/δBlatt_1'

/Dr Parow

/δRest_leer

/δBlatt_2

/

/≥ Immanuel Kants

/ der Logik und Metaphysik %.ordentlicher %.Professor

/ Vorlesungen

/ über

/ Die Antropologie

/δBlatt_2': δleer

|P_1

/ ≥ Vorlesungen über die Antropologie. ≤

/Die empyrische Psychologie ist eine Art von Natur-
lehre. Sie handelt die Erscheinungen unsrer Seele ab,
die einen Gegenstand unsers innern Sinnes ausmachen,
und zwar auf eben die Art, wie die empyrische Natur-
lehre, oder die Physik, die Erscheinungen abhandelt. Man
siehet also gleich ein, wie wenig diese Lehre einen Theil der
Metaphysik ausmachen kann, da diese lediglich die Concep-
tus puri, oder Begriffe die entweder bloß durch die Ver-
nunft gegeben sind, oder doch wenigstens, deren Erkenntniß
Grund in der Vernunft liegt, zum Vorwurf hat. Es kommt
aber dieser Irrthum bloß daher, theils weil die Alten noch
wenige Erfahrungen der Seele gesammlet hatten, theils
weil sie nicht wusten, wo sie dieser Lehre einen Platz geben
solten, denn sie hielten die gantze Metaphysik für
eine ausgebreitete Psychologie, weil die Seele ein Ge-
genstand des innern Sinnes, aus der Seele aber alle Ver-
standes_Begriffe entspringen. Da wir nun aber schon
eine ganze Sammlung dieser Quelle der Menschlichen Hand-
lungen, oder der mancherley Erscheinungen der Seele, be-
sonders durch die Englischen Schriftsteller erhalten
haben, so können wir diese Lehre eben so, wie die

/ Physik

|P_2

/Physik vortragen. Es ist zu bewundern, daß die
Alten nicht mehr mit Erkenntniß des Menschen sich beschäftiget
haben, ob sie gleich diese Bemühung für die nützlichste
erklärt haben. Es ist aber nichts gewöhnlicher, als daß
man das, womit man umzugehen gewohnt ist, erkandt
zu haben glaubt, %und solches seiner Untersuchung nicht wür-
dig hält. Diese Meynung welche uns eingepflanzt ist,
hat den Wißenschaften ungemeinen Abbruch gethan,
und uns die Erkenntniß vieler Dinge entzogen. Es ist
dabey zugleich anzumerken daß die Wißenschaften
eben dadurch, weil sie auf Academien in einer
gewißen Ordnung, %und abgesondert von andern Wis-
senschaften vorgetragen werden, einen großen
Zuwachs und eine große Ausbreitung erhalten haben.
Eben so geht es mit der empyrischen Psychologie, denn
so lange sie der Metaphysik angehängt gewesen,
und nicht besonders vorgetragen worden, ist sie von
sehr geringem Umfange gewesen. Sie verdient auch
einer besondern Vorlesung, theils weil sie gar nicht
in die Metaphysik gehört, theils weil sie von nieman-
den erlernt werden kann, ohne daß dazu vorgängige
Wißenschaften erfordert werden. Man kann hier
die Quelle aller Menschlichen Handlungen und die Cha

/ ractere

|P_3

/Charactere der Menschen im Zusammenhange erlernen,
die man nur hin und wieder in den Wißenschaften, Ro-
manen und einigen moralischen Abhandlungen zerstreut
findet. Man kann als denn jeden Zug der Menschheit,
den man in einer Schrift bemerkt, aus seiner Quelle her-
leiten, und auf diese Art seine Kenntniße vom Menschen
vermehren. Montaigne der vor 200 Jahren ein Buch in
altfranzösischer Mund-Art geschrieben, ist bloß darum
noch bis jezo bey einem jeden vernünftigen Gelehrten in
Achtung, weil man aus seinem Werk, den Menschen in
seinen verschiedenen Umständen kennen lernt, ob er
sonst wohl deshalb etwas unangenehm zu lesen ist, weil
er immer von sich selbst redet.

/Wir wollen auch bey Abhandlung dieser Lehre, den Men-
schen im verschiedenen Zustande erwägen ZE im rohen
und ungesitteten Zustande, nach seinem verschiedenen
Alter p %und wollen das, was bey einem Menschen Natur %und
Kunst ist, unterscheiden.

/Der erste Gedanke der bey dem Menschen, bey dem Ge-
brauch seines innern Sinnes entstehet, ist das Ich.

/Es ist merkwürdig, daß wir uns unter dem Ich so
viel vorstellen, denn bey Zergliederung deßelben finden
wir, daß wir uns unter demselben folgende Stücke
dencken.

/ 1.) Die

|P_4

/I.) Die Einfachheit der Seele, denn das Ich drückt nur
den Singularem aus, und wenn die Seele zusammenge-
sezt wäre, und ein jeder Theil den Gedanken haben möchte,
so müßte es heißen Wir denken.

/II.) Die Substantialitaet der Seele, d.i. daß das Ich kein
Praedicat vom einem andern Dinge sey, ob ihm gleich
als dem Subject, viel Praedicate beygelegt werden können,
den «Ich» ZE: wenn ich sage: ich will das, ich denke das"
so sondre ich doch alle diese Praedicate von dem Ich ab, und
betrachte mich als das Subject von dem alles dieses prae-
dicirt wird.

/III.) Eine vernünftige Substantz, denn indem ich das Ich
dencke, so empfinde ich, daß ich mich zum Gegenstande
meiner Gedancken machen kann, hieran aber äußert
sich vornehmlich die Vernunft, oder das Obere Vermögen der
Seele, daß es die untern gleichsam inspicirt, %und indem ich
mich zum Gegenstande meiner Gedanken mache, so refletire
ich über die Vermögen, die in der Seele liegen.

/IV.) Die Freyheit der Seele. Wenn ich das Ich dencke: so
sondre ich mich von allen andern ab, und dencke mich un-
abhängig von allen äußern Dingen. Eben dieses nu@m@,
daß man, wenn man das Ich nennt, sich gleichsam
zum MittelPunkt oder StandPunkt aller Dinge macht,
worauf alles seine Beziehung hat, macht, daß man

/ in

|P_5

/in Gesellschaften so ungern gesehen ist, man hört einem
solchen ungern an, der immer von sich selbst redet, und ob
man gleich zuweilen sich in die Stelle des jenigen sezen
kann, der von sich selbst redet, so thut man solches doch
ungern. Man will vielmehr haben, das keiner sich zum Stand-
Punckt aller Dinge mache, sondern von allgemeinen Dingen
geredet werde, die auf alles eine Beziehung haben. Daher
es auch als eine Höfflichkeit anzusehen, daß alle Fürsten
(der König von SPanien in neuern Zeiten ist hievon eine
Ausnahme) sich nicht Ich sondern Wir nennen, weil
sie nemlich vorzeiten alles nur mit Bewilligung der
höchsten Stände thaten. Das Ich bedeutet im weitläuf-
tigen Verstande den Menschen, %und im engern die Seele.
Daß die Seele etwas einfaches und vom Körper unter-
schieden sey, siehet man daraus, daß wenn auch ein
Theil des Körpers nach dem andern zerstöret wird,
der Mensch ohne Hände und Füße, sich doch noch immer
das gantze Ich nennt. Die Stoiker und Plato ver-
standen unter dem Ich, allein das unsterbliche Wesen,
die Seele, %und glaubten; daß sie den Körper nur
als eine Schneke ihre Schaale mit sich führen müßte.
Sie standen daher auch in dem Wahn, daß sie auf keine
Weise beleidigt werden könten, weil ihrer Seele

/ nie- 

|P_6

/niemand etwas anhaben könte, wenn er auch ihren
Körper marterte. Ein jeder Sklave hielt sich bey ihnen
für frey, denn er hatte eine freye Seele. Die Epicuraeer
waren der entgegengesezten Meynung.

/Man muß beym Menschen jederzeit die Thierheit %und die
Rationabilitaet unterscheiden. In Ansehung jener
ist er von andern Thieren wenig unterschieden; ja
Locke %und eine anderer Italienischer Medicus <Moscati> will gar
behaupten, daß die Menschen geneigter wären, auf
4 als auf 2 Füßen zu gehen, weil ihre gantze Leibes
Constitution so eingericht wäre, daß sie auf 4 Füßen
gehen müsten, %und daß daraus, daß sie auf den beyden
Füßen gehen, sehr viele Krankheiten entstehen, denen
sie aber im ungesitteten Zustande abzuhelffen gewußt
hätten.

/Wie wenig ist ein Hottentot von einem Orang-outang
unterschieden, wenn man ihm seine Seele nähme, und
es scheint würklich daß wenn man dem Menschen die
Seele nehmen möchte, er kein gutes «zu» zahmes, sondern
wohl gar ein Raubthier werden möchte. Es hat also
der Mensch eine doppelte Persönlichkeit, nemlich als Mensch
und als Seele. Wir sind also gewiß, daß die Seele,
ein einfaches und vom Körper ganz unterschiedenes

/ Wesen

|P_7

/Wesen sey. $Psyche$ (die Seele) bedeutet eigentlich einen
Schmetterling, der nachdem er den Wurmbalg abgelegt, ein
Vogel geworden. Mit diesem Wurmbalg verglichen die Grichen
den Körper, %und der Schmetterling stellte die Seele vor.
Es war dieser Schmetterling schon bey den Egyptern
das Sinnbild der Seele. Als Anaxarchus auf Befehl
eines Tyrannen, im Mörser zerstoßen wurde, so
sagte er: Tunde, non tundis Anaxarchum sed
Anaxarchi culeum. Wir sehen hieraus würklich, daß
der Mensch die Substantialitaet der Seele empfinde.
Wir sehen hieraus würklich und wir fühlen auch, daß
unsre Seele zuweilen leidend, %und zuweilen thätig
sey, und daher nannte schon Lucretius die Seele,
in Absicht ihres leidenden Zustandes Animam, und
in Absicht ihrer Thätigkeit Animum.

/Wir beobachten aber die Seele aus einem 3fachen
GesichtsPunckte, nemlich als Anima (Seele) Animus
(Gemüth) und Mens (Geist) - In so fern die Seele
in Verbindung mit dem Körper gedacht wird, und
also nicht verhindern kann, daß das, was die Sinne
afficirt, ihr auch mitgetheilt werde, ist sie Seele
und da ist sie bloß leidend. In so fern aber die
Seele auf die sinnlichen Eindrüke resignirt und

/ sich

|P_8

/sich thätig beweißt ist sie animus, und so weit sie
ganz unabhängig von aller Sinnlichkeit sich etwas vor-
stellt ist sie Mens zE: ich kann nicht verhindern, daß der
Schmerz, der meinem Leibe angethan wird, nicht auch in
meine Seele übergehe; allein ich kann verhindern, daß
meine Seele hierüber reflectire ZE wenn ich das Podagra
habe und dencke, was in der Zukunft daraus werden
wird, wie ich mein Brod werde erwerben können %und
dieses verursacht Traurigkeit über meine Gesundheits
Umstände, hier agirt Animus. Diese GemüthsKrankheit
ist <es> auch eben, die elend macht. Weil dieses reflectiren
den Thieren nicht anklebt, so sind sie auch niemals elend.
Endlich aber entstehet der höchste Grad der Traurigkeit
daraus, wenn mein Geist von allen Schmerzen abstra-
hiret, einen Selbsttadel in mir erweket, wenn er
sich vorstellt, wie ich mir diese Kranckheit selbst
zugezogen, und durch meine eigene Schuld unglücklich
geworden bin. Diese Traurigkeit des Geistes würket
jederzeit mit doppelten Kräften auf den Körper.

/Es ist sehr gewöhnlich daß die Menschen sagen, sie
würden gerne mit einem andern Menschen tauschen,
sie wünschen sich eines andern GesichtsBildung, sein
Gedächtnis und wenn sie doch mit allen tauschen könnten;

/ so

|P_9

/so würden sie doch ihr Ich nicht vertauschen, weil
sich ein jeder für vollkommen in seiner Art hält. Es liegt
auch etwas contraDictorisches in diesem Satz, denn sie
wollen tauschen, doch aber auch nicht. Wir sagen oft die
Rede hat keinen Geist, die Gesellschaft hat keinen Geist pp
%und hieraus ist zu ersehen, daß wir doch durch einen Geist
das erste Principium der Bewegung verstehen.

