz, daher
wird die Lebhaftigkeit in die Stelle des Affects gesetzt.

/ Rühren

|P_236

/Rühren ohne selbst gerührt zu seyn, ist der Zustand eines Menschen
der eine Rolle spielt. Dichter, Redner, pp. sind also wircklich
Heuchler; denn wenn sie erhabene Dinge reden: so ist daß von ihnen
nicht so empfunden, «als» ob sie gleich andere rühren können. Je mehr
jemand Affect voll schreibet und Empfindungen übertreibt, desto sich@e@-
rer ist er, gantz leer von aller Empfindung. Der Mensch spielt nicht
eher mit seiner imagination, als wenn sein Gemüth von allen Rüh-
rungen gantz leer ist, und wenn schon der Ausdruck schimmernd
ist, so ist das Hertz leer von wahren {_E_→_A_}ffect.

/Das Gemüth in Ruhe hält alle Neigungen in ihrem wahren Ver-
hältniß, das Gemüth im Affect fühlt eine innere Empfindung, die
starck und vorübergehend ist. Das Gemüth in Ruhe fühlt einen
Gegenstand im Verhältniß zu den gesamten Gefuhlen. Ein
Mensch im Affect aber geräth so außer sich, daß er etwas
nothwendig erreichen muß um sich Luft zu machen, wenn gleich
daß, was ihm wiederfährt, keinen Einfluß auf sein gantzes Wohl-
befinden hat. Er geräth dadurch so sehr außer seiner Faßung,
daß er das Gefühl dar@um_→_inn@ nicht in Verhältniß auf sein gantzes
Wohlbefinden betrachtet, sondern diese Empfindung als das gan-
tze Wohlbefinden ansieht. Eine partial Empfindung bringt
so viel Affect hervor, als alle hervorbringen sollten. Mit
einer Art von Verdruß oder Vergnügen, überwiegt man die
gantze Menge alles Verdrußes und Vergnügens. Man kan das
Gefühl nicht mit der Summe seines gantzen Zustandes vergleichen
sondern ist gantz in einer Empfindung. Der Affect ist eine starcke
aber auch vorüberrauschende Empfindung, so wie ein Wirbelwind
starck aber vorrübergehend ist. Man rühmt bisweilen Menschen

/ die

|P_237

/bald in Affect gerathen, denn wenn sie gleich sehr hietzig werden
sagt man: so hätten sie doch ein gut Gemüth, und würden bald
wieder gut. Aber daß sind ungezogene Menschen, und wollen noch
daß andere Menschen ihre Ungezogenheit {_sich_} sollen gefallen laßen.
Es müßen dieser Hitze Schrancken gesetzt werden, und wenn
der Mensch selbst nicht daran arbeitet, so müßen andere daran
arbeiten. Ob diese Hitze bey einem guten Menschen statt finden
könne ist noch immer schwer zu glauben. Denn es heißt doch
immer der Tölpel thut was er will in der Gesellschafft,
und hinter her ists ihm wieder leyd. Einen solchen auffahrenden
Ungestümen kan ich alle Augenblicke ausgesetzt seyn, im Um-
gange risquirt man, nur seine Grobheit; von seiner Gutthertzig-
keit aber kan ich keinen Nutzen haben. Affecte sind also ein Uber-
fall einer Empfindung, die, so lange sie dauret, nicht verhütet
werden kan.

/Wenn wir ein Übel nicht in Beziehung auf unsern gantzen Zustand
betrachten, so ist das eine Blindheit. Daher ist der Affect blind in An-
sehung der Freude und des Schmertzens in wie fern diese Empfindung
Einfluß auf unsern gesamten Zustand haben konte.

/Wir tadeln uns selbst, wenn wir es zum Affect kommen laßen. Bey
Unterredungen tadelt der Mensch hinterher seine Hitze; denn der
andere bekomt dadurch die Oberhand über ihn; er kan seinen Vortheil
nicht so gut in Acht nehmen als der andere der kaltblütig ist und ihn
leicht überwinden kan. Man hat da die Vernunft verlohren und ist
der Wildheit des Affects überlaßen; es ist aber nicht gut es
zum Affect kommen zu laßen. Es ist ein «@m@»Augenblick der uns
die Ankunft des Affects droht, den muß der Mensch sich vorsetz-
lich den Gedancken aus dem Gemüth schlagen. Indeßen ist «es»<daß> sehr
delicat grade den punct, wenn der Affect ausbrechen will ihm

/ eine

|P_238

/eine Diversion zu machen. Hernach ärgern wir uns oft daß wir
uns geärget haben, und so ist des bossens kein Ende. Ein Mensch
vergiebt dem andern die Fehler am wenigsten die er selbst be-
gangen hat, und wenn man sich unüberlegt in Ansehung des Be-
Leidigers verhält: so kränckt uns daß, daß wir uns nicht im vor-
theilhaften Lichte gezeigt haben, ärger, als des andern Grobheit.
Der Affect ist wie eine Pulvermine, daher muß man seinem {_Affect_→_Gemüht_}
die Festigkeit zu geben suchen, daß es nicht so geschwinde in Hitze
gebracht wird.

/Jeder Affect ist unklug; denn e«s»r macht uns unfähig ein Übel in
Zusammenhang mit dem gantzen Zustande zu betrachten. Der Mensch
kan wohl Ursache haben, einen kleinen Schaden zu ahnden, aber er
muß sich desfals nicht gleich in Affect setzen laßen, weil die Affecte
funeste Wirkungen im menschlichen Gemüth zurük laßen. Der
Affect ist zu allen Zeit unklug; denn er macht sich selbst unfähig
seine eigene Absichten zu erreichen, und stolpert gleichsam über
sich selbst. Man hat nicht die rechte Auflößung von der Frage gege-
ben wie es doch zugehe, daß die Furcht einen Menschen oder ein
Thier außer Stand setzen kan zu «ent»fliehen. In sehr starcker
Furcht können Menschen nicht einmahl laufen, und dies scheint
doch der Absicht der Natur zu wieder zu seyn, weil die Furcht
uns doch antreiben soll, uns aus der Gefahr zu erretten, so wie
sich daß auch bey einer mittelmäßigen Furcht zeigt. Es ist aber
beym Menschen gewöhnlich, daß er wenn er in Affect ist wieder
seine eigene Absicht handelt. Ein zorniger Mensch will den an-
dern furchtsam machen, aber der andere sieht wohl, daß er so lan-
ge jener in dem Zustande bleibt, den Meister über ihn spielt;
{_d_→_D_}er der kalt bleiben kan, wird weit schicklicher für die Umstände
daß thun können, was seiner Absicht gemäß ist.

/Hat die Natur Affecte in uns gepflantzt? Die Natur hat

/ weisliche

|P_239

/weisliche Anlagen zu Affecten in uns gemacht, aber nur proviso-
risch, so, daß die Vernunft die Regierung darüber übernehmen
kan. Aber wenn daß ist, so ist es der EndAbsicht der Natur
beym Menschen entgegen, daß er Affecte nähren könne. Hume
@r_→_d@eclamirte dagegen und sagte: Die Natur hat die Affecten
weislich in uns gelegt; denn wenn wir die Ordnung der Dinge
in der Natur, so fern sie das Thierreich betrift ansehen: so
ists offenbahr, daß die Natur Anlagen zu Affecten im Men-
schen bestimmt hat; denn diese setzen ihn in Stand mit mehre-
rer Kraft seine Absicht zu erreichen. Der Mensch hat in der
That alsdenn die meistenmahle mehr Kräfte, wenn gleich
nicht mehr Uberlegung etwas zu unternehmen. Die Natur
hat also dafür gesorgt, die Menschen durch starcke Trieb-
federn zu bewegen. Aber die Natur hat nicht gewollt, daß
wir diese beständig in uns sollten wallten laßen, denn der
Mensch erhällt sich selbst sicherer der der Uberlegungen der
Vernunft folgt. Denn wenn er einmahl durch den Affect
geführt wird, fehlt er in einem Stücke gewis. We{_¿_→_i_}sheit
findet sich also beym Menschen ohne Affect und Leidenschaft{_,_}
der hat auch die Triebfeder, er läßt sie aber nur im Ange-
sicht der Überlegung und Vernunft spielen. Er läßt nicht
eine GemüthsBewegung in sich entstehen, die ihn gegen
seine gesamte Absicht blind machen, sondern er bleibt
immer offen genung um an jeder «Abs» Sache die wahre
Absicht zu erkennen. Wir schätzen aber eine Sache unrichtig
wenn wir sie nicht im Verhältniß mit ihrer gesamten
Absicht betrachten.

/Dem Affect ist eine Gelaßenheit entgegen gesetzt. Dies ist

/ ein

|P_240

/ein Gleichgewicht der Empfindung, worin der Mensch gewöhnlicher Weise ist.
Dies bedeutet keine Stärcke, sondern ein Gleichgewicht, wo man etwas im Verhält-
niß auf das übrige betrachtet. Wer so beschaffen ist, daß er überleget was <ist> hier zu
thun? um es beßer zu machen, um es sich aus dem Sinn zu schlagen, der ist ein vernünfti-
ger Mensch an der Stelle, daß der, der so angstlich ist, daß ihm kein punckt der
Ruhe übrig bleibt ein Thor ist.

/Der Affect ist eine Art von Rausch, die den Menschen benebelt, die Vernunft
kan auch wohl einige Augenblicke dabey aufwachen, hat aber keine Stärcke. Kein
Mensch wird sich Affecten wünschen, wenn er keine hat, daraus ist zu sehen, daß sie
in seinen eigenen Augen verächtlich sind.

/Das Vermögen sich zu faßen, wen man im Affect ist, zeigt eine besondere Stärcke
an. Aber es ist doch schon ein Fehler, daß man im Affect komt; wenn man sich
aber bald faßen kan, vermindert daß den Fehler sehr, indem man sich beruhigt,
und hernach kaltblütiger verfährt. Zu Menschen, bey denen die Affecten laut
ausbrechen, hat man mehr zu trauen, und es ist gewis, daß viele die Affecte
nicht bezwingen, sondern nur verbergen. Denn glimmt das Feuer unter
der Asche, und bricht oft in desto gefährlichere Flammen aus, da, wo es
nicht vermuthet wird, und daß was sonst nur einen kurtzen Kampf gege-
ben haben würde, giebt eine tödtliche Feindtschafft. Die Entrüstung kan
wohl zurück halten aber nicht der Haß. Manche Menschen können sich so weit
verbergen, daß ihre Affecte nicht ausbrechen. Das ist ordinair gelaßenheit.
Wenn sie aber ein Vermögen haben, die Heftigkeit dieses Affects zu schwächen,
so bedeutet daß ein großes Verdienst.

/Phlegma ist die Eigenschafft jedes Übel ohne Affecte aufzunehmen. Es
besteht in dem Vermögen, die Eindrücke so wohl der Annehmlichkeit als Unan-
nehmlichkeit ohne Affect zu übernehmen. Phlegma ist nicht eine Fühlloßigkeit
sondern eine Stärcke der Seele, wo das Gemüth des Menschen eine so feste
position hat, daß so kleine Vorfälle von Freude und Verdruß es nicht
aus seiner Faßung bringen. Das wahre Capital seines Wohlbefindens ist
ihm so wichtig, daß so kleine Abwechselungen nichts darauf vermögen kön-
nen. Das Phlegma bringt also das Gemüth nicht aus seinem Gleichge-
wicht, es ist Affecktlosigkeit, und mit solchen Leuten ists gut was zu
thun zu haben, denn bey ihnen richtet man mit Überlegung das meiste aus

/ Leidenschafften.

|P_241

/Leidenschafften sind von Affeckten sehr unterschieden. Affeckt ist
ein durch einen Sturm bewegter Strom. Leidenschafft ein Strom
auf einen abschüßigen Boden. Sie ist eine Neigung, da hingegen der
Affect ein Gefühl ist. Zu den Affecten gehört Freude, Verdruß, Zorn, pp.
Aber zu den Leidenschafften gehören Neigungen. Z.B. Geitz, Herschsucht pp.
Die Leidenschafft ist eine Neigung, die uns außer Stand setzet, den
Gegenstand mit der Summe der Gegenstände aller unsrer Neigun-
gen zu vergleichen. Ein Mensch kan entweder lieben oder verliebt
seyn. Wer da liebt hat eine Neigung die sehr wohl mit der Vernunft
zusammen stimmen kan, indem er das object seiner Neigung mach seinem
Geschmack betrachtet. Hier kan er außer seiner GeschmacksNeigung
noch andere Beobachtungen anstellen. So lange er diese reflexionen
anstellen kann, liebt er mit kalten Blute: hier kan seine Neigung
sehr starck seyn, sie ist aber noch nicht Leidenschafft, weil er noch im
Stande ist, das object der Neigung mit der Summe aller «Vergnügen»
Neigungen zu vergleichen. Aber wenn der Mensch verliebt ist: so
ists eine Leidenschafft. Denn sinds keine Urtheile der Vernunft
mehr, sondern die Neigung hat einen solchen Grad, daß sie ihn gegen
alle andere blind macht. Wenn wir den Affect eine Berauschung nennen,
so ist die Leidenschafft ein Wahnwitz; die Leidenschafft nährt
und vertheydigt sich selbst, und weiß sich mit großem Schein einen
Anstrich von Vernunft zu geben. Der veliebte ist blind, aber er wird
sehend 8 Tage nach der Hochzeit. Denn bekommen die Neigungen wie-
der ihre wahre Stellung, und der Mensch kan nicht begreifen wie es
ihm so lange hat renunciiren können.

/Man könte sagen es giebt viele Affecte ohne Leidenschafften.
Die Jugend ist voller Affecte; aber sie hat nicht so große Leiden-
schafften, denn das leidet ihre Lebhaftigkeit nicht. Die Neigung
zum Geschmack kan wohl zur Leidenschafft bey ihm werden;

/ sonst

|P_242

/sonst aber ist keine anhaltende Neigung bey ihnen. Eine lebhafte
Nation hat nicht starcke Leidenschafften, wenn gleich viel Affeck.
Die welche starcke Leidenschafften haben sind ohne Affect, und hängen
steif und fest ihrem propos nach, ohne sich davon abbringen zu laßen.
Die Chineser und Indianer können nicht in Hitze gebracht werden,
und scheinen keine Affecten zu haben. Sie haben dabey die Leidenschafft
des äußersten Geitzes; sie scheinen daher als Philosophen in der
großen Faßung des Gemüths zu handeln; im Grunde aber sind
es verstellte und {_w_→_f_}eichhertzige Leute, die sich zurückhalten @wil@
sie furchtsam sind. Wenn sie aber gleich nicht auffahrend sind wie
die Europäer: so sind sie doch im höchsten Grade rachgierig. Nicht
die Stärcke der «Leidenschafft» Neigung macht sie zur Leidenschafft,
sondern die Gewohnheit einem Gegenstande nachzuhängen, und
die Lange Zeit worin man seine Aufmercksamkeit auf einen
Gegenstand gewandt hat.

/Empfindung steigt bis zum Affect, und Begierde bis zur
Leidenschafft. Der Affect betrift die Empfindung, die Leidenschaft
aber die Begierde. Wenn eine Begierde eingewurtzelt ist
so wird sie Leidenschafft. Affect aber betrift nicht das Begeh-
rungs_Vermögen, sondern nur das Gefühl. Beide aber sind von
der Art, daß der Affect das Gemüth aus seiner Faßung, und
die Leidenschafft aus der Beherrschung seiner selbst bringt, so
daß es der Vernunft nicht mehr Gehör giebt. Wir haben
von diesem ani«¿»mo sui non compote schon oben geredet
und gezeigt, daß das Gemüth denn das Vermögen nicht hat,
eine Empfindung mit seinem gantzen Zustande zu vergleichen.
Die Natur hat in uns zwar eine Anlage zu Affecten ange-
ordnet, aber daß ist nicht ein Beruf, uns den Affecten zu über-
laßen. Es haben sich einige zu Vertheidigern der Affecten auf-
geworfen und gesagt: weil sie durch die Natur in uns gepflan

/ zet.

|P_243

/gepflantzet wäre, so wären sie etwas empfehlungs oder wenig-
stens e«s»ntschuldigungswürdiges. Provisorie hat die Natur vie-
les in uns gelegt, ehe die Vernunft die Herrschafft übernehmen
konte, welches erst spät«er» geschehen muste. So lange herrschte
der Instinckt; denn der Mensch muß eine Leitung haben, wenn es
auch die allgemeine Leitung der Natur ist, wo der Mensch blind
und in {_der_} Thierheit ist; aber er ist berufen, daß sich nach und nach in
ihm Vernunft cultivire; denn verliert der Instinct die Herrschafft
und die Vernunft herrscht. Nun bleibt freylich der natürliche
Instinct bey, aber diesen haben wir nun durch die Vernunft so weit
zu bekämpfen, daß wir verhindern, daß nicht Instinct herrsche son-
dern Vernunft regiere. z.B. der Zorn ein Affect der Vertheydigung.
Die Entrüstung macht den Menschen entschloßener und starcker
sich zu erhalten. Die Natur hat deshalb diesen Trieb in viele
Thiere gelegt, weil es ein Affect der Selbsterhaltung ist. Sobald aber
die Vernunft anfängt, die Herrschafft zu bekommen: so müßen
wir zwar diesen Trieb der selb Erhaltung beybehalten, aber ver-
hindern daß diese Bewegung des Gemüths niemals in Affect aus-
breche. Die Lehren der Klugheit und Weisheit fodern, daß allezeit
das Gemüth auf das Maaß gesetzt, und nicht Affect werde. Die Natur
hat uns nicht darum mit Affecten ausgerüstet, daß wir uns ihren
Eindrücken blind überlaßen sollten, und es durch den Instinckt {_aus_} der
Faßung sollten bringen laßen. Wenn also Moralisten angeben, der
Affect sey eine Anstalt der Natur: so irren sie sehr. Es ist freilich
in d«@er@»ie Natur gelegt, aber provisorie. Instinckt treibt nur den
rohen Menschen, so lange er noch halb Thier ist. Der Zorn ist
ein Vertheydigungs_Mittel, der unsere Kräfte zusammenrafft
auf einen uns drohenden Gegenstand. Dieser Affect entspringt
aus einem natürlichen Instinct, und regiert uns so lange,
als wir noch nicht durch die Vernunft beherscht werden. Der {_Mensch_}

/ aber

|P_244

/aber war dazu bestimmt, daß sich nach und nach in ihm Vernunft
entwickeln sollte; denn muß der Instinct wegfallen, daß
die Vernunft mehr die Macht über den Menschen beybehalten
kan. Daher hatten die Stoiker gantz recht, wenn sie wieder die
Affecten declamirten. Man stelle sich einen Menschen vor, der immer
gleich zornig wird, und den einen andern, der das glückliche phlegma
hat, daß er sich immer in seiner Gewalt behält; der eine sieht ei-
nen wei{_ß_→_s_}en, der andere einem Thoren gleich, und bedauret
am Ende die schlechte Figur, die er gespielt hat. Es zeigt immer
eine Schwäche an, sich durch den Affect aus der Faßung bringen
zu laßen; es sind daß blos Feinde des menschlichen Gemüths, und
müßen so weit herab gesetzt werden, daß sie zur Empfin-
dung werden, die mit der Vernunft vereinigt, eine Ent-
schließung hervorbringen, die überlegt und {_n_→_d_}och nicht ohne
Nachdruck ist. Affect aber als Affect muß ausgerottet {_werden_}. Man
mag immer klagen, daß es nicht möglich sey, die Affecte
bis zu dem mittel Maaß einer nachdrücklichen Empfindung
herab zu setzen. Auf diese Art könten diese Kläger
überall gelten, daß der Mensch z.B. seine Neigung zum
stehlen nicht überwältigen könne. Der Mensch ist in Ansehung
dieser vorgeblichen Ohnmacht nicht zu entschuldigen. Diese Instincte
wachßen zu Affecten dadurch, daß man ihnen den Willen läßt,
so wie Bäume in eine undurchdringliche Wildniß verwachßen,
wenn Menschen Hände sie nicht beschneiden. So verwildert
der Mensch auch; denn er hat von Natur einen Hang in die
Thierheit zurück zu sincken, und wenn ein Mensch sich nicht
zähmt: so verwildert er. Die Schule machts nicht allein; er
muß sich selbst erziehen; denn er allein weiß am besten,
wo es ihm sitzt, damit er des Lebens mit einer

/ gewißen

|P_245

/gewißen Gleichmüthigkeit genießen könne, und die
Zufriedenheit erlange, die ein Mensch besitzt, der sich selbst in
seiner Gewalt hat, und die Jugend hat den großen Vortheil
daß sie bey einer öftern Übung, noch eine andere Natur hervorbrin-
gen kan. Bey Alten geht das nicht. «Aff»

/Affecten gehen aufs gegenwärtige, vergangene und zukünftige. Trau-
rigkeit, hat man über ein gegenwartiges Übel, Furcht über ein zu-
künftiges, und Verdruß über ein vergangenes. Im Grunde aber
gehet aller Affect aufs zukünftige; denn das Gemüth wird durch
nichts anders bewegt, als durchs zukünftige. Es kan nun sehr nahe
seyn, und denn nennt mans gemeiniglich gegenwärtig, z. B
die Grobheit, die der andere bald ausstoßen wird, weil
er schon in solchem Tonn angestimmt hat. Die künftige Folge also
von etwas ist daß, was unser Gemüth belebt. Es sind gewiße
Affecten die unmittelbaar nur die Sinne trefen; andere aber,
die außerdem, daß sie die Sinne treffen, noch ins Gemüth dringen.
Zorn ist eine Empfindung, die «g»nicht so gantz unangenehm für den ist,
der zürnt, daher sehen wir, daß Leute sich durch das zürnen oft
eine Motion machen, und prav poltern: welches sie hernach
vergnügt macht. Aber gewöhnlich geht der Zorn auf solche, die
sich nicht wiedersetzen können. Denn ein zu fürchtender Ge-
genstand, moderirt den Zorn, und schließt eine unangenehme
zu erwartende Bewegung. Wir können unter den Affecten
den Zorn aufs Mittel stellen, zwische«m»n dem angenehm und
unangenehm. Daher auch Krancke, wenn sie schon zu schimp-
fen anfangen schon in der Geneßung sind. Denn muß man ihnen
nicht wiedersprechen, weil denn ihre Starcke sich wieder zu sam-
len anfängt, wodurch sie in die lebhafte Entrüstung des Zorns gerathen.

/ Wenn

|P_246

/Wenn der Zorn nicht ausbrechen kan: so ists die Ärgerniß, eine Er-
bitterung des Gemüths, die also vom Zorn unterschieden ist. Der
Zorn ist nur auf der Oberfläche; aber beym Ärgerniß zieht man sich
vermeinte Beleidigung zu Gemüthe. Sie entspringt, wenn man den Be-
leidungen eines andern nicht zureichende Satisfaction entgegen setzen kan,
woraus ein Haß gegen den andern entspringt, der am Hertzen nagt.

/Betrübt kan ein Mensch seyn, ohne daß man sagen kan, er sey im
Affect; aber Traurigkeit ist mehr Affect. Es ist daß eine doppelte Art
von Betrübniß. Man ist erstlich über den Gegenstand betrübt, und
zweytens betrachtet man seinen gantzen Zustand, als einen Zustand
des Elends, und denn ist beynahe die Hofnung verlohren. Bey der
Betrübniß sehen wir unser Daseyn noch nicht gleich für hofnunglos
an, aber die Traurigkeit ist eine Betrübniß, die man sich zu Ge-
müthe zieht. Es ist einem Menschen natürlich und unvermeidlich,
betrübt zu seyn; aber traurig muß kein Mensch seyn,: denn ein
solcher taugt zu nichts, er ist verlegen, untröstlich und außer Vermö-
gen gesetzt, sich worauf vorzubereiten. Wer über ein verlohrenes Ver-
mögen traurt, den «m» verachtet man, wenn man aber sieht, daß er
es fühlt, und sich doch so weit faßen kan, daß es sein Gemüth nicht
affectirt, und daß er doch noch einen discours mit Fröhlichkeit
führt, und Entschloßenheit hat: so erh{_äl_→_eb_}t ihn daß in «sein» unserm
Urtheil. Mittleidige, großmüthige Thränen zu weinen, bringt
Ehre; aber eigennützige SchwachheitsThränen weinen, entehrt.
Die Traurigkeit ist die«se» Nachlaßung unserer Macht unserm
Gemüth Muth zu ertheilen, und ein Hang, sich der «Lieb»<Muth>losigkeit
zu überlaßen, so, daß es nicht nur der allerunglücklichste Zustand
ist, sondern es ist auch ein Gegenstand der Verachtung und Ge-
ringschätzung. Mann kan nicht von jedem verlangen, daß er
sich nicht betrüben soll, aber wohl, daß er sich hüten muß, traurig
zu seyn.

/Hofnung und Furcht, finden oft statt, ohne daß die Affecten sind.

/ Der

|P_247

/Der Mensch fürchtet ein Übel, wenn er gleich dagegen gewafnet ist, wenn
es da ist. Aber es ist doch ein Übel, daß er nicht gerne siehet. Sich vor etwas
fürchten heißt: wißen, daß man nicht getrosten Muths seyn «könne» wer-
de, wenn das Übel sich ereignen wird. Furcht und Hofnung taugen nicht viel,
es sind beydes Schwächen. Der Mensch, der sich leicht mit Hofnung speißet (Hier kan
die Philosophie an den Nagel gehengt werden, denn ohne Hofnung wäre der Mensch unglucklich)
und sich ein Glück vormahlt, mag sich gut genung befinden; aber er ist doch ein Gegen-
stand unserer Geringschätzung. Denn sich mit Hofnung nähren, zeigt eine Leicht-
gläubigkeit und Schwäche an, und auch eine Dürftigkeit des Menschen, und einen
Mangel der Selbstgenügsamkeit, wenn er sich durch tröstende prospecte, in einer
guten Laune erhalten kan. Daher schickt sich die Hofnung nicht für den Zustand
eines zufriedenen Menschen; denn die Zufriedenheit «f» ist ein fond von dem
Haupt_Capital eines Menschen, er mag in Umstände kommen in welche er will.
Es kan eine Betrübniß bey dem Menschen seyn, aber dennoch <herscht> eine Zufrieden-
heit bey ihm. Dies ist die obere Region im menschlichen Gemüth, die es von
den Stürmen frey macht. Diese ist des Menschen würdig und vernünftig; denn
es ist Thorheit, sich dem eingebildeten Unglück in der Welt gar zu sehr über-
laßen. Denn am Ende sind die Übel eben so vergänglich als das Glück. Es
läuft am Ende alles auf eins heraus, so, daß nichts dauerhaft ist, als das
Bewustseyn seiner Rechtschaffenheit. Hofnung und Furcht bemächtigen
sich des Menschen, in Ansehung solcher Veranlaßungen, die nicht wichtig
genung sind, uns von Affecten ab«g»hängig zu machen, so, daß die Vernunft
theils gelockt, theils gescheucht wird, anders, als nach ihrem Plan zu handeln.
Niedergeschlagenheit ist eine Betrübniß, die sich nicht aufrichten kan.
Sie bedeutet das Unvermögen des Traurigen, wieder Muth zu faßen.
Bisweilen wird sie auch der Anfang eines Grams genannt, sie schickt
sich nicht für eine manhafte Gesinnung; denn du must durchaus Muth
faßen, entweder gehe aus dem Leben, oder faße Muth. Das erste ist
wieder die Bestimmung des Menschen, also muß das 2te erwählt werden.
Endlich artet sie in Verzweifelung aus, welches eine gäntzliche Hofnungs-
loosigkeit ist, die sich nichts, als dem Schmertz überläßt. Diese kan

/ man

|P_248

/man in die schwermüthige und wilde Verzweiflung
eintheilen. Die wilde Verzweiflung giebt alle Hofnung
auf, aber sucht doch alle Mittel, ihre Gegenwehr gegen das
Übel auszuüben; die canadischen Wilden haben diese Verzwei-
felung nicht: denn wenn sie im Treffen umgeben werden: so
zeigen {_Sie_} ihre Tapferkeit darin, daß sie wie die Klötze stehen, und
sich todt schlagen laßen; die Chineser hingegen darin, daß sie
sich gleich aufhengen. Mann sollte dencken, wenn schon alle Hofnung
aufgegeben ist: so wäre die Wildheit unnütze; aber doch liegt in
uns noch eine Achtung für die Hertzhaftigkeit deßen, der dem Fein-
de sein Leben so theuer als möglich zu machen sucht, und der Zu-
stand dieses Übels scheint erträglicher zu seyn, wenn der Mensch
mit Anstrengung aller seiner Kräfte, sein Leben verliehrt:
so komts, daß man die wilde Verzweifelung verehrt.