/Das Gemüth nennt man auch im Gemeinen Rede Gebrauch
das Herz. Wenn man aber sagt: der Mensch hat
ein gutes Gemüth oder ein gutes Herz; so verstehen
wir darunter nichts anders als des Menschen körper-
liche Constitution ist so beschaffen, daß seine Meynun-
gen nicht anders beschaffen seyn können, und daher
geht es sehr wohl an, daß ein Mensch sehr tugendhaft
seyn, aber doch zugleich ein böses Herz haben könne.
Solches behauptet man vom Socrates, der obgleich seine
Neigungen nicht mit dem Grundsatz der Vernunft
übereinstimmten, er dennoch dieselbe durch die Vernunft
zu leiten wußte. Allein wir äußern gegen Jeman-
den ein größeres Zutrauen, der ein gutes Gemüth
hat, als gegen denjenigen, welcher zwar tugendhaft
ist, aber ein böses Herz hat. Die Ursache hievon ist
diese: Man ist immer sichrer, wenn man sich einem

/ an- 

|P_10

/anvertrauet, deßen Neigungen schon mit den Grund-
sätzen der Vernunft übereinstimmen, als einem der
selbige immer bestreiten muß, denn wie oft sehen wir
uns nicht von einem sinnlichen Gedanken überrascht,
noch ehe wir uns deßelben recht bewußt sind. Es ist aber
wohl zu merken, daß man niemals sagt, er hat einen
bösen Geist - es sey denn, daß er vom Teufel beses-
sen wäre - aus der Ursache, weil der Geist der un-
abhängig vom Körper und äußerlichen Antrieben, bloß
nach den Grundsäzen der Vernunft handelt, niemals
anders, als gut handeln kann, denn er wählet nicht
was schön, sondern was gut ist. Daher sagt man
auch, das Fleisch wiederstreitet dem Geist. Wenn
nun der Geist bloß handeln könte; so würde es sehr
nützlich seyn, wenn das Fleisch dem Geist wieder-
streitet. Die Welt hat eine Beziehung so wohl auf
unsern Körper als auch auf unsre Seele, und
nachdem wir die Welt aus diesem oder jenem
Gesichtspunckt betrachten, nachdem erscheint sie
uns bald so, bald anders. Als eins mahls ein Be-
wohner einer Felsen Insel, der nichts in der
Welt als diesen Felsen kannte %und einige wenige
Inseln, die um ihn herum lagen, auf den Grund

/ des

|P_11

/des Beherrschers dieser Insel kam und seinen Pallast
sahe: so prieß er ihn glücklich als einen Beherrscher der halben
Welt. Wenn ein Mensch in die unglückliche Situation geräth,
daß er arm und verlaßen ist; so können ihn alle Schön-
heiten der Natur, die um ihn her sind, nicht vergnügen,
es ist alles ein betrübter Anblick für ihn, gehts ihm aber
wohl; so heitert sich alles um ihn auf.

/Wir gehen nunmehro zu den Vorstellungen %und merken
an: daß man sich derselben theils bewußt ist, theils aber
auch nicht. Der größte Reichthum unsrer «Vorstellungen»
Erkenntniß, stekt in den duncklen Vorstellungen, die
nachmahls von dem Bewustseyn in ein größeres Licht
gesezet werden, denn das Bewustseyn bringt keine
Vorstellungen hervor, sondern es klärt sie nur auf.
Wenn ein fertiger Musikus sich an ein Clavier sezt, %und
in Gedancken zu phantasiren anfängt: so muß er,
wenn keine Dissonanz vorkommen soll, theils auf die
künftigen Töne prospiciren, theils auf die hervorge-
brachten respiciren, er muß die Finger recht sezen,
und wenn er eine gantze Weile gespielt hat, so ist er
sich gar nicht bewußt, was er gespielt hat. Ferner
wenn wir das Frauenzimmer, oder einen den wir
ehren, zur rechten Hand gehen laßen: so geschiehet

/ solches

|P_12

/solches damit wir ihm den Gebrauch seiner rechten
Hand nicht benehmen wollen.

/Wenn wir endlich den Geitz betrachten: so finden wir
daß der Karge viel Vorstellungen hat, ohne sich der-
selben bewußt zu seyn. ZE: wenn Jemand viel Geld
in der Tasche hat: so wird er sehr wenig vom Appetit
gereizt, warum? er weiß daß er dies alles sehr
leicht haben kann, wenn er will. Ein Geiziger der zu
Hause einen Kasten mit Geld hat, sieht andere in prächtigen
Kutschen fahren, andere an prächtigen %und reich besetzten
Taffeln speisen, hört Pauken %und Trompeten erschallen, jedoch
bleibt er dabey gelaßen und mißkennet alle äußern
Triebe zur Nachahmung, woher? weil er alles dieses
in seinem Kasten hat, %und weiß, daß er vermittelst seines
Geldes haben kann, was er will. Wir sind uns alle der
wenigsten Vorstellung bewußt. Man könte hier unendliche
Phoenomena der Menschlichen Seele erzählen, die der Phy«sick»
losoph aus ihrer Dunkelheit ans Licht zieht, so wie er in
der Physik bey Betrachtung der Körper, ihre geheimen
Kräfte durch die Vernunft herausbringt. Wir wollen nur
von ein paar der gemeinen Phaenomeenen den Grund
anzeigen. Wir bemerken ZE: daß die Mütter die Söhne
jederzeit mehr lieben als die Töchter, und unter den
Söhnen denjenigen am meisten, der muntrer oder lüderlicher

/ als

|P_13

/als die andern ist. Woher kommt dieses? aus einem doppelten
Grunde.

/1.) Die Neigung für das andre Geschlecht schon den Menschen,
in die Natur gelegt.

/2.) Sieht die Mutter auf den Sohn herab, als einen der sie künftig
besützen soll, %und daher hoft sie von dem der munter %und auf-
gewekt ist, sehr leicht, daß er sie beßer beschützen werde,
als der schläfrig oder sittsam ist. Dies sind ihre dunklen
Vorstellungen.

/Ferner bemerken wir auch bey dem weisesten eine geheime
Furcht vor dem Tode, ob er gleich weiß, daß die Kürze des
Lebens der größte Trost wieder alle Unglücksfälle und
Bekümmerniße ist. Die Ursache davon liegt in einer dunklen
Vorstellung. Sehr oft haben wir auch gar keine Macht durch
die Vernunft, die in der Sinnlichkeit liegende dunkle Vor-
stellungen zu überwältigen ZE Wenn wir auf einem hohen
Thurme sind, %und von dem Gange, der fest gebaut ist, herunter
sehen, so empfinden wir ein Grausen, besonders wenn man
das Geländer, welches auf dünne Phäle gestüzt ist, durch-
sehen kann. Woher kommt das? aus der geheimen Vorstellung
daß alle Körper eine Schwere haben, %und vermittelst derselben
sich zum MittelPunckt bewegen, und also zum Fall geneigt
sind. Unsre Vernunft tröstet uns zwar, indem wir be-
dencken, daß das Gantze so fest gebaut ist, daß wir
nicht fallen können, allein der Schauer durchbebt @denm@

/ gleich

/~δRand_13_Z_5

/{2- weil er ihr Vergnü-
gen macht; sie auch
der Fähigkeiten <wegen> etwas
von ihm hoft. -2} ~

|P_14

/gleich unsre Glieder, und wir können solches nicht verhindern.
Weil nun diese Menschen der dunklen Vorstellung nicht bewußt
sind, so glauben sie das zu empfinden, was doch auf keine Weise
ihre Sinne afficirt, sondern aus einer sich nicht bewusten Re-
flexion des Verstandes entspringt, daher sagen sie: Ich empfinde
daß dieses Gedicht schön ist; ich empfinde eine Zutrauen zu
diesem redlichen Mann, %und daher ist auch das moralische Ge-
fühl entstanden, welches doch in der That nichts gesagt ist,
denn alles, was aus der Reflexion des Verstandes entspringt,
und kein Gegenstand der Sinnen ist, kann ich nicht für Em-
pfindung ausgeben. Und es ist gewiß der Erweiterung
unserer Kenntniße <nichts> hinderlicher, als das Menschen ihre dunklen
Vorstellungen vor Empfindungen ausgeben, denn dadurch
wird alle«r» Untersuchung abgeschnitten, denn empfinden wir
etwas, so lohnts nicht weiter der Mühe es zu untersuchen.
Wir befinden uns oft, sowohl wachend als schlafend in
einer Gedankenlosigkeit, wo wir uns sehr viel, aber nur
dunkel vorstellen. Wir laßen als denn alle Gegenstände
und Erscheinungen vorbeyfließen, ohne auf irgend einen
unsre Aufmerksamkeit besonders zu richten, und dieser
Zustand ist dem %.Menschlichen Körper am zuträglichsten. Die
Erfahrung lehret überhaupt.

/I.) Daß dem Menschen nichts gesünder und beßer sey, als daß

/ er

/~δRand_14_Z_6

/{2- Vom %.moralischen %Gefühl. -2} ~

|P_15

/er alle seine Aufmerksamkeit auf äußere Gegenstände
richte, wenn es auch Gegenstände der Vernunft wären.

/II.) Daß dem Menschen nichts schädlicher sey, als wenn er ein
genauer Beobachter seiner selbst ist, und alle seine Aufmerk-
samkeit in sich selbst kehret, solches sehen wir deutlich an
einem hypochondrischen Menschen, der so bald er sich selbst
beobachtet, und seiner Krankheit nachhängt sich immer übler
befindet, und nichts ist einem solchen Menschen schädlicher, als
ein Medicinisches Buch, denn alle Krankheiten die er ließt,
hat er. Daher es die Pflicht eines jeden Artztes wäre, sich
nach den Beschäftigungen seines Patienten zu erkundigen,
und es dahin zu richten suchen, daß der Patient seiner selbst
vergißt.

/Es giebt auch ferner eine eitle Beobachtung seiner selbst,
und das Betragen eines solchen Menschen, der sich jederzeit
beobachtet, was er für eine Figur in der Menschlichen Ge-
sellschaft macht, nennt man gezwungen. So wie einer der
ein Buch schreibt, %und immer auf den Ausdruck %und die Wahl
der Wörter Acht hat, niemals naiv schreiben wird. - 
Die Quelle dieser dunklen Vorstellungen, nennt man die
Tieffe des Gemüths, und es ist die Pflicht des Philosophen,
dieselbe so viel als möglich zu erforschen.

/Wenn es in der Moral %und sogar im Evangelio heißet: Wir
sollen nicht richten: so ist dieses aus keinem andern Grunde

/ anbe- 

|P_16

/anbefohlen, als weil wir oft jemanden aus einer Zunei-
gung oder aus dem Temperament beurtheilen, %und glauben
daß dieses aus Grundsäzen der Vernunft entspringe.

/Wir kommen nunmehro zu den deutlichen und verwornen
Vorstellungen. Es ist gleich anfänglich zu merken, daß hier
nicht mit Recht die verworenen Vorstellungen den deutlichen
entgegengesezt werden. Die Deutlichkeit entspringt, wenn
man sich seiner Vorstellungen, nicht allein be«s»wust ist, sondern
auch weiß, was in derselben enthalten ist. Das verworre-
ne wird der Ordnung entgegengesezt, und obgleich die
Deutlichkeit allemahl eine Ordnung zum voraus sezt, so ists
doch beßer ihr die Undeutlichkeit entgegen zu sezen.

/Die Deutlichkeit ist entweder die der Anschauung oder die
des Begriffs. Die Deutlichkeit der Anschauung beruhet
auf dem Eindruk, den die äußere Gegenstände auf meine
Sinne machen. Die Deutlichkeit des Begrifs aber bestehet
darinn, daß ich diese Anschauung unter allgemeine
Merkmahle, die ich sonst an andern Gegenständen bemerkt
habe, unterordnen kann, und also kurz in der Subordi-
nation. Man kann sich hier den Verstand als einen un-
geheuren Raum dencken, welcher in gewiße Loci logici ein-
getheilt ist, davon jeder einen Begriff enthält, wenn ich nun meine
Vorstellung in einen solchen Locus logicus sezen kann, so habe

/ ich

|P_17

/ich einen Begriff. Die Deutlichkeit der Anschauung macht
die aesthetische Vollkommenheit, und die Deutlichkeit des Begrifs
die logische Vollkommenheit aus.

/Wir kommen weiter zur Bestimmung des Menschen in Ansehung der
Erkenntniße, %und bemerken

/I.) Das Erkenntniß unsrer Verhältniße zum Object, welches
in der Wahrheit bestehet, %und wenn unsre Erkenntniß mit
dem Object von einerley Quantität ist: so ist unsre Er-
kenntniß adaequat.

/II.) Das Verhältniß der Erkenntniße zum Subject, welches
in der Veränderung unsres Zustandes bestehet. ZE ange-
nehm und unangenehm, Lust %und Unlust, die Eindrüke welche
in der Aesthetik einen großen Nutzen haben.

/III.) Das Psychologische Verhältniß, oder das Verhältniß
unsrer Erkenntniße unter einander, welches man die
Aehnlichkeit nennt, die dem Witz allen Vorschub giebt.

/Endlich bemerken wir auch 2 Unvollkommenheiten
unsrer Erkenntniß, das ist Unwißenheit %und Irrthum.
Die Unwißenheit ist ein bloßer Mangel der Erkennt-
niße, der Irthum aber ist eine Hinderniß der wahren
Erkenntniß und ist weit gefährlicher und übler als
die Unwißenheit; denn bey der Unwißenheit darf nur
eine Handlung vorgehen, nemlich man bringt dem Unwis-
senden, die wahren Erkänntniße bey; allein bey dem
Irrenden sind 2 Handlungen nothwendig, nemlich man

/ muß

|P_18

/muß erst seinen Verstand vom Irrthum reinigen, %und
ihn unwißend machen - welches sehr schwer ist - %und nach-
mahls ihm erst die wahre Erkenntniß beybringen. Dahero
die Philosophen gantz recht haben, die da sagen: es sollte
erst eine negative Erziehung bey den Kindern vorher
gehen, d. i. man solte sie erst bloß für Irrthümern
bewahren. - Wir bemerken aber daß alle Menschen
lieber in einen Irthum verfallen, als daß sie vorsez-
lich in einer Unwißenheit bleiben solten, daher urteilt
man auch so geschwind, und will das Urtheil auch gar
nicht suspendirt wißen, bis die Wahrheit erhellet.
Dieses ist ein wahrer Instinckt, den die Natur dem
Menschen eingepflanzt, vermöge deßen er immer
thätig seyn muß, und sollte er auch irren. Da
hat aber Gott dem Menschen die Vernunft zur Regie-
rung dieses Instinckts gegeben.

/Der Mensch empfindet das Leben nur durch seine Thä-
tigkeit: daher sind Schriften in welchen zwar viele
Irrthümer, die aber doch die Kenntniß der Menschen
erweitern, weit nüzlicher als die, welche nur die
bekandten und allgemeinen Grundsäze enthalten.

/Aus eben dem Grunde gefallen uns auch die Paradoxen
Schriften - oder solche, welche der allgemeinen Er-
kenntniß wiederstreiten, und gleich anfänglich zeigen,
daß man sehr irren kann - weil wir hoffen daß wir

/ dadurch

|P_19

/dadurch eine andere Aussicht in diese oder jene Wis-
senschaft bekommen, vielleicht manches unbekandte«n» entde-
ken können.

/NB. Ein solches Paradoxon, war das System des Coperni-
cus - die Lehre von den Antipoden, welche Lucretzius so
lächerlich machte, %und zugleich sagte, er könne dieses leicht
wiederlegen, wenn er nur nicht das Buch schließen müßte.

/Es ist überhaupt ausgemacht, daß ein jeder Mann
von Genie, erst fürs künftige oder noch entfernte Jahr-
hundert schreibt, %und daß er zu der Zeit, zu welcher
er schreibt, für abgeschmackt gehalten wird, aus der
Ursache, weil er aus eben dem Wahn wieder den er
schreibt beurtheilt wird. Es ist merkwürdig, daß die
Uberzeugung der Menschen, erst eine geraume Zeit er-
fordere.

/Wir gehen nunmehro zu den Perceptionibus concomitan-
tibus et sociis. Es sind die begleitenden Vorstellungen
leicht von den vergesellschafteten zu unterscheiden.
Es ist ebenso als wenn ein fremder Reisender,
auf ein mit allen Natur-Schönheiten bedecktes Feld
kommt, als denn begleiten diese reizende Gegenstände
der Natur nur seinen Blick, allein wenn er der Herr
und Eigenthümer dieser Gegend geworden; so wird sie
mit ihm, als wie vergesellschaftet betrachtet. Doch pflegt
man die oft begleitenden Vorstellungen für Percep

/ tiones

|P_20

/Perceptiones sociae zu halten. Es ist zu merken, daß man
die mit einer Sache verknüpfte Vorstellung sehr oft von
der Haupt Sache nicht unterscheiden kann, %und sie daher
mit einander verwechselt ZE man sieht ein schönes Fr
Frauenzimmer, dem man viele Fehler wegen ihres guten
Aussehens zu gute hält. Ein ihre Schönheit begleitender
Umstand ist, daß sie lispelt, es läßt ihr schön, man
hält dies für die Ursache ihrer Reitze, und gewöhnt sich
auch das Lispeln an. Es verdunkeln auch sehr oft die
vergesellschafteten Vorstellungen, die Haupt Vorstel-
lungen ZE Wenn ein, wegen seiner Verdienste berühmter
Mann sich prächtig kleidet; so vergißt man darüber seine
innre Vorzüge und betrachtet nur seinen Anzug, seine,
Treßen die er auf dem Kleide hat u:s:w: daher es
zur Regel dienet, daß kein verdienstvoller Mann
sich prächtig, sondern nur reinlich und höchstens nach Ge-
schmak kleide, wenn er nicht haben will, daß seine
Würde durch die Kleidung verdunkelt werde.

/NB. Die Rußen haben das SPrüchwort: Man empfängt
einen Gast nach seiner Kleidung, %und begleitet
ihn nach seinem Verstande.

/Wir kommen hierauf zu den sinnreichen Ausdrüken.

/Ein praegnanter Ausdruck ist der, der viel Sinn
enthält. Nach der Grichischen SPrache ist die deutsche

/ SPr:

|P_21

/SPrache diejenige, welche viel Begriffe in einem Worte
zusammenfaßt, und sie zugleich analytisch ordnet ZE die
Kleinmüthigkeit. Es dienet solches zur logischen und haupt-
sächlich zur aesthetischen Vollkommenheit. Die Araber haben
sehr kurze Gebete vor und nach dem Eßen. Vor dem Eßen
beten Sie: bis milla - Gott segne es - und nach dem
Eßen: adi milla - Gott sey gedankt. Wir sind gern leidend
und lieben doch das thätige über alles. Wir laßen uns
ZE: gerne pflegen und warten, und sind in dieser Rücksicht
leidend, allein wenn Jemand für unsre Glückseeligkeit
mit der Bedingung sorgen wolte, daß wir gar nichts
wählen sollten, sondern uns nur des andern Disponiren
gänzlich überlaßen: so würden wir uns schon schwierig
bezeigen, weil wir als denn gar nicht thätig seyn könten.
Wir laßen uns gerne führen, weil wir wißen, daß
wenn wir wollen, wir auch thätig seyn %und gehen können.
Wir haben Vermögen, worinnen alle Veränderungen
unsres Zustandes, oder der Zustand unsrer Empfindungen
ihren Sitz haben, und dieses Vermögen theilen wir in
das Untere und Obere ein.

/Das untere bestehet in der Sinnlichkeit, in Absicht auf
welche wir bloß leidend sind, das Obere aber ist der
Verstand durch welchen wir auch auchthätig sind. Allein

/ außer

|P_22

/außer diesem Vermögen haben wir auch eine Obere Kraft
d.h. die freye Willkühr, durch welche der im Vermögen
liegende Zustand der Empfindungen bewürket wird. Wir
haben eine doppelte Kraft, so wie ein doppeltes Vermögen.
Die Untere Kraft ist die blinde Willkühr, und die Obere
Kraft ist die freye Willkühr. Das untere Vermögen mit der
untern Kraft zusammengenommen, macht die Thierheit aus;
und das Obere Vermögen mit der Obern Kraft ist die Mensch-
heit -. Wenn wir die Obere Kraft mit dem Untern Ver-
mögen vergleichen: so finden wir, daß wir vermittelst der
freyen Willkühr unsre sinnliche Empfindungen dirigiren
können, wie wir wollen. Wir können uns sogar die Schmerzen
lindern, indem wir davon abstrahiren, und unsre Vorstel-
lungen auf andre Dinge richten. Ja es ist bekandt daß
man einen kleinen Schmerz, durch die Fiction eines größern
dämpfen könne. ZE. Wenn Jemand über den Verlust seines
einzigen Sohnes betrübt ist, und es wird ihm plötzlich die
Nachricht gebracht, daß sein Schiff mit Waaren versunken:
so vergißt er den Tod seines Sohnes und richtet seine
Gedanken nur auf den Verlust seines Vermögens, da-
rauf wird ihm gemeldet, daß das Schiff glücklich einge-
lauffen; nun ist der Stachel der vorigen Betrübniß
stumpf, und er wird aus beyden Betrübnißen gerißen.

/ Nur

|P_23

/Nur Schade, daß dieses Mittel nicht immer gebraucht werden
kann. Der Obern Kraft trauen wir so viel zu, daß wir
auch sogar wegen unsrer Gesinnungen nicht bekümmert sind,
ob solche nemlich gut oder böse sind, weil wir glauben, daß
wir solche in einem Augenblick ändern können, wenn wir
wollen, ob man sich gleich darin sehr irret

/Diese freye Willkühr oder Obere Kraft wird eingeschränkt.

/I.) Durch unwillkührliche Vorstellungen ZE: wenn die Vorstel-
lung einer üblen Begegnung die ich erlitten, meine Ruhe
stören, sehr oft will ich sie verbannen, weil es ver-
drüßliche Vorstellungen sind, allein ich vermag solches
nicht, mit aller Macht meiner freyen Willkühr. Der solches
kann, kann niemahls beleidigt werden.

/II.) Durch die übermäßigen Begierden, die durch An-
triebe bewürket werden.

/Die Sinnliche Erkenntniß ist von der Verstandes_Erkenntniß
nur der Quelle nicht aber der Form nach unterschieden,
daher bleiben die dunklen Vorstellungen, so undeutlich sie
auch immer seyn, immer Verstandes_Vorstellungen; und
die sinnlichen Vorstellung, sie mögen so deutlich seyn wie
sie wollen, bleiben doch nur immer sinnlich. Hierin aber
haben viele, auch sogar der berühmte Mendelsohn ge-
irret, der die deutlichen Vorstellungen für Verstandes-
Vorstellungen hält, da er doch aber eingesehen, daß sehr

/ oft

|P_24

/oft die Sinnlichkeit vor den Verstandes_Begriffen große
Vortheile habe, so hat er solches aus der Verwirrung herleiten
wollen, allein dieses ist nicht möglich; denn die Deutlichkeit
der sinnlichen Vorstellungen, kann sehr groß seyn, dem-
ohnerachtet kann man doch noch keine Verstandes_Begriffe von
der Sache haben ZE: Wenn ein Wilder in unsere Stadt käme
und ein großes Gebäude ansähe, so wird er zwar alle
Theile deßelben genau unterscheiden, und jedes ins beson-
dere klar erkennen, aber deswegen hat er von dem Hause
noch gar keinen Begriff, er weiß noch nicht zu welchem Ende
solches errichtet. Die Sinnlichkeit giebt uns die Materialien
und der Verstand hat gleichsam nur die Potestas rectoria
und disponiret. Hieraus fließet, daß die Sinnlichkeit gar
nicht zu verachten sey, denn eben so wenig als es einen
Beherrscher des Staats geben würde, wenn der niedrige
Stand, als die Bauren, ihn nicht ernähren möchten, eben
so wenig kann der Verstand ohne die Sinnlichkeit etwas
nüzen. Es ist also kein Vitium wenn Jemand bloß sinnlich
ist, sondern nur ein Mangel, es fehlt ihm nur an Wißen-
schaft. Es ist eben so als eine Uhr an der noch das
Zifferblatt fehlt, ohnerachtet des leztern kann man sie
nicht für fehlerhaft halten, denn thut man es hinzu, so ist
sie fertig. Es ist also nicht nöthig, daß man, wenn das
Wort Sinnlichkeit vorkommt, die Nase rümpfe, sie hat

/ ihren

|P_25

/ihren Nutzen, wenn sie vom Verstande dirigirt und nicht
gemißbraucht wird. - Es frägt sich nun, ob das Bewust-
seyn zum Obern oder zum Untern-Vermögen gehöre? Durchs
Bewustseyn wird keine Vorstellung hervorgebracht, sondern
sie wird nur in eine näheres Licht gesezt. Es ist also nur
die Bedingung unter welcher die Obere Kraft wirksam
seyn kann.