/Das Gegentheil der Traurigkeit ist das stets fröliche Hertz,
oder die sogenante Wollust des Epicurs, welche darin bestand,
daß der Mensch in sich selbst Genügsamkeit und Zufriedenheit fand.
Daß kan man sich selbst nicht geben, aber doch daran arbeiten;
daher sind Leute zu bewundern, welche schertzhafte Launen
annehmen, wenn die Übel schwer werden; denn überhaupt
ist das gantze Leben mehr ein Object des Schertzes als des
Ernstes. Die Natur des Menschen ist so sehr zum Spiel-
werck geneigt, daß er das wircklich erhebliche blos aus
Pflicht thut. Daher kan man sagen: daß die Übel des
Lebens ein Object der schertzhaften Laune seyn können.
Ein schertzhafter Mann im Übel kan viel Bewun- 

/ derung

|P_249

/Bewunderung erregen, aber er ist auch liebenswürdig, und
man thut wohl, auch sein Gemüth allmählig dazu zu stimmen, und
zum schlechten Spiele eine gute Miene zu machen, dadurch bringen
wir uns allmählig in eine aufgereimte und gesunde Gemüths_Ver-
faßung, wenn wir es auch anfangs nur thaten, um uns eine diver
sion zu geben. Aber Lustigkeit in Gegenwart eines Traurigen,
ist Beleidigung, denn sie spottet so zu sagen, der Traurigkeit
eines andern. Die Fröhlichkeit ist ihm eine Kränckung, weil er
dann am stärcksten {_be_→_emp_}findet, was ihm fehlt. Daher sagt ein ge-
wißer Autor: Der Unglückliche ist gemeiniglich etwas boshaft.
Er kann nicht mit rechter Theilnehmung, das Glück anderer fühlen,
weil er sein Unglück selbst zu sehr fühlt. Wir leiden immer
mehr, wenn wir sehen, daß wir grade daß Ziel sind,
auf welches das Schicksaal seine Pfeile abschießt, als
wenn wir mit in der allgemeinen Calamitaet sind. Es giebt
Moralisten, die die Schwermuth rühmen; aber diese taugt nieh-
mals etwas. Denn bey der Guttartigkeit unserer Denckungsart
kommt viel darauf an, daß der Mensch sich nicht unglücklich fühle.

/Hertzhaftigkeit ist der Schüchternheit, Muth der Verzagtheit
entgegen gesetzt. Hertzhaftigkeit ist mehr eine Sache des Tem-
peraments, Muth mehr eine Sache des Nachdenckens, das 1te kan sich
kein Mensch geben, aber Muth beruht schon auf reflexion; daher
kan dieser statt finden, wenn gleich kein großer Grad von Hertz-
Haftigkeit da ist. Die Hertzhaftigkeit bezieht sich auf die
Gegenwehr, der Muth bezieht sich auf die Standhaftigkeit, ein
Übel über sich zu nehmen, ohne es zu fliehen. Der Hertzhafte
erschrickt nicht, der Muthige verzagt nicht. Nicht zu erschrecken

/ ist

|P_250

/ist nicht in eines jeden Menschen Gewalt; da komts auf die
Verschiedenheit der Naturelle an, aber ohnerachtet mancher
erschrickt: so fehlts ihm doch nicht {_an_} Muth nicht zu weichen. Der
Mensch kan aus Reflexion den <Ent>Schluß faßen nicht zu weichen;
aber er kan nicht verhindern, daß er nicht perplex gemacht wird.
Die Hertzhaftigkeit oder Courage hat Launen; aber der Muth
bleibt immer derselbe. Es ist besonders, daß fast alle Thiere
alsdenn heftige Ausleerungen haben, wenn sie die Furcht
ängstigt. Die Hertzhaften sind nicht immer muthig und ziehen
sich oft zurück, wenns aufs äuserste ankommt. Hertzhaftigkeit
komt oft aus Unwißenheit her. z.B. bey jungen Soldaten,
wenn sie aber älter werden, sehen sie die Gefahr ein, und fan-
gen an sich zurückzuziehen.

/{_Freyheit_→_Feigheit_} ist ein ehrloses Ver{_gnügen_→_mögen_}. Die Ehre kan uns dahin
bringen Leben und alles aufs Spiel zu setzen, mann nennt solche
Leute Poltrons, welches von Pollex truneatus her«r»kommt,
weil ehemals ein Kerl, um nicht in den Krieg zu gehen sich die Dau-
men abhieb, welcher denn Poltron genannt, und für ehrlos erklärt
wurde. Aber Furchtsamkeit kan mit der Ehre gut bestehen;
denn da der wahre Muth auf Grundsätze beruht: so kan {_mancher_→_wahrer_}
Muth ohne moralischen Character nicht statt finden. Hertzhaftig-
keit kan bisweilen aus Blöds{_am_→_innig_}keit entspringen, der wahre
Muth aber nicht ohne Caracter seyn. Die Türcken nennen diejenigen
die ihre«m»n Treffen aus Ehrliebe vorangehen, die Dollen.

/Die Hertzhaftigkeit erwirbt jederzeit große Bewunderung, selbst
bey Carl_dem_12ten deßen Geschichte zeigt, daß sie nicht immer
mit großer Überlegung verbunden gewesen ist. Bey vielen
Nationen macht Hertzhaftigkeit den gantzen Werth aus,
z.B. bey den Indianern. Die Ursache ist, weil es eine

/ Art.

|P_251

/Art von Opfer ist, daß man dem gemeinen Wesen dar-
bringt. Solcher Mensch hat ein großes Verdienst um das gemei-
ne Weßen, wenn er gegen daßelbe wohl gesinnt ist. Ein solcher
hat etwas, daß er höher schätzt als sein Leben, nehmlich Ehre
und Pflicht. Wenn er dies mit völliger Entschloßenheit ausführt:
so ist er hertzhaft; ein solcher Mensch ist aber rar; denn die Selbst-
liebe tritt uns gemeiniglich in den Weg, und hindert uns unsere
SelbErhaltung zu renunciiren, und sie unserer Pflicht nachzusetzen.
Denckt ein Mensch aber so edel: so kan man sich von ihm Schutz verspre-
chen. Es giebt verschiedene Arten von Hertzhaftigkeit. z.B. in ein-
zelnen Vorfällen, oder im Kriege; zum letztern gehört schon mehr
Hertz, so zu handeln, als wenn man allein auf dem Schauplatz wäre,
und keine Gefahr zu scheuen hätte. Es scheint, der wahre Muth
erfodere, daß man eine gerechte Sache habe. Ein Mensch,
der gut denckt, muß sich schon durchs «I»Unrecht wiedersprechen laßen.
Bey allen privat Händeln herscht eine Art von Unrecht. Daher kan
ein Mensch von Grundsätzen dieselbe nicht mit so viel Muth practi-
ciren, wenn er gleich durch allerley Hyppothesen und Wahn
dazu angereitzt wird. Denn es mag ausfallen wie es will; so
kan er sich doch nicht vor sich selbst rechtfertigen.

/Der Affect des Zorns ist eine Art von Unsinn, und doch scheint
er immer die wackersten Leute zu treffen, {_da_→_die_} mit eine Art
von Heftigkeit alles unternehme. Sie müßen ihn aber
gemeiniglich um der Anständigkeit willen und aus
Furcht andern unrecht zu thun {_unterdrücken_}. Vom Zorn ist Aerger-
niß zu unterscheiden, welches beweiset, daß der
Zorn ohnmächtig sey. Wenn der Zorn von dieser

/ innern

|P_252

/innern Kränckung abgesondert ist: so kan er dem Zor-
nigen gut seyn. Aber es ist doch eine Ohnmacht, wenn der
Mensch aus der Faßung gebracht ist. Es geziemt sich also
nicht für einen vernünftigen Menschen, im Zorn über die
zu gerathen, die in unserer Gewalt sind. Denn was darf
ich über solchen in Affect gerathen? ich darf ja nur befeh-
len, daß er bestraft werde«n», überdem macht man sich durch
den Zorn gemein, und reimt dem andern zu viel Einfluß
auf unser Gemüth ein, und daß ist doch schon eine Herabsetzung.
Man muß sich daher immer auf eine Art von Nachgeben ge-
faßt machen.

/Ohnmächtiger Zorn verwandelt sich gemeiniglich in Haß.
Dieser ist gefährlich für andere, und dem empfindlich, der
ihn hat. Denn er ist eine Wunde im Gemüth, die nie-
mals zuheilt. Daher muß man in vielen Fällen, wenn
der Zürnende keinen Haß zurückbehalten soll, ihn in seinem
Zorn nicht stören, sondern ihn immer reden laßen; denn
wenn der Zorn schon beredt ist: so hört er bald auf.
Der Beleidiger pflegt gemeiniglich den Beleidigten hin-
terher mehr zu haßen, als der Beleidigte ihn. Die
Ursache muß in Scham liegen, die er über seine Grob-
heiten empfindet; daher muß man sich in Acht nehmen,
anderer Urtheile über uns nicht nachzulauschen, und
wenn man sie erfährt, sich nichts mercken zu laßen.
Denn wird der andere froh seyn. Denn Beleidigung
bringt gemeiniglich noch einen neuen Haß hervor, wenn
der andere sieht, daß man seine Beleidigungen erfahren

/ habe

|P_253

/habe«,».

/Achtung wird beynahe zum Affect, wenns Bewunderung
wird, und zum wahren {_E_→_A_}ffect wenns erstaunen wird. Bewun-
derung ist eine der angenehmsten Rührungen; sie entspringt,
wenn etwas geschieht, daß dem Grade nach alles übertrift,
was uns bekandt ist. Daher hört Bewunderung beym Menschen
auf, die viel gesehen haben. Aber gewiße Dinge erregen
beym Menschen unaufhörlich Bewunderung, weil sie jeder-
zeit unsere Bewunderung übersteigen, z.B. die Kraft des
Schießpulvers, oder die Geschwindigkeit des Lichts. Wir ver-
wundern uns nur über etwas neues; doch giebts auch so gar
Menschen, die sich über nichts verwundern, und nichts bewun-
dern. Aber diese werden entweder von einer unmäßi-
gen Art von Eigennutz von allem abgezogen, oder sie ha-
ben nicht Einsicht genung, den Werth der Dinge zu schätzen.
Die Bewunderung ist eine gemischte Empfindung sie ist eine
Annehmlichkeit mit Unannehmlichkeit verbunden. Wir re-
prochiren uns wegen unserer Unwißenheit in den Sachen;
wir erwerben uns aber vorzüglich eine neue Kentniß
darin, z.B. die Betrachtung des Weltgebäudes. Da ge-
räht man in Erstaunen, wenn man in gestirnter Nacht
den Himmel ansieht, und fühlt sein Unvermögen. Verach-
tung schlägt den Eckel und Abscheu aus«,». Eckel ist eine
besondere Art von Wiederwillen, die nichts belebendes hat,
sondern das Leben gantz niederschlägt. Einen gräslichen
furchterlichen Gegenstand, furchtbaar zu beschreiben gefallt,

/ aber.

|P_254

/aber einen ekelhaften Gegenstand, bis zum Eckel darzustellen
mißfällt. Die Ursache ist, weil der Ekel die Ertötung unserer gantzen
Empfindungskraft ist, und wir {_in_} ihnen so zu sagen, nicht mehr gantz
leben. Danckbahrkeit, Mittleyden und Zärtlichkeit werden auch
oft zu Affecten. Aber sie sollens eigentlich nicht seyn; wir sollen
nicht aus Mittleyden, sondern aus Grundsätzen wohlthuend gegen
das menschliche Geschlecht seyn. Das sympathetische im Menschen
rührt immer von der Apparentz her, und nicht vom Werth der Sache:
so finden wir, daß das Mittleyden mehrentheils Leidenschafft
ist. Es ist ein Ruf der Natur, der uns einladet, hier unsere Pflichten
in Betrachtung zu ziehen. Es ist aber nichts kläglicher, als ein Richter
der nach Mittleyden Recht spricht; denn da dürfte ein jeder Gefahr
laufen, seinen process zu verliehren, so bald er mit Persohnen
zu thun hat, die gut Winseln können.

/Scham ist ein wunderbahrer Affect; es ist die niederschlagenste Em-
pfindung, die gefunden werden kan. Sie macht uns unvermögend,
so wie eine Furcht, die ein volliges Entsetzen hervorbringt, und
den Menschen außer Stand setzt, dem Übel zu entfliehn. Wer
sich schämt, fühlt eine Beleidigung; er ist aber nicht in der Faßung
sie zu erwiedern, und deshalb ist er unwillig über sich selbst. Die-
se Empfindsamkeit ist oft eine Eigenschafts des Naturels, sie ist
eine Niedergeschlagenheit, die uns außer Stand setzt eine em-
pfangene Beleidigung zu erwiedern. Es ist ein starcker Affect,
der den Menschen aber unglücklich macht, weil er ihn außer Standt setzt,
den Üblen vorzubeugen. Scham ist gemeiniglich <mit einer> «die» Erröthung verbun-
den. Warum hat die Natur eine solche BlutErregung veranlaßt, bey
dem, der sich schämt, am aller unangenehmsten ist? Mancher erröthet,
weil er vor einem großen Verbrechen Abscheu hat; daher kan man
die Schamröthe nicht immer als ein Bekentniß der Schuld ansehen.
Es scheint aber, als wenn die Schamröthe von der Natur{_,_} «Seite» auf
nichts, als auf die {_Lüge_} gelegt sey, und so durch die Röthe eine Lüge habe
verrathen, und auch das Lügen {_kein_→_beym_} Mensch{_en_} habe verhindern wollen.
Denn sie ist eine Verrätherey, die der Mensch wieder seinen Willen

/ vornimt.

|P_255

/@vor@nimt. Die Menschen, die mit uns reden, müßen doch ein Kentzeichen
@haben@ zu wißen, ob wir die Wahrheit reden oder nicht. Eltern suchen ihre
@Kinder@ bey aller Gelegenheit durch ein phui! schäm dich, zu discipliniren, und
@erre@gen dadurch eine Art von Schamhaftigkeit, so, daß alles, was anderer
@Auf@mercksamkeit auf sie rege macht, ihnen eine Schamröthe erregt; sie
@sollt@en, daß daher nicht thun. Aber wenn einer lügt, muß man zu ihm sagen:
@phu@i! schäm dich. Denn würde ein solcher Lügner gleich roth werden, und ein
@ehr@licher Man würde niemals anders roth werden, als wenn man ihn einen
Lügner schimpfte. Man glaubt, daß im {_Narren_→_Nerven-_}Systhem das Blut in {_den_}
@Pul@s Adern einen Kampf hervorbringe. Und daß dadurch das Blut
@im@ Kopfe zurückbleibe. Dem sey aber, wie ihm wolle: so ist diese Em-
@pfi@ndung von großer Heftigkeit, und hinterläßt bey Menschen ein gro-
@ß@es Misfallen an sich selbst, daß er so schwach war zu erröthen. Wenn
@ein@ Mensch zornig und dabey blas wird: so ist er augenblicklich zu fürchten;
@so@ geräth er in Furcht über den Ausgang des Kampfs, denn er gleich vor-
@neh@hmen will; ist der Mensch aber zornig und roth dabey: so ist er
@nic@ht auf der Stelle zu fürchten; denn alsdenn faßt er einen lang-
@w@ierigen Haß.

/Sind Gedult und Muth völlig einerley? Nein, sie sind sehr unterschie-
@den@. Ein würcklicher Muth nimt große Gefahren über sich; Geduldt
@er@trägt dieselben nur gezwungen. Man hat öfters gefragt, ob der
SelbMord eine Feigheit sey, oder auch aus Muth entstehen könne? Wir
setzen jetzt das moralische bey Seite, und hier finden wir, daß der
Selbstmord daß mehreste mahl eine Wirckung der Zaghaftigkeit sey.
Wir sehen öfters, daß Leute. z.B. ehe sie ins Treffen gehen,
sich lieber selbst ums Leben bringen, da sie doch selbst vom Feinde
nichts ärgers risquiren können. Daß weicht gantz von der Europäischen
Gesinnung ab; denn ein solcher sucht wenigstens sein Leben seinem
Feinde theuer zu verkaufen. So sind also die feigsten Nationen
zum Selbstmord auferlegt. Gram und Kummer können sie so
um alle Hofnung bringen, daß sie aus großer Zaghaftigkeit zu
diesen Mittel schreiten. Indeßen können wir daß nicht generaliter sagen.

/ Man

|P_256

/Man redet oftmals von der Macht eines Weisen, daß er sein privi-
legium, aus dem Leben zu gehen gebrauchen könne, wenn er wo@le,@
wie man aus einem Zimmer gehet, wo es raucht, und es einem nicht
gefällt. Die Stoiker hatten eine so hohe {_Beschreibung_→_Meinung_}, von der Kunst
aus der Welt zu gehen, daß der SelbstMord wircklich in Anseh{_ung_→_en_}
kam, und Atticus sich zu Tode hungerte, weil er nichts mehr nutzen
zu können glaubte, ob er gleich herrlich und in Freuden leben könte.
Es giebt Beyspiele, wo man die Schüchternheit sich aus dem Leben
fort zu machen, für «n»Niederträchtigkeit hielt, obgleich der SelbstMord
an sich abscheulich ist, z.B. als Nero Gefahr laufen muste dem Volck
Preiß gegeben zu werden, gab ihm ein Scklave einen Dolch, sich
selbst umzubringen, welches man dahmals noch für eine Ehre hielte.
Er versuchte es einigemahl unter der Ausrufung: quantus arti-
fex morior (womit er auf seine Verse zielte), daher zeigt die Ge-
schichte eine große Verachtung gegen ihn, daß er nicht Muth
hatte zu sterben, und überhaupt wird der, der beym Tode
Feigheit beweiset, verachtet. Es komt aber dabey immer auf
die Opinion der Leute an, in gewißen Umständen können sich
die Leute einbilden, daß es erlaubt sey, und denn kan Muth
das Fundament seyn, ob es gleich darum noch nicht erlaubt
ist. Was die Gedult betrift: so ist daß die Er{_le_→_we_}gung
des Übels, daß man sich durch die Nothwendigkeit angewöhnt
oder ertragen lernt.

/Wir sympathesiren oft mit den Affecten anderer, nur nicht
mit ihren Zorn. Wir können mit anderer Traurigkeit
sympathesiren, und da daß eine gute Empfindung giebt:
so gefallen wir uns bey dieser Traurigkeit, die wir
aus Liebe zu andern empfinden. So können wir auch mit
der Frolichkeit anderer sympathesiren, denn

/ diese

|P_257

/diese ist sehr ansteckend. Man lacht ja oft, wenn man
noch nicht einmahl weiß, worüber andere lachen; <und> man-
cher Mensch wird als ein guter Gesellschaffter angesehen,
nicht weil er viel spricht, sondern weil er so vergnügt ist,
daß sein{_e Geschichte_→_ Gesicht_} schon eine Aufmunterung vor andern
ist. Wenn in eine todte Gesellschafft ein spashafter
Mensch hineintritt: so wird alles aufgereimt. Aber mit
dem Zorn anderer sympathesiren wir nicht; wenn also
einer erzählt, was ihn in Harnisch gebracht hat; so muß
er sich sehr mäßigen, damit nicht andere über ihn zor-
nig werden; denn so bald jemand aus der Faßung ge-
bracht ist: so ist er für andere gefährlich. Wenn also
ein zorniger Mann was erzählt: so giebts einen Wie-
derspruch; wenn er aber seine Sache mit Gelaßen-
heit erzählt: so erhält er mehr Beyfall; denn da ist
man seinetwegen nicht in Furcht gesetzt.

/Wenn Zorn zurückgehalten wird: so wird daraus
Aergerniß, und die ist für den, der da zürnt, noch
schlimmer<.> «g»Gehaßt «zu» werden, ist übel, aber selbst
haßen ist noch übler; denn da ist innere Erbitterung
die nicht befriediget werden kan. Man hat Sprüch-
wörter, um einen unversohnlichen Haß anzuzeigen,
z.B. odium theologicum, den Haß, d«i»en Partheyen
aus einer ReligionsMeynung faßen, wenn sie
Lehrer der Religion sind, und ihren Aussprüchen
zuwieder gehandelt wird: so soll ihr Haß der

/ un- 

|P_258

/unversöhnlichste seyn. So ist auch der Haß der Frauenzimmer
unversöhnlich. Es scheint also daß der Haß einer ohnmächtigen
Persohn der unversöhnlichste sey, indem die Ohnmacht die Erbitte-
rung noch größer macht, denn jeder will doch gerne Genungthu-
ung haben.

/Es giebt ferner ein bloßes S«¿»piel der Affecten ohne Interesse,
und ohne daß man einen wesentlichen Antheil am Gegenstande
hat. Im Deutschen heißen {_also_→_alle_} diese Bewegungen ein Spiel,
daher komt der Nahme des so genanten eigentlichen Spiels, wenn
es {_auf_} Zufall und einige Geschicklichkeit ankomt, über andere
eine Oberhand zu gewinnen, in Dingen die nicht um des Interesse
willen geführt werden. Dieses Spiel ist das gewöhnlichste in allen
Unterhaltungen, wo aber das Interesse der BewegungsGrund
ist, da ist es kein Spiel mehr, sondern ein Handwerck «¿»und
zwar ein unehrliches Handwerck. Denn die Leute bringen
doch dadurch nichts zu Stande, und können «z» nur mit
völligem Verlust ihre{_«r»_} Glücksumstände ändern. Spiel muß
also, als so etwas angesehen werden, das wircklich nicht
beträchtlich ist, und daß nur die Veränderung der Empfin-
dungen und Affecten, die den Menschen beleben die Absicht
sey. Und in der That ist es wahr: wenn das Spiel ein Spiel
seyn soll: so muß kein Interesse dabey seyn, «f»sonst kan
man in keine situation des Lebens kommen, wo so
ein Wechsel der Affecten, von Hofnung, Freude, Verdruß p.p.
wäre, und das trägt zur Belebung des Gemüths und Ge-
sundheit des Körpers {_nie_} großes bey. Ist aber der Verlust
schon unaufhörlich, so hörts freilich auf{_,_} eine Unterhal-
tung zu seyn. Im Deutschen heißt man auch die Musii
ein Spiel, und Musikanten hießen ehedem Spielleute,
eine Comoedie nennt man ein Lustspiel. Und bey
beyden ist auch ein Spiel der Affecten. Es giebt kla- 

/ gende

|P_259

/klagende ernsthafte Töne, denn der Mensch hat bey jedem
@A@ffect einen Ton, der demselben correspondiret, und diese
@T@öne sind daß, was auf unser Gemüth wirkt. Ein gewißer
@Ca@stell hat versucht, ob er nicht ein Farben-Klavier machen
könte, indem er annahm, daß alle Musick auf einer mathema-
tischen proportion in der Eurithomi ankam. Aber er fand
daß es nicht so sey, denn bey der Musick ist auch eine Art von
GemüthsBewegung, die auf die Leidenschaften Einfluß hat.
@S@onst ists noch sonderbar, daß die Farben des Regenbogens
@e@ben das Verhältniß gegen einander haben, als die Töne auf
einer monochorde. Unser Ohr wird also nach der Analogie ge-
@rü@hret, wornach unser Auge gerührt wird. Was dem Auge
@die@ Farbe ist, ist dem Ohr der Ton, und was auch dem Auge Licht
@is@t, ist dem Ohr Luft. Castell versuchte also, ob, wenn er die-
@se@ Farben, eine auf die andere fallen ließe, daß gefallen
würde. Aber er fand daß gar nicht. Es ist folglich in der Mu-
@si@k kein Wohlgefallen aus der Contemplation, sondern es ent-
@st@ehet durch die Erregung unserer Affecten. Denn unsere Spra-
che bestehet aus 3. Elementen, aus der Articulation (Worte) aus
@der@ Modulation (Ton) und gesticulation (Geberde). Man kan blos
@du@rch die Articulation sich andern verständlich machen, durch die gesti-
@cul@ation kan ich mich schon weniger verständlich machen, aber doch so
@zie@mlich. Aber denn wenn man sich durch die pure modulation verständ-
@lich@ machen sollte, so würde man dabey schon mehr Schwierigkeiten fin-
@den@. Indeßen hat fast die geringste Empfindung unsers Gemüths
@ein@en aparten Ton, und in der Modulation ist auch das Urtheil das
@all@es natürlich, dahingegen in der Articulation alles willkührlich ist.
@Be@y allen Völckern gefällt die Music, weil sie die Affecten auf einander

/ folgen

|P_260

/aufeinander folgen läßt, und GemüthsBewegungen {_rege_} macht, die bis
zum Affect ausschlagen können. So nehmen wir auch in der Comoedie ein
Interesse an dem was vorgetragen wird, aber nur in der imagina-
tion: denn wir setzen uns freywillig in den Gedancken h«er»<in>ein

/Es giebt Affecten die rüstig sind, ob sie gleich unangenehm sind.
So ist der Zorn ein rüstiger, der Haß aber ein Hämischer Affect, daher
ists beßer zürnen als zu haßen. Neid ist ein verachteter Affect. Es
giebt «blos» Affecten, die blos aus Theilnehmung entspringen, diese
nennt man sympathie: Empfindungen worin man versetzt wird,
weil sie uns angenehm sind. z.B. die Zärtlichkeit. Wir sind von
Natur zärtlich, wir empfinden eine Danckbarkeit, wenn gleich eine
Wohlthat nur einem andern ertheilt ist. Die Schaam ist ein gewalti-
ger Affect. Die Menschen sind auf der Stelle daran gestorben, denn
die Schaamröthe geht oft nicht nur über das gantze Gesicht, sondern
oft über die gantze Brust: das zeigt eine gewaltige Zurückhaltung
des Bluts an. Die Natur hat ohne Zweifel diese Erröthung in uns
gelegt, um die Unwahrheit anzuzeigen, und man hat sie nur falsch
dirigirt, wenn man sie auf das Gegentheil gelenckt hat. Vieles
unanständige ist bey den Menschen conventionell, bey dem einen
ists unanständig bey dem andern nicht. Wenn man sich nun an-
gewöhnt, sich in Ansehung dieser Dinge zu schamen: so wird
dadurch beym Menschen ein Schüchternheit erzeugt, so, daß
Menschen sich zuweilen schämen, wenn sie was gutes thun wollen.
Am Ende würde sich doch jeder Mensch wünschen, daß er sich
nicht schämt, und die Schwachheit habe sich nicht eines andern
Gespöttes auszusetzen, die Schaam bringet die Menschen
gantz aus der Faßung etwas gescheutes auszuüben, sich ge-
hörig zu vertheidigen, oder auf eine vortheilhafte Art zu
zeigen, und daraus entspringt die Schaam. Sie zeigt nicht an,
daß man ein Gefühl an einer Unanständigkeit habe, sondern
sie entsteht aus Furcht in einem gehörigen Anstande zu erscheinen.
Diese Furcht bringet aber selbst oft die gröste Wirkung