/Es ist die Sinnlichkeit bey einigen so verhaßt, daß auch
Pallas in seinen Reisebeschreibungen, Pillen erfunden
haben will, die wenn sie jemand vor seinem Tode
einnimmt, ihn auf ewig von aller Sinnlichkeit befreyen.
Es ist wahr daß die Sinnlichkeit jederzeit das niedere
andeutet, weil sie der freyen Willkühr des Menschen sehr
hinderlich ist@,@ allein das Vermögen sich etwas sinnlich vor-
zustellen, ist sehr nüzlich, weil der Mensch allein nur
sinnliche Anschauungen hat, und nur das Vermögen, das
allgemeine in Concreto zu betrachten, bringt den Men-
schen zur deutlichen Erkenntniß der Wahrheiten. Es
wäre sehr gut, daß diejenigen Schriftsteller, welche
von der rührenden SchreibArt zur launigten überge-
gangen, die Laster der Menschen mehr lächerlich zu machen
suchten, als daß sie sie gleichsam mit Furien verfolgten.
Lezteres macht den Schriftsteller leicht zum Menschenhaßer,

/ es

|P_26

/es ist beßer und nüzlicher den Menschen in eine Narren-
Kappe zu hüllen, als seine Fehler zu detestiren, denn
nichts fürchtet ein Mensch mehr, als ausgelacht zu werden,
eher will er lieber alle zu Feinden haben. Daher ists beßer
Heraclit als Democrit zu seyn; man betrachtet die Welt
als ein Narren Hauß, %und belacht die Thorheiten der
Menschen, man muß sich selbst aber nicht ausschließen,
alsdenn wird man ein Freund von allen Menschen bleiben,
man wird über alle ihre Thorheiten lachen, und sie doch
demohngeachtet noch lieben.

/Wir gehen jezt zu der Betrachtung von negativen und po-
sitiven Erkenntnißen. Die negativen Erkenntniße sind
bloß Mittel, Irrthümer zu verhüten. Die negativen
Handlungen die dahin abzwecken Irrthümer zu verhüten,
in die kein Mensch verfallen wäre, nennt man
leere Handlungen. Initium Sapientia est, caruisse
Stultia. So ist Rousseaux Erziehungs-Plan
in den ersten Jahren bloß negativ, er zeigt daß man
im Anfange Kinder«n» bloß für Irrthümern bewahren
müße. Derjenige ist negative ehrlich, der nicht aus
Grundsäzen, sondern bloß ein solcher ist, weil er be-
quemer auf dem graden als krummen Wege fort-
kommt, der negative Stoltz ist der Begleiter der Tugend.

/ Ein

|P_27

/Ein Mensch der diesen Stoltz besizt, wendet bloß damit ab, daß
er nicht verachtet wird. Die negativen Handlungen haben
ihren großen Nuzen, und ein Mensch kann niemahls anders als
negative weise seyn. Derjenige Mensch ist gewiß hoch zu schäzen,
der ob er gleich keinem einzigen eine Wohlthat erwiesen,
doch niemanden beleidigt, niemals sein Versprechen gebrochen,
niemals die Unwahrheit geredet %und also bloß negativ tugendhaft
ist. Man hat gewiß nicht nöthig, einen solchen für Lieblos aus-
zuschreyen, dieser darf nicht erst handeln, «s»daß etwas nicht
sey, so wie ein Irrender, erst den Weg zurückgehen muß,
auf dem er geirret hat, damit er nicht gegangen sey.

/Das Element der Menschen ist Scherzen und Lachen, und
wenn sie etwas ernsthaftes thun, so thun sie sich einem
gewißen Zwang an. Die Grichen erzählen von den
Tarentinern, daß sie bey allen Geschäften in ein Lachen
ausgebrochen; da sie nun den Apoll gefragt, was sie
machen solten, um nicht stets zu lachen, so that er den Aus-
spruch: daß sie dem Neptun einen Ochsen schlachten
solten, ohne zu lachen: da sie hiemit beschäftiget waren,
so drängte sich ein kleiner Junge unter sie, der bald
sie, bald den Ochsen ansah. Sie zerrten bereits das
Gesicht, und stießen den Jungen, damit er sie nicht zum Lachen
bringen möchte heraus, der darauf schrie: denket ihr

/ denn

|P_28

/denn, daß «daß» ich euren Ochsen auffreßen werde?
worauf sie in ein lautes Lachen ausbrachen und also
Narren blieben.

/Da aber die negativen Handlungen der Thätigkeit des
Menschen als einem ihnen eingepflantzten Instinckt zu-
wieder, so bemühen sie sich jederzeit positiv zu handeln.
Wenn ein Mensch alle seine Nerven in Bewegung empfin-
det, so fühlt er sein ganzes Leben und ist vergnügt,
wenn aber alle Nerven gantz gleich gespannt sind, so daß
er eine jede nach Belieben in Bewegung sezen kann, so findet
er sich in einer gewißen Ruhe und Zufriedenheit, er
empfindet seinen Verstand, seinen Körper, er erinnert
sich niemanden beleidigt zu haben, und das ist der glück-
liche Zustand des Menschen.

/Da nur der Mensch wenn er durch seine Thätigkeit in einen
Irrthum verfält, durch einen jeden Einwurf, den ihm
ein andrer macht, in seiner Thätigkeit gestöret wird, so
empfindet er als bald übel, daß ihm ein andrer wieder-
spricht, daher auch bey dem Einwurffe die Einleitungs-
Formeln eingeführt sind; ich bitte um Vergebung. Allein
hier kommt es sehr auf den Ton an, mit dem jemand diese
Formel sagt, denn man kann damit eben so viel aus- 

/ drücken

|P_29

/ausdrücken, als du bist ein dummer Kerl. Uberhaupt ist
diese Formel gleichsam ein Cartel, wodurch man einen andern
gleichsam zum Streit auffordert, %und es ist kein Wunder, daß der,
an welchen ich sie richte, als bald stuzt und mein Feind wird.
Daher ist es beßer, wenn jemand irret, daß man nicht ge-
rade zu mit dieser Formel anfängt, sondern daß man erst
einem darinn, worinn er Recht hat Beyfall giebt, hernach ihn
allmählig so herum zu bringen sucht, daß er es nicht einmahl
merkt, daß man andrer Meynung sey.

/ ≥ Von der Schwärigkeit und Leichtigkeit. ≤

/Man braucht zwar «sch» Schwere und Leichtigkeit von Körpern,
allein vorzüglich nennt man das schwer, was im großen
Verhältniß zu unsern Kräften steht, und dasjenige leicht,
was im kleinen Verhältniß zu unsern Kräften steht. Da
wir nun bey allen Dingen, die wir angreiffen, auf den Uber-
schuß unsrer Kräfte sehen, nach welchem wir noch in andern
Dingen thätig sind %und seyn können: so verabscheuen wir je-
derzeit das Schwere und erwählen das Leichte. Derjenige nun
dem das, was den mehresten Menschen schwer wird, leicht ist,
hat Ehre. Derjenige aber, der jemanden das Schwere leicht
machen kann, hat Verdienst. Es giebt sehr wenige, die das
Schwere leicht machen können: i.e. leicht vortragen. Man
schäzt unter diesen vornehmlich den Fontenelle, der Secre

/ tair

|P_30

/Secretair der Academie der Wißenschaften zu Paris war,
und den Voltaire.

/Uberhaupt sind die Franzosen diejenigen, die das Schwerste Je-
manden leicht vortragen und am faßlichsten machen können.
Man unterscheidet die Schwerigkeit und Leichtigkeit in die
innre und äußere. Die innre Schwerigkeit und Leichtigkeit
ist in so fern man einen kleinen oder großen Uberschuß
der Kräfte bey sich empfindet. Die äußre, in so fern
diese oder jene Sache mehr Hinderniße hat, die durch diese
Kräfte weggeschaft werden müßen.

/So kann man eine innre Leichtigkeit und äußere Schwerig-
keit zugleich empfinden, wenn man ZE ein junges Frauen-
zimmer, welches nur darauf bedacht ist, ihre Reize zu
vermehren, in metaphysischen Dingen unterrichten
soll: so kann zwar der Lehrende darin eine große Fer-
tigkeit besitzen, einem solche auf das planeste faßlich
zu machen, allein das Frauenzimmer ist immer zer-
streut und denkt nur an Putz, Assemblées und
andere Dinge. Hier ist eine innre Leichtigkeit und
eine außere Schwerigkeit.

/ Von der Atten

|P_31

/ ≥ Von der Attention und Abstraction. ≤

/Die Aufmerksamkeit bestehet nicht in der Klarheit der
Dinge selbst, den bißweilen ist eine Sache, wenn man
bloß leidend ist, klärer, als wenn man thätig ist; sondern
sie bestehet in der Anstrengung unsrer Kräfte und in der
Richtung, die wir unsern Gedanken, in Ansehung einer Sache
geben, indem wir sie bloß und vorzüglich auf einen Ge-
genstand lencken. Und die Abstraction bestehet gleichfals
in einer Anstrengung, indem wir gleichsam eine Sache von
allen sie begleitenden Umstanden abgesondert und für sich allein
betrachten. Was aber bey einer solchen Anstrengung in unserer
Seele vorgehe ist nicht zu erklären, genug daß es sehr schwer
ist, besonders von sinnlichen Erkenntnißen und Empfindungen
in der Art zu abstrahiren, daß sie nicht biß in unsre
Seele dringen oder wenigstens doch nur eine dunckle Vor-
stellung ins uns hervorbringen. Ein empyrischer Kopf
abstrahiret zu wenig und ein speculativischer Kopf zu viel
ZE: Wenn man bei Betrachtung der Sittlichkeit von dem
Subject selbst als dem Menschen abstrahiret.

/Es giebt eine willkührliche Attention und Abstraction,
aber auch eine unwillkührliche, dieses ist ein elender
Zustand; dagegen ist es sehr vortheilhaft, wenn die

/ Attention

|P_32

/Attention und Abstraction in unsrer Willkühr liegt,
denn so kann keine Beleidigung uns unglücklich machen, wir
abstrahiren und machen dadurch dasjenige Bild, was uns quält
unsichtbar. So kann man sogar den größten Schmerz über-
winden, wie man denn sagt, daß Jemand, der auf der
Tortur lag, bloß dadurch, daß er seine Aufmerksamkeit
auf einen Bild gerichtet, die größten Schmerzen überstanden
habe. Es ist deshalb kein Zustand für den Menschen unerträg-
licher, als wenn er zwischen Furcht und Hoffnung ist, denn so
kann er sich in keine gewiße Disposition sezen. ZE Wenn
mein Freund in Todes Noth liegt: so dencke ich, ihm wird vieleicht
noch können geholffen werden, gleich darauf aber fällt mir
ein, er wird doch drauf gehen müßen und man verfällt
als denn nicht auf das Mittel oder die Möglichkeit in beyden
Fällen, welches doch beruhigen könnte. Ist er aber einmal
todt; so disponire ich gleichsam über mein Gemüth und ab-
strahire davon. Als man dem Socrates andeutete, die
Athenienser hätten ihm den Tod zuerkandt, so sagte er:
Wohlan nun, die Natur hat den Atheniensern den Tod
zuerkandt und auf solche Weise sezte er sich in eine
solche Disposition, daß er den Tod leicht ertrug.

/Rousseaux merkt an, daß die Aertzte den Men- 

/ schen

|P_33

/Menschen so feig vor dem Tode gemacht hätten, denn man
sehe einen Wilden, wie ruhig er stirbt. Aber dadurch daß der
Medicus dem Krancken Hoffnung zum genesen macht; gleich da-
rauf aber der Krancke an den Gesichtern der Umstehenden
und an seinen Schmerzen bemerket, daß er gewiß sterben
muß; so ist er gleichsam in einem beständigen Schrecken und
wird feige. Bey einem Hypochondristen ist ein vorzüglicher
Fehler, der Mangel der Abstraction, denn von den Gedancken,
die ihm einmal einfallen, kann er sich nicht so leicht loß-
machen. Sonst glaubte man auch, daß ein Mensch gar ver-
mögend ist von allen Dingen zu abstrahiren, allein man
findet wohl, daß der Schlaff vielmehr dadurch befördert
wird, daß man seine Aufmerksamkeit von allen Dingen
abzieht und alles durch einander dencket, was einem einfällt.

/ ≥ Von den gehäuften Vorstellungen. Perceptiones Complexae. ≤

/Gehäufte Vorstellungen nennen wir nicht das, «was» <wenn> wir
uns viele Dinge zugleich vorstellen, sondern wenn aus
subjectiven Gründen eine Vorstellung, viele andre Neben-
Vorstellungen begleiten. So dencken wir ZE: wenn uns
eine Grammatische Regel, die wir in der Schule gelernt
haben, einfält, an jene gravitaetische Miene, mit
welcher sie der Lehrer vortrug. Die Vorstellungen nun,

/ die

|P_34

/die wir uns willkührlich von einem Object machen, nennt
man Perceptio primaria, diejenigen aber welche die Haupt-
Vorstellung begleiten Perceptiones adhaerentes oder secundariae.
Nun aber geschieht es nicht selten, daß die Perceptiones ob-
jective adhaerentes subjective regnantes werden ZE wenn
man in eine Kirche geht und eine Predigt hört, die wohl aus-
geschmückt war; so geht man erbauet heraus, doch dencket man
nicht lange daran, und solches kommt daher, weil unsre Andacht
mehr durch Perceptiones adhaerentes rege gemacht ist, als sie
auf der Perceptio primari@a@ beruht.

/Vorzüglich bemerken wir dieses bey Leuten, die nicht nach Grund-
Säzen handeln, daß die Perceptiones adhaerentes praevaliren.
ZE beym Frauenzimmer, die mehr auf den Putz und die
Meubles im Hause sehen, als auf ein bequemes Leben.

/Als Milton von seiner Frau erinnert wurde, seinen pa-
triotischen Sinn fahren zu laßen, und nunmehr die Parthey
des Königs zu ergreiffen, da ihm überdem eine Secretair
Stelle bey demselben angetragen worden: so antwortete
er ihr, weil er sie liebte; Sie haben Recht, weil sie nur
dencken in Kutschen zu fahren, allein ich muß ein ehrlicher
Mann bleiben. Sie dachte daß ein Schelm in einer Kutsche
beßer wäre als die Ehrlichkeit zu Fuß. Als eine Ge-
sellschaft über die schlechten Zeiten klagte, und einer

/ der

|P_35

/der dabey ruhig saß, und eine Pfeiffe Toback rauchte, ge-
fragt wurde: was er dazu meynte? so fing er, indem er
seine Pfeiffe ausklopfte an zu sagen, wie die Menschen
durch die Vermehrung ihrer Bedürfniße, sich selbst die Zeiten
schwer machten, und hielt darüber eine ordentliche Rede. Man
hörte ihm wie einem Prediger zu, ging nach Hause %und blieb wie vorhin.

/Es ist merkwürdig, daß Menschen oft bey der HauptVor-
stellung gar nicht, bey der Neben Vorstellung aber sehr
gerührt werden. Als ein Englischer Officier aus der Ba-
taille, da die Engländer von den Franzosen geschlagen
worden, nachdem dem Könige deshalb abgestatteten Rap-
port, auf ein Coffee Hauß kam, und daselbst den Karten-
spielern die traurige Scene erzählte, wie so viele 1000
Menschen umgekommen, so nickten die SPieler mit den Köpfen
und spielten weiter. Hierauf erzählte er, wie die Frau
eines Capitains, die aus Liebe zu ihrem Mann, ihm in
die Bataille gefolgt wäre, nach vollendeter Bataille,
auf den erblaßten Körper ihres Mannes gefunden, auf
denselben ohnmächtig niedergesuncken und auch gestorben
wäre. Bey dieser Erzählung hörte die gantze Gesellschaft auf
zu spielen, und eine Mittleidsvolle Thräne zitterte in ihren
Augen. Woher kommt es daß sie bey Erwähnung so vieler
tausende sich gantz gleichgültig, über den Tod einer

/ ein- 

|P_36

/einzigen Frauen aber, so e«r»rstarrt und gerührt wurden?
Dieses entstehet bloß aus einem sympathetischen Gefühl gegen
das andre Geschlecht, und man schäzt <hier> «sich» mehr das Gefühl des
Subjects als den Werth des Objects.

/Es giebt überhaupt keine Vorstellung ohne Adhaerentien, und
es ist uns auch eine solche Vorstellung ohne Adhaerentien
sehr verdrüßlich.

/Wir nennen eine Vorstellung ohne Perceptiones secundariae eine
trockne Vorstellung. So sagt man: er hat ihm gantz troken die
Wahrheit gesagt: d,h. ohne alle Umschweiffe, ohne Ceremonie
Man hat diese Benennung von den SPeisen hergenommen, die
wenn sie trocken, unangenehm sind. Daher Wißenschaften
die an sich selbst schwer sind, wenn sie troken vorgetragen
werden, dadurch noch verdrüßlicher werden.

/Rabner sagt: Verstand ist wie Rind und Schöpsen Fleisch,
welches für Bürger und Bauren gut ist, allein ein gut
Gericht Thorheit mit einer guten Brühe von Witz
übergoßen, ist ein Gericht welches man auf eine
Königliche Taffel sezen kann. Es machen zuweilen bey
Predigten, wie bey Gerichten die Sauce, die Perceptiones
adhaerentes mehr aus, als die Perceptio primaria.

/Es kommt hier nur auf den Koch an, der
sie zurichtet.

/ Von der

|P_37

/ ≥ Von der Überredung und Uberzeugung. ≤

/Diese beyden Stücke können im Subject nicht unterschieden
werden; sie haben in Ansehung des Subjects gleiche Wür-
kungen. Uberzeugung sagt man, wenn die Vorstellung mit
dem Object übereinstimmt. Bey Untersuchung des Wahren und
Falschen geht in uns ein ordentlicher Process vor, der Verstand
ist der Richter, die beyden Urtheile sind die streitenden Par-
theyen und die Criteria, die ein jedes Urtheil für sich anführt,
sind die Advocaten Als denn hört der Verstand beyde Partheyen
ab, allein es finden sich oft Wiedersprecher, die das bey dem
Verstande durch die Gunst zu erlangen suchen, was sie durch
den Proceß nicht erlangen würden. Jedoch weil der Verstand
Jedoch weil der Verstand, etwas nicht gerne lange in Zweifel
laßen mag: so schließt er bald die Acten und entscheidet,
und denn geschieht es oft, wie bey weltlichen Gerüchten, daß
die schwächere Parthey bloß deshalb sieget, weil die stär-
kere auf ihr Recht so stoltz thut %und trozet, denn der Mensch
ist immer geneigt demjenigen, der auf sein Recht trotzig, zu
wiedersprechen, weil nun der Verstand so eilig mit seiner
Entscheidung ist, so heißt es oft: und der Dieb ging schnell
zum Strick, denn die Richter wolten eßen; so wie solches
in England öfters geschiehet, weil die Richter nicht eher
eßen können, als biß die Sache abgeurtheilt ist. Wenn ein
türkischer Richter Partheyen abhört und sie führen beyde

/ sehr

|P_38

/sehr viel zu ihrer Vertheydigung an: so wird er dadurch
gantz verwirrt gemacht, %und glaubt daß die Partheyen bloß
aus gar zu vieler Hitze zu viel reden, er läßt sie dahero
beyde auf den Bauch legen und ihnen etliche 50 Schläge zur
Abkühlung zuzählen.

/Die Lehre der Sinnlichkeit überhaupt ist die Aestetik, diese
aber ist 3fach: Aesthetica transcendentalis, ist die sich bloß
mit dem Erkenntniß beschäftiget, das nach den Gesezen der
Zeit oder des Raums entspringt: Aesthetica physica die sich
mit der Natur der Sinnen beschäftiget %und Aesthetica practica.

/ ≥ Von den Sinnen. ≤

/Die Materie der Sinnlichkeit, die Form der sinnlichen Vorstel-
lungen, in so fern wir uns etwas dieser Empfindung pa-
rallel vorstellen. Bey jeder Sinnlichkeit aber ist zugleich eine
Abbildung, in der wir die Bilder der Eindrücke, die auf
unsre Sinne geschehen sammlen, und sie uns auf einmal
vorstellen, daher man sich auch öfters kein Bild von einer
Sache machen kann, bloß weil die Einfachheit bey dem-
selben fehlt ZE bey der Göthischen Bauart, wo viele
Zierathen angebracht sind. Wir haben aber auch das Ver-
mögen, und bey Abwesenheit des Objects noch das Bild
vorzustellen und solches nennt man die Nachbildung oder
Vorbildung, welche beyde Begriffe nur der Zeit nach un-
terschieden sind. Hievon ist aber gantz unterschieden

/ die

|P_39

/die Einbildung, da wir uns ein gantz neues Object schaffen,
der gemeine Rede Gebrauch deutet den wahren Begriff dieses
Wortes an, obgleich bey den Philosophen solches oft statt der Nach-
bildung gebraucht worden. Eine solche Einbildung muß ein
Poet haben. Diejenigen welche äußere Gegenstände für
bloße Erscheinungen halten, nennt man Idealisten. Die Ro-
manen, die dem Menschen in eine eingebildete Welt sezen,
sind gantz untauglich, sie dienen aber vielleicht dazu, daß sie
die Nerven des Menschen auf allerley Weise zerren. Es hat
der Mensch Macht seine Empfindungen so wohl des äußern
als des innern Sinnes seiner freyen Willkühr zu unter-
werffen. Die Amerikanischen Knaben legen Kohlen zwischen
ihre zusammengebundene Hände und sehen sich einander an,
wer unter ihnen zuerst das Gesicht verzerren wird, wo-
rüber sie als denn lachen. Sie gewöhnen sich hierdurch von
aller Empfindung zu abstrahiren und gleichsam fühllos
zu werden. Es geziemet sich für einen Mann bey dem
SPiel des Schicksals gleichsam unempfindlich zu seyn und
«da»durch Anwendung seiner Attention und Abstraction sein
Unglück zu vermindern, man kann es hierin auch sehr weit
bringen.

/Alle unsre Erkenntniß hat ihre Quelle in der Erfahrung ob
wir nun gleich nicht alle unsere Erkenntniß aus der Erfahrung
schöpfen; so erwerben wir auch selbst die Vernunft_Erkentniße
lediglich bey Gelegenheit der Gegenstände der Sinnen %und welches

/ bes:

|P_40

/besonders zu merken, so haben alle unsre Erkenntniße,
selbst die wir durch die Vernunft bei Betrachtung der Welt
von einem Urwesen oder von Gott haben, ihre Beziehung auf die
Gegenstände der Sinne, denn dadurch daß wir vom Daseyn
Gottes überzeugt werden, werden wir auch bewogen uns in
Absicht der Welt so zu verhalten, daß wir der Glückse-
ligkeit würdig werden die uns die Güte eines höchsten We-
sens verspricht. Diejenige Methode der Beurtheilung der
Welt, da wir in Rücksicht deßen was in uns ist, die äußre
Gegenstände für bloße Erscheinungen halten, nennt man den
Idealismus, diesen theilt man ein in den theoretischen aes-
thetischen und practischen. Es giebt ein vernünftiges Ideal
da wir nemlich den äußern Gegenständen keinen Werth
zueignen, als in so fern sie auf ein vernünftiges Wesen
ihre Beziehung haben. Daher wir bey Betrachtung der un-
zähligen Welt_Körper sobald wir uns kein vernünftiges Wesen
auf denselben dencken auf die so viel Gegenstände ihre Be-
ziehung haben, gegen alle diese ungeheure Körper in denen
vielleicht kristallne Berge pp befindlich eine geheime Ver-
achtung empfinden. Aus diesem vernünftigen Ideal aber
ist der theoretische Idealismus entstanden, indem man
glaubte daß man in der Welt bloß vernünftige Wesen
annehmen, und den körperlichen Dingen außer uns alle
Wirklichkeit nehmen könnte. Man stellte sich nehmlich vor,

/ daß

|P_41

/daß die Erscheinung der Welt ein bloßer Traum sey, worin
aber die Erscheinungen sich nach einer gewißen Ordnung zu-
trügen, %und es wäre kein andrer Unterschied zwischen einem
würklichen Traum und den Erscheinungen der körperlichen Welt,
als zwischen Unordnung und Ordnung, allein dieses theoretische
Ideal hat einen so wenigen Effect in Ansehung der %.Menschlichen
Handlungen, daß ein jeder Mensch bey wirklichen Empfindungen
die von den äußern Gegenständen herrühren gleichsam
gezwungen wird ohngeachtet der Subtilitaet die Würklichkeit
der Gegenstände anzunehmen.