/ hervor

|P_261

/hervor, daß die Schüchternheit dadurch herscht, und daß man sich desto-
mehr in dieser Verlegenheit findet, je mehr man sich dafür scheut. Die
@Dr@eistigkeit, die hochgetrieben, Unverschämtheit wird, ist ein Grad
des Gefühls von Überlegenheit. Jedes Thier macht den Versuch sich die-
ser Kraft zum Schaden eines andern zu bedienen. Wenn also ein
Mensch das Talent hat, durch nichts in Verlegenheit zu gerathen: so geräth
@er@ in Versuchung davon Gebrauch zu machen. Er dringt dreist darauf
@ein@, an der Stelle daß ein {_erster_→_ernster_} Blick einen andern, der «un» empfindlich
@ist@ in Verlegenheit setzt, weil er nicht so durchtrieben ist. Hume merckt
@an,@ daß diese Eigenschafft der Unverschämheit die einzige Eigenschafft
@sey@, die ein Mensch niemals lernen kan. Da es indeßen doch eine Schwäche
@ist,@ in Verlegenheit zu seyn, sein talent zu zeigen; so hat ein solcher
@sc@hon einen großen Nachtheil. Er kan sich nie so vortheilhaft zeigen,
als wenn er ein gewißes Zutrauen in sich, oder eine Verachtung in
andere gesetzt hat. Aber bey Kindern gefällt das, daß sie nicht so
@sup@er klug thun, denn eine so völlige Zuversicht eines jungen Men-
schen wird mißfällig, weil al{_l_→_t_}e Persohnen dadurch in Ansehung
@des@ Ansehens verliehren, daß ihnen junge Personen gewähren müßen,
und aus solchen super klugen jungen Leuten wird niemals was
@rec@htes. Dreistigkeit kommt von Zutrauen zu sich selbst, oder auch
@zu@ großer Geringschatzung anderer her, da man andere nicht für
@Per@sohnen hält, deren Urtheil von irgend einem Werth wäre. Ein
@solc@hes Verhalten bringt immer eine große Verachtung hervor,
und daß scheint sie auch zu ver{_lieren_→_dienen_}, so daß eine gewiße Behut-
samkeit uns mehr gefällt. Es müßte denn seyn, daß das Ansehen
@der@ Personen bey den Urtheilen {_un_}entschieden ist; oder das Bewust-
@seyn@ ihres Unvermögens, diese Dreistigkeit hervorbringt. Eine Ge-
müthsBewegung die von Ideen anfängt, aber durch körperliche
@Be@wegung bis zum Affeckt erhöht wird, ist das Lachen. Die wahre

/ Natur.

|P_262

/Natur des Lachens ist stets von vielen Autoren untersucht; man
hat viel Beyspiele des Lächerlichen, und wenn man auf die Gründe
der Lächerlichkeit dringt: so kan man doch nicht alles enträthseln.
Wir können das Lachen als eine Bewegung ansehen, die am innigsten
auf die Quellen des Lebens wirckt, so daß ein Mensch sich einer
Gesellschafft, worin hertzlich gelacht wurde, am aller{_«leichtesten<äng>»_→_längsten_} errin-
nert. Der Eindruck, denn eine lachende Gesellschafft auf uns macht,
ist dauerhaft, weil man sich belebt fühlt, so lange man daran
denckt, so «@konn@» daß Menschen dadurch, daß sie in ein fröliches
Lachen versetzt werden, von Kranckheiten können errettet
werden; deshalb hat die Natur die Miltz gegeben. Das Lachen
ist mit einer Erschütterung des Körpers verbunden, und wen
man sich dem überlaßt: so ist es laut und theilt sich der Ge-
sellschafft mit. Wir können ein Lachen blos mechanisch erre-
gen, durch das kitzeln, und auch das hist«o»erische Lachen. Aber
beides führt keine Frölichkeit mit sich, und hat nicht den heilsamen
Effect, denn das Lachen aus ideen hat. Beym Menschen, der
sehr kitzlich ist, muß eine Art von Ossil<l>ation seyn, eine Er-
schütterung, die den Körper angeht, so wie bey einer gespan-
ten Seite, und zeigt, daß dem Diafragma solche Stöße müßen
versetzt werden. Ein solcher Mensch aber, der gekitzelt lacht,
fürchtet sich vor einem solchen Zustande; daher lacht er auch,
und kan zuletzt Convulsionen bekommen. Die Erschütterung
des Zwergfalls setzt das gantze {_Nieren_→_Nerven_} Systhem in Bewegung,
so, daß die Nerven auf gewiße Weiße «z»gezwickt werden,
so, daß es sich untereinander communicirt. Unsere Gedancken
fließen auf unsern Körper ein, und die Seele kan ohne Mit-
wirckung des Körpers, niemals dencken, nur daß in allen
Fällen nicht so mercklich. Das Lachen entsteht aus jeder plötzlichen
aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung, so, daß gera-
de das umgekehrte von dem erfolgt, was wir erwarten.

/ Alles

|P_263

/@All@es plötzliche bringt bey uns eben daßelbe hervor{_,_} was das gezwickte
@der@er gespannten Seite thut, und diese Bewegung {_ist_} oscillirent, so, daß
@plö@tzlich das Gegentheil, von dem was wir erwarten, sich ereignet, und
@das@ heißt lachen, z.B. wenn «wir» eine Sache, in die wir alle Wichtig-
@keit@ setzen, auf einmahl ihre Wichtigkeit verliehrt. Alles Interesse
@mac@ht ernsthaft; so bald sich aber das Interesse verliehrt: so geht man
@aus@ dem Ernst ins Lachen, z.B. das Aprillschicken dient dazu, den
@Me@nschen in seiner Erwartung zu betrügen, und diese repercussion
@der@ Seele theilt sich dem Körper mit, und ist daß ein mahl erregt:
@so@ geht die Repercussion im diaphragma fort, und daß beför-
@de@rt denn die Gesundheit, indem durch diese Erschütterung das
@ga@ntze NervenSysthem erregt wird. Das Lachen ist also gar nicht
@ide@alisch. Die Alten meinten: das Lachen könte aus Stoltz ent-
@ste@hen, indem man über die Ungereimtheiten eines andern lachte,
@we@il man nicht so dumm wäre. Aber es ist nichts weiter als die
@körp@erliche Erschütterung der LeibesBewegung, wo man grade zu
@die@ Beförderung seiner Gesundheit fühlt. Es giebt auch ein schaden
@fr@ohes Lachen über den so genanten Schabernack; aber Menschen,
@die@ sich sehr über den Poßen der einem andern begegnet freuen,
@mü@ßen nicht die beste DenckungsArt haben. Denn das Lachen ist ge-
@sell@schaftlich, und der andere muß mit lachen können. Man muß
@daher@ nicht lachen, wenn jemand fällt, denn bey solchen Kleinigkeiten
@ge@wöhnt sich die SchadenFreude an, wenn man z.B. einen in einer
Gesellschafft zu hetzen {_thut_→_sucht_}, wie die thun, die einem zu Gaste
@bit@ten, um ihn zu narren. Daß kan nur so lange erlaubt seyn,
als der dem es wiederfährt, mit lachen kan. - .

/Wer gerne lacht, ist aufgeweckt; wer leicht lacht ist läppisch.
Ein Volck, daß nicht lacht, ist keiner geistischen Unterhaltung
@fä@hig, aber aufgeweckte Persohnen, müßen auch witzige Sachen

/ haben

|P_264

/haben, die ein Lachen erregen. Ein Mann, der, indem er etwas
vorträgt, ein Lachen erregt, ist aufgeweckt.

/Es giebt in Gesellschaften ein fades Lachen, wo ein vernünftiger
Mann gezwungen ist, mit zu lachen. Dieses ist daß, was man das
grinsen nennt.

/Weinen und Lachen sind nicht sehr unterschieden. Die Mahler finden
in der Miene eines weinenden und lachenden, eine so große Aehn-
lichkeit, daß sie durch einen eintzigen Zug das Gesicht eines lachen-
den in ein weinendes verwandeln können. Beym Weinen bricht
sich der Schmertz; es ist das aufhören des Schmertzens, und eine
nicht eben unangenehme zärtliche Rührung. Es ist merckwürdig:
beym Lachen athmet der Mensch aus; beym Weinen zieht er
den Athem ein. Thränen werden oft durch Sympathie oft
durch angenehme Empfindungen erregt. Danckbaare, groß-
müthige Züge können uns Thränen in die Augen bringen,
wenn gleich kein dauerhaftes weinen. Thränen sind gröstentheils
Wirkungen vom Gefühl, der OberMacht eines andern, ein
Frauenzimmer heult bald, weil sie sich zur Rache zu ohnmächtig
fühlt. Das soll denn eine Aufforderung für andere seyn, sich
ihrer Sache annzunehmen. Großmuth, wenn wir uns unver-
mögend fühlen; sie zu erwiedern, erregt Thränen. Daß sind
edle Thränen, so wie auch die Thränen des Mittleydes.

/Die sympathetischen Thränen sind gantz animalisch; die Thrä-
nen der Danckbarkeit sind idealisch. Kein Mensch ist
danckbaar, als der eine Idee «hat» von dem hat, was er
genießt. Überhaupt aber sucht ein Mann Thränen
zurück zu halten. z.B. in einer Comoedie, und der
thut wohl daran, denn alles, was das Hertz welck

/ macht

|P_265

/welck macht, schickt sich nicht für einen andern wackern Mann;
allenfalls für gemächliche Personen, die nichts weiter nöthig haben
als zu wünschen. Apathie war daß, was die Stoiker rühmten.
Sie bestand nicht in der Fühllosigkeit, sondern in der Behutsamkeit
gegen die Überraschung des Uebels, so daß die Empfindung nicht
zum Affect wird, und sich nicht außer Stand setzt, den Werth eines
Dinges in gantzen Zusammenhang zu schätzen. Der Stoiker verlangt
das gesetzte Gemüth bey allen Empfindungen, weil ein gesetztes
Gemüth da ist, was alle unsere Kräfte in Bewegung setzen soll.
Unser Gemüth hat ein vielfältiges Interesse, sich durch objecte so
hinreißen zu laßen, daß es alle andern objecte darüber aus den Au-
gen verliert, und nicht zw@ek@mäßig handelt. Man muß aber wacker
und entschloßen seyn, ohne in diesen Affect zu kommen, denn
richtet man alles weit rüstiger aus ohne vehement und hitzig
zu werden, weil uns das kein {_Urtheil schaft_→_Vortheil schaft._}

/So wie Affecten sich blos aufs Gefühl der Lust und Unlust
gründen, so gründen sich die Leidenschafften auf Neigungen.
Neigungen sind Begierden, die auf eine gantze Gattung von Ge-
genständen gehen; jede Neigung treibt an, aber sie herrscht nur
denn, wenn diese die Vernunft außer Stand setzt, den Werth
derselben mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen.
Die Weisheit lehrt den Menschen schon, daß weil er mehr, als
ein Interesse hat, so muß er keinen Gegenstand allein betrach-
ten, sondern ihn mit allen übrigen Gegenständen seines ge-
samten Intereßes vergleichen. Aber es geschieht doch bey uns,
daß eine Neigung sich worauf einwurtzelt und gantz allein herscht.
So hört z.B. ein Verliebter auf Vernünftig zu seyn, denn
da sieht er Nichts, und giebt der Vernunft kein Gehör. Der Ver-
liebte hat außer dieser Neigung doch noch andere zu befriedi-
gen, hinter her bekümmert er sich wieder um diese Neigungen,
in Ansehung deren er bisher blind gewesen war.

|P_266

/Alle unsere Neigungen können in formale und materiale
eingetheilt werden. Die Formale gehen ohne Unterscheid der
Gegenstände auf die {_Beleidigungen_→_Bedingungen_}, unter denen wir über-
haupt unsere Neigungen befriedigen können; sie haben al-
so kein besonderes object. Die materiellen Neigungen sind die
die in Ansehung des objects bestimt sind. Die Formalen
sind 2Fach. Freyheit und Vermögen, diese sind die ersten
und vornehmsten Neigungen unter allen. Die Freyheit
bedeutet die Entfernung alles Wiederstandes nach seiner
eigenen Neigung zu handeln. Sie ist eine formale negative
Neigung, weil sie blos Hinderniß ist. Aber wir haben auch
eine positive formale Neigung. Diese ist die Neigung zum
Vermögen, d.i. zum Besitz der Mittel, seine Neigungen zu
befriedigen; bey der Frechheit suchen wir nur den Zustand
die Neigungen zu befriedigen; beym Vermögen aber die
Mittel dazu. Was das Vermögen betrift: so ist 3fach:
Talent, Gewalt, und Geld. Darauf gründen sich 3 Neigun-
gen: Ehrsucht, Herschsucht und Habsucht. Dies sind die 3 Lei-
denschafften, die auf diese 3. Vermögen, wodurch wir
alle unsere Neigungen zu befriedigen suchen. Alle diese
Vermögen, gehen auf nichts anders, als auf die Art, wo-
durch man einen Einfluß auf andere hat. Der Mensch hat
keine Leidenschafft, dere«¿»n Gegenstand die Natur wäre,
sondern alle Leidenschaften gehen nur auf die Menschen.
Die Ursach davon ist, weil der Mensch das HauptBeförderungs
Mittel zur Befriedigung aller Neigungen ist. Wenn man sich
den Beystand der Menschen conciitirt: so ist man vermögend, seinen
Neigungen die gröste Befriedigung zu geben, wozu man allein nicht
hinreichend ist.

/Die Leidenschafften können durch ihre objecte unterschieden werden

/ z.B.

|P_267

/z.B. die Neigung zum Wohlleben, Spiel pp. Aber es giebt beson-
dere Neigungen; die blos auf die Bedingungen gehen, wodurch unse-
re Neigungen ohne Unterschied befriediget werden können. Die-
se haben also kein besonderes object; sie sind aber die wichtigsten
unter allen. Denn weil sie auf alle objecte ohne Unterscheid gehen:
so herschen sie mit allen Leidenschafften gemein: diese Allgemeinheit
giebt ihnen eine große Wichtigkeit, und darum werden diese Nei-
gungen, die blos auf die Bedingung der Befriedigung aller übrigen
Neigungen gehen, eben deshalb die wichtigsten.

/Alle Leidenschaften gehen auf Menschen, und niemals auf Sachen.
Wir haben wohl Neigungen zu Sachen. z.B. zum starcken Getränck,
Faulheit, pp. aber alle diese werden nicht Leidenschaften; denn
die wahren Leidenschaften gehen auf Menschen; denn die Menschen
sind die allergrösten Mittel, zur Befriedigung und Behinderung
un«¿»serer Neigungen. Vereinigtes Bemühen der Menschen kan un-
sere Neigungen befriedigen oder verhindern, mehr als irgendet-
was, daß man dencken kan. Der Mensch ist ein subject, daß erfin-
det, und die Natur ist ihm unterworfen. Die Natur enthält
nicht so wohl den Stoff zur Befriedigung unserer Neigungen, als
vielmehr die Erfindungskraft des Menschen. Man sagt wohl bis
weilen: der Mensch hat eine passion für starcke Getränck, aber
daß ist falsch, denn es ist eine Sache, wozu man ohnedem einen
Hang hat; es ist nicht eine heftige Bewegung des Gemüths,
die bey den Leidenschaften existirt; und diese Bewegungen
des Gemüths, können nur auf Menschen gerichtet seyn. Die
formalen Neigungen theilen wir in Freyheit und Vermögen
ein. Freyheit bedeutet die Befreyung von Hindernißen,
nach unserer Neigung zu leben. Der Mensch, der behindert
wird, nach seiner Neigung zu leben, ist nicht frey; diese
Hinderniß nach seiner Neigung zu leben, muß von Menschen

/ gelegt

|P_268

/gelegt werden. Die Natur raubt dem Menschen nicht
diese Freyheit; seine Neigung muß nur nicht so albern
seyn, etwas wieder die Natur zu verlangen. Sonst binden
die Hinderniße, die die Natur uns legt, unsere Freyheit
nicht; sie schräncken nur unser Vermögen ein, zB ein Mensch
auf Reisen findet ein unübersteigliches Gebirge. Seine
Freyheit ist hier nicht eingeschränckt, sondern sein Vermö-
gen. Diese Hinderniße also nach unserer Neigung zu le-
ben, legen uns immer die Menschen: daher ist unsere
Neigung der Freyheit, blos auf Menschen gerichtet. Da-
bey ists uns gantz gleichgültig, was wir für Absichten ha-
ben, und kein Übel ist uns so verhaßt, als wenn wir be-
fürchten, daß ein anderer uns hindern wird, nach unserer
Neigung glücklich zu leben. Die Neigung zur Freyheit
ist unter allen Neigungen die gröste. Die Landleute
sagen oft: es sey immer beßer für sie wenn sie unter
der Vormundschafft ihrer Herrschaft ständen. Wem diese
ihnen denn nicht Befehl über ihr Verhalten geben. Dieses
Urtheil hat etwas sehr scheinbares, daß der Mensch sich alsdenn
beßer befindet, wenn er einer gutdenckenden Herrschaft unter-
than ist, als wenn er frey und sich selbst überlaßen ist, aber
wenn ich die menschliche Natur betrachte: so sehe ich doch, daß
der jederzeit unglücklich ist, der nach eines andern Neigung
glücklich seyn soll. Der Mensch fühlt sich unglücklich, unter
dem gütigsten Herrn, wenn er nach der Neigung seines Herrn
glücklich seyn soll. Denn ein jeder will, nach seiner eigenen
Neigung glücklich seyn. Daraus folgt, das Freyheit

/ die

|P_269

/die Bedingung ist, unter der der Mensch glücklich seyn
soll. Darum hat man noch nicht die Mittel in der Hand, seinen
Neigungen Befriedigung zu verschaffen; aber es ist doch die
Bedingung, unter der ein Mensch glücklich seyn kan. Denn wenn
ein anderer mich einschränckt: so bin ich eo ipso dadurch un-
glücklich. Wenn also von der bürgerlichen Freyheit gesagt
wird: Staaten, wenn sie gute Herren haben, sind glücklich;
so kan man dagegen sagen: sie sind unglücklich; denn sie sind
doch nur nach der Meynung eines andern glücklich. Das geht
so weit, daß auch der, der unglücklich ist, nicht nach seinem Be-
lieben ein Narr seyn kan. Die Freyheit ist auch eine Bedin-
gung vom Werth des Menschen, so, daß, wenn man ihm die Frey-
heit nimt, man ihm die caracteristische Bedingung seines
Vorzugs nimt. Es mag seyn, daß in gewißen ZeitAltern
die Freyheit den Menschen genommen werden muß, wenn
sie noch voller Roheit sind, und der Thierheit sehr nahe
kommen. Indeßen sieht man doch, die letzten Zwecke
des Menschen laufen«,» darauf hinaus, daß er sich selbst
regiere, so, daß der Mensch allen Werth verliehrt, so bald
er unter der Herrschaft eines andern so steht, daß es
ihm nicht mehr überlaßen ist nach seiner Neigung glücklich zu
seyn. Dieses Urtheil bestätigt die Erfahrung.

/Wir können die barbarische und civilisirte Freyheit unterschei-
den. Wir haben gantze Völcker, die in der wilden Freyheit
leben, d.i. in der nomadischen Freyheit. Obgleich diese Frey-
heit sehr barbarisch und aller Gemächlichkeit des Lebens be-
raubt ist, und so vielen Gefahren ausgesetzt ist: so ist doch diese

/ Freyheit

|P_270

/Freyheit so sehr süß, daß man nicht findet, daß eine Nation
aus diesem Zustande gehet. Wir finden z.B. daß die Engländer an
den Grentzen der Canadischen {_Inseln_→_Wilden_} wohnen, deren bürgerliche Frey-
heit groß genung ist; aber sie wollen sich auf keine Weiße zu einem
solchen Leben verstehen; so, daß canadische Wilde bey der Engländi-
schen Armée gedient haben, und bis zum Officier gestiegen sind,
aber am Ende des Krieges doch wieder in ihr Land zurückgekommen
sind. Diese Freyheit ist blos ein idealischer Genuß. Man stellt
sich vor: ich kan doch thun, was ich will. Überhaupt wenn jemand
sie nur gekostet hat: so giebt er sie nicht wieder hin, ob es
gleich eine barbarische Freyheit ist. Menschen die den Robinson
Crusoe lesen sind wie die Kinder, und wünschen sich in den nehm-
lichen Zustand. Denn in jeder Gesellschafft sind wir doch immer
gezwackt und geschoren, woran wir uns zwar gewöhnen, und denn
fühlt man es nicht so sehr, aber man stellt sichs doch einmahl recht
lebhaft vor. Der Zwang der Gesellschaft ist immer doch Zwang,
und der Mensch seufzt insgeheim, unter dem sklavischen Joche, daß
ihn drückt, und schwärmt in romanhaften ideen herum, die
nie wircklich werden

/Bey Freyheit unter bürgerlichen Gesetzen sind wir zwar unter dem Zwange,
aber wir haben doch denjenigen Grad der Freyheit, den jeder Mensch un-
beschadet {_anders_→_andrer_} haben kan. Die Freyheit vieler Bürger des Staats er-
fodert, daß sie vom Zwange der Regierung frey sind. Daher kommen so
viele Einschränckungen unserer Freyheit, so, daß gewaltig viel von
unserer Natur Freyheit aufgegeben wird. Aber sie ist doch dem Menschen,
der daran denckt, süß, und kan in einem ungemeinen Grade größ seyn.
Selbst die Neigung von Freyheit veredelt den Menschen, und alle edele
Denckart, fällt beym Menschen weg, wenn er nicht mehr die opinion hat, daß
er frey ist. Und selbst der «einge» uneingeschränckteste Monarch kan die-
se Opinion erhalten. Er kan ja verhindern, daß ein Unterthan nicht
über den andern, sondern er allein über alle ist, so, daß, was der eine

/ über

|P_271

/über ihn vermag, der andere wieder über den ersten vermag; daß ver-
hindert die souveraine Gewalt nicht, und erhält die opinion von Freyheit.
Wir finden, daß die Freyheit die Bürger stoltz macht, daß. z.B. der Hollän-
der andere verachtet, die Gesetzen unterworfen sind, und es ist auch der Natur
gemäß. Man findet in unserm Lande keinen einzigen Menschen, deßen Le-
bensArt nicht der Grönländer ihrer vorzuziehen sey. Aber so bald die Grönländer
bemercken, daß die Matrosen auf einem Schif alle einem gehorchen: so sehen
sie die andern nicht einmahl an, sondern blos den Capitain des Schifs.

/In einem bürgerlichen Zustande die barbarische Freyheit einreißen zu laßen,
könte man die barbarische Freyheit nennen. In Pohlen war das principium
der barbarischen Freyheit noch bis vor einiger Zeit, bis sie zum Sprichwort
wurde, indem die Gesetze keine execution mehr hatten, sondern der die
Obermacht hatte, der die größte Gewalt hatte. Ein Volck, daß zur barba-
rischen Freyheit aufgelegt ist, geht nicht von selbst davon ab. Sie ist ihnen
so süß, daß sie sich lieber andern Vorfällen unterwerfen wollen, als einer
continuirlichen Freyheit zu entbehren. Ein solches Volck muß mit Gewalt un-
terricht werden. Freye Nationen sind in der Freyheit hochmüthig
und faul, und diese Faulheit macht sie wieder hochmüthig. Sie haben nicht
Lust zu arbeiten, weil sie nichts zwingt, und so halten sie denn für einen Skla-
ven, der da arbeitet«,».

/Meynung von Freyheit ist von sehr großer Wichtigkeit; daher ists Schuldigkeit
aller derer, die Gewalt haben, diese Meynung, bey denen, die unter ihrer Ge-
walt sind, zu erhalten. Denn dadurch macht mans wieder einigermaaßen gut,
daß man sich über ihnen eine Gewalt anmaßt. So sollten auch Kinder erzo-
gen werden, daß man ihnen immer ihre Freyheit ließe. Man kan es so
machen wenn sie nicht thun, was wir wollen, so thut man ihnen wieder nicht
was sie wollen, und diese Freyheit ist jetzto ein Stück, worauf man in
der allgemeinen Beeyferung für die ErziehungsKunst bemüht ist. Denn daß
man ein Kind, wie einen HünerHund dressirt, ist nicht von großen Nutzen.
Das Kind muß also seinen Vortheil nicht finden, als beym Wohlverhalten,
und da sieht es wohl, daß es mit der Zeit vernünftige Maximen anneh-
men muß«,». Im Hauswesen soll die Frau nicht frey seyn; denn es muß

/ doch

|P_272

/doch einer seyn, deßen Willen alle andere erkennen. Wenn der
Mann also Herr im Hauße ist: so kan er doch gleichwohl dahin brin-
gen, daß die Frau von sich glaubt frey zu seyn. Der Mann thut gerne
alles; aber er überläßt es ihr, die Schwierigkeit der Sache zu überden-
ken, so, daß sie doch zuletzt nichts anders wählt, als was er will. Sonst
verliehrt er die HausFreude und alles Vergnügen. Daher muß die
Frau immer eine völlige opinion der Freyheit haben. Gewiße Frauen
wollen gerne allen Lustbarkeiten beywohnen, da müßen sich die Männer
stellen, als wenn sie sie gerne gewähren, aber ihnen immer was in den
Weg stellen, so daß die Frau sich immer nach ihnen richten muß, ohn-
geachtet sie frey zu seyn glaubt.

/Man muß gestehen, es ist wunderbar, daß der Mensch ein Thier ist, daß
einen nöthig hat, und ihm gehorcht. Es ist eine so besondere Zusammen
setzung der Natur, daß es schwer zu entwickeln ist, wodurch daß zu
Stande gebracht wird. Auf 100 andern Planeten mag daß nicht seyn, daß
ein Geschöpf dem Willen eines andern unterworfen ist. Es verräth eine
Art des Mißtrauens, wornach sich viele nicht vereinigen können.

/Die 2te formale Leidenschafft ist eine Neigung zum Vermögen, daß
ist zum Besitz der Mittel zur Beförderung unserer Neigung. Ehre,
Gewalt, und Geld, sind die drey einzigen formalen Bedingungen der Be-
friedigung aller unserer Neigungen, und so beschaffen, daß sie genera-
liter angewandt werden, die Sachen mögen seyn, welche sie wollen. Alles
unser Vermögen bedeutet nichts anders, als unsern Einfluß auf Men-
schen, weil die vereinigte Bemühung der Menschen zu einer Wohlfarth
ein weit kräftigeres Mittel ist, als irgend etwas in der Natur. Wir haben
Einfluß auf Menschen durch Ehre, und zwar vermittelst unsers Anse-
hens. Wenn wir durch ihre eigene Meynung von uns einen Einfluß
auf sie haben. Der Einfluß der Gewalt beruht auf der Furcht ande-
rer, und dem Einfluß alles Geldes auf das Interesse anderer. Ein Mensch,
der im Besitz der Ehre ist, hat einen Einfluß auf die Meynung anderer, Ge-
walt haßt ein jeder und wiedersteht ihr, daher ist ihr Einfluß sehr mißlich.
Geld hat den allergrößsten Einfluß, vermittelst das Interesse anderer.

/ Daraus

|P_273

/Daraus sieht man, was unter allem am meisten gesucht wird, natürlicher
Weiße das Geld. Geld ist ein Mittel, andere durch ihren Eigennutz in meine
Absicht zu ziehen, so, daß jeder Mensch alle seine Bedürfniße durch Geld be-
friedigen kan. Daher ist Geld ein Mittel zu allen den Zwecken zu gelangen,
die durch die vereinigten Bemühungen der Menschen möglich sind. Im Besitz
des Geldes ist ein Gewißer Zauber, daher heißt auch das Geld: Vermögen
schlechthin.

/Es ist ein Unterschied unter den Nationen, sich über den Reichthum eines
Menschen auszudrücken. Der Mann ist 1000 %.Pfund %.Sterling werth. Der Hollander:
er commandirt 1000 Pfund. Dieser verräth also einen Stoltz bey seinem Reich-
thum; der erste aber sieht ihn, als einen MarcktPreiß an, und in der That macht
der Besitz des Geldes, daß man einen Einfluß auf andere bekomt. Aber gemeinig-
lich macht das Geld furchtsam und einsiedlerisch, weil man glaubt, Menschen
buhlen <so> sehr nach unserm Vermögen. So kan bisweilen das Geld die Herschsucht
des Menschen verhindern. Die Geldsucht aber geht auf den Geitz.

/Die Ehrsucht geht auf Ehre; die Herrschsucht auf Gewalt; die Habsucht auf
Geld. Alle diese drey Neigungen, werden Neigungen des Wahns, und nicht immer
des Genußes. Die beyden letztern sind Neigungen, die wircklich etwas zur Ab-
sicht haben, daß unser Wohleben befördern kan. Der, der den gantzen Werth der
Dinge im idealischen Genuß hat, hat eine Neigung des Wahns, und setzt eine
Neigung in daß, was keine realitet hat. wer aber vom Gelde Gebrauch «hat» <macht,>
wird beym Verlust deßelben Schmertz empfinden. Ehre ist ein Wahn; der Ehrsüch-
tige verlangt keinen Vortheil, aus der Achtung anderer, sondern er sucht blos
das Lob anderer, und ihre submission, nach der sie sich geringer anstellen, als er
ist. Er sieht also keine Verbeßerung seines Zustandes, sondern die bloße Ein-
bildung vergnügt ihn, daß er in der Meynung der andern so hoch angeschrieben
ist. Ich kan Ehre suchen, die mir in Ansehung anderer beförderlich seyn kan; aber
Ehrsucht geht auf Dinge an sich selbst. Die Ehre wird mich also vergnügen, wenn ich
unter Menschen dadurch meine Absicht desto beßer erreichen kan. Die Ehre wird
mich vergnügen, weil ich in der idee Gebrauch von andern Meinungen machen
kan; der Ehrsichtige begehrt nicht Ehre, weil es ihm Nutzen verschaft. Der Hersch-
sichtige will nicht herschen, um seine Wüsten anzufüllen, sondern weil ihm
das Herrschen unmittelbahr vergnügt; und der Geitzige verlangt nicht Geld
um üppig leben zu wollen, weil ihn das Haben vergnügt, ohne daß er weitere

/ Absicht

|P_274

/Absicht und Lust hätte, es auszugeben. Wer das Geld blos als ein Mittel
gebraucht, seine Zwecke zu erreichen, ist geldgierig.

/Ehre Gewalt und Geld haben blos den Werth eines Mittels, denn wer
kan sich doch an ein beschmutztes Stück Geld vergnügen? Das Herrschen
ist lästig, indeßen ist es doch commoder zu herrschen, als beherrscht zu
werden. Wie kann aber das, was nur den Werth des Mittels hat
so viel Gewalt über uns haben? Wenn Menschen gleich nicht d«en»ie
süße«n Wahn» Aussprüche des Wahns annehmen können: so suchen
sie es doch unmittelbaar ohne weitere Absichten zu haben, und
daß sind Neigungen des Wahns, wenn sie blos einen Werth als Mittel
haben, und doch unmittelbaar als Zwecke angesehen werden. So giebts
z.E. ReligionsWahn. Denn viele Handlungen in der Religion
sind nur Mittel den Gottesdienst zu gründen; aber viele
Menschen dencken daß es unmittelbaar Gottesdienst sey. Men-
schen sind erstaunlich geneigt sich mit diesem Wahn tauschen zu
laßen. Die 3 angeführten Neigungen folgen sich nach Verschie-
denheit des Alters. Im Anfange ist Ehrsucht, bald darauf Herrsch-
sucht, und zuletzt Habsucht. Jeder, wenn er nur ein wenig zu
befehlen hat, hat gleich die Begierde zu herrschen, und dies komt
aus der Furcht her, beherrscht zu werden, damit man desto sicherer
davor sey, daß man nicht beherrscht werde. Aus Furcht daß ihm
nicht möchte die Freyheit genommen werden, sucht sich der Mensch
alles zu unterwerfen, obgleich das Herrschen an sich schwer ist.

/Materielle Neigungen sind die, wo der Gegenstand bestimt ist.
Sie sind Wohlleben und Gemächlichkeit oder Geschäftigkeit. Wohl-
leben bestehet im Genuß der Gemächlichkeit «oder» <und> Geschäftigkeit
im Leben selbst, in der Ruhe und Bewegung, welche in unserm
Leben beständig wechseln. Wohlleben gehört blos zu den Sinnen,
das 2te gehört auch für die Lebenskraft. Das Wohlleben scheint
seinen gantzen Grad zu bekommen durch Verbindung eines Menschen

/ mit

|P_275

/mit Gesellschafft. Ein wahres Wohlleben an der Tafel kann nur
in Gesellschafft statt finden. Bey manchem Menschen ist eine Lei-
denschafft zur Geschäfftigkeit; bey andern zur Gemächlichkeit.
Die Neigung zur Geschäftigkeit kan sich bey der Arbeit und beym
Spiel zeigen. Die Neigung zur Arbeit ist nicht an sich selbst ange-
nehm, sondern durch ihre Zwecke angenehm. Aber es giebt Beschäfti-
gungen die unmittelbaar angenehm sind. z.B. wenn man {_wohl_→_mahlt_}
musicirt p.p. Das Spiel ist eine Beschäftigung, die nicht Arbeit
heißen kan, sondern durch eine gewiße Thätigkeit unser Le-
ben in Bewegung erhällt. Wer aber seine Glückseeligkeit in
die Ruhe setzt, der kann diese doch nur durch Beschäftigungen erhal-
ten, weil man nach Beschäftigungen nur eigentliche Ruhe genießt.

/Mit Voltaire können wir sagen: die Natur hat 2. starcke Trie-
be in uns gelegt: die Liebe zum Leben und zum Geschlecht. Durch die
Liebe zum Leben erhält sich das individuum, durch die Liebe zum Ge-
schlecht die species. Die erste erwächst mit den Jahren; die 2te nimt
mit den Jahren ab. Beyde Leidenschafften werden getadelt. Eine
gar zu große Liebe zum Leben ist eine Schwachheit; ein solcher
Mensch ist des edeln nicht fähig; denn der Mensch muß in seiner
idee noch etwas haben, was noch größer ist als das Leben. Es giebt
al{_le_→_so_} Fälle wo der Mensch das Leben nicht als das höchste schätzt.
Die Liebe zum Geschlecht wird von den Puristen als eine Schwach-
heit des Menschen angesehen, so, daß wir keinen Heiligen finden,
der nicht die Beherrschung der GeschlechterNeigung für eine
Spur der Frömmigkeit gehalten hätte. Das ist ein falscher der
Natur gantz zuwiederer Purismus. Denn ein Mensch wird
sich wohl kein groß Bedencken machen, zu gestehen, daß {_wir_→_er_}
eine große GeschlechterNeigung haben; aber er wird sich wohl
schämen, zu gestehen, daß er eine große Furcht vor dem Tode

/ habe.

|P_276

/habe. Denn die Liebe zum Leben ist gantz eigennützig, aber
die Liebe zum Geschlecht ist theilnehmend, denn die Gesellschaffts
Neigung genießt nicht blos, sondern theilt auch mit. Wir
schätzen aber keine Neigung hoch, die selbsüchtig ist; sondern sie
muß andern Vergnügen mittheilen. Wir verlangen der Mensch
soll sich über die Thierheit erheben. Er neigt sich aber sehr ge-
gen die Thiere, in Ansehung der Liebe zum Leben und Geschlecht.
Er muß also hierin mäßig seyn, daß es keine Leidenschafft
wird. Wir finden Trotz und Zaghaftigkeit beim Leben und
ihrer Unanständigkeit, daß die Natur sehr weislich sie in uns
gelegt hat. Denn die Zaghaftigkeit erhält noch Armeen, da
sonst Könige das menschliche Geschlecht ausrotten würden, so,
daß, das menschliche Geschlecht mehr durch Furchtsamkeit,
als durch Muth erhalten wird. Die Liebe zum Geschlecht wird
schlechthin Liebe genannt, da sie doch vielmehr Neigung müste
genannt werden. Denn ob zwar Liebe damit verbunden
werden kan: so ist sie doch nicht nothwendiger Weise damit
verbunden, sondern oft ist sie blos thierisch; denn sie ist
ein Appetit, dahingegen Liebe ein Wohlwollen ist. In den
meisten Fällen aber ists eine brutale Geschlechtsneigung
ohne Wohlwollen, indem der Mensch sich nichts daraus macht, ob
der Gegenstand seiner Liebe unglücklich ist oder nicht. So ist
die Liebe gewißer Fürsten gegen ihre Unterthanen, die
nur darauf sehen, was sie von ihnen erhalten. So muß
man tadelhaften Eigenschaften die Schminke benehmen,
die ihnen der Ausdruck giebt. Aber doch hat die Natur mit
dieser GeschlechtsNeigung eine große disposition zur Liebe
verbunden, woraus das wahrhafte Wohlwollen entspringt. Die

/ Natur

|P_277

/Natur hat die Instinckte als Triebfedern zu unsern grösten
Zwecken in uns gelegt; sie hat aber nicht gewollt daß wir
diese Instinckte bis zur Leidenschafft verfolgen sollen; son-
dern der cultivirte Mensch sollte die Zwecke durch die Ver-
nunft erreichen, wozu die Instincte ihm Reitzungen waren.
Die Instinckte gehören zur Thierheit, aber die Grundsätze
zur Menschheit. Die Natur hat keine Leidenschafften in
den Menschen gelegt, sondern Instinckte. Daß sie aber
zu Leidenschafften gemacht sind, ist ihre eigene Schuld.
Der Mensch handelt entweder nach Instinckt, oder nach Grund-
sätzen. Wenn er nach Instinckt handelt, so hat er sich bis
zur Thierheit erniedrigt, und wenn er nach maximen
handelt, so soll er nicht die Instinckte schwächen, sondern
ihnen nur durch die Vernunft Zweckmäßigkeit geben.
Bey den Thieren sind alle Instinckte durch ein analogon
rationis in harmonie gebracht. Beym Menschen ist
das nicht, die harmonie unter den Instinckten ist ihm
selbst überlaßen, und so lange er daß nicht gethan hat,
ist er das unregelmäßigste unter allen Thieren. Aber
wenn er nach grade anfängt, Zweckmäßigkeit zu gewinnen,
so handelt er so, daß ein harmonirendes automatum daraus
wird.

/ ≥ Von der Gesellschafft überhaupt. ≤

/Die Gesellschafft ist entweder bürgerlich oder häuslich.
Der bürgerliche Umgang hat zur Absicht den eignen Vor-
theil eines jeden; aber so, daß man sich bescheidet, daß das
allgemeine Beste nicht darunter leidet. Aber beym

/ Umgang

|P_278

/Umgang ist die declarirte Absicht die Unterhaltung, obgleich insge-
heim das Selbstvergnügen der Bewegungsgrund ist. Der Umgang
ist also ein Bewegungsgrund, durch wechselseitige Mittheilung,
und kleine Vergnügen, sich das Leben angenehm zu machen. So
bald aber das egoisme zum Vorschein komt: so ist das wieder die
Absicht. Mann kan sich ohne Umgang versamlen. z.B. beym Tantz,
wo wir blos wegen Aufmercksamkeit der Sinne in Gesell-
schafft sind, aber ohne commerce. Zum Umgang gehöret Ge-
spräch und Spiel. Beym Gespräch suchen wir blos das Ver{_mögen_→_gnügen_}
eines andern{_. jeder Mensch spricht dem Schein nach bloß um den
andern_} zu unterhalten; in der That aber oft um sich zu
zeigen, und Gelegenheit zu geben zu sprechen. Beym Spiel
ist eine Convention der Menschen, wo sie auf eine Zeitlang
zusammengekommen sind, um jeder seinen Eigennutz auf eine
Zeitlang zu prosequiren, indem man aus jeder Unternehmung
zu gewinnen, eine eben so große Gewinsucht entgegen setzt.
In so fern ist das Spiel eine artige {_Emp_→_Er_}findung unter den Men-
schen. Bey manchen Nationen aber ist das Spiel eine Art von
Streit, wobey sich die gröste Erbitterung und Heftigkeit zeigen.
Aber selbst bey gesitteten Personen wird doch hier ein Eigennutz
nach beiderseitigen V{_@o@_→_e_}rtrage für Recht angesehen, da sonst
doch ein jeder dem andern zu willfahren und zuvorzukommen
sucht. Man hat hier also dem Eigennutz Erlaubniß gegeben
sich zu zeigen, und doch dabey delicatesse zu zeigen: daher
hat das Spiel einige Cultur bey sich, und gute Spieler sind von
guten Manieren. Überdem hat das Spiel das besondere, daß
es das Gemüth und den Körper agitirt. Es ist die Zuflucht die
am allerlängsten unterhält, und gehöret zu den mannigfal-
tigen Abwechselungen, indem der Eigennutz diese Beschäfftigung
niemals gantz schaal werden läßt, so, daß das Spiel in der Ge-
sellschafft das vornehmste ist. Die Tafel ist das, was die

/ Menschen

|P_279

/Menschen am meisten vereiniget, und die Mahlzeit ist die
Gelegenheit, wobey die Menschen in der aller{_wenigsten_→_engsten_} Conver-
sation stehen können. Zwischen seinen 4. Wänden kan der Mensch
das nicht vertragen, was {_er_} in der Gesellschafft vertragen kann,
weil die Gesellschafft das Gemüth belebt, und die Gedeilichkeit
verschafft. Daher daurt diese Unterhaltung am allerlängsten,
und bis ins späteste Alter, weil hier Seele und Leib unter-
halten werden aufs beste. Durch die gute Wahl der Gesellschafft
kan man seine Tafel so reitzend und vergnügt machen, daß es
bis ins späteste Alter continuiret, und das menschliche Leben
nichts enthält, daß ein so beständiges Vergnügen gewährte.
Eine Mahlzeit kan entweder in einer Gesellschafft oder in einem Gela-
ge vorgehen. Das wahre angenehme herrscht in einer Gesellschafft; die-
se bestehet aus einer Zahl von {_Größen_→_Persohnen_}, die groß genung ist, um die Unter-
redung niehmals aufhören zu laßen, noch den discours ins Stecken ge-
rathen zu laßen, sondern zu {_avanciren._→_variiren._} Aber wenn sie so groß ist,
daß die Gesellschafft sich in kleine Haufen theilen muß, und der discours
nicht allgemein werden kan: so ists ein Gelag. An der Tafel schickt
sichs überhaupt nicht daß einer zum andern sachte redet, und wenn
sich daher Partheyen theilen, so wird daraus ein wildes Getöse, und
eine solche Gesellschafft die zusammen gerufen wird, um sich von ob-
ligationen zu entledigen, kan keine Annehmlichkeit bey sich führen.

/Man sagt er redet ins Gelag herein. d.i. «is» die Sache ist nicht durch-
gedacht. Chesterfield sagt: jede große Gesellschafft ist Pöbel;
denn es kan wegen der vielen Unterbrechung keine Einheit hinein kom-
men.

/Es werden zu einer Gesellschafft Personen von verschiedenen Geschäfften
und Kentnißen erfodert. Personen von {_einerley_→_verschiedener_} Kentniß geben eine
große Mannigfaltigkeit. Daher suchen Gelehrte immer Personen aus{_ser_}
dem Circkel ihrer Kentniße.

/Alle Gesellschafft bestehet aus 3 Stücken: erzählen, raisonniren, und
schertzen. Mit dem erzählen fängt man an, und so lange die Erzählungen

/ interessant

|P_280

/interessant sind, gehören sie {_nicht_→_mit_} zu den angenehmsten Dingen.
Aber eine Unterhaltung ohne raisonnement bringt keine
ideen und genugsamen Gehalt hervor. Man raisonnirt daher
über materien die z.B. die menschliche Seele betreffen, weil ein
jeder darüber bey sich selbst Versuche anstellen kan. Das raison-
niren schlägt oft in die «¿¿» Rechthaberey aus, und denn ist die
Gesellschafft des Frauenzimmers daß, was den discours von
Rechthaberey ablenckt, und Personen von feinen Sitten nöthigt
in die Materien einzuschlagen, die von allgemeinen Geschmack
sind. Nichts kan fader in einer Gesellschaft seyn, als wenn alles
aufs schertzen angelegt ist, indem man ein object hat, worüber man
seinen Witz immer spielen läßt. Daß kan man zuletzt nicht ohne
Eckel anhören. Der Schertz muß kein Geschäfte werden, sondern
zu unerwarteten Abwechselungen dienen, und denn ist er eine
der angenehmsten Unterhaltungen. In Ansehung des discours
muß man darauf sehen, ob etwas in der Gesellschafft einen oder
auch alle interessire.

/Eine Gesellschafft ist animirend, wo der discours einen jeden her-
beylockt, seinen Beitrag zu geben, und man muß darauf sehen,
daß sich keine tödtliche Stille einschleicht. Denn nichts ist«s» ver-
drüßlicher, weil den keiner das Hertz hat sie zu unterbrechen.
Damit sie {_sich_} nicht ereigne, muß man eine Materie in die Gesell-
schafft hineinspielen, die allgemein unterhaltend wird. Ohne Noth
aber die Objecte zu variiren macht sie unangenehm. Die beste
Probe ob die Gesellschafft gut war, ist der Nachgeschmack, je
nachdem er angenehm oder unangenehm ist. Wann also in der
Gesellschafft der discours immer variiret: so hat man nichts
behalten; es muß daher immer eine Art von Ordnung
darin seyn. Also auf der andern Seite hats was langweiliges,
wenn man nicht genung variiret, und das geschieht, wenn

/ ein

|P_281

/ein Mensch nur gestimt ist, von einerley Materie zu sprechen,
¿a sich Rechthaberey findet. Das alles kan ein gut angebrachter
Schertz zerstreuen. Man muß oft zum Versuch eine Materie
in den discours hineinspielen, und wenn es keiner goutiret,
ihm eine andere Wendung zu geben wißen. In allen Gesell-
schafften ist nicht so sehr auf daß wir sprechen Achtung zu ge-
ben, sondern mehr auf den Ton der Gesellschafft. Es kan ein
Mensch der mir wiederspricht, oft in der Sache recht haben, «mag»
aber im Ton hat er Unrecht. Er spricht etwann mit einem starck
aufgeschlagenen Lachen, oder wie ein genie oder wie ein Seigneur. p.p.
Man sagt die Gesellschafft habe einen guten Ton. d.i. eine ge-
wiße Manier die sich nicht so leicht beschreiben als empfinden
läßt. Es muß da Nichts seyn, daß offendire, und um ihn anzuneh-
men muß man oft in Gesellschafft gewesen seyn. Man«@n@»
nennt ihn politesse. d.i. Geschliffenheit. Man nimt nehm-
lich die Menschen an, wie sie sich einander abschleifen und
beßer zusammen schicken, wenn sie abgeschliefen sind. Die-
se Freymüthigkeit, die mit einer Freyheit im Schertz ver-
bunden ist, hat ein so delicates Mittelmaaß, daß es weder
@é@tourderie noch Blödigkeit ist. Es giebt Personen die gar nichts
in Gesellschafften sprechen, da doch Offenhertzigkeit und Gesprächig-
keit die baare Müntze ist, die man andern wechseln kan. Wir kön-
nen wohl sagen, daß in allen Gesellschafften viel eiteles sey; der
wahre Maaßstab der Zufriedenheit des Menschen ist nach dem, wie
er sich zu Hauße befindet. Die Gesellschafft zum Bedürfniß zu
haben, ist der kläglichste Zustand eines Menschen, denn da hängt er
sehr von andern Menschen ab. Gesellschafften zu meiden, macht
uns misantropisch und rauch. Ein solcher fängt an andere zu
haßen, und ihnen ihr Vergnügen zu mißgönnen, und so
fängt seine Feindseeligkeit gegen andere an. Wer aber

/ anderer

|P_282

/anderer Vergnügen auch mitgenießt, der ist in einer
dauerhaften Zufriedenheit. Und wenn ich bey mir selbst
Zufriedenheit finde: so hab ich einen fond der mir nicht genommen
werden kan. Der Umgang mit einem oder ein paar Freunden,
allenfals im Ehestande kan eine solide Glückseligkeit
geben, so fern die menschliche Natur derselben fähig ist.
Die Vergnügen des Umgangs haben sehr viel eiteles bey sich,
wegen der eigenen Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit für
andere, die man sich beimißt, wovon uns die Erfahrung
das Gegentheil zeigt. Das Vergnügen im Umgange muß daher
nie zur Leidenschaft werden, es ist nur eine Erholung,
und muß immer entbehrlich bleiben. Gesellschafften die so
lebhaft sind, daß alles gegen einander wohlwollend ist,
sind rar. Es ist immer eine Rivalitaet des Witzes und
des Eigennutzes. Ein jeder sucht das Spiel seiner Eitelkeit
zu spielen, und hat ein Vergnügen, wenn er einen andern
findet, an dem seine Eitelkeit bemerckt werden kan.
Wenn aber der Gast nur den Geschmack findet, so verliehret
sich allmählig der Geschmack in Gesellschafften, wo es freund-
schaftlich zugehet.

/Die Gesinnung die ich im Schlafrock äußere, kann ich nicht im
habit de parade, d.i. gegen jedermann äußern; ich thue
mir den grösten Zwang an. Ein Freund aber gegen den ich meine
gantze Denckungs-Art öfnen kan, ist selten, aber süß und vor-
züglich. Diese Quintessentz des Umgangs kan niemals zahlreich
seyn, wenn man sie aber hat: so opfere man ihr all«¿»es auf. Sie fin-
det nur bey Personen von wahrhaften Sentiments statt.

/ ≥ Vom Einfluß des Körpers auf die Seele. ≤

/Convulsivische Zufälle dependiren so von Imagination, daß ein Mensch
von starcker imagination nicht dahin gebracht werden muß, wo Convul-
sionen sind. {_(_}z.B. in einer Schule, wo einige Kinder Zufälle bekommen

/ hatten

|P_283

/hatten, bekommen sie auch alle die übrigen. Sie wurden dadurch
curirt, daß man ihnen durch andere Sachen Furcht einjagte, um
dadurch ihre Aufmercksamkeit von ihnen abzuziehen{_)_} weil er
sie sonst gleich auch empfindet. Manches in den Kranckheiten
ist blos die Wirkung der imagination auf den Körper. Dahin
gehöret auch Gähnen, daß bey einigen Menschen zu Kranck-
heit wird, und blos die Nachahmung in der imagination ist.
Die Medici finden auch für das beste Mittel wieder den
Wahnsinn, einen solchen Menschen mit Gewalt ins Waßer zu
werfen, damit er so sehr erschreckt werde, und seine Ge-
dancken zusammen nehme, und so thut der Affect oft was
keine Cur thun kan. Der Todt vor Freuden ereignet sich
öfter als der Todt vor Schrecken. Denn beym Schrecken
wendet das Gemüth die gröste Kraft an, sich demselben zu
wiedersetzen. Aber der Freude überlaßen wir uns gantz, und
denn ist also der Affect zügellos. Es ist merckwürdig daß
selbst Hunde für Freuden sterben. Noch wunderbarer ist
die plötzliche Wirckung des Affects bey der Br{_u_→_un_}st der Thiere
z.B. der Hähne, sie verändern ihren Speichel so, daß er auf
der Stelle giftig wird, und daß der, denn sie alsdenn beißen,
toll wird. Diese Würckung der Imagination übersteigt alle
unsere Erkentniße, vorzüglich da sie den Affect so schnell
erreget

/Überhaupt ists besonders, daß keine Willkühr nach Vorsätzen
jemals hinreichend ist, in uns eine solche Wirckung hervor zu
bringen, als der Affect in der That verursacht, noch den Kör-
per so zu bewegen, als er doch wircklich vom Affect durch das
System der Nerven und durch das Gemüth erreget wird. Einige

/ Affecten

|P_284

/Affecten besonders die auf eine Furcht hinauslaufen, bringen
Kälte; Freude und Angst bringen Hitze, alle Erwartung,
Hertzklopfen, und der Eckel Ohnmachten hervor. Mann kan zu wei-
len meinem Affect durch den andern eine diversion machen, oder
auch durch einen «oder» und denselben nur in einem andern
Gesichtspunckte genommen. Denn ein Affect schwächt den andern
z.B. das Lachen {_der_→_den_} Zorn. Daß Affecten plötzlich das Leben ver-
kürtzen können, ist schon angemerckt.

/Wir finden, daß bey gewißen Zuständen des Körpers das
Gemüth sehr in seiner Gesinnung geändert wird. Frauen ha-
ben zur Zeit ihrer Schwangerschafft allerhand wunderliche appetite.
Durch ein wenig Waßer was im Kopfe zusammengelaufen war
wurde Swift wahnsinnig, und Rousseau paradax. Es sind
ehemals große Grausamkeiten gegen Personen verübt worden
die durch eine verwirrte phantasie dahin gebracht wur-
den zu glauben, daß sie mit dem bösen Geist in Gesellschafft
stünden, ob sie gleich wusten daß ein solches Geständniß ihr
Todt seyn würde. Hypochondrische Zufälle rühren grösten-
theils aus dem Körper her, aber communiciren sich dem Gemüth
so, daß sie die körperlichen Leiden mit der Zeit vergrößern.
Aber ihr Kummer verschwindet auch wieder, wenn die Verdauung
beßer ist, und die Blähungen aufhören. Aertze sollten das
als eine wichtige Aufgabe ansehen, wie sie entweder den Kör-
per durchs Gemüth, oder wie sie dem Gemüth durch den Kör-
per beykommen könten. Der Medicus, der blos für den Kör-
per etwas verschreibt, ohne auf die Unterhaltung des Ge-
müths zu sehen, wird in der Medicin wenig ausrichten, denn
Medicin setzt philosophie voraus. - . Ein Jäger wurde stumm,
und argwöhnte, er sey von einem gewißen Weibe bezaubert;
als er einmahl dieses Weib begegnete: so verursachte der Affect
daß er auf Sie zusprang, und seine Sprache wieder bekam. Wenn
ein Mensch zürnt so muß man ihn zum niedersetzen bewegen: so hört der Zorn gleich auf.

|P_285

/ ≥ Allgemeiner Charakteristik des Menschen. ≤

/Charackter hat eine 2fache Bedeutung; entweder bedeutet es
den Charackter der Sache, oder es ist ein unter{_schiedenes_→_scheidendes_} Merck-
mahl eines vernünftigen Wesens. So kanns also Menschen ge-
ben, die als Menschen keinen Charakter haben, aber doch als
Dinge. Charakteristik soll hier bedeuten, das eigenthümliche beym
Menschen zu bezeichnen, und zwar nach gewißen Regeln und princi-
pien. Da aber der Charackter auch von Sachen gebraucht wird:
so wollen wir das den Charackter schlechthin nennen. Die Cha-
racksteristik ist entweder innerlich oder äußerlich. Zur innerlichen
gehöret Talent, Temperament und Charakter. D.H. Naturga-
be, Anlage, Sinnesart und Denckungsart. Den Talenten nach wird
ein Mensch cultiviret, dem temperament nach civilisiret, und dem
Charackter nach moralisiret. Zum Talent gehöret Naturell oder
die Fähigkeit zu lernen. Geist oder genie. D.h. das Vermögen
zu erfinden. {_Aber_→_Das_} Wort Naturell wird auch von leblosen
Dingen gebraucht. Aber bey Menschen und Thieren gebraucht
man diesen Begriff so, daß er die Naturbestimmung des Talents
bedeutet, zu dem Zweck, wozu die Natur ein Subject mehr
als andere ausgestattet hat. Es kommt also beym Men-
schen darauf an, sein Naturell in Erwegung zu ziehen, und
da muß man seine Neigung aufspüren, womit er Gebrauch
von seinen Talenten macht. Mancher Mensch hat Neigungen
denen sein Talent nicht gewachßen ist; er kanns aber nicht
laßen und pfuschert darauf hin, vermuthlich durch einen
Hang der Einbildungskraft. Im Grunde aber müßen wir
sagen, daß die NaturBestimmung auf das Talent gehet
wozu uns die Neigung den Beruf eingeflößt hat.