/Was nun das aesthetische Ideal anbetrift: so ist solches
theils chimaerisch theils würklich. Es bestehet in der Verach-
tung des Werths der Dinge wie sie würklich sind und in der
Hochachtung des Werths der Dinge, wie sie nach einer
im Verstande liegenden Idee seyn könten. Uns gefällt
nicht alles in der Natur sondern wir glauben immer daß
wenn es so und anders wäre, wie wir wohl dächten, es
doch beßer wäre. So ZE. Wenn wir unsern nackten
Körper betrachten und das musculöse ansehen wie solches
allerley Biegungen und Eindrüke macht, so gefält uns
dieses nicht, und dies kommt daher: weil dem Menschen nichts
gefällt, was eine Bedürfniß verräth, denn der Mensch
schämt sich gleichsam seiner Bedürfniße. Daher wir
auch in Gesellschaften gewohnt sind unsre Bedürfniße mit
aller Sorgfalt zu verheelen. Die größte Schönheit

/ des

|P_42

/des %Menschlichen Körpers sezen wir nach einer in uns liegenden
Idee in das Mittel zwischen Fettigkeit und Magerkeit.

/Eine solche Proportion haben die Alten in der Statüe des
Bachus, Apolls p beobachtet, die heut zu Tage kein Mahler
und Künstler nachahmen kann. So hat ein rechte Pferde-
Kenner eine Idee von einen vollkommen schönen Pferde,
ob ein solches gleich niemals anzutreffen ist, und er selbst
wenn er auch mahlen könte, ein solches aufs Papier zu bringen
nicht im Stande ist. Es dient ihm dieses Ideal dennoch zur
Beurtheilung der Pferde. Ein jeder Mensch von Genie
hat ein solches Ideal, weil aber heut zu Tage die Leute die
Jugend vornehmlich an ein Muster - im eigentlichen Verstande
giebt es kein Muster, sondern solches liegt allein im Verstande
und in der Idee, es ist dieses nur ein Beyspiel - weisen, so
werden sie bloß Nachahmer und getrauen sich nicht etwas
von ihrem eigenen hinzu zu sezen. Ja nichts ist unvernünftiger
als daß man Kinder sogar lateinische Phrases, die von
andern gebraucht sind, auswendig lernen läßt, da sie
denn nichts als einen Ceutonen zusammen koppeln lernen.
So ist in Frankreich der Geist der Einheit und Nachahmung
so groß, daß wenn man 10 Franzosen kennet, man die
gantze Welt kennt. Dagegen ein Engländer der ungesellig
und nicht gewohnt ist sich nach andern zu accommodiren, viel
leichter etwas hervorbringt, was aus seiner Idee fließet

/ und

|P_43

/und Genie zeigt. Man solte billig bey Unterweisung der
Jugend ihr zwar Beyspiele vorlegen, allein sich auch bemühen
ihr Genie zu excoliren, und sie von der Nachahmung abzuhalten.
Was endlich das practische Ideal betrift so hat der Mensch das
besondere Vermögen den Dingen einen Werth zu geben, denen
er will, daher Jemand der vorher in Kutschen gefahren und
nunmehr in dürftigen Umständen lebt und zu Fuß gehet,
sich seinen Zustand gantz erträglich machen kann, wenn er
diesem seinem Zustand noch einen Vorzug vor jenem giebt. Er
darf ZE nur dencken, daß wenn er zu Fuß geht er weit
mehr Gegenstände zu sehen bekommt, als wenn er im Kasten
verschloßen wäre. Ferner daß wenn er selbst zum Krämer
geht, er sich weit beßere Etoffes wählen kann, als wenn
er den Bedienten schickt. Kurz er darff nur an die Kürze
des Lebens dencken, und daß es ihm gleichviel sey wie dieser
Erdenball geschlagen werde, wenn er nur auf seinem
StandPunkt bleibt. Es ist also der Mensch der sich über seinen
schlechten Zustand grämmt, auslachens werth.

/ ≥ Von den Sinnen und sinnlichen Organen. ≤

/Zuerst müßen wir die Empfindung von der Erscheinung wohl
unterscheiden. Durch die Empfindung drückt man die Ver-
änderung aus, die in unserm Körper vorgeht; die Erschei-
nung aber ist, wenn wir uns etwas dieser Empfindung
correspondirendes vorstellen. Zuweilen herrscht oder hat
ein Ubergewicht bald die Empfindung bald die Er- 

|P_44

/Erscheinung ZE Wenn wir Vitriol Säure auf die Zunge legen
so herrscht bey uns die Empfindung, wir unterscheiden hier
nicht mehr ob es sauer oder süße ist. Bey den Gegenständen
aber die auf unsre Augen würken, herrscht die Erscheinung
weil das Gleichgewicht unsers Körpers im Gantzen betrachtet
dadurch nur unmerklich aufgehoben wird, daher der Gemeine
Mann auch glaubt, nicht daß die Lichtstrahlen von den Gegen-
ständen in unsre Augen fallen, sondern daß sie aus unsern
Augen auf die Gegenstände fallen.

/Wenn nun die Empfindung so stark ist, daß alle reflexion
über die Gegenstände bey uns aufhört: so nennt man dieses:
Gefühl: ZE Wenn Jemand aus einem finstern Keller in ein
sehr helles Zimmer gebracht wird, so nennt man bey ihm die
Vorstellung der Objecten nicht Schein sondern Gefühl. Unsre
Sinne sind theils mittelbahr theils unmittelbar. Der einzige
Sinn durch welchen wir uns die Objecte unmittelbar vor-
stellen ist das Gefühl oder der Tactus, die übrigen sind
alle mittelbar. Man empfindet die Gegenstände nicht
anders als vermittelst eines Mitteldinges welches sich zwischen
dem Gegenstande und unsern Organen befindet. So empfinden
wir etwas ZE durchs Gehör nur vermittelst der Bewegungen
der Luft die von Gegenständen hervorgebracht wird.
Wir sehen etwas ZE die Sonne nur vermittelst der Lichtstrahlen
Wir riechen etwas nur vermittelst der Luft, die mit den

/ auf- 

|P_45

/aufgelößten Theilchen eines Dinges erfüllt ist. Wir schmeken
etwas nur vermittelst der durch den SPeichel aufgelößten und
in pupillas oder Warzchen eingeführte Saltztheile. Ferner die
Gegenstände «würcken» würken auf unsre Sinne entweder
mechanice durch Stoß und Druck oder Chymice durch die Auflösung.
Die Sinne auf die die Gegenstände mechanice würken sind das
Gefühl Gehör und Sehen. Diejenige Sinne auf die die Gegen-
stände chymice würken sind Geschmack und Geruch.

/Der Sinn der vor den gröbsten gehalten wird nemlich das Ge-
fühl ist nicht der wesentlichste und stärkste, denn durchs Gehör
stelle ich mir nicht vor eigentlich, daß ich keinen Begriff von dem
Gegenstande habe der die Bewegung der Luft verursacht.

/Durchs Sehen erkenne ich nur die Form der Dinge und etwa ihre
Farbe, welches uns auch zuweilen ein BlendWerk seyn kann, allein
durchs Gefühl erkenne ich die Dinge ihrer Materie nach.

/Man sagt es wären 2 Schwestern gewesen davon die eine
taub geworden, indeßen hätte sie doch mit ihrer Schwester
im Finstern reden können, und zwar auf die Art daß sie
ihre Finger auf die Lippen ihrer Schwester gelegt und aus
der Bewegung derselben ihre Worte genau errathen können,
bloß durchs Gefühl.

/Ein BlindGebohrner in London dem der Staar gestochen war,
hatte zwar viele Vorstellungen, allein er konnte sie nicht eher
erkennen, als biß er sie mit dem Gefühl verglichen hatte
und nachdem er alles durchs Gefühl erkennen konnte, so konte

/ er

|P_46

/er doch keine Race von Hunden unterscheiden als biß er sie
beyde betastet hatte, ja da der einmal in einen Saal geführet
wurde deßen Wände mit perspectivischen Malereyen ausge-
zieret waren, so freute er sich daß er in einem schönen
Garten käme, ging gerade zu, biß er mit der Nase an die
Wand stieß; hier stuzte er und fing die Wand an zu be-
taßten, da er denn bald gewahr wurde, daß es nur eine
fallacia optica wäre. Dem Gefühl kommt der Geschmak
am nächsten, weil sich da die aufgelößten Saltztheilchen
in die GeschmacksDrüsen hineinziehen; dahero kommt es daß
dem Menschen nichts so sehr vergnügt als der Geschmack.
Ein wilder Amerikaner der neben der Oper eine Garküche
findet, wird gewiß die schönste Musick fahren laßen und
sich zu sättigen suchen. Wir müßen hier merken, daß sich
die GeschmacksDrüsen durch den ganzen Mund, sogar durch
den Schlund biß an die MilchGefäße erstreken, daher
wenn die innern Drüsen afficirt werden der Appetit
entstehet, und wenn die Menschen nicht aus Eitelkeit den
Geschmak verderben möchten, so würde ihnen nichts schmeken
was ihrer Gesundheit nicht zuträglich wäre. Sehr oft ist das,
was die GeschmacksDrüsen afficirt, auf der Zunge sehr
angenehm beim herunterschlucken aber findet man, daß
es mit den hintersten GeschmaksDrüsen nicht übereinkommt,
So ist es mit allen süßen SPeisen; dagegen der Rhein_Wein

/ mit

|P_47

/mit den vornehmsten GeschmacksDrüsen nicht harmoniret,
da doch der Nachschmak sehr angenehm ist. Das ist allemal ge-
sünder was zwar im Anfange etwas wiedrig schmekt im
Nachschmak aber angenehm ist.

/Dem Geschmack kommt der Geruch am nächsten, da nemlich die
jederzeit feuchten Drüsen auf diese oder jene Art, angenehm
oder unangenehm afficirt werden. Wer immer eine trockne
Nase hat, riechet nichts.

/Von unsern Sinnen können einige Privat Sinnen andere ge-
meinschaftliche Sinnen «seyn» genandt werden. Zu den Privat
Sinnen gehören diejenigen, wo nur einer allein die Empfindung
haben kann als Geschmack und Gefühl, zu den gemeinschaftlichen
Sinnen durch welche sehr viele ein Object auf einmahl empfinden
können gehört das Gesicht das Gehör und der Geruch. Das Ge-
sicht ist der stärkste Sinn, durch welchen sich auch die mehresten
Objecte auf einmahl vorstellen können. So machen die Franzosen
zE: wenn sie eine große Entfernung meßen wollen ein
Feuer in der Entfernung von etlichen Meilen welches doch ge-
sehen werden kann, dagegen der Schall einer abgelöseten
Canone allererst in einigen Secunden zu einer solchen dis-
tance gelangen würde. Ob man nun wohl durchs Gefühl
sich sehr viele Dinge auf einmal vorstellen kann und man
nur Aufmerksamkeit gebrauchen darf um die vielen
Gegenstände einzeln zu beobachten die man, beym Mangel
des Gesichts, sich nur bloß von der Gestalt, der Härte und

/ der

|P_48

/der Weiche der Dinge einen Begriff machen könte, durchs
Gehör aber kann man sich eigentlich keine Vorstellung von der
Sache selbst machen kann: so ist doch noch nicht ausgemacht daß
das Gesicht dem Gehör vorzuziehen sey. Das Gesicht bringt uns
eine objective Erscheinung, das Gehör aber nur eine subjective Er-
scheinung zu wege. Weil man aber nur das eigentlich schön
nennen kann, was vielen in der *1 Er«fahr»scheinung gefällt; so werden
wir auch nur durch das Gesicht und Gehör bestimmen können was
schön ist, denn was gut schmekt, %und gut riecht, können wir
wohl angenehm aber nicht schön nennen.