/ Aber.

|P_286

/Aber diese aufzufinden ist schwer, so daß mancher Mensch sein Talent selbst
nicht kennt. Bisweilen wird dem Naturel etwas beygelegt was habituelle dis-
position ist. Naturell wird gebraucht von der Fähigkeit zu lernen, wobey
man nicht {_emp_→_er_}findet, und wird dadurch vom genie unterschieden, welches ein
Talent des Erfindens ist. Wir bedienen uns daher des Ausdruckes bey den
Schülern, weil diese nur noch Lehrlinge sind. Das besondere des Naturels eines
Menschen nehmen wir von der besondern Manier, wornach er handelt, ab.
selbst die Affectation ist bey manchen eine besondere Manier, die ihm natürlich
ist. Die Vernunft soll ihn lehren seine Mienen zu zwingen; aber die Natur be-
hält doch die OberHand. Das Naturell wird hauptsächlich die passive Eigenschafft
eines Menschen genannt, der uns keine Hinderniße entgegen setzt, und mit
sich machen läßt, was man will. z.B. wenn einer gelehrig, geduldig, gelenck-
sam, gefällig p.p. genannt wird, kurtz daß, was der dupe für den Betrü-
ger ist. Es ist das so genante gute Gemüth, welches aber nicht zur Denckart ge-
höret. Das negative gute Gemüth ist gantz was anders als das gute Hertz,
welches was positives ist. Indeßen ist das gute Hertz auch noch vom guten
Charackter unterschieden, weil dieser nach Grundsätzen der Vernunft handelt.
Das gute Gemüth stellt sich in Gedancken ein Ding als möglich vor, und sucht mehr
möglich zu machen, als es leisten kan, und zwar aus puren temperament. Es kommt
das meiste darauf an, das Naturell eines Menschen ausfindig zu machen; es ist ei-
gentlich der Beruf der Natur mehr zu einer Sache als zur andern. Das naturell
ist eigentlich mehr passiv als activ. Das gute Gemüth führt keine Rache bey sich,
und ist nicht fähig jemanden zu beleidigen. Hinter einem guten Gemüth steckt
auch viel; es kan unter den Händen eines Betrügers auch spitzbübisch werden, weil
es nur blos in der Lencksamkeit des Gemüths durch den Willen bestehet. Ein Mensch
aber der nicht immer ein Kind bleiben will, muß einen eigenen Sinn haben. Ein gutes
Hertz besteht in der wircklichen Thätigkeit gutes zu thun, jedoch nur nach Instinckten. Vor
Personen, die nach ihrem Sinn alles haben wollen, ist ein Mensch mit einem guten
Gemüth gut. Beym Gemüth sind keine Triebfedern nöthig, weil sie nur passiv sind.
Aber bey einem guten Hertzen ist immer eine Triebfeder, wenn es auch nicht mehr
Grundsätze sind. Die Eltern und Vorgesetzten erforschen immer das Gemüth eines
Kindes und Lehrlings, damit sie einsehen welchen Eindruck sie am besten annehmen.
Die Untergebenen aber erforschen das Temperament ihres Vorgesetzten, damit sie
sich ihnen zu accomodiren wißen. Die Rußen haben ein sehr mannigfaltiges Natu-
rel, daher sie allerley, aber nichts vorzügliches machen können. Vom Frauenzimmer
muß man eigentlich nicht sagen: sie haben ein gut Gemüth, überhaupt ist das Frauen-
zimmer schwerer durch Mannspersonen, als Mannspersonen durch Frauenzimmer
zu lencken, weil die Frauenzimmer, als die Untergebenen sehr auf ihr Recht halten.

/ Es.

|P_287

/Es können nicht mehr als 4. Temperamente gedacht werden, das san-
guinische, melancholische, choloerische und phlegmatische auf deutsch
leichtblütige, schwerblütige, warmblütige, und kaltblütige. Da das tem-
perament die Quelle aller sämtlichen Begierden ist, so beruht alles Tempe-
ramet auf Gefühl und Neigungen folglich wird es:

/@1@) Temperamente der Empfindung wozu das sanguinische und {_Coloerische_→_melancolische_} gehöret, %.und

/@2@) Temperamente der Neigung und Thätigkeit geben, diese sind das co-
loerische und phlegmatische. Das Temperament kan betrachtet werden

/@1@) aus dem Gesichtspunckt des Thierischen, und in so fern es auf die Complexion des Menschen ankomt

/2) aus dem Gesichtspunckt eines Anthropologen, in so fern man Sinnesart des Men-
schen oder die Temperamente der Seele betrachtet. Das geistige Leben enthält 2. Stücke
1) Empfindung. 2. Bewegung. Einige Exempel beweisen daß es wohl möglich sey, daß
ein Mensch Empfindung und kein Leben haben könne. Die Temperamente pflegen
durch den Hang zu einer Sache bestimmt zu werden, allein es können alles tem-
perament seyn wozu nur ein Hang ist, und der Hang kan stärcker oder schwächer
seyn. Überdem können wir noch viele zusammengesetzte temperamente he-
raus bringen 1.) das sanguinisch choloerische 2. das melancholisch, phlegmatische,
3. das sanguinisch phlegmatische. 4. das melancholisch cholerische. Eine man-
nigfaltige Zusammensetzung der temperamente ist nicht möglich, weil die tem-
peramente, die unter einem Titel sind nicht zusammengesetzt werden
können, da sie contrarie opposita sind. Sanguinisch ist das temperament,
bey dem die Empfindung starck afficirt, aber wenig eindringt. Die leichte
Reitzbarkeit der Empfindung und ihre Vergänglichkeit macht also den
Sanguineus. Er ist leichsinnig, sorglos, hoft leicht, ist frolich und gu-
ter Dinge, weil der Kummer aus dem Nachdencken über eine Empfin-
dung entstehet. Diese Sorgenfreyheit führt Hofnung mit sich; denn
nichts stöhrt unsere Frolichkeit mehr, als «auf» eine auf Sorgen geheftete
Aufmerksamkeit. Da dem Sanguinischen keine Eindrücke tief
eingehen: so giebt er keiner Sache länger Wichtigkeit, als auf
einen Augenblick. Er ist daher veränderlich; er ist guttartig,
hat den besten Willen, verspricht leicht, aber hält nicht gut Wort.
Er sieht immer keine Schwierigkeiten, und wenn diese da sind,
kan er sie am allerwenigsten ertragen; er nimts aber
auch keinen andern übel, wenn er nicht Wort hält. Er
ist freundtschaftlich; aber er wird sich nicht mit Willen

/ einem

|P_288

/einem Theil nehmenden Kummer Preiß geben. Das ge-
schieht nicht aus Feindtschafft sondern er würde sich auch
bald selbst wieder trösten. Eine solche Leichtigkeit komt
dem Melancholicus nicht in den Kopf; denn dieser hat
immer allerhand Schwierigkeiten im Kopf. Er ist veränder-
lich, und giebt keiner Sache eine rechte Wichtigkeit, und
macht sie zu Sachen des Gespots; «um dah» unwichtigen
Sachen hingegen giebt er eine comische Wichtigkeit.
Er hat den Esprit des Bagatelles, der in Gesellschaften
sehr willkommen ist. Er ist gesellschaftlich, und schickt
sich auch für die Gesellschafft; er bedarf ihrer; denn
sie ist sein element. Er ist kein Mensch von bösen
Absichten, aber ein schlimmer zu bekehrender Sünder,
den seine Reue daurt niemals lange. Er ist des Mitt-
leyds Freund; denn das Mittleyd afficirt rasch, und
was geschehen kan, thut er auch. Aber darüber nach zu sinnen,
ist ihm zu langweilig. Böses thut er mehr aus Muthwillen,
als aus Schaden Freude, denn seine Schabernacke bestehen
in einer Freude über die Verlegenheit eines andern.
In Franckreich hat man sehr viele sanguinische. Er hat
gewöhnlich ein gut Gemüth, aber er nimt nichts zu Hertzen,
er zieht sich nicht einmahl daß zu Gemüth, was er übels
thut, indem er sich vortheilhafte Vorstellungen von der Guth-
Hertzigkeit seines Gemüths macht. Er ist voll von lauter
guten Vorsätzen und Entschließungen, aber sehr ver-
änderlich. Gemeinhin ist er sehr vergnügt. Die Gemüthsart
des sanguinischen ist eine glückliche, aber eben deswegen
auch ein gutes Temperament, weil nichts tief in ihm eindringt.

/ Betrübniß

|P_289

/Betrübniß wird bey ihm niemals Gram oder Zorn oder
Rache, oder eingewurtzelter Groll. Er affectirt {_nicht_}; ist ein
guter Gesellschaffter; aber schlechter Bürger. Er ist höf-
lich ohne Freundtschafft; er liebt, ohne verliebt zu seyn.
Er ist von einem sehr fähigen aber nicht treuen Gedächtniß;
da er den Witz. d.i. einen flichtigen, aber doch aufallenden
Verstandes_Urtheil ergeben: so wird er weit mehr Einfälle
lieben, als Einsichten. Der Sanguinicus wird geliebt, aber
nicht hoch geachtet; er ist ein schlechter Zahler; denn er ist
sorgenfrey. - .

/Man pflegt sonst unter dem sanguinischen Temperament das-
jenige zu verstehen, daß zu der Lustigkeit, und unter dem
melancholischen daßjenige was zur Traurigkeit aufgelegt ist.
Aber dies sind mehr die Wirkungen, als die Charactere der Tempe-
ramente. Denn bey Melancolicus dringt die Freude, eben
so wohl als die Traurigkeit ins Gemüth, hingegen den San-
guinicus afficiren sie beyde nur leicht. Daher ist auch bey Me-
lancholicus die Freude größer, als beym Sanguinicus. Aber
daß die Traurigkeit bey ihm großer ist, komt daher, weil
der Mensch in der Welt immer mehr Gelegenheit findet,
sich zu betrüben, als zu erfreuen, und auch das Nachdencken
in eine Art von Ernsthaftigkeit versetzt. Das Vergnügen
läßt sich auch nicht so hoch steigern, als die Traurigkeit.
Das melancholische temperament ist nicht so glücklich, als
das sanguinische. Einem melancholischen fällt die Empfin-
dung zwar gar nicht starck auf; aber sie dringt desto
tiefer ein, und wird länger nach gefühlt. Er pflecht«@t@»et

/ die

|P_290

/die Imagination in alles mit hinein, und denckt den Folge¿
des Dings nach, giebt Dingen eine eingebildete Größe,
die sie nicht haben, und allen Dingen eine übermäßige Wich-
tigkeit. Es ist aber kein beßer Mittel gegen die Empfin-
dung der Ubel des Lebens zu erdencken, als daß wir den
Dingen ihre Wichtigkeit nehmen, und das Leben für ein Spiel
ansehen, daß wenig befriedigendes enthält, und kurtze Zeit
daurt. Denn sind wir geschickt ein ruhiges Leben zu führen,
so daß wir in alles keinen großen Werth setzen, und nichts
wichtig für uns wird, als die Rechtschaffenheit. Der Melanco-
licus hat einen Hang zu Traurigkeit; er ist immer voller
Bedacht und Besorgniße: heckt Schwierigkeiten aus, wo
andere Menschen sich gar keine einfallen laßen. Er ist daher
ein guter Rathgeber, er verspricht nicht leicht, aber um dest@o@
mehr kan man sich auf sein Versprechen verlaßen. Er thut
sich nicht leicht selbst ein Genüge; gegen FreundtschaftsDienste
aber ist er auf eine dauerhafte Weiße danckbaar. Er ist
enthusiastisch in der Religion, Freundtschafft und patriotis-
mus, diese phantasterie, findet sich bey einem temperament
daß immer gewohnt ist, zu brüten; er komt daher auf fanati@s@-
me; denn es komt immer auf den Unterschied der Begriffe
bey Menschen an. Da, wo man nachdenckt, dringen die Empfin-
dungen tief ein; der seinem Zustande nachhängt, und etwas
bald zu Hertzen nimmt, ist eben darum zur Schwermuth ge-
neigt. Er besorgt immer; nichts aber befreut uns mehr von
Sorgen, als daß wir mit einer gewißen Leichtigkeit
über jeden Punckt des Lebens hinweggehen; denn die prospecte
der Zukunft sind immer wiedrig. Er giebt allen Dingen

/ eine

|P_291

/eine große Wichtigkeit, und dieses macht ihm immer
Besorgniß, sie zu ver{_dienen._→_liehren._} Der Melancolicus ist, weil
er sorgt, oft zum Geitz inclinirt, weil er nicht genung mit
den Sorgen für den gegenwärtigen Augenblick hat, und
die Empfindung bey ihm so tief eindringt. Traurigkeit rührt
nicht von der Empfindung des Übels her, sondern von dem
Nachdencken über den Zustand, worin man sich befindet.
Daher heißt auch der melancolicus tiefsinnig; denn er
verliehrt sich {_der_→_in_} VorausAhndung der Zukunft. Er wird immer
mehr traurige als angenehme prospecte haben, und das
Nachdencken ist an sich selbst eine Ernsthaftigkeit, und be-
nimt dem Gemüth die Lebhaftigkeit; und ein Mensch,
der zum sorgen aufgelegt ist, hat auch einen Hang zur
Traurigkeit. Er ist beständig in der Freundtschafft; er
fodert zwar viel vom Freunde, aber ist auch bereit, ihm
viel zu erzeigen. Er ist in Ansehung des Versprechens,
der Ansprüche auf die Freundtschafft, der Danckbarkeit,
gantz das Gegentheil vom Sanguinicus. Er ist in seinem
Vorsatz fest, und verspricht nicht viel, weil ihm alle Din-
ge sehr schwer vorkommen. Daher scheint er auch nicht
so willfährig zu seyn, weil er sein Versprechen immer
gerne halten will; und die Willfährigkeit ist eine vor-
trefliche Eigenschafft im Umgange, aber keine Tugend.
est vir propositi tenax. Aber dieser feste Vorsatz
kan in der Folge auch Halsstarrigkeit werden. Er ver-
größert alles, da der Sanguinicus hingegen alles
verkleinert. Der Sanguinicus nachdem er sich vielmahl,

/ so

|P_292

/so zu sagen, selbst vorgelogen, glaubt sich selbst nicht mehr.
Es ist aber von großer Wichtigkeit, seinen eigenen Vorsätzen
trauen zu können, weil der Melancholicus nicht willfährig ist:
so ist er auch nicht so beliebt als der Sanguinicus. Sein Mißtrauen
«uber» kan wohl überhaupt davon herkommen, daß er den Hang hat,
immer das üble zu befürchten. Denn der Unglückliche, er mag
es nun aus äußern Ursachen, oder aus naturell seyn, gönnt
auch andern ihr Glück nicht. Er ist ein guter Patriot.

/Die Temperamente der Neigung sind das coloerische und phlegma-
tische. Coloerisch ist das temperament, bey denn die Kräfte schnell
in Bewegung gesetzt werden «können» aber nicht anhalten.
phlegmatisch aber ist dasjenige, wo die Kräfte langsam
in Bewegung gesetzt werden, aber «nicht» <dafür lange> anhalten. Das
coloerische temperament ist das temperament der rüstigen Thä-
tigkeit. Er (der coloerische) ist affectvoll, und seine Thätigkeit
wird rasch in Bewegung gesetzt, hält aber nicht lange an. Er
hat starcke Triebfedern, die aber nicht dauerhaft treiben,
sondern ohne anzuhalten, fortschnellen. Er hat einen Hang
zur Ehrliebe; er wird von einem heftig brennenden Feuer ver-
folgt, aber es daurt nicht lange. Die Ehre ist eine Triebfeder,
wo der Mensch blos durch die Neigung bewogen wird, ohne
sie würde nicht so viel Naturtrieb zu gemeinnützigen
Handlungen seyn: denn wer wodurch zum handeln soll
gebracht werden, muß eine ungemeine Reitzbarkeit
zur Thätigkeit haben. Das colerische temperament wird
also denen beywohnen, die Ehre im Leibe haben. Durch
daßelbe werden also große Dinge zu Stande gebracht.
Weil der choloericus beschäftiget ist: so mischt er sich

/ ger@ne@

|P_293

/gerne in alles, er hat, wenn er ein Geistlicher ist, die
@$polopragmosynen;;$@ er ist leicht händelsichtig;
sein Element ist Zanck, und er will in Leblosigkeit ver-
sincken, so bald alles friedlich {_ist_}. Er ist mehr geneigt, groß-
müthig als gerecht zu seyn; er will nicht gerne etwas
aus Pflicht thun, sondern alles aus Großmuth. Aber der
thut mir doch schon Unrecht, der mir zwar mein Recht
giebt, aber unter dem Talent der Großmuth, da ichs
doch mit Recht fodern kan, in seinen Handlungen unge-
recht ist; und solche Personen finden wir wirklich, die
dieses blos aus Großmuth thun. Aber eine solche Gemüths
Verfaßung hat viel verführerisches, und ist für andere
unerträglich. Ein rechtschaffener Mensch muß schon
dafür zittern, seine Hände an das Recht anderer Men-
schen zu legen. Bey solchen genanten edel denckenden
Leuten, findet zuletzt jeder Schelm Schutz, so, daß man
sagen mochte: vor einem Schelm kan man sich wohl hüten,
aber nicht für einen solchen ehrlichen Mann, wenn er dabey
einen übermäßigen Stoltz hat. In Geschäften ist der
Cholericus immer sehr ordentlich, rüstig, aber nicht em-
sig; den Gedult ist nicht seine Sache. Es herscht bey
ihm Ordnung. Er dünckt sich klüger, und scheint auch
andern Menschen klüger, als er in der That ist.
Der Ton ist bey ihm arregant, er ist höflich, aber feyer-
lich. Dinge, die er vorbringt, bringt er mit einer so
decisiven Manier vor, daß man seine Überlegenheit,

/ die

|P_294

/die er dabey blicken läßt, nicht dulden kan. Es ist schwer,
daß ein Mensch seinen eigenen Ton kenne, und daher ists
auch schwer, ihn abzuschaffen. Er spricht auf orakelmäßige
Weiße; er bedarf immer einer Gesellschafft, die mit
ihm rivalitaet hat; er unterhält die Gesellschafft mit
Sachen, die das bürgerliche Leben betreffen; er sucht
in allen Dingen mehr Pracht, als Genuß, mehr Wort
Gepränge als Inhalt. Er verstellt sich, um sich ein vortheil-
haftes Ansehen zu geben. In ReligionsSachen ist er
ortodox, weil die or«d»todoxi herrscht. Er schickt sich am
allerwenigsten unter seines gleichen, weil er beständig
hervorragen will, und er den viel Wiederstand findet.
Daher suchen stoltze Leute immer Gesellschafften,
die inferieur sind. Als ein Gelehrter, ist er sehr methodisch;
aber ohne genie. Er ist ein beßerer Anverwandter als
Freund, denn die erstern protgirt er aus stoltz. Als
Freund aber hat er nicht Offenhertzigkeit genung. Er hat
den Fehler, daß er andern daß nicht verstatten will
gegen sich, was er sich gegen ihnen verstattet. Als
«er» Richter läßt er sich nicht bestechen, aber durch Deh-
muth und Gnade läßt er sich leicht auf die andere
Seite bringen. Ist er selbst mit jemanden im Streit:
so streitet er heftig wieder ihn, bis er ihn bittet,
alsdenn giebt er gleich nach. 2. oder mehr choloerische
schicken sich nicht gut in einer Gesellschafft: denn

/ alle

|P_295

/alle wollen ihre Urtheile geltend machen, und auf
diese weiße entsteht oft ein Streit. Er ist zur Ver-
stellung geneigt, man pflegt ihn sonst zu characterisiren
durch den Hang zu Zanck und Stoltz; aber dieses sind
nur die Folgen des temperaments. Er trägt alles
mit vielem Pomp vor, und macht viele Worte; der
Trieb zur Ehre ist seine Herr{_schafft_→_schende_} Leidenschafft. Er
ist sehr heftig; gemeinhin ist er verständig. Es ist das
temperament der grösten Verstellung; dahingegen
der phlegmatische weniger zu seyn glaubt, als er wirklich
ist. Sein Gang hat immer was steifes, er geht so zu sagen
auf Stöltzen, und seine Sprache hat etwas gedrechseltes.
Er hat gerne solche Leute um sich, an denen er seinen
Witz zeigen kan. Wo eine gezwungene Ordnung
statt findet (Er ist aber ordentlich), da ist immer ein
schwacher Kopf. Er hat oft im «Traum» Ton unrecht,
ohngeachtet er in der Sache recht hat. Daher ist «daß»<er>
kein guter Gesellschafter, aber ein guter Hausherr. - 
Das phlegmatische temperament bestehet darinnen
daß die Gemüths Bewegungen langsam und schwach
anfangen, aber lange anhalten. Er ist kaltblütig,
und sein Character ist appathie oder Affectlooßigkeit.
Mann kann alle temperamente als Schwäche, oder
als Stärcke betrachten. Das sanguinische tempera-
ment kan als Schwäche betrachtet werden, so fern

/ die

|P_296

/die Eindrücke nicht lange währen; als Stärcke weil er
sehr leicht afficirt wird. Die cholera ist Schwäche, so fern das
Gemüth leicht aus der Faßung gesetzt wird; Stärcke so fern
der Mensch rüstig und bald entschloßen ist«,». Phlegma als Schwäche
ist «u»Unempfindlichkeit, Faulheit, Unnützlichkeit, Niederträch-
tigkeit, da man niemals etwas ernstlich treibt, so, daß man
auch nicht einmahl etwas mit Eifer faßt; es ist völlige Un-
brauchbarkeit und Handlung ohne Triebfedern; dergleichen
haben die Süd-Amerikaner so daß selbst der Trieb des
Geschlechts bey ihnen schwach ist. Phlegma wird fast nie-
mals als Stärcke erwogen; es besteht aber darin, daß
das Gemüth keinen heftigen Bewegungen unterworfen
ist, so daß die Bewegung desto länger anhält. Ein solcher
Mensch geht behutsam zu Wercke. Hier ist Phlegma
eine Kraft, und zwar eine solche, die mehr von der
Ma{_a_→_ß_}ße, als von der Geschwindigkeit abhängt. Er wird
langsam warm, aber behält die Wärme lange. Phleg-
ma ist eine der rühmlichsten Eigenschafften eines Men-
schen; denn es beweiset fest den Vorsatz, und deshalb
ist ein solcher von unveränderter Gesinnung. Phlegma
im temperament «ist»<macht> sehr glücklich; denn es betrachtet
immer der Sachen {_W_→_N_}ichtigkeit; und wenn man schon
anfängt, ein Ding nach seiner Dauerhaftigkeit zu
erwegen: so wird man gegen eine Menge von Dingen
sehr gleichgültig seyn, und so können wir eigentlich durch
Mangel der Empfindung glücklich seyn. Man kan es

/ also

|P_297

/also das glückliche temperament nennen; denn der sanguini-
sche, so vergnügt er auch ist, hat er doch auch eben so viel
Gelegenheit sich zu betrüben. Der Kaltblütige hat wenig zu be-
reuen. Er hat eine Kaltblütigkeit durch Grundsätze, die
durch die Neigung habituel wird. Die Natur hat durch das
glückliche phlegma manchen Menschen selbst Beherrschung gege-
ben, wodurch er Handlungen ausübt, die der Weisheit nahe
kommen. Es giebt dem Menschen eine sonderbahre Überle-
genheit über andere, und ein auffahrender Mensch wird
durch einen Gegner mit Phlegma aus aller Faßung
gebracht. Und fühlt gleich seine inferioritaet. Wenn in
der Conversation eine Hitze entsteht, (woran gemeinig-
lich der Ton schuld ist) wobey man aufgebracht wird, und
wo es schwer wird, wieder in den guten Ton hinein zu kommen,
da ist das phlegma vorzüglich; {_w_→_d_}en ein solcher Mensch zeigt
eine offenbahre Uberlegenheit! es gläntzt nicht, erregt
keine Eyfersucht; und komt eben dadurch am allerweitesten.
Es ist wahre häusliche Glückseeligkeit in der Ehe dabey. Es
herrscht dabey eine gewiße gute Laune, die niemals vergeht.
Ein Mensch, der phlegma hat, wird zuweilen für einen phi-
losophen gehalten: und insofern er zum Nachdencken geneigt
ist, kan er daß wircklich durch sich selbst zuwege bringen,
was philosophie durch vieles Nachdencken zu wege bringt.
Es ist am meisten der üblen Nachrede unterworfen, allein
da das phlegma, wenn es ein temperament seyn soll,
eben in der temperatur oder Maßigung und Herabstim-
mung der Hitze der Affecten bestehet: so ist es glücklich
für den, der es besitzt, als für andere, und kan mit

/ mittelmäßiger

|P_298

/mittelmäßiger Vernunft den Zweck erreichen, wel-
chen große Köpfe verfehlen, die sich den hinreißenden
Affecten überlaßen. Es führt eine gewiße Zuverläßig-
keit mit sich, denn da hier nichts plötzlich unternommen
wird: so wird auch nichts übereilt ausgeführt. Er erschrikt
nicht leicht, und ist bey großen Dingen von ungemeiner
Behaarlichkeit. In der Freundtschafft wird er zwar nicht
schimmerndes zeigen, und daher nicht sehr beliebt seyn,
aber doch jederzeit sehr beständig und getreu seyn.
Er ist embsig zur Arbeit, ob er gleich immer einen Hang
zur Faulheit dabey hat, er hat selten lange Weile, aber
ist langweilig für andere, als Gelehrter wird er
ein guter Samler seyn, im häuslichen Stande läßt
er sich leicht regieren, da es leichter ist regiert zu
werden, als selbst zu regieren, worinnen der choloe-
rische von gantz entgegengesetzter Meynung ist.
Er behilft sich gerne mit Wünschen«,». Will man ihn
gut nennen: so ist er doch nur negativ gut, nehmlich
unschädlich. «¿»

/Habituelle Disposition die von der Erziehung depen-
dirt, wird oft für temperamente ausgegeben, und es
daß schwer zu unterscheiden. Indeßen kan kein eintzi-
ger Umstand das temperament gantz unterdrücken,
sondern es dringt doch immer hervor. z.B. das Frauen
zimmer soll frey erzogen werden, und doch ist
manches nicht cholerisch. Die Mysantropie ist
kein temperament, worunter man, wie man glaubt

/ Menschen

|P_299

/MenschenFeindschafft versteht (welches es eigent-
lich den Worten nach anzeigt), sondern wenn man
alle andere Menschen für böse hält.

/Die Indianer sagen: die Lebens-Art macht einen
Kaufmann phlegmatisch, einen Gelehrten und Geist-
lichen melancholisch, den Soldaten choloerisch, und
den Handwercker sanguinisch. Die Handwercker sind
gemeiniglich die lustigen Menschen, weil ihre Sorge
gemeiniglich nur auf einen Tag gehet.

/In der Religion ist der choloerische von der herrschen-
den Kirche, daß ist ortodox. Der Sanguinicus ist
leicht ein Spötter; der Melancholicus ein Schwärmer,
und der phlegmaticus indifferent.

/Im Amte ist der Sanguinicus zerstreut; der Melan-
cholicus peinlich; der choloericus Neuerungsüchtig und
ruhmsüchtig, der phlegmaticus mechanisch, und ein Jaherr
der alles gerne beym alten läßt.

/In den Wißenschafften ist der choloerische gründlich,
aber unrichtig; der Melancholicus tief; der Sangui-
nicus populair; der phlegmaticus sehr weitläuftig,
doch ohne viel Inhalt.

/Als Autor wird der Sanguinicus witzig und populair
seyn; der choloerische geht auf Stöltzen, ist dabey {_melancholisch_→_methodisch_}
und deutlich, der Melancholicus zeigt originalitaet
und Laune, aber auch Deutlichkeit. Der phlegmaticus wird
seine Mühsamkeit in einer großen Belesenheit zeigen, welches
man z.B. «den¿¿¿» denen Deutschen Schuld giebt.

|P_300

/ ≥ Beurtheilung des innern Menschen durch
den äußern Menschen, oder
/Von den Fysiognomie. ≤

/Die Physiognomie, die den Stoff zu dieser Wißenschafft
her giebt, betrachtet das Bauwerck des Leibes, Gesichtsbil-
dung, und Gesichtszüge. Ohngeachtet Körper und Seele eine complette
Einheit ausmachen: so kan hier doch, so viel wir wißen, kein na-
türlicher Zusammenhang statt finden. Indeßen merckt «S»doch
Schafftesburg in seinen phylosophischen Schrifften an, es stehe in eines
jeden Menschen Gesicht, selbst dem Häßlichsten eine solche originalitaet
und Regelmäßigkeit, daß, so bald wir nur etwas darin verändern
wollten, wir alles verderben würden. Dies scheint sich auch dadurch
zu bestätigen, daß, wenn man viele Gemählde sieht, man leicht wird
unterscheiden können, welches portrait von einem lebendigen Menschen,
und welches blos aus der Phantasie hergenommen ist. So viel eigenthüm-
liches liegt in den Zügen des Gesichts eines jeden Menschen. Indeßen
ist die Physiognomie sehr trügend. Wir können uns beym Men-
schen vorstellen:

/1tes Die Leibes Gestalt, die Regelmäßigkeit des Baues gleicht der
Harmonie. Ein starcker robuster Mensch, der in sich Überlegenheit
fühlt, mißbraucht oft seine Kräfte, und oft ist ein Mensch blos des-
wegen friedlich, weil er sich zu schwach fühlt, sich über andere zu er-
heben.

/2. Die Stellung und Gebährden sind blos Modificationen des erstern. In einem
Gesichte kan man mit recht unterscheiden, die GesichtsBildungs und
die Gesichtszüge. Lichtenberg der größte Gegner Lavaters glaubt
daß die Gesichts-Züge gar nicht originel sind, sondern daß sie theils
von der Erziehung, theils von der Gewohnheit abhangen. Allein wenn
man die Sache genau betrachtet: so würd man finden, daß er hie-
rin Unrecht hat. Da die Physiognomie nicht unter Regeln gebracht
werden kan: so kan sie nicht ausgebreitet, oder andern mit-
getheilet werden, es würde auch diese Scharfsichtigkeit dem mensch-
lichen Geschlechte nichts nützen

/ Gesticulation

|P_301

/Gesticulation, ¿»rticulation, und Modulation machen
die Sprache aus. In der Gesticulation sind die Mienen
das vornehmste, welche in der gantzen Welt einerley
GemüthsZustand bedeuten.

/Sehr große Regelmäßigkeit im Bau zeigt einen mittel-
mäßigen Menschen an, der in alle Fächer paßt, aber
in keinem excellirt; daß paßt auch mit unsern Begri-
fen vom «¿»schönen zusammen; «mit unsern Begriffen»
denn das schöne muß mehr in der phantasie als in der
Natur liegen, und mehr Begriffe von Schönheit liegt
in dem Mittelmaaße der proportion, der Theile und
Glieder des Körpers. Man hat in seiner imagination
eine mittlere Höhe (die man sich aus der Höhe einiger 1000
Menschen abstrahiret) wornach man alle Menschen
mißt, und dieses rechte ideal der Schönheit schienen die
Griechen gehabt zu haben; doch muß dieses Mittelmaaß
der Schönheit in jeder Nation verschieden seyn.

/Beym Menschen, die sich durch ihr großes genie auszeich-
nen, vorzüglich bey genies der Einbildungskraft findet
man, daß sie in ihrem Körper was disproportionirtes
haben, z.B. Socrates, Pope. Haa{_@g@_→_y_} in seinem Buche von
der Heßlichkeit, worinnen er die Guttartigkeit eines
Heslichen schildert, und die Bösartigkeit der Leute von
guter Bauart, beweiset: Gesichter, die man für heßlich
erklären möchte, haben eine solche proportion, daß
man gleich sieht, daß das von der originalitaet der Natur
abhängt. Man hat angemerckt, daß die proportion eines

/ jeden

|P_302

/jeden Menschen im Keime liegt, und also eine wahre
proportion immerdar sey, weil man an keinem Gemähl-
de was verändern kan, {_oder_→_ohne_} für einen Kenner was un-
natürliches zu machen. Hogarth hat Kupfer von Character
des Menschen gestochen, die die besten sind, die die Kupfer-
stecherkunst jemals geliefert hat. Das kam daher: er gieng
die Natur durch, nahm alles aus derselben, und fingirte
nichts. Man kan in dem Gesichte eines Menschen nichts ändern
ohne ihm ein gantz anderes Gesichte zu geben. In der Natur
ist keine wahre Schönheit. Was «f¿» wir schön nennen, ist im
Begriff nach proportion. Das rechte schöne hat eine versteckte
proportion. Durch diesen Grundsatz werden wir zur Men-
schenliebe bewogen, und es verschwinden da alle scheinbare
Heßlichkeiten. Wahre Heßlichkeiten sind Überreste des
Lasters.

/Ein gantz regelmäßiges Gesicht sagt überhaupt nichts.

/Bey Frauenzimmer sind die Stirnen alle kuglichter als bey
den Mannern, wo sie {_g_→_p_}latter sind. Wenn dem Menschen die
Haare so verwachsen sind, daß die SeitenHaare mit den
Augenbraunen zusammengehen: so ist da wenig Geist. Eine
Rinoceros_Naße, d.i ein Giebel auf der Naße soll einen
Spötter anzeigen, ist er oberwärts, einen stoltzen Menschen.
Die Gesichtszüge müßen von den Mienen unterschieden
werden, welches Gebährden sind. Soll man sagen: Mienen
sind ins Spiel gesetzte Gesichtszüge; oder sind Gesichts
Züge fiairte Mienen? Die Natur hat uns nicht mit Gesichts
Zügen auf Mienen ausgerüstet, sondern Mienen fixiren die
Gesichts-Züge. Lichtenberg hat in seiner Wiedersetzung
gegen alle physiognomie gröstentheils recht, gantz

/ kan

|P_303

/gantz aber kan man sie nicht verwerfen. Er sagt unter
andern man kan durch Mienen die Bösartigkeit eines Menschen
anzeigen, aber nicht die natürliche, sondern die verdorbene, denn wenn
man lange ausgeschweift hat, so nimt man solche Mienen an, und die-
se werden zuletzt beharrliche Gesichtszüge. In jedes Menschen
Gesicht sind ohnstreitig originale Züge, aber in der Erziehung verzie-
hen sich die Züge nach der Verschiedenheit der Temperamente. Indeßen
sagt er: fehlt es uns an einer Auslegungs-Kunst dieser Characktere.
Alle Affecten bringen gewis Mienen hervor; und diese sind bey jeder
Nation dieselben. Sie sind natürliche Zeichen unserer GemüthsBewegung,
und so wie in den temperamenten Verschiedenheit ist: so sind auch die
Gesichts-Züge mehr für einen Affect {_b_→_g_}estimt als für den andern. Wenn
die Gesichtszüge nicht durch das Temperament entstünden; so könte
es kommen, daß ein Mensch bey der fröhlichsten Begebenheit eine Mie-
ne der Traurigkeit «ge»haben könte. Erziehung bringt zuletzt Mienen
hervor die «Bösartigkeit» in Gesichtszüge ausarten. Ländliche
Leute sind gleich am Gesicht zu erkennen. Das Gesicht legt sich in
andere Falten, wenn man mit seines Gleichen, als wenn man mit
Bauren sich unterredet. Man kan auch zwischen einem litteratus und
Bürger einen Unterschied wahrnehmen, denn das Studieren giebt
dem Gemüth eine habituelle Richtung, die sich in den Mienen aus-
drückt, und die mancherley GesichtsZüge ausmacht.

/Man sagt von einem Menschen, er hat ein gemein Gesicht; manches
Gesicht wiedersteht der Verfeinerung gantz, und das zeigt die Grobheit
an. Wo Anhänglichkeit an gewiße Religions_observantzen ist, können
Menschen durch die assiduitaet in Beobachtung derselben, einen Ge-
sichtszug bekommen, der sie kentlich macht; denn die andächtigen Mienen,
die gebrochenen Augen verstellen sie, das gi«e»lt besonders beym Frauen
zimmer, die die Miene die sie in der Kirche annehmen leicht behalten

/ Es

|P_304

/Es giebt Menschen, die gewöhnlicher Weiße nicht «spielen» schielen,
aber wenn sie etwas erzählen, daß gelogen ist sich auf die Nase sehen.
Mahler unterscheidet Charackter und Carricatur. Diese Carricaturen
sind Übertreibungen des Charackters, die aber nicht zu verachten sind. Derglei-
chen sind Hogarts Kupferstiche, und die Characktere in allen unsern Comoedien.

/Gewiße Menschen sind FratzenGesichter, weil sie einen Charackter bis ins
übertriebene ausdrücken. - . Die Fysiognomie ist was natürliches und {_wird_} von
jedermann ausgeübt, weil sie oft eintrift. Schlägt sie fehl; so vergießt
man daß wie die Weißagungen des Kalenders. Es ist uns dar{_um_→_in_} was
Dunkeles zur Warnung gegeben, woraus wir aber noch nicht die gantze
Denckart eines Menschen begreifen können; denn es ist darinn kein
allgemeines Merckmaal. Beym Heirathen ist sie nützlich, weil man
aus der Analogie der Denckart der Verwandten auf die Denckart der
Geliebten schließen kan. Man muß aber nicht Leute nach den Gesichtszügen
sogleich beurtheilen, wenn man sie nicht schon ge{_¿¿_→_pr_}uft hat. Denn die
Einbildung macht zuweilen das mehrste.

/Die Physiognomie ist äußerst t{_au_→_rü_}glich, wenn man nur die für böse
halten will, die bösartige Gesichter haben. Gefährlich ist sie, wenn Richter
aus den Mienen des delinquenten die Schuld herleiten wollen; denn des verruch-
testen Bösewichts Mienen sorgen gemeiniglich nichts. Ein gewißer Medicus in
seinem Buch Reisen durch Engeland bemerckt, daß alle Mißethäter
starcke ekigte Knochen haben, so daß ein gewißes Zutrauen zu sich selbst
sie verleitet haben mag, vom graden Wege abzugehen, auch waren
sie gemeiniglich Brunett.

/Wenn man die Physiognomie exerciren will, so ist es zwar ein vor-
theilhaftes Unternehmen, indeßen ist uns die Sache beynahe gäntzlich
verschloßen. Hört man von Jemanden eine böse That: so glaubt
man sie gleich in seinem Gesicht zu sehen, so groß ist die Täuschung hier.
Wenn jemand zum Gerichtsplatz geführet wird, merckt jedermann
spitzbubische Mienen an ihm. Aber fühle du nur auch solche TodesAngst
das lachende deiner Mienen wird sich auch wohl verziehen

|P_305

/ ≥ Vom Caracter überhaupt

/Es giebt {_«Menschen»_} in der That {_Menschen_}, welche in Absicht ihrer Handlungen gar
nicht bestimt sind, und nach gar keinen Maximen und ohne Absicht handeln, folg-
lich auch keinen Charackter haben. Indeßen wird ein Mensch doch gerühmt, wenn
er einen bestimten Charackter hat, wenn dieser auch ein böser ist, weil sich hier doch
noch immer mehr Thätigkeit im object findet, als bey einem Menschen der
@g@ar keinen Character hat, wenn dieser auch gleich ein gut Gemüth und Hertz hat.
Dieser Charackter beruht eigentlich auf der Macht des Verstandes, und kan
auch oft durch die Eigenliebe exercirt werden, hingegen beruhen Hertz
und Gemüth blos auf dem Gefühl, und gehören zum Temperament. Man
sollte billig bey der Erziehung der Kinder darauf bedacht seyn, in ihnen einen
Charackter hervorzubringen, wenn dieser auch nicht immer aufs gute gerichtet
ist.

/Einen schlechten Charackter unterscheidet man von einem bösen Charackter. Un-
ter einem schlechten Menschen versteht man gemeiniglich einen Menschen ohne
Ehre. z.E. der da lügt. Der schlechte Charackter bestehet also in einem Mangel
der Ehrliebe, und zwar in dem Verhältniß, worin wir gegen andere stehen.
Allein Falschheit und Treuloßigkeit in der Freundtschafft ist ein boshafter
Charackter, wenn man sich etwas böses zu thun vornimt, und zwar nach Grundsätzen.

/Ein Mensch der keine disciplin, welche eben in der Bändigung unserer natür-
lichen thierschen Ungebundenheit besteht und negativ ist, bekommen hat, nennt
man wilde. Wenn aber jemand keine Cultur oder information, welches etwas
positives ist bekommen hat, so ist der dumm, wenn er nehmlich keiner Cultur
in Ansehung des Verstandes fähig ist, hingegen grob, wenn dies in Ansehung
der Sitten statt findet.

/Die Guttartigkeit eines Menschen aus Instinckt, Sentiment und Charackter
ist sehr zu unterscheiden. Bey einem Menschen von der ersten Art ist keine
Sicherheit. Das sentiment soll in einem Gefühl fürs Gute bestehen{_, w_→_. W_}as der
Charackter sey, ist schon vorhero erkläret worden. Beym schönen Ge-
«sicht»schlecht muß man vorzüglich ein gutes sentiment zu gründen
suchen, da daßelbe es wohl nie zum guten Charackter bringt, denn
man hingegen vom Mann {_finden_→_fordern_} muß. Man findet auch häufig Menschen,
welche einen Character affectiren. - Ehrlich ist man aus Ehre, redlich aus Ge-
wißen, rechtschaffen aus Grundsätzen

/ Man

|P_306

/Man nennt den Charackter auch öfters den fond. Dies ist eigentlich die
Natur Anlage zum Charackter. Eine verfeinerte oder wohlverstandene Ehre
oder ein richtiger EhrBegriff, kan das gröste Analogon eines guten Charackters
seyn, ohnerachtet {_¿¿_→_er_} es selbst doch nicht ist. Die natürliche Anlage des Charack-
ters ist angeboren, allein diese fordert auch sehr viel Cultur, um sich zum
wahren Charackters eines Menschen auszubilden. Es giebt gewiße Fehler im
Charackter, welche, wenn sie nicht in der Jugend verbeßert werden, auch im
Alter bleiben; allein faussetäten des Temperaments verändern sich leicht.
Der wahre Charackter eines Menschen äußert sich selten beym Menschen vor
dem 40ten Jahre, da fallen alle Unbesonnenheiten weg, und der Mensch hat
sich alsdenn so viel Stärcke erworben, darauf zu attendiren. Vor diesem
Jahre ist die Einsicht nicht reif genung, um das wahre Interesse vom Schein In-
teresse zu unterscheiden.

/Den Charackter pflegt man einzutheilen in den publiquen und privat
Charackter, unter dem publiquen versteht man den Charackter des Standes.
Der Charackter ist nicht wie das Temperament selbst eine innere Anlage zur
Glückseeligkeit, sondern bestimt nur die {_Würde_→_Würdigkeit_} glücklich zu seyn. Daher sagt man
auch nicht ein glücklicher, sondern ein guter Charackter. Da der Charackter
eine Sache von freyer Willkühr ist, so sehen wir denselben auch nicht als
eine Naturgabe, sondern als unser eigenes Verdienst an. Durch einen
guten Charackter ist der Mensch nicht allemahl glücklich, wohl aber der
Glückseeligkeit wurdig. Wenn das Gute was wir an uns haben nicht
auf Grundsätzen beruht, so ist es zu Nichts «N»nutze und vergänglich

/Wir characterisiren einen Menschen entweder durch das, was ihm
selbst nicht zu zurechnen sondern eine Gabe des Glücks ist, oder wir können
ihn auch durch das Innerste des Menschen charcacterisiren was ihn ausmacht.
Das erste nennt man merita fortunae. Der eigentliche Charackter des Men-
schen aber besteht in der Beziehung des Menschen durch das was ihm eigen-
thümlich gehöret, und weder der Natur noch dem Glück beyzumeßen ist. Die-
ser Charackter bestehet in der GrundAnlage des Willens sich aller talen-
te wohl zu bedienen, um mit seinem temperamente wohl zu schalten. Durch
einen guten Charackter wird der Mensch Uhrheber von seinem eigenen
Werth; er kan auch den Mangel des Talents durch Fleiß ersetzen, und das
muß aus Charackter entspringen. Im Charackter liegt das fundament
der Verbeßerung aller unser talente, man nennt daß den Willen, und
es ist die Anlage sich seiner Talente zu den besten Zwecken zu bedienen

/ Es

|P_307

/Es komt beym Menschen darauf an, ob er einen Charackter habe, oder
ob er einen guten oder schlechten Charackter habe. Talent bestimmt den Marckt-
@P@reiß. Temperament den Affections-Preyß, und Charackter den innern
moralischen Werth eines Menschen. Ein großer Herr beurtheilt seine Untertha-
nen nach dem Marcktpreiße, und das geschieht auch in andern fällen. Wir
lieben die Menschen nach dem AffectionsPreyß, nach der Art wie wir sehen,
daß ihre Neigungen afficirt werden. Das temperament ist das Fundament
der guten und bösen Laune, aber der Charackter macht den innern Werth
aus. Charackter ist das, waran wir einen Menschen jederzeit unterschei-
den können. Es muß eine bestimte DenckungsArt seyn, auf die man je-
derzeit mit Sicherheit rechnen kan. Launisch komt her von Lunatisch
d.i. wandelbar nach den MondsVierteln, wetterwendisch. Aber
Charackter allein fixirt beym Menschen den Begriff von seiner Person.

/Es frägt sich ob ein Mensch überall einen Charackter habe? Davor ist
zuerst zu sorgen, ohne noch auf seine Beschaffenheit zu sehen. Ein Mensch
von recht bösem Charackter ist ein fürchterlicher Gegenstand, aber hat
er nur ein festen bösen Charackter: so erwirbt er dennoch Bewunde-
rung. Die Eigenschafft des Charackters beruht also in der Festigkeit
der Grundsätze. Manche Menschen sind so, daß sie sich niemals einen Grund-
satz festsetzen können, sondern schweifen unter lauter Anwendungen
herum, und dencken niemals über Grundsätze nach. So kann man aber
aus purer Gefälligkeit alle Laster begehen, die Festigkeit des Vorsa-
tzes findet nur da statt, wo sich der Mensch auf das Versprechen, daß er
sich selbst gethan hat, fest verlaßen kann. Hat man sich aber oft was vor-
gelogen: so glaubt man sich zuletzt selber nicht mehr. Ein Mensch der die
procrastination liebt, ist so schwach, daß er zuletzt keinen rechten
Vorsatz mehr hat, indem er sich nicht zutraut, ob ein gefaßter Vor-
satz sich nicht bey ihm ändern werde. Wenn die Natur einem nicht
eine Anlage oder den innern fond zum Charackter gegeben hat; son-
dern man ein Spiel der Instinkte und Anreitzung ist, so ists schwer,
einen durch Kunst zu erlangen. Charackter ist also die feste Anhänglich-
keit an einmahl gefaßte Grundsätze. Ein jeder Muß also von

/ Jugend

|P_308

/Jugend auf anfangen seine einmahl gefaßten Grundsätze
zu erfüllen. Denn ein Mensch der das Zutrauen zu sich selbst ver-
liert, ist elend dran. Man muß sich zu dem Ende die Geringschätzung
eines Menschen ohne Carackter vorstellen, denn ohne Carackter ist
der Mensch immer eine andere Persohn. Es muß daher eine beständige
Bemühung auf die Bestimmung und Befolgung der Grundsätze ange-
wandt werden.

/Die Gutartigkeit dem temperament nach, macht noch nicht den guten
Mann. Ein Mensch ist gutartig, wenn er Willfährigkeit und Freund-
schafft verspricht, das gute aber muß im Charackter liegen. Es ge-
höret viel dazu ein guter Mann zu seyn, und Grundsätze zu
hegen, die der Wille innigst eingenommen hat. Ein Mann von Grund-
sätzen hat Maximen, und Maximen zu gründen setzt eine starcke
Seele voraus. Selbst Bösartigkeit im temperament kann doch ein
guter Charackter seyn, es ist also schwer, die Bösartigkeit im tem-
perament von der Anlage zu einem guten Charackter zu unter-
scheiden. Wenn ein Mensch nur Vernunft hat, so pflegt gemeinig-
lich Anlage zum guten Carackter da zu seyn. Wir lieben einen
Menschen seines Hertzens wegen, wir schätzen ihn seines Carack-
ters wegen. Die Gutartigkeit im temperament ist ein Gemählde
in Waßerfarben, und sieht schön aus aber daurt nicht lange.
Ein steifer Sinn sieht oft wie Carackter aus, ists aber nicht, denn
der Charackter muß aus der Vernunft kommen, und Anhänglich-
keit an Grundsätze seyn. So war z.B. Carls_12te steifer Sinn
nicht Charackter. Es giebt auch eine NachEiferung des Caracters,
wo der Mensch sich als einen Sonderling zeigt, ohne sich nach den
Veränderungen des Geschmacks in publico zu richten. Er wählt
sich gewiße Gewohnheiten, {_wenn_→_woran_} er fest bleibt.

/Allgemeine Merckmale eines moralisch guten Caracters
sind folgende. Die 1te Maxime ist die Wahrhaftigkeit. Ein
Lügner hat keinen Caracter. Alles Lügen macht verächtlich,
wenn es auch noch so unschuldig wäre, wenn man verspricht
muß man Wort halten. Er krie{_¿g_→_ch_}t nicht. Heucheln ist der

/ Wurde

|P_309

/Würde des Menschen selbst zu wieder, und der innere Caracter
setzt einen gewißen Stoltz voraus. Am meisten aber ist der
Gutartigkeit des Charackters die Falschheit entgegen; ein falscher
Mensch ist nicht allein ein schlechter, sondern auch ein böser Mensch.
Ein edler Character ist der, der etwas verdienstliches thut; alle
seine Maximen sind Grundsätze, wo das Privatbeste dem ge-
meinen besten nachgesetzt wird. Ein solcher Mensch sieht bey
seinen guten Absichten darauf, daß er ja niemanden ein Scandal
gebe, daß Nachahmer finden könte. Er sagt niemanden etwas
wieder, was zu seinem Nachtheil von ihm gesprochen ist, der andere
mag nun indiscret oder gar niedrig seyn. Überhaupt ist es schon
etwas niedriges wenn ein Mensch gerne wißen will, was andere
von ihm sprechen, denn es ist ja jedem unangenehm zu hören, was
andere unvortheilhaft von ihm <ge>sprochen haben, und daß kan doch nicht
aus bleiben. Ein edler Mensch wird durch wahre Ehrliebe dahin getrie-
ben, daß er den, der der Natur der Sache nach nichtswürdig ist, nicht in
prolection nimt, noch durch seinen Umgang privilegirt, und es gut heißt.
Geschähe das allgemein von allen Menschen: so würde daß eine unmittel-
bare Strafe für die Niederträchtigkeit seyn. Ein Mensch hat keinen Ca-
rackter, wenn er sich darnach richtet, was andere Leute sagen, und wen ihm
daß von großer Wichtigkeit ist. Ein Mensch der gut ist, aber nur, in so fern
ihn das Urtheil anderer Menschen bestimt zu handeln, kan ein guter gemei-
ner Mann, aber nicht ein hervorragender Charackter seyn. Unsere moralische
Lehren verderben dadurch sehr den Charackter, daß sie alle auf die Empfind-
samkeit gelegt sind. Denn wir können das Gute aus Liebe oder aus Pflicht
thun. Pflicht hat ihre bestimte Grundsätze, Liebe aber hat Anlockungen,
die wir selten erklären können, und die sich conserviren. Ferner
eine Religion die aus «die aus» Furcht von den Strafen gegründet ist,
trägt viel dazu bey, das fundament des Charackters zu verderben. Gewiße
«St@üc@ke» hingegen tragen dazu bey, einen Charackter zu gründen,
oder ihn auch zu vertilgen. Poeten sind gemeiniglich ohne allen Charackter,
{_weil Sie sich in jeden Caracter in gedancken hinein
dencken können. Der speculative gelehrte, sagt Hume, hat einen
guten Character_}
weil er gantz von den Triebfedern abkomt, die die übrige Welt bewegen
von den NaturVorschrifften abzugehen. Der Soldatenstand veranlaßet eine
Offenhertzigkeit im Carackter. Der geistliche Standt hat einen starcken Hang zur Verstellung.

/ Das

|P_310

/Das Fehlerhafte im Charackter ist noch nicht ein böser Charackter. Es kann etwas
daß den character corrumpirt aus natürlichen Instinckten entspringen, und da
findet der Charackter nur viele Hinderniße empor zu kommen. Was das
Böse in Charackter betrift: so unterscheidet man es so. ein Mensch ist ein schlech-
ter und ein böser Mensch. Schlecht, verworfen, ist die Niederträchtigkeit der
Denckart und die Falschheit. Bosheit beym Charackter des Menschen ist Haß
und Schadenfreude. Der Quell von diesen verschiedenen Anlagen ist sehr verbor-
gen. Leute von der ersten Art sind unheilbaar, eher könte man einen Men-
schenFeind zu rechte bringen, als eine faussete. Das böse im character
muß auf Grundsätzen beruhen, nach welchen wenn sie ins Werck gesetzt würden,
das Böse in der Welt allgemein werden müste. z.B. der gemeine Mann muß
nichts haben, denn läßt er sich beßer regieren. Käufer thun die Augen auf,
alle Menschen sind insgeheim Bößewichter, und Tugend ist ein falscher Schein p.p. der
gute Charackter kommt nicht von Natur, sondern muß erworben werden. Man
hat zwar die Anlage dazu, aber diese Keime der Natur müßen cultivirt
werden, durch Verstand und Vernunft, damit Grundsätze heraus kommen.
Die Erwerbung des guten characters beym Menschen geschieht durch Er-
ziehung, so wie der natürliche character auf Grundsätzen beruhet, so
ist die gründung des weiblichen «Geschlechts» characters das Gefühl der Ehre.
Der Mann sagt immer: was werden die Leute dencken? Die Frau was
werden sie sagen. Der Mann muß im character eine Festigkeit nach
Regeln haben, um sich nicht Geringschätzigkeit zu zu ziehen, dazu muß
das eigene Nachdencken hinzu kommen, um bey der Erziehung eingeschlichene
Fehler zu vertilgen. Uber Grundsätze muß man nachdencken, und damit
seine Unternehmungen ausfehlern, wenn man einmahl Grund-
sätze gefaßt hat, so muß man diese Annehmungen recht feyerlich
und solenn machen. Einmahl angenommene Grundsätze muß man
immer vor Augen haben, und den muß man den Menschen dahin zu brin-
gen suchen, daß er sich nicht selbst verachte.