/Das Gehör hat eigentlich keine Qualitaet, denn dadurch daß viel
oder wenig Schläge auf das ausgespannte Trommel-Fell
geschehen, bekommen wir w«i»eder eine Vorstellung vom
Angenehmen noch vom Schönen, aber wir finden, daß die
Seele ein Vermögen hat, besonders auf die Proportion der
Zahlen aufmerksam zu seyn, und also auch an den Schlägen
die auf der Ohrdrommel entweder harmonisch oder disharmonisch
geschehen, ein Gefallen oder Mißfallen empfinden. Es ist
also das Gehör nur ein Mittel der Arithmetick, durch die
Empfindungen. Es ist aber zu bewundern, wie man durchs
Gehör, die Zeit in einem Augenblick, in so viele Theile theilen kann
denn man hat ausgerechnet, daß der niedrigste «Theil»
Thon, den ein Mensch nur für einen Ton halten kann,
durch ein 90 mahl oder wie andre sagen, durch ein 24 mahl,

/ oder

/~δRand_48_Z_7

/¿¿¿ Erscheinung ~

|P_49

/oder wie andre sagen durch ein 12 mahl wiederhohltes Berühren
der Trommel im Ohr hervorgebracht werde, und daß zu dem
allerhöchsten Ton, den nur ein Mensch dafür erkennen kann,
600 Bebungen erfordert werden, sind nun etwa 100 Bebungen
weniger: so erkennt man gleich daß es ein andrer Ton sey.
Man sieht also hieraus, daß die Seele des Menschen in dem Augen-
blick, da der Ton angegeben wird, die Zeit in 600 Theile ein-
theilen müße. Und hieraus ist nun auch zu sehen, warum
man zu dem Mittel einem andern seine Gedancken mitzu-
theilen, Wort, und nicht Pantomimen und Geberden erwählt
hat, bloß weil der Schall sich nach allen Orten ausdehnet,
und man überhaupt die Eindrüke aufs Gehör weit stärker
als aufs Gesicht empfindet. Es frägt sich: wie das kommt
daß die Menschen das Gefallen an einigen Erscheinungen
Geschmak nennen, da solche doch gar nicht auf diesen Sinn
würken? so sagt man der Mensch hat Geschmack am
Bauen. Die Ursache hievon scheint wohl diese zu seyn,
weil doch alles zulezt, die Menschen mögen machen was
sie wollen, aufs Eßen und Geschmack hinaus lauft. So sagt
Homer: wenn die Tisch_Glocke gezogen wird: so läuft alles
davon, und wenn er auch nur sein Gedicht, welches ungemein
schön war, nur halb gelesen hatte. Der Geschmack macht doch
dem Menschen das größte Vergnügen, denn durch ihn kommt würklich

/ etwas

|P_50

/etwas in den Körper des Menschen hinein, da er hingegen
durch die andern Sinne lange nicht so afficiret wird.

/Was den Geruch anbetrift, der ein Analogon des Geschmaks
ist, so daß auch durch den Geruch «erkennen kann» die Geschmaks
Drüsen einigermaßen afficiret werden, und man ZE die
Säure schon durch den Geruch erkennen kann; was diesen
Geruch betrift: so scheint es doch würklich, daß er bloß eine
eingebildete Sache ist, denn bey Kindern und bey Wilden be-
merkt man niemals, daß ihnen etwas stinken solte. Ja die
Indianer finden bey Assa foetida keinen üblen Geruch, dagegen
diejenigen, die eine verfeinerte Nase haben, oft von
einem üblen Geruch in Ohnmacht fallen. Man hat auch %ordentliche
Moden im Geruch - In alten Zeiten legte man Ambra,
Bisam pp in die Wäsche und Kleider, damit sie gut
richen möchten; jezo sind die von Blumen abgezogene Was-
ser im Schwange. Der Ekel entstehet vornehmlich aus dem
Geruch, und ist bey den Wilden auch ungewöhnlich.

/Obwohl das Gefühl der unentbehrlichste Sinn ist, weil man
dadurch die Substanz kennen lernet, so ist es deshalb doch nicht
das vollkommenste, denn vollkommen ist ein Sinn nur, in so
ferne er zur Erkenntniß der Gegenstände, und zu meiner
Glückseeligkeit dienet. Einige Sinnen die weit vollkommener
sind, als das Gefühl, dienen dem Verstande, andre vornemlich
der Vernunft. So dient das Gesicht dem Verstande, und

/ ver

|P_51

/verschaft uns von sehr vielen Gegenständen die Kenntniß
das Gehör aber dient vornehmlich der Vernunft, denn durch daßelbe
communiciren wir unter einander uns unsre Gedanken. Das Gehör
ist der Sinn der Gesellschaft oder eigentlich der Geselligkeit, daher
ein Tauber fast immer argwönisch und verdrüßlich ist. Ein
Blinder aber der nur das Gehör hat, ist oft sehr aufgeräumt
und lustig, denn der Mensch empfindet das gröste Vergnügen
in der Geselligkeit. Die Ursache«n» warum Menschen lieber taub
als blind seyn wollen ist, weil das Gesicht mehr dazu dient
die Bedürfniße zu befriedigen, man kann durch daßelbe
die Mittel ausfindig machen, seine Bedürfniße zu befriedigen.
Das Gehör schaft uns ein weit größeres Vergnügen, als das
Gesicht. Wenn wir nach der Ursache fragen, warum das Fr-
Frauenzimmer gerne spricht, so antworten wir mit jenem
Autor, der dafür hält, daß die Vorsehung mit allem Willen
das WeibsVolck so geschwäzig erschaffen, weil wir von ihnen
erzogen werden, und wir also sehr spät erst würden reden
lernen. Der Geruch und der Geschmack ist schon von weit gröberer
Art, als das Gesicht und das Gehör. Der Geruch scheint uns im
gesitteten Zustande ganz unbrauchbar ja wohl gar schädlich zu
seyn, weil viele dadurch in Ohnmacht fallen, allein im rohen
Zustande ist er gewiß von großem Nutzen. Der Wilde kann ein
Feuer riechen wenn er gleich keinen Rauch siehet, er riecht den Brandt- 

/ Wein

|P_52

/Wein, wenn er auch noch so verstekt ist.

/Unsre Empfindungen sind nun entweder fein, oder scharf
oder zart. Feine Empfindungen nennt man, wenn man et-
was sehr kleines empfindet. ZE wenn man sehr feine Schrift
lesen kann, sagt man: man hat ein feines Gesicht. Eine scharfe
Empfindung ist, wenn man den kleinsten Unterscheid bemerken
kann, und eine zarte Empfindung ist, wenn man sehr bald von
einer Sache afficirt wird. Die zarte Empfindung ist dem
Menschen schädlich. Wenn man hier frägt; ob die alten
oder jungen Leute schärfere oder feinere Empfindungen
haben? so dient zur Antwort; daß bey den Alten die
Sinne zwar stumpf sind, aber daß sie dem Unterschied weit
eher merken als die Jungen. Die Ursache ist, weil hiezu eine
lange Ubung erfordert wird. Daher haben die Alten auch
mehr Geschmack und lieben das sanfte, die Jugend aber liebt
sehr das rührende.

/ ≥ Vom Gebrauch der Sinne. ≤

/Der Gebrauch der Sinne ist 2fach, nemlich die Empfindung und
die Anwendung derselben auf den Verstand, oder die Erzeigung
der Reflexion. Wenn wir empfinden; so dencken wir noch
nichts, sondern wir müßen über die Gegenstände empfinden.
Wir sagen gemeiniglich von einem der «d» sich durch die Länge

/ der

|P_53

/der Zeit gewöhnt, leicht über etwas zu reflectiren, daß er star-
ke Empfindungen habe. ZE Wenn man mit einem Jäger zusammen
geht: so weiß derselbe bey Erblickung eines entfernten Orts
zu sagen, ob solcher eine Wiese oder ein Sumpf ist. Wir er-
blicken ebendenselben Ort, die Empfindung ist bey uns ebenso
groß, allein wir sind noch nicht gewohnt darüber sogleich zu reflectiren
Ferner wir bemerken daß ein Jäger im Walde die Wege
sehr leicht zu finden weiß, wenn er auch nur einmal darinn
gewesen, dagegen einer, der seinen Gedancken nachhängt 10
mahl darinn gewesen seyn kann, und zum 11ten mahle doch alles
neu findet. Die Ursache ist, weil der Jäger gleich zum 1ten mahl
wenn er herein kommt, gleich über alles reflectiret.

/Die Empfindung wird durch den öftern Gebrauch stumpf, allein
das Vermögen zu reflectiren wird immer stärker, es sey
denn, daß man durch den öftern Gebrauch immer Ekel daran
findet, immer über daßelbe zu reflectiren, weil der Mensch
die Neigung hat, das Feld seiner Erkenntniß immer mehr zu
erweitern. Wir haben gesagt, daß die Empfindung durch den
öftern Gebrauch stumpf wird, allein das ist nicht so zu verstehen,
daß etwann die Organen dadurch sehr geschwächt würden,
nein; sondern die Aufmerksamkeit auf die Gegenstände
wird stumpf. Die Gewohnheit beraubt den Menschen zulezt

/ fast

|P_54

/fast aller Empfindung; so daß Leibnitz in seiner Theodicée
erzählt, daß als 3 Mägde zusammen gedienet, und einer von
ohngefähr ein Brandt-Feuer auf die Hand gefallen, und da
diese schrie: so sagte die andre darauf; wie weit schmerz-
licher wird das Fegfeuer seyn, allein die andre antwortete:
O Narrin, man kann sich an alles gewöhnen. Die alten Leute
sagen oft, daß sie sich in ihrem Alter weit gesünder befinden
als sie sich in ihrer Jugend befunden haben, allein dieses
rührt daher, weil sie durch die Gewohnheit der feinern Empfin-
dungen, die sie in ihrer Jugend gehabt, beraubt sind, und dies
ist gewiß ein neues Uebel, denn weil sie nun fast nichts empfin-
den: so arbeitet in ihrem Körper alles zu ihrem Untergange,
das Blut geräth in Fäulniß pp. ohne daß sie dadurch incom-
modiret werden, bis das Uebel so zunimmt, daß es unheilbar
wird. Der schläfrige Zustand und ein jeder Rausch schwächt
die Empfindung des äußern und innern Sinnes.

/Ein Mensch kann so voll von Gedanken seyn, daß er fast
nichts empfindet, er kann aber auch in einem gedankenlosen
Zustande sich befinden, da er auch nichts empfindet, und dieses
ist der elendeste Zustand eines Menschen.

/Wenn ein Mensch gar zu empfindsam ist so ist ihm solches auch
schädlich; daher die Aerzte oft darauf sehen und bedacht seyn

/ müßen

|P_55

/müßen, dem Menschen etwas von der Empfindung zu be-
nehmen. ZE Bey der Schlaflosigkeit braucht man das Opium,
allein hiezu gehört viele Praecaution.

/Diejenigen die fast nichts dencken, haben die stärksten Empfin-
dungen, solches bemerken wir an den Wilden. Ja ein gewißer
Auctor erzählt: daß als verkleidete Frauenzimmer auf
eine Insell der Wilden gekommen, wo sich beyde Geschlechter
alles erlauben: so sind die Wilden auf sie zu gelauffen, und
haben sie einmüthiglich für Frauenzimmer erkandt; durch
welchen Sinn sie dieses empfunden, ist nicht zu bestimmen.

/Ein Mensch wird bey seinem unempfindsamen Zu-
stande leicht aufmerksam gemacht durch sein Interesse,
so ZE wenn ein Mensch in einer Gesellschaft ganz in Gedanken
ist, und um sich her sprechen hört, oder Jemanden nur ganz
leise seinen Nahmen nennen hört: so wird er gleich aufmerk-
sam, ja der Mensch hat eine gantz besondere Neigung, auch das
allergeringste auf das Interesse anzuwenden: so ZE wenn
Jemand zu Miethe wohnt, und eine schöne Gegend aus seinem
Fenster erblicken kann: so hält er schon dafür, daß diese
Gegend deshalb schäzbar sey, weil sie ihn interessiret, oder
wenn man Jemand auf eine Gegend aufmerksam machen will:
so darf man ihm nur sagen, daß dieser Ort vordem seinem
GroßVater gehört habe, oder daß hier Jemand von seinen Lands- 

/ Leuten

|P_56

/Leuten wohne, er wird dadurch gleich aufmerksam gemacht.
Ein Mensch wird aber durch die Gewohnheit nicht nur gegen
das Leiden, sondern auch gegen das Vergnügen unempfindlich,
daher ein Mensch seines Lebens bald überdrüßig wird,
wenn er in einer beständigen Ruhe lebt, er betrübet sich
daß keine Unruhe seine Ruhe unterbricht. Wenn ein
Mensch sein Glück recht empfinden soll, so muß er vorher
im Unglück gewesen seyn, daher auch die Romanen-Schreiber
ihren Helden zuerst in die betrübten Zustände verwikeln,
ehe sie ihn mit einem längst gewünschten Glücke krönen.
Thetis stekte ihren Sohn Achilles in die Waßer des Styx,
damit er abgehärtet würde.