/Man muß Bescheidenheit nach Instinckt und nach Grundsätzen unter-
scheiden. Die erste zeigt sich darin, daß man um eines Freundes willen
ehrlich aber auch falsch ist. Es heißt aber Amicus usque ad aram. Mann
kann auch Gutartigkeit des Instinckts von der Gutartigkeit des Charackters
unterscheiden, dergleichen ist das Wohlwollen und Mittleiden. Eine Bösar-
tigkeit des Instinckts wird wohl angeboren, aber nicht ein böser Charackter.

/Ein und eben derselbe Mensch kan einen guten Privatcaracter haben

/ und

|P_311

/und taugt doch nichts im publiquen Leben, und das zeigt einen bornirten
Menschen an. Selbst in der Religion ist Gewißenhaftigkeit die eigentliche
Religion der Denckart, devotion liegt oft nur in der Manier. Simplicitaet
ist ordinair nur ein äußerer Anstand; der gute character aber, der ohn alles
Geziere ist, findet sich nur bey Personen, die sich ihres innern Werths recht
vollkommen bewust sind. Wenn die Natur einem nicht Anlage zum caracter
gegeben hat, so ists außerordentlich schwer, sich einen zu erwerben. Ein
Mensch ohne character macht nie eine Person, sondern bey jeder Gelegen-
heit ist er ein anderer Mensch. So muß ein Mensch Grundsätze faßen. z.B. in
Ansehung seiner Ausgaben.

/Ein Intereße verdirbt immer unser Verstands_Urtheil, und benimt
uns die Unpartheilichkeit

/ ≥ Charackter der Nationen

/Die Verschiedenheit der NaturGaben bey den so mannigfaltigen Nationen,
kan doch nicht völlig aus gelegentlichen Ursachen erklärt werden, sondern
muß doch wohl in der Natur des Menschen selbst liegen, weil diese Ver-
schiedenheit auch oft unter einerley Umstände statt findet. Diese gelegent-
lichen Ursachen sind

/1. Physische, dahin gehören die Climata und Landesproducte

/2. Moralische. Wenn ein Volck sich auf keine Weiße in Jahrhunderten per-
fectioniret, so ist es zu glauben, daß es in ihnen schon eine gewiße
Naturanlage gibt, welche zu übersteigen es nicht fähig ist. Dahin ge-
hören die Indianer, Perser, Sineser, Türcken, und überhaupt alle
orientalische Völcker. Jedoch können wir hier blos dem speculativischen
Interesse der Vernunft folgen, und müßen das pracktische aufgeben.

/Die Quellen woraus man alle Volcker characterisiren kann sind folgende:
Naturell, Geist. Instinckt, und Disciplin. Zu den eigentlichen Characktern
gehöret Naturel und Instinckt, woraus Affecten entstehen, Geist aber nicht
@d@isciplin oder Zucht, denn diese ist nur negativ und eigentlich daß, was den
bewegenden Kräften Grentzen setzt. Der Charackter vom niedrigsten
Range ist: viel Naturell und viel Disciplin. Dieser ist der deutschen Nation
eigen, welche aber doch auch Geist haben. Von höherer Art würde seyn:
viel Instinckt und Geist, allein viel Instinckt ohne disciplin zerrüttet
alles, hingegen Naturell, Gelehrigkeit, scheint eben nicht viel disciplin nöthig

/ zu

|P_312

/zu haben, Geist, d.i originalitaet des Talents zum «Kopf» Naturell hinzu
gethan, macht einen großen Kopf. Alle tartarische Nationen haben viel
Instinckt, aber wenig disciplin, und bleiben daher immer wild und roh. E@s@
mag ihnen vielleicht auch wohl nicht an Naturell fehlen, aber der große
Instinkt hindert sie daran. Die Franzosen haben nicht so viel disciplin
als die Deutschen, aber etwas mehr Geist. Die Indianer haben sehr wenig
Instinckt aber viel Naturell und disciplin. Jedoch haben sie uns die
wichtigsten und mehrsten E«@mp@»rfindungen geliefert. z.B. die Schreibkunst,
die Art mit 10 Ziffern zu zählen, und selbst das Schiespulver, welches in
Indostan eher bekannt war als in Europa. Die Griechen haben wenig
disciplin

/Franckreich ist das Land des Geschmacks im Umgange. d.i. der Conduite.
Lebhaftigkeit ist «bey» das bey ihnen, was bey andern Völckern affect ist.
Leichsinn ist bey ihnen gantz zu Hauße, d.i. sie mögen nicht gerne in
einem Zustande beharren. Die Redseeligkeit ist bey ihnen außerord@ent@-
lich zu finden; daher reden sie auch zuweilen; was nicht zur Sache
gehort; die Ausschweifungen die ihnen ihre eigenen Autoren vorw¿¿-
fern, sind vorzüglich frivolité, welches ein gewißer Muthwille ist,
Sachen zu vergrößern oder zu verkleinern. Point d'honneur und Galan¿-
terie sind 2. Erfindungen der Franzoßen, die letzte ist vorzüglich
die delicatesse des Frauenzimmers. Etourdi ist eine Art von Dreist@ig@-
keit und ist bey den Franzoßen der Effect der Lebhaftigkeit. Dies a@lles@
sind aber extreme der Lebhaftigkeit. Die Conduite ist nirgends so all-
gemein als in Franckreich; besonders ist an den Franzosen die leicht@e@
Manier zu rühmen. Das Frauenzimmer ist gar nicht häußlich, aber
es ist auch nirgends so cultivirt als in Franckreich. Die Franzoßen
sind nicht gastfrey; aber ungemein willfährig den Fremden einige
kleine Gefälligkeiten zu thun. Sie haben viel Naturell und Geist,
aber weniger Instinck, und noch weniger disciplin. Das point d'honneur
welches bey ihnen zu unzähligen duellen Anlaß giebt, ist nicht ein wahre¿
Ehrbegriff; sondern nur etwas wodurch man sich Ansehen verschaffen
will. Die Titel welche zur Unterscheidung der Dinge dienen, bringen ein@e@
Sprache hervor welche sehr weitläuftig ist, und einen großen Reichthum an
Wörtern zu intellectuellen Begriffen hat, worinnen Grade die größte Schön-
heit der deutschen Sprache besteht: Mann kann Franckreich das Land der Moden nennen
denn dazu haben sie einen starcken Hang.

|P_313

/Der Geist der Ordnung ist dem Deutschen eigen. Daher haben sie auch
so viel Titel %.und Benennungen. Bey dem Deutschen ist mehr Naturell als
Genie, und mehr Disciplin als Instinkt. Der Deutsche zeigt mehr Urtheils
kraft, als Geist und ErfindungsKraft. Bey den Franzoßen findet das Ge-
gentheil statt. Die Deutschen haben einen großen Hang zu Gebräuchen; die
Franzoßen zu Moden. Es fängt etwas denn erst an, Gebrauch zu seyn, wenn
es aufhort Mode zu seyn. Der Deutsche ist sehr gastfrey, der Charackter
der Deutschen, wird von einigen in Phlegma gesetzt; er hängt nicht so sehr
an sein Vaterland, und das zeigt schon ein aufgeklärtes Volck an. Beson-
ders zeichnet er sich durch geduldige Arbeiten seine Gelaßenheit aus; er
schickt sich gut in reformen, und läßt sich leicht despotisch beherrschen.
Deutschland ist das Land der Complimenten.

/Von dem Spanier ist es schwer einen Caracter zu entwerfen. Sie wollen nicht
gerne von den Mohren abstammen, daher sie gerne von Gothen abstammen
wollen, ob sie sie gleich nicht sehr hoch achten, sie sind voller Ceremonien, daher sie
die grösten Feinde von den Franzosen sind. Die Spanier sind in Wißenschafften noch
«¿och» einige Jahrhundert zurück, weil sie nichts von andern Nationen annehmen wollen.
Sie sind wahre Antipoden von den Franzosen in Ansehung der LebensArt. Doch ha-
ben sie viel Lebhaftigkeit. Sie tanzen aber immer fast einen Tantz, welcher gon-
¿ora heißt. An Geist fehlt es ihnen gar nicht, allein aus ihrem Stoltze, nach welchen
sie sich für die Vornehmsten und geschiktesten halten, entspringt auch zugleich die
Faulheit, welche gemeinhin mit jenem verbunden zu seyn pflegt. Jedoch komt es
in dieser Absicht sehr viel auf die verschiedenen Gegenden von Spanien an. Denn in
denjenigen Distrikten die an Franckreich gräntzen sind auch schon sehr viele Sitten und
Charackter der Franzosen angenommen, selbst in Madrid wo der Hof ist. Allein im Neu
Kastilien und in den Asturischen Gebürgen findet man noch Spanier vom rechten Schla-
ge, die sich für Abkömlinge der alten Gothen ausgeben (wie sie denn alle glauben von
einer noblen Herr{_schafft_→_kunft_} zu seyn) und daher gantz gravitaetisch in schwartzen
Kleidern und mit Brillen einher gehen. Unter den Spaniern überhaupt lernen
nur sehr wenige fremde Sprachen. Es ist das Land der Ahnen.

/In England. gehen die Kentniße bis auf den gemein<st>en Mann. Die Ursache davon
sollen die Zeitungen seyn, welches vorzügliche Producte des Witzes sind. Diese Zei-
tungen lesen auch die Domestiquen. Der Haß gegen alle Nachahmung und der
Hang zur Originalitaet ist ihnen gantz eigen, und macht sie störrig und zu Fein-
den von Ceremonien und Höflichkeit. Der Engländer verachtet den Franzosen
den er ist ihm zu leicht, und ahmt zu sehr nach; sie sind gastfrey; sie sind

/ stoltz

|P_314

/stoltz auf ihre Unabhänhigkeit, %und die Franzosen auf die Macht ihres Königs. Die Engländ@i@-
sche Nation reiset sehr und verachtet immer fremde Länder; sie hat keinen Geschmack
allein sie ist auch die einzige, welche jedes Werck zur «Prof» perfection bringt: sie macht nicht@s@
als was zweckmäßig ist. In ihren Schrifften findet man viel Witz, der aber vorzüglich daher
schätzbar ist, weil er von großen Inhalt ist, und nicht so wohl seiner Leichtigkeit wegen. Es ist
das Land der Launen.

/Die Italiäner scheinen die Mittelstraße von den Spaniern %und Franzosen zu halten; sie haben me@hr@
Affect als die Franzosen, %.und mehr wahre Geists-Stärcke. Sie haben mehr Geschmack an der Kunst; daher
legen sie sich in sonderheit auf die Künste. Die Gegenstände der öfentlichen Bewunderung sind Mahler@ey,@
Architektur, %und Bildhauerkunst. Die Erfindung der Italiäner muß immer nach dem Geschmack der
Vornehmen und civilisirten gestimmt seyn. Sie haben sehr viel Geist und talente. Man findet
überhaupt{_,_} daß diejenigen Nationen, in derer Sprache die lateinsche starcken Einfluß {_hat_} sehr viel
Cultur {_besitzen_}. Das komt vornehmlich von den Römern her; diese Volcker sind insonderheit die Franzosen,
Italiäner, Engländer, und Spanier. Italien ist das Land der Schlauen.

/Die Pohlen und Rußen scheinen keiner rechten Civilisirung fähig zu seyn. Beyde sind @sla@-
vischen Ursprungs. Die Pohlen wollen Freyheit und keine Gewalt, welches Begehren doch abge-
schmackt ist. Pohlen ist das Land der Prahler. Rußland das Land der Tücke

/Aufgeklärt und von extendirten Begriffen zu seyn, sind große Lobsprüche für ein Volck, ab¿¿
auch sehr von einander zu unterscheiden. Den es kan ein Mensch der recht viel gelernt hat, doch
noch immer {_reich_→_eng_} an Begriffen seyn, und viele kommen zwar zu Kentnißen, aber nicht zu Be¿-
griffen. Leute von eingeschränckten Begriffen sind stoltz und voll Eigenliebe. Die Englander ha@ben@
unter allen Völckern die ausgebreitesten Begriffe. Ein Mensch von solchen extendirten Begrif@fen@
wird immer um das allgemeine Weltgantze beschließen, und sein bestes zu befördern such@en@
nicht blos an die Wohlfarth seiner Familie, und dem engen Bezierck seines Vaterlandes sich
angelegen seyn laßen, sondern für das Heyl des menschlichen Geschlechts zu sorgen, und daher
kein strenger Patriot seyn, deßen Ruhm auch in der That nicht viel zu bedeuten hat. Im Evan¿-
gelio wenn es recht verstanden wird, liegt der ausgebreiteste Begriff, alle Menschen glücklich
zu machen, und schon deswegen verdient daßelbe alle Achtung.

/Ein aufgeklärtes Volck ist daß, worinnen einzelne Personen für sich dencken, und nicht andere f@ür@
sich dencken laßen. Wenn das publicum anfängt auf das Acht zu haben, was sie interessirt; so ist
dieses ein Kentzeichen eines aufgeklärten Volcks, worinnen das vorzüglichste das französische ist. Hi@n@-
gegen die rusische Nation ist wohl disciplinirt, auch einiger maaßen cultivirt, doch mehr was d@ie@
capacitaet, als facultaet betrift, hingegen noch gar nicht civilisirt, und noch weniger als irgen@d@-
ein Volck in der Welt moralisirt. Eben daher weil ihre Begriffe noch gar nicht extendirt sind haßen
sie alle Nationen außer die Engländer. Es ist noch besonders, daß gewiße Nationen sich vor andern, ¿¿
wohl auf keine vortheilhafte Art auszeichnen, und zwar vornehmlich dadurch, daß ihr Gesinde
Nicken hat. Diese zeigen von einer boshaften und niederträchtigen Denckungsart, und bestehen
überhaupt in dem Wiederwillen gegen einen Befehl, sind aber lange nicht so schlim als die {_@Türcken@_→_Tücke_}
welche nichts anders als ein Groll sind wieder den, der Gewalt über uns hat.

/Soll man verschiedener Menschen raçen annehmen, die verschiedene Stämme haben? Alsdenn
müßte Gott verschiedene erste Menschen nehmlich für jede raçe ein besonderes Paar geschaffen
haben. Wir haben keinen Grund das anzunehmen. Wenn wir eine Art Blumen oder Früchte

/ auf

|P_315

/auf verschiedene Erdboden, auf verschiedene Art pflantzen; so bekommen wir verschiede-
ne Arten von Blumen und Früchten heraus. So kan auch ein Menschenstamm den gantzen
Erdboden bevölckert haben, und gelegentliche Ursachen können sie verändert haben.
Alle Arten von Menschen sind, wenn sie sich begattet haben mit einer andern raçe gantz
fruchtbar. Dies macht uns glauben, «daß macht uns glauben,» daß sie aus einem Stamm herkommen.

/ ≥ Es sind auf Erden 4. Racen; diese sind ≤

/1) Das Volck der Amerikaner nimt keine Cultur an. Es hat keine Triebfedern, denn es fehlt
ihnen an Affect %und Leidenschafft. Sie sind nicht verliebt, folglich auch nicht fruchtbaar. Sie spre-
chen fast gar nichts, lieben sich auch einander nicht; sie sorgen für nichts und sind faul, sie schmin-
cken sich ins häßliche

/2.) Man könte sagen. Die Race der Neger. ist gantz das Gegentheil von den Amerikanern,
sie sind voll Affect und Leidenschafft, sie sind sehr lebhaft, schwatzhaft und eitel. Sie
nehmen eine Cultur an, aber eine Cultur der Knechte. d.i. sie laßen sich tressiren. Sie haben
viele Triebfedern, sind dabey empfindlich, und haben große Furcht vor Schlägen. Sie thun
viel aus Ehre. Von alle dem aber hat der Amerikaner nichts

/3. Der Indianer. hat zwar Triebfedern, doch hat er einen großen Grad von Gelaßenheit, %und
alle sehen wie Philosophen aus. Demohngeachtet sind sie doch zum Zorn und Liebe sehr
{_zernigt_→_geneigt_}. Sie nehmen eine Cultur im Höchsten Grade an, aber nicht zu Künsten nur zu
Wißenschafften; bis zu abstracten Begriffen bringen sies nie. Ein Indianischer großer
Mann ist der, der es recht weit in der Betrügerey gebracht hat, und der viel Geld hat.
Die Indianer bleiben immer wie sie sind, weiter bringen sies nie, ob sie sich gleich weit
eher zu cultiviren angefangen haben, als irgendeine Nation.

/4. Die Raçe der Weißen hält alle Triebfedern {_«in sich»_}, und talente in sich, daher muß
man sie {_et_}was genauer betrachten; Oben ist dazu Kentniß gegeben. Zu der Raçe
der Weißen gehöret gantz Europa. Die Türcken, auch sind die {_Kalekuten_→_Kalmucken_}, als
einmahl revolutionen entstanden sind, ein Halbschlag von den Weißen, woran die In-
dianer, Amerikaner, und Neger keinen Theil gehabt haben. Unter den Weißen
könte man die Eintheilung des orientalischen und occidentalischen Schlages machen.
Letzterer begreift die Celtischen, germanischen, und sklavonischen Volcker in sich;
ersterer die Tartaren und Kalmucken. Es giebt noch ein 3ten Schlag nehmlich
den Finnischen, der orientalische Schlag ist langsamer zur Cultur als der andere.

/ ≥ Vom Charackter des Geschlechts. ≤

/Es ist ein Grundsatz der faulen Vernunft, alles für einerley anzunehmen und so machens
auch manche bey den beiden so sehr verschiedenen Menschen-Geschlechtern. Je mehr wir
die Natur studieren, um desto mehr entdecken wir Mannigfaltigkeiten, und auch zugleich die
vollkommenste Einheit der Verknüpfung, kurtz alles was in der Natur liegt ist gut, dem
sie ist der Maaßstab des Guten. Um den gantzen Menschen zu studieren, dürfen
wir nur auf das weibliche Geschlecht unser Augenmerck richten, denn da wo die Kraft
kleiner ist, ist das Werckzeug selbst um so viel künstlicher. Die Natur hat in dieses
Geschlecht keine natürliche Anlage zur Kunst gelegt. Der Mann war gemacht über die

/ Natur

|P_316

/Natur zu gebieten, und das Weib den Mann zu regieren. Zum ersten gehört viel
Kraft, zum letzten aber viel Geschicklichkeit. Die Keime die in der Natur liegen
entwickeln sich nur nach Gelegenheit der Umstände. Daher können wir nur in dem
Zustande, wo alle nur denkliche «Regeln» Reitze verborgen liegen die Natur entfal-
tet sehen. Folglich werden wir auch, um die weibliche Natur recht zu entdecken, und
ihre Triebfedern zu bestimmen, dieselbe in keinem andern als in ihrem gesitteten
Zustande zu erwägen haben. Den im rohen Zustande der Wilden sind die Männer
gar nicht von den Weibern unterschieden, da auch selbst ihr großer Einfluß auf
das mänliche Geschlecht wegfällt. Hingegen im gesitteten Zustande verhält es sich
gerade umgekehrt, weil hier das weibliche Geschlecht auch zugleich die Ursache des
verfeinerten Zustandes ist. Die Weiblichkeiten nennt man Schwächen, wenn sie
der Mann an sich hat. Hingegen beym Frauenzimmer sind diese Schwachen (wenn
mann sie in dieser Absicht noch zu nennen das Recht hat) gar kein Tadel; sondern
sie sind grade die Werckzeuge wodurch das Weib über den Mann herrscht. Hinge-
gen Männlichkeiten beym Frauenzimmer sind immer etwas unschickliches. Das
weibliche Geschlecht ist furchtsam in Ansehung der Gefahr, und daß ist mit Fleiß
von der Natur in sie gelegt; weil die Natur ihnen ihr teurstes Pfand das Kind
anvertrauet hat. Es sind diese Weiblichkeiten auch in der That Schwächen derer
sich ein Frauenzimmer gar nicht zu schämen hat. Über diese Schwächen zu spotten
heist eigentlich seiner selbst spotten, daß man sich durch diese Schwächen einneh-
men läßt. Der Zweck der Natur bey der Vollkommenheit der Verknüpfung
zwischen 2. verschiedenen Geschlechtern

/1) Um die Art zu erhalten

/2. Um den gesellschaftlichen Zustand im menschlichen Geschlecht zu befördern.

/Nach dieser Voranschickung ge«g»hen wir zu dem Charackter dieser beyden Ge-
schlechter selbst fort. Der Mann ist leicht zu erforschen. Es ist eine Schwäche
des Mannes, daß er sich von der Frau leicht etwas ablocken und überreden
läßt; das weibliche Geschlecht kan ihre Geheimniße gar wohl verbergen, nur
anderer Geheimniße nicht leicht. Der Mann ist ziemlich unachtsam in {_Betrachtung_→_Beobachtung_}
anderer und nachgebend, selbst gegen das Urtheil fremder Personen; auch leicht
zu überreden, von seinen Vorsätzen abzugehen, Hingegen beym Frauenzim-
mer ist es grade das Gegentheil. Der Mann liebt immer den Hausfrieden, wenn
er auch noch so streitbar außer Hauße ist, und das komt wohl daher, weil er
das Hauß für seine Ruhestädte ansieht. E{_s_→_r_} verliert aber dadurch viel beym
Weibe. Aber wenn der Mann gleich alles einräumt: so scheut die Frau im Ge-
gentheil den Hauskrieg nicht, sondern sieht ihn als eine Motion an: überhaupt
ist die Versöhnlichkeit dem Manne mehr als dem Weibe eigen

/ Die

|P_317

/Die Neigungen zur Veränderung sind, wie Pope sagt die vornehmsten Neigungen
des Frauenzimmers. Die Erfahrung bestätiget es auch, das der Theil am mehrsten
Neigung zum Herrschen hat, welcher alles verliehren wurde, wenn er beherrscht
werden möchte. Daher räumen wir auch gern die Herrschafft über uns dem
andern Geschlecht ein, und fodern dieselbe gern von ihnen, ja wir affectiren auch
oft eine Neigung zu einem Frauenzimmer, um ihr nur die Macht in die Hand zu
geben über uns zu herrschen

/Die Galanterie ist der 1te Anfang zu einem verfeiner«¿»ten %und gesitteten Zustande
Hier müßen wir aber Sitten von Tugend gar wohl unterscheiden. Bey den
Deutschen haben die Weiber von je her, selbst da sie noch in den Waldern wohn-
ten, einen sehr großen Einfluß auf die Männer gehabt. Hieraus können wir
schließen, daß diese doch lange nicht so roh und ungesittet müßen gewesen
seyn, als jetzt die Wilden im Orient sind, wie den auch überhaupt Volcker die in
den Städten wohnen, doch immer mehr gesittetes zeigen als Nomadische Nationen

/Das weibliche Geschlecht kann auch nur immer nach dem Maaße als die Man-
ner verfeinert und gesittet sind, einen Einfluß auf sie haben. So lange der Mann
noch nicht an die Gesellschafft mit Frauenzimmern gewöhnt ist, pflegt er beständig
eine niedrige Meynung an sich in Ansehung ihres Urtheils zu haben, weil er
glaubt daß nichts ihren kritischen Augen verborgen bleiben könne. Hingegen
sind Frauenzimmer mit Männern in Gesellschafft immer sehr frey, weil
sie sich gar nicht von dem strengen Urtheil derselben fürchten, und erheben
eben dadurch ihre Schwächen, die sonst einen genauen Beobachter sehr leicht
ins Auge fallen könte. Überhaupt würcken die Verdienste des Mannes beym
Frauenzimmer lange nicht so viel Achtung, als die Verdienste des Frauen-
zimmers beym Mann. Aber der Mann ist mit dieser Art von Stoltz beym
Frauenzimmer, nach welchen Sie Sicherheit zeigt zu gefallen, immer recht
wohl zufrieden. Daher auch die Höflichkeit gegen das Frauenzimmer diesen
Stoltz bestärckt.

/Das Principium oder der Gesichtspunct, worauf wir alle Schwäche des Frauenzim-
mers (doch nach der größten Weisheit der Natur eingerichtet) finden, ist dieser: die
Natur hat dem Schooße des weiblichen Geschlechts, die Art das menschliche Geschlecht
zu erhalten eingepflantzt, «nun»um dieses Geschenck der Natur nun treulich zu
bewahren, ist in demselben auch zugleich eine Furcht vor alles was Gefahr
bringt, gelegt, welche sie aber so behutsam macht, und abhält etwas zu
wagen, was mit Gefahr verbunden wäre, die Art zu zerstören. Daher
wird man auch nie, so gar unter den wilden Volckern das Frauenzimmer
in den Krieg ziehen sehen, und alles was in dieser Absicht von den Amazonen
gesagt wird, ist sicherlich das Hirngespinst eines Fabeldichters

/ Was

|P_318

/Was den Geschmack anbetrift so hat das Frauenzimmer gar viel Beurtheilung davon
aber wenig Neigung darzu, so daß man mit Recht sagen kann: der Mann sey viel delicater
in der Wahl als das Frauenzimmer. Der Grund davon liegt in der Sache selbst. Denn da das
weibliche Geschlecht gesucht werden sollte, so mußte es auch nicht so delicat im Geschmack
seyn als der Mann, der sich eine Person die ihm anstehet aussuchen kan. Auch ist
ein Geschlecht vor den Geschmack des andern gemacht, nun ist der Mann gröber ge-
macht, also hat das Frauenzimmer immer einen {_andern_→_gröbern_} Geschmack als der Mann,
da das Frauenzimmer ein Gegenstand des Geschmacks ist: so bemüht sie sich nur zu gefallen,
sucht aber nicht so sehr was ihr gefällt. Und die Frau muß auch im Ehestande zu gefallen suchen,
und hierüber kan keiner eyfersüchtig seyn, denn das ist ungerecht. Man behauptet mit Recht
daß der Mann mehr wahre Zärtlichkeit besitze, als die Frau; denn diese fordert er soll ih-
rentwegen Ungemachlichkeiten ausstehen. Diese nun nimt der Mann auch {_Zorn_→_gerne_} über sich um
die Frau nur zu befriedigen; folglich muß das mänliche Geschlecht in Ansehung einer empfindsamen
Zärtlichkeit in der That einen Vorzug vor dem weiblichen haben. Hingegen in Ansehung der Ver-
zärtelung behauptet dieses den Rang vor jenen. Wir haben aber schon gesehen, daß die Empfind-
samkeit eine Stärcke, Empfindlichkeit aber eine Schwäche ist. Das 1te besitzen die Männer. Das 2te die Wei-
ber. Das weibliche Geschlecht ist weigernd, das männliche bewerbend; hievon liegt der Grund darin,
daß jene suchen, diese aber gesucht werden sollen.

/Der Mann ist nur den eifersüchtig, wenn er verliebt ist; oft entsteht die Eifersucht des Ansehens
%.und Standes wegen, oft aber auch aus Liebe. Unter sich ist das Frauenzimmer lange nicht so verträglich
als der Mann. Eine Toleranz in der Ehe gereicht dem Manne jederzeit zum Schimpf, und der Mann wird
eben so mit Spott belegt, wenn er der beleidigte Theil ist, als mit Tadel wenn er der beleidigende ist,
weil in beyden Fällen der Mann doch «nur» immer Schuld hat. Die Intolerantz der Männer ist der
gantze Vorzug der Ehe, den sonst ist der Zweck verfehlt; denn der Mann will ein exclusiver Besitzer
eines Frauenzimmers seyn, und wenn keine Eyfersucht im männlichen Geschlecht statt fände: so wür-
de aus eben dem Grunde keine Ehe statt finden.

/Dem weiblichen Geschlecht scheint nicht etwas als Pflicht vorgetragen werden zu müßen, sondern
nur aus dem Punkt der Ehre. Die Ursach daß sie nicht gerne von Pflicht hören, ist weil sie eine Neigung
zum Herschen haben. Das Principium der %männlichen Sitten ist nur Tugend; der %.Weiblichen aber Ehre, und was die
Welt thut, thut sie auch. Die Zärtlichkeit der Männer ist großmüthig. Die Zärtlichkeit des Frauenzim-
mers aber empfindlich. Die Ehre des Mannes besteht darin, was die Leute dencken; des Frauenzimmers aber
was «die Leute reden» sie sagen. Das Frauenzimmer putzt sich gemeiniglich für das Urtheil anderer
Frauenzimmer. Mit dem Mann ists gemeinhin umgekehrt. Mänlicher Verstandt geht darauf, was die
Sachen sind, %weiblicher wie sie scheinen; und wie sie current sind. Die Frau soll herrschen %und der Mann reg@ieren.@
Denn die Neigung herscht, und der Verstand regiert. Eine Herrschafft erlaubt Launen, die aber nicht beym
Verstande statt finden. Die Häuslichen Gesetze schreibt der Mann vor, wobey er aber alles so veranstalten
muß, daß die Frau immer das Ansehen der Herrschafft behält. So herrschen die mehrsten Printzen,
aber die Minister regieren. Das Frauenzimmer ist nicht freygebig, es läßt auch nicht, wenn sie
es ist. Der Mann verdient, die Frau erspart. Die Frau sucht das häusliche Interesse, der Mann ist
fähig das öfentliche zu suchen. z.B. Hiobs und Socrates Weiber die so böse verschrien wurden, scheinen
ein paar wackere Weiber gewesen zu seyn, die auf Häußlichkeit drangen, und das unnütze Klagen
und Studieren eingestellt wißen wollten. Es ist auch eine Eigenschafft des Frauenzimmers beredt

/ zu seyn.

|P_319

/beredt zu seyn, nach welcher sie von dem, wovon sie wenig verstehen, viel %und wichtiges
mitreden können. Das Frauenzimmer als das weigernde Geschlecht muß dreist seyn, dies
rechnet man mit zur Galanterie.

/Das Vergnügen im Hauße muß man der Frau überlaßen, aber die Ehre und Ruhe deßelben
ist die Angelegenheit des Mannes. Hume bemerkt in seinen philosophischen Versuchen, daß das
Frauenzimmer eine Satyre auf ihr Geschlecht sehr wohl aushalte, aber nie einen Spott auf
den Ehestand ertragen könne, und selbst alte Jungfern dencken so. Die Ursache liegt unstreitig
darin, durch die Ehe wird das Frauenzimmer auf ein mahl frey, da es vorhero im ehelosen Zustande
entsetzlich vom Anstande gequälet wurde. Hingegen verliehret der Mann durch eben diesen
Stand seine Freyheit. Daher nimt man es auch dem Manne nicht übel, wenn er unverheyra-
thet ist. Hingegen einer schon erwachsenen Frauensperson gereicht bey uns der eheloose,
und im Orient der Kinderloose Zustand zum grösten Vorwurf. Oder die Ursach von Humes
Bemerkung kan auch diese seyn. Das Frauenzimmer denckt immer daß die Neigung zum
Geschlecht nicht vergehen wird, aber daß die Lust zum Heyrathen wohl vergehen könne, und daß
sie Hernach als BuhlSchwestern angesehen werden möchten, wenn keine Heyrath statt fände.

/Da der Ehestand ein ausschließender Besitz des Gegenstandes der GeschlechtsNeigung ist: so ist
auch die Eyfersucht, welche der Tolerantz entgegen gesetzt ist gantz natürlich. Ja eine Frau
wird sogar ihren Mann haßen, der nicht eyfersüchtig ist, weil dieses ein gewißes Kentzeichen
ist, daß er sich nicht viel aus ihr macht.

/ ≥ Charackter der gantzen Menschen Gattung

/Gehört der Mensch zu den 4.füßigen Thieren oder nicht? Es finden sich viele Ursachen zu vermuthen
daß er zu Anfange auf 4. Füßen gegangen (aus der Anatomie.) aber es läßt sich doch nicht glau-
ben, weil die Arme kürtzer sind als die Füße, und die Knie nach vorne gebogen sind, da sie
bey andern Thieren hinterwärts stehen

/Ist der Mensch mit dem Ourang-outang verwandt? Von außen sieht er ihm sehr ähnlich,
allein sein KnochenBau ist gantz von ihm unter{_@schrieben@_→_schieden_}, und alles übrige. Also könte man
%dergleichen Vermuthungen bey Seite setzen

/Ist der Mensch Kräuter- oder ein Fleischfreßendes Thier? Der Mensch hat wie andere Fleisch
freßende Thiere einen häutigen Magen, aber die Pflantzenfreßende Thiere haben einen muskuloe-
sen Magen. Dem Magen nach ist der Mensch also ein fleischfreßendes Thier. Man findet bey den Völ-
kern die lauter Vegetabilien aßen, sehr schwache Menschen, %und ebenfalls unter den Thieren die Kräuter
freßen, nur sehr schwache. Also könte eigentlich der Mensch das Mittel zwischen Kräuter und fleischfreßen-
den Thieren seyn

/Die Entdeckung was für Keime in der Menschheit verborgen liegen, gibt uns zugleich die Mittel an die Hand
welche wir anzuwenden haben, um die Auswickelungen dieser innern Anlagen zu beschleunigen. Ohngeachtet
der Einheit der Menschen Gattung{_,_} ist{_«,»_} doch eine Verschiedenheit der Raçen, %.und die characteristic davon in der physischen
Geographie.

/Wenn der Mensch dazu berufen war, daß er selbst der Uhrheber aller seiner Geschicklichkeit %und Guttar-
tigkeit durch Entwickelung seiner innern Anlagen werden sollte, so müßen wir so weit wir kön-
nen, in die erste Zeit zurück gehen, um uns die rohsten im ersten Zustande zu dencken

/ %.Natürlich

|P_320

/Natürlich, muß dieses nun der seyn, der nur das minimum der %menschlichen Bedürfniße
enthält. Die ersten Geschik<lich>eiten, die wir auch bey de«r»n rohsten Menschen finden, sind gehen
und reden. Wie hat der Mensch %sprechen %gelernt? Die Sprache des Menschen scheint dadurch
entstanden zu s«¿¿»eyn, daß der Mensch seine Empfindungen durch Töne habe ausdrücken wollen,
daher findet man daß die Töne gemeinhin mit den Empfindungen übereinkommen. Mit dieser
Fähigkeit schon begabt könte er nicht in die Weltz gesetzt werden. Den sonst hätte er auch schon
alle Begriffe haben müßen, wovon die Worte nur Zeichen sind. Der Mensch hat also die Sprache
nur nach und nach erfunden, so wie die Vögel singen und die Hunde bellen gelernt haben. Den
eben so wenig als den Vögeln der Gesang angeschaffen ist, weil er sonst auch angeboren seyn müste, wel-
ches aber der Erfahrung wiederstreitet, eben so wenig kan daß auch von der Sprache des Menschen gelten.
So bald der Mensch gehen und reden könte, legte er sich auf die Jagd, und sodann auf die Erziehung des
Haus Viehes, indem er dahmals wilde Thiere nach und nach zu zähmen anfieng wodurch er einen mächtigen Schritt
zu seiner Vervollkommenung that. Hierauf erfolgte die Erfindung der Metalle und besonders des Eysens, welches
einen sehr große Bewegung unter Menschen und Thiere muß gemacht haben: nachhero wurde die Schreibekunst
und endlich das Geld erfunden.

/Bey den Thieren erreicht jedes individuum seine Bestimmung, hingegen beym Menschen kan nie ein einzelner
Mensch, sondern nur die gantze Menschengattung ihre Bestimmung erreichen, ohngeachtet der Mensch wie ein Thier
von der Natur ausgerüstet ist (alle arbeiten für einen, und einer arbeitet für alle, da doch jedes Thier seine
Nahrung selbst suchen kan) allein aus eben «eben» diesen innerlichen Anlagen im Menschen als einem Thiere, entsprin-
gen auch alle die Hinderniße, welche sich der Ausbildung seiner humanitaet entgegen setzen, die doch sein vornehm-
ster Zweck %und Bestimmung seyn soll.

/Um auf die wahre Bestimmung des Menschen zu kommen, ist zu mercken: Der Mensch ist ein Thier, daß sich perfectio-
niren kan, da andere sich nicht selbst perfectioniren können. Das ist aber noch das wenigste, Allein die gantze Men-
schenGattung perfectionirt sich, daß ist weit wichtiger. Alles nimt immer zu an Empfindung und Vervollkommnung; al-
les komt immer seiner Bestimmung näher, und wir können hoffen daß es einmahl dahin kommen werde, daß alles
vollkommen seyn und seine Bestimmung bekommen wird, wo keine Veränderungen vorgehen werden, wo keine Staa-
ten sich stürtzen, kein Streit keine Unruhen mehr entstehen werden. Dies hat große {_Wichtigkeit_→_Ähnlichkeit_} mit dem Men-
schenAlter, und die ZwischenZeit zwischen der Mündigkeit der Natur, %und der bürgerlichen Mündigkeit eines Men-
schen, d.i. des JünglingsAlters. Die Natur macht keinen Unterscheid zwischen dem Jünglinge und dem Mann,
aber einen desto größern macht die Civilisirung, und der %.bürgerliche Zustand, daher «muß» <auch> in dem rohen Zustande
keine heyrathen nöthig «seyn» sind

/<%.Observatio 1:> Der rohe Mensch hält jeden Fremden für seinen Feind, daher den bey den Wilden der vornehmste ist, der der
tapfer ist. Aber daran ist die Furcht schuld. Eigentlich scheint die Absicht der Natur diese gewesen zu seyn, daß der
Mensch sich über den Erdboden vorbereiten möchte, welches sonst nicht geschehen seyn würde, wenn sie {_feindlich_→_friedlich_}
beysammen gelebt hätten.

/<%.Observatio 2> Der Mensch hat von Natur einen Hang sich zu verstellen. Es zeigt sich daß nicht bey den Wilden. Den jeder Mensch
hat doch gewiß{_¿_→_e_} eigne Heimlichkeiten, die kein ander wißen darf.

/Jetzt wollen wir eine Einleitung des MenschenAlters samt ihren Erklärungen führen. Ein Kind ist das, daß
weder sich selbst erhalten noch seine Art fortpflantzen kan. Ein Jüngling kan zwar seine Art fortpflantzen
auch vielleicht sich selbst, aber seine Familie nicht unterhalten. Der Mensch nun der alles daß zu thun im Stande
ist, ist ein Mann. Diese ZwischenZeit zwischen der Mündigkeit der Natur, und die %bürgerliche Mündigkeit die ohn-
gefähr erst im 30sten Jahre anfängt, da jene schon im 15 Jahre reif ist, füllt nun der Jüngling mit Lastern aus,
und daher entsteht das Böse, und auf solche Art entspringen die Ungemächlichkeiten, die beym Fortgange

/ der

|P_321

/der menschlichen Natur selbst sehr seiner Natur wiederstreiten, auch immer größer und Erheblicher
werden müßen. Ohngeachtet also die Obliegenheit auf Wißenschaften, und die Cultur der Seelen
kräfte überhaupt unsere Thierheit ruiniren, nach welcher ein Mensch ohngefehr so lange er lebt, bis
er seine Art gezeugt und erzogen: so wird doch der Mensch bestimt, daß er durch Überwältigung
diser Ungemächlichkeiten die Thierheit mit der humanitaet verbinden sollte, und es ist also wahrschein-
lich, daß obgleich jetzt das böse aus dem guten entspringt, dennoch einst, wenn der Mensch die Höchste
Stuffe der Vollkommenheit wird erreicht haben, endlich alles zusammen stimmen, %.und der Mensch durch sich selbst
so weit kommen werde, als es seiner Bestimmung gemäß ist. Ehe der Mensch disciplinirt, also noch
in dem ersten Zustande war, war er wild, ehe er sich entwickelte. d.i. seine talente cultivirte, war
er {_noch_→_roh_}, bevor er civilisirt wurde, und in eine %menschliche Gesellschafft trat, war er grob, und ehe er
moralisirt. d.i. ehe seine Handlungen aus moralischen Triebfedern entstehen werden, ist er
böse{_ b_→_. B_}isher existirt noch kein moralischer Zwang unter den Menschen, als der Zwang der Anständigkeit;
aber wir haben Grund ihn zu hoffen. Die Cultur betrift eigentlich nur die Person, die Civilisirung
betrift die Gesellschafft; die Moralisirung das allgemeine Weltbeste. Dies sind 3. Gattungen von
Fortschritten, die die Natur in den Menschen gelegt hat. In der Cultur sind wir schon weit ge-
kommen, in der Civilisirung haben wir wenig, in der Moralisirung beynahe gar nichts gethan.

/Was die Cultur anbelangt so kan man fragen

/1) was kan ich wißen? Das lehrt die Metaphysic %und Philosophie

/2) Was soll ich thun? Das lehret die Moral

/3. Was kan ich hoffen? Das lehrt die Religion

/Alle diese Wißenschafften die schon weit ausgebreitet sind, werden noch gar nicht aufs allgemeine applicirt.
Was die Civilisirung anbelangt: so sind wir zwar als Menschen, aber nicht als Bürger verfeinert.
Wir haben Sitten, aber je weiter man in Sitten komt, destoweniger bekümmert man sich um wahre
Civilisirung. Der Mensch ist nicht zu einem Hauswirth, sondern zu einem Gliede des Allgemeinen gemacht.
Was die Moralisirung anbetrift: so haben wir zwar verfeinerte Manieren, aber nicht wahre reelle«n»
Denckungsart. Jedoch auch Sitten sind schon immer gut. Die 3. Mittel zu diesen Fortschritten sind

/1) öffentliche Erziehung. Diese setzt voraus, daß das Kind von Natur gut sey, daher muß manns vor
Vorurtheile bewahren, und seine talente ausbilden

/2) öffentliche Gesetzgebung. Die negative Gesetzgebung ist sehr nöthig. Denn wenn das verboten ist
was andern schaden kan, so ist alles gut

/3. Religion. Auch diese muß negativ seyn; denn sie muß absondern, was wieder die moralitaet ist, denn
kan die positive Ausbildung folgen. Alles dieses muß zuvörderst negativ seyn; den man muß
absondern, was wieder die moralitaet ist. Der Mensch ist in allem unmündig. In Ansehung der Cultur
ist es ein Kind des Hausvaters. In Ansehung der Moralisirung und Religion ist er ein Kind des Beicht-
Vaters. Die Bedingung von allen diesen Fortschritten ist Freyheit. Aber die Menschen sind noch nicht
fähig 1. einer freyen ErziehungsArt. 2. eines freyen GottesDienstes

/Kleine Staaten und Reiche können es am weitesten in der Cultur bringen, indem auch oft große
Reiche sich zerspalten. Die Natur hat es gewollt: Der Mensch soll in einer bürgerlichen Gesellschafft
leben, folglich liegen die Triebfedern dazu in denselben. Der Mensch vereinigt sich mit andern
um sich gegen die Obermacht anderer zu schützen, daraus entstehen Famielien Gesellschafften pp.
Der Mensch ist gemacht in einer Gesellschafft zu leben, und alles Mißtrauen, welches

/ noch

|P_322

/noch jetzt bey den Menschen untereinander herscht, hat den Grund in ihrer Th«o»i<e>rheit. Im
gantzen genommen geht der Fortgang immer «b»vom bösen zum guten, nicht aber umge-
kehrt. Den da das Böse sich jederzeit selbst wiederstreitet, so treibt es uns an, ein Mittel
hervorzusuchen, um diesen Wiederstreit zu heben, und aus dieser Ursache in der
That eine Triebfeder des guten. Weil hingegen das gute mit allem vollkommen
zusammenstimt: so kan es auch nie bewegen, etwas anders, daß nicht gut ist. D.H. etwas
böses hervorzubringen, und ist folglich, wenn es nur erst recht seinen Anfang genommen hat,
ein beharrlicher Zustand. Eben so wie also das moralische Böse eine Triebfeder des Guten ist:
so ist auch das physische Übel ein Stachel zur Wircksamkeit, welcher um so viel mehr nothwendig ist,
da der Mensch von Natur träge ist.

/Im rohen Zustande findet beym Menschen eine so große Un{_ge_}selligkeit statt, welche
von der Furcht entspringt, die darin gegen einander herrscht. Daher findet nur eigentlich
in einer %bürgerlichen Verfaßung der Zeitpunckt statt, wo sich die talente des Menschen {_nicht_→_recht_} ent-
wickeln können. Dehmongeachtet ist die Civilisirung noch lange nicht der gehörige Grad
von Verbeßerung, sondern zur Bestimmung des Menschen ist es auch noch unumgänglich, daß
er seinen Charackter bestimt, wovon die Triebfedern auch in der bürgerlichen Gesellschafft
liegen, dergestallt daß der wehre Werth eines Volcks nur darin zu bestehen scheint, wenn
es dieser seiner Endbestimmung nahe komt.

/Thierheit und Instinckt zusammen findet bey den Thieren statt, und ist gantz gut
weil hier alles harmoniret. Freyheit und Vernunft, welche beyde Stücke beym Men-
schen seiner wahren Bestimmung nach statt finden sollten sind auch gut. Hingegen «und»
Thierheit und Freyheit die im wilden Zustande beym Menschen statt finden, sind die
Quellen der Triebfedern, und des Ursprungs des bösen

/Der Mensch ist ein Geschöpf daß einen Herrn nöthig hat, welchen doch nicht einmahl die
Thiere bedürfen. Die Ursache davon ist die Freyheit des Menschen, und der Mißbrauch
derselben, da hingegen das Thier gantz sicher von seinem Instinckt geleitet wird. Diesen
zE. kan nun der Mensch aus keinem andern Geschlecht, als aus seiner MenschenGattung
hernehmen, welches aber ein wahres Unglück für das menschliche Geschlecht ist, indem
eben dieser Herr den der Mensch über sich wählt, wieder einen Herrn nöthig hat.
Hierin liegt auch der Grund davon, daß eine vollkommene bürgerliche Verfaßung
aus Menschen gar nicht zu Stande zu bringen ist. Einen Menschen der keinen Herren
hat, kan man einen völlig freyen Menschen nennen, weil er auch alsdenn gewis seine
Freyheit misbrauchen würde: so könte man ihn eher einen Wilden nennen.

/Wenn der Mensch in einer Gesellschafft ist, so komt dem einen das Recht des andern in den
Weg. Hieraus entstehen denn Richter. Die Gemächlichkeiten fangen an größer zu werden, in-
dem einer immer «mehr» den andern nöthig zu haben glaubt. Davon entstehet die Un-
gleichheit der GlücksGüter, und des Ansehens. Denn findet sich eine Ungleichheit der Stän-
de, der Vornehmern gebietet, und der geringern dient: denn es ist noch keine richter-
liche Gewalt und Gesetz, es gerathen darüber die Nationen in Eyfersucht, weil einer
stärcker ist als der andere, sie gerathen in Krieg; hier müßen sie in eine

/ bürgerliche

|P_323

/bürgerliche Verfaßung treten. d.i. in eine Verfaßung da Gesetz und Ge-
walt zu Grunde liegt.

/Ein Volck ist mehr in dem Zustande sich gegen andere zu schätzen, als sich selbst
zu regieren. Hingegen ein gemeines Wesen regieret sich schon selbst und besteht
in einer systhematischen Verfaßung des Volcks, wobey ein Unterschied der
Stände statt findet. Ein Volck vereinigt in einem gemeinen Wesen so fern
es Macht hat nennt man einen Staat. Das Verhältniß der Staaten gegeneinander
ist das Verhältniß der Wilden, denn so wie diese unter keinem Gesetzgeber ste-
hen, und von allem Zwange untereinander befreyt sind, so gilt auch dieses von
jenen, indem ein jeder Staat sein eigenes Wohl besorgt, ohne einem andern
Rechenschafft ablegen zu dörfen, dieses zeigt aber offenbahr von einer noch
vorhandenen Barberey.

/Die Hauptrequisita zu einer %bürgerlichen Gesellschafft sind Freyheit, Gesetz, %und Gewalt.
Freyheit und Gewalt macht den statum naturalem aus, aus welchem die Menschen
herausgehen müßen, weil sie Vernunft haben.

/Freyheit und Gesetz ohne Gewalt, könte man die polnische RegierungsArt nennen,
eine wunderbare Grille, worauf der Adel in diesem Lande gefallen ist, die aber gantz
was wiedersinniges und wiedersprechendes enthält. Das ist der erste rohe Ent-
wurf zu einer %.Bürgerlichen Verfaßung. Gesetz und Gewalt ohne Freyheit ist der despotis-
mus. Es ist eigentliche barbarische Gewalt ohne Gesetz; doch ist dieses noch beßer,
als barbarische Freyheit, weil im ersten Zustande doch noch eine Cultur möglich ist. Die
wahre regelmäßige bürgerliche Verfaßung ist sehr künstlich, und besteht darin, daß
der Mensch so viel Freyheit hat als stattfinden kan, wenn die Freyheit andern ungekränckt
bleiben soll. Hier muß nur so viel Gewalt seyn um das Gesetz in Erfüllung bringen zu
laßen.

/Eine vollkommene bürgerliche Verfaßung ist nicht eher möglich, als bis cultivirte
Unterthanen da sind, die gar keine andere Verfaßung und Regierung leiden. Daher
muß man suchen die Menschen aufzuklären, und das Völckerrecht beßer einzurichten
z.B. der Römer %bürgerliche Verfaßung schien beßer zu seyn, als der Griechen, aber
doch war noch vieles daran nicht recht; besonders beweist daß der Streit der Plebeier
und Pabricier. Hieraus sieht man, daß vieles wovon man glaubt, daß es die Cultur
rückgängig gemacht habe ihr in der That nützlich gewesen sey.

/Die Freyheit unter einem Gesetz und mit Gesetz verbunden, besteht darin, daß die Ge-
setze so gegeben werden, als wenn sie durch allgemeine Stimmen des Volcks entstan-
den wären, diese Gesetze müßen auf alle gehen, und von allen gegeben werden
können, den verdienen sie erst den Namen von gerechten Gesetzen. Wenn Frey-
heit Gesetz und Gewalt zusammen statt finden, so ist die %.bürgerliche Verfaßung
die regelmäßigste und beste. In jedem Staat muß ferner ein Oberhaupt seyn;
dieses kan nun betrachtet werden, entweder wie ein Souverain oder Re-
gent. Nach der Natur der Sache kan nur das Volck ein Gesetz geben,

/ denn

|P_324

/denn was das gantze Volck schließt, ist gewis immer recht, weil es sein
eigner Wille ist. Nun kan aber nur der ein Gesetzgeber seyn, der im
Stande ist gerechte Gesetze zu geben. Folglich kan die Souverainitaet
nur bey dem Volck, die Regierung aber auch bey andern seyn. Die Souve-
rainitaet können wir auch die OberHerrschafft nennen, welche entweder
despotisch oder Patriotisch ist. Patriotisch nennt mann eine Regierung
wo das StaatsOberhaupt den Staat nicht als sein Gut, sondern als sein
Vaterland regieret. d.h. eine Regierung, welche für den Staat, als ein
gewißes gantzes sorget, deßen Bestes immer und nicht blos bey
Lebzeiten eines Regenten fortdauren soll. Eine Staats-Verfaßung aber
ist despotisch wenn auch das Oberhaupt die Gewalt in Händen hat.
Die RegierungsArt kan entweder despotisch oder aristokratisch
oder democratisch seyn. Ein M«ensch»<onarch> ist ein negativer Begriff, und heißt
eigentlich ein solcher, über denn keine Gewalt mehr im Staat ist,
und der folglich selbst keiner Gewalt unterworfen ist. Souverain
aber ist der welcher auch zugleich Gewalt ausüben kann. Itzt ist eben
bey uns zwischen allen diesen RegirungsArten kein %.beträchtlicher Unterschied,
weder in Ansehung der zeitlichen Wohlfarth der Nationen noch in Absicht
auf ihre Sitten. Ob aber nicht mit der Zeit eine vollkommene %bürgerliche
Verfaßung zu Stande kommen wird, läßt sich nicht eher hoffen,
als bis die Menschen und ihre Erziehung sich wird gebeßert haben.
Diese Verbeßerung «aber» scheint <aber> nicht eher vor sich «zu» gehen zu können,
als bis die Regierung selbst beßer seyn werde. Wovon man an-
fangen wird, kan man nicht errathen; vielleicht wird sich beydes einan-
der begegnen, welcher Zeitpunckt aber noch weit hinaus zu setzen ist.

/Der Gesichtspunckt, aus welchen besonders Fürsten die Staaten
betrachten sollten, muß nicht blos patriotisch sondern auch cosmopolitisch
seyn. d.i. auf das allgemeine <Welt>Beste gehen. Bürger eines Staats können
und dörfen nicht eben cosmopolitische Absichten haben, ausgenommen
Gelehrte welche der Welt«z» mit Büchern nützen können; sondern dieses
ist die Angelegenheit der Fürsten, welche aber von ihnen so sehr ver-
nachläßiget worden ist, daß es bisher noch keinen Monarchen gege-
ben hat, welcher etwas gethan hätte, wobey er das gantze Weltbeste
zum Augenmerck sollte gehabt haben. Um nun die Ehrbegierde der Fürsten
anzureitzen, solchen erhabenen Zwecken nach zu streben, und für

/ das

|P_325

/das Wohl des gantzen menschlichen Geschlechts zu arbeiten, würde eine
Geschichte, die blos in cosmopolitischer Absicht geschrieben wäre, von
erheblichen Nutzen seyn. Ob sie gleich freilich für jetzt nur sehr klein
ausfallen dürfte. Eine solche Geschichte dürfte nur das Weltbeste
zu ihrem Standpunckt nehmen, und nur diejenigen Handlungen des
Andenckens der Nachkommenschafft würdig halten, welche die
Wohlfarth des gantzen menschlichen Geschlechts betreffen. z.B.
die Schlacht des Miltiades kan man sagen gab beynahe der gan-
tzen Cultur der Menschen den Ausschlag; den wäre Griechen-
land unter die Perser gekommen, so wären die Wißenschaften
erstickt.

/δ_Textende


Stand vom: 15. 8. 2003 (Sommer 1997)
Datum: 18.04.2007 / 11.09.2013