/ ≥ Vom Betrug der Sinne. ≤

/Die Sinne betrügen nicht, denn sie urtheilen nicht, sondern
der Betrug ist ein Werk der Reflexion. So schreiben
wir vieles der Empfindung zu, welches doch ein Werk der
Reflexion ist. Wir müßen aber wohl die Erscheinungen von
den Begriffen unterscheiden, jene sind bloße Anschauungen,
diese formiren aber wir uns bey Gelegenheit der Er-
scheinungen, allein weil wir schon so geläufig im reflectiren
sind, daß wir es nicht einmal bemerken: so verwechseln
wir nicht selten die Begriffe mit den Empfindungen.

/ Der

|P_57

/Der Irrthum aber, der bey Gelegenheit der sinnlichen Er-
scheinung, entsteht, entspringt entweder aus einem Blendwerk,
wenn man die Erscheinung für den Begriff hält, so ZE so ist
der Nebel eine Ursache des Blendwerks, da man Dinge, die
durch einen Nebel gesehen werden und entfernt zu seyn
scheinen, für würklich entfernt hält, eben so ist es auch
mit dem Vergrößerungs_Glase; oder aus einem Hirn-
Gespinste, wenn man das, was die Imagination hervor-
bringt für würkliche Erscheinungen hält. So sehen die
Menschen oft dasjenige wovon ihre Kopfe voll sind, ZE
als ein Prediger einer Frauen, die lauter Liebeshändel
im Kopfe hatte, durch den Tubus den Mond sehen ließ, so
sagte sie: ich sehe wie der Liebhaber schmachtet, %und es scheint
daß ihn die Schöne nicht verachtet; hierauf schrie der
Prediger: O Madame schämen sie sich! es sind nicht ver-
liebte, sondern KirchenThürme zu sehen.

/Diejenigen die ihre Imagination nicht viel beschäftigen,
sind für dem Betrug der Sinne, der aus Hirngespinsten besteht,
ziemlich gesichert. So wird ZE ein Wilder niemals ein
Gespenst sehen, dagegen sind die Wilden mehr den Blend-
Werken aus gesezt, denn man muß erst die Sinne gebrau-
chen lernen, um sich bey Empfindungen den gehörigen Be- 

/ griff

|P_58

/Begriff zu machen. So kann man die Begriffe der
Nähe und der Weite, der Größe und der Kleinheit nur
durch die Reflection erlangen. Denn wenn man ZE einen
Hund der Nähe und ein Pferd in der Weite sieht: so
scheinen sie gleich groß zu seyn, und nur durch die Re-
flection über die Entfernung dieser Gegenstände, kann
man einen rechten Begriff von demselben bekommen. So
sahen einige Studenten, die gewohnt waren früh aufzu-
stehen und spazieren zu gehen, im Nebel einen Trupp Gänse
für Dragoner an, weil im Nebel alles weit entfernt
zu seyn scheint, und sie so reflectirten, daß wenn ihnen
ein Trupp Dragoner in eben der Entfernung, als ihnen die
Gänse zu seyn schienen, stehen möchten, sie eben den Anblick
der Gänse geben möchten. Der Sinn des Gesichts ist am
mehresten den Blendwerken aus gesezt, weil wir hier
am meisten reflectiren; so kommt uns alles was hoch steigt
vor, als wenn es uns über den Kopf käme. ZE Bey den
Raquetten. Das Meer scheint uns in der Mitte höher
als die Erde zu seyn, welches von den Lichtstrahlen her-
kommt, und aus der Optik leicht zu erklären ist. Alles
dieses sind nun wahre Erscheinungen, aber der Begriff
den wir von demselben haben ist falsch. Sehr oft halten

/ wir

|P_59

/wir den falschen Begriff den wir von einer Sache haben für
Erscheinung ZE. Wenn der Mond im Horizont aufgeht: so sagen
wir sein Bild ist größer, als wenn er über dem Horizont
steht, wir leiten dieses aus der Brechung der Lichtstralen in
den Dünsten her, allein wenn man vermittelst des Astrolabiums
seinen Diameter mißt: so ist er accurat so groß im %.Horizont
als über dem Horizont. Es ist also hier würklich ein Betrug
des Urtheils, da unser Begriff von der Erscheinung gegeben ist.
Wir betrachten alle Dinge in einer gewißen Weite, nun ur-
theilen wir, daß da zwischen dem Monde im %.Horizont und uns
viele Gegenstände sind, auch weiter entfernt seyn müßen,
als wenn er über dem %.Horizont steht, oder weil er in einer
größern Weite uns eben so groß scheint, als in einer kleinen:
so schließen wir hieraus, daß er im %.Horizont größer seyn
müße. Diesen falschen Schluß aber halten wir für eine
Empfindung. Aber nicht das Gesicht allein, sondern auch die
andern Sinne sind betrügerisch, zE das Gefühl, wenn man
2 Finger über einander legt, und als denn ein Kügelchen von
Brodt mit der äußern Seite des einen, oder mit der
inner Seite des andern Fingers berühret: so deucht mir daß
ich 2 Kügelchen berühre. Ferner wenn man einem Kinde ein
Stück gefrornen Käse in den Mund giebt: so schreyt es, heiß.

/ Dies

|P_60

/Das rührt daher, weil Hitze und Kälte die Nerven zu-
sammenziehn, und einerley Würkung im Munde äußern, da
her sich auch der sonst wiedersprechende Ausdruck originirt:
brennende Kälte. Es ist aber nicht nur ein Betrug der Sinne<2>
äußern<1>, sondern<3> auch ein Betrug des innern Sinnes,
lezteres geschiehet, wenn man das für Empfindung hält, was
in der Einbildung bestehet, und der dem Betruge des innern
Sinnes ausgesezt ist, den nennt man einen Phantasten,
denjenigen aber, der mit seiner Einbildung immer in der Geister-
Welt ist, nennt man einen Schwärmer. Im Canton Bern war
ein sehr rechtschaffener Mann, der Major Dawe, der
auf einmahl sich einbildete, daß er die Stimme Gottes
gehört, die zu ihm gesagt hätte, er solle nach Lausanne
mit seinen Trouppen marchiren, daselbst würde als denn
eine nüzliche Veränderung in der Religion vorgehen.

/Er ging hin, und da er solches ohne Erlaubniß gethan hatte,
so wurde er auf das Rathhauß gefordert, und um die
Ursache gefraget, worauf er denn geantwortet: daß
eine besondere Schickung ihm den March auferleget hätte;
indeßen wurden alle seine Soldaten arretirt, %und er ward,
damit nicht ein jeder unter einem erdichteten Vorwande
solches unternehmen möchte, hingerichtet. Er starb

/ ge- 

|P_61

/geruhig, indem er dachte, daß Gott vielleicht in der andern Welt,
mit ihm eine Veränderung vornehmen würde - Hier kann man
Schwedenburgs Schwärmereyen nachlesen - .

/Der Betrug des innern Sinnes giebt jederzeit den Verdacht der
Stöhrung des Gemüths, weil doch sehr leicht Empfindungen von
Einbildungen zu unterscheiden sind. Es ist daher Fanatismus
wenn ein Mensch immer denckt in Gemeinschaft mit höhern Gei-
stern zu seyn immer sehr gefährlich. Es ist auch dem Men-
schen nichts schädlicher als daß er seine Gedanken immer auf
seinen Zustand richtet, und abgesondert von aller Gesellschaft
nur immer sein Gemüth zu belauschen sucht. Dies ist jederzeit
eine Verlezung des Gemüths, welche endlich zur volligen Stöh-
rung des Gemüths werden kann.

/Ein solcher der immer innre Anschauungen hat, verlezt auch
leicht alle Pflichten die er andern schuldig ist. Des Lavaters
Aussichten in die Ewigkeit sind gut zu lesen, allein er gesteht
selbst, daß er beym Schlafen gehen, gleichsam den Körper als von
der Seele getrennt bemerkt habe; welches auch schon eine ziemliche
Schwärmerey ist. Die Priester des Großen Lama geben sogar
Pillen ein, die den Menschen von aller Sinnlichkeit abziehen,
und ihn in lauter Schwärmereyen versezen. Uberhaupt können
wir merken, daß alles, was sich nicht mitteln läßt, beyseite
gesezt werden müße, weil unsre Vernunft communicativ %und theilnehmend ist.

/ Wir

|P_62

/Wir gehen nunmehro zu dem Verhältniße der Vorstellungen
untereinander, da eine die andre bald belebt, bald schwächt

/Wir lieben

/1. Die Mannigfaltigkeit, diese bestehet in der Vielheit verschie-
dener Dinge zu gleicher Zeit. So lieben wir die %.Mannigfaltigkeit
bey der Taffel, ferner in Büchern, daher Montaigne und die
Wochenschriften so gut gefallen; ferner die %.Mannigfaltigkeit in
Gesellschaften, wenn nicht bloß Personen sind, die immer von der
Gelehrsamkeit %und von der Handlung sprechen, sondern wenn alles
gemischt ist; ferner lieben wir die %.Mannigfaltigkeit in Gebäuden.
Als Jemand nach Rom fahren wolte %und man ihm sagte: daß er durch
eine große Allée fahren müßte: so kehrte er um, bloß weil
ihm bange wurde, so lange in einer Einerleyheit zu seyn, und
nichts anders als dicht gepflanzte Bäume zu sehen. Ein Wald
wird bloß um der %.Mannigfaltigkeit geliebt, und weil man die
Bäume da ganz in %.Unordnung findet. Man mengt auch biß-
weilen das schlechte mit dem schönen, bloß um der %.Man-
nigfalt willen. Ja der Schöpfer selbst hat sie gewält.

/Man kann von vielen Geschöpfen den Nutzen gar nicht einsehen,
die vielleicht bloß da sind, um die %.Mannigfaltigkeit zu vergrös-
sern. Kurz die Mannigfaltigkeit ist ein großer Reich-
thum der Natur.

/ II.) Die

|P_63

/II.) Die Abwechselung ist die Mannigfaltigkeit in den Dingen
in so fern sie in verschiedenen Zeiten sind. Hier folgt oft das
schlechte auf das Schöne, bloß um die Einerleyheit in der Folge
der Dinge zu verhüten, unser Gemüth bekommt durch die Abwechsel-
lung immer neue«r» Kräfte, so wie man von einer Canonen Kugel
weiß, daß wenn «man» sie auf die Erde stößet, sie mit neuen
Kräften fortprallet. Die Ursache, daß der Mensch so sehr die
Abwechselung liebt, ist in Absicht auf den Körper sehr mechanisch,
unser Körper ist schon so eingerichtet, daß wir nicht lange in
einerley Stellung bleiben können. Ja man kann ohne Schweiß-
Pulver sehr leicht in Schweiß gerathen, wenn man in ei-
niger Zeit kein Glied nicht rührt. Tshirnhausen preißt solches
würklich als das beste Mittel zu schwitzen an. Man kann
solches leicht versuchen, wenn man sich im Bette etwa auf
den Rücken legt, und ohne eine einziges Glied zu bewegen,
eine Zeitlang liegt, so wird uns um das Herze so beklommen,
und bald darauf schwizt man. Es ist im ganzen Körper des
Menschen schon ein Bestreben zur Abwechselung und zur
Bewegung, denn eine jede Muskel hat ihren Antagonisten
der die gegenseitige Bewegung verlangt. So geht es auch
mit dem Gemüth, wenn man sich gar zu sehr auf eben die-
selbe Sache einschränckt, so ermüden die Organen des Gehirns.
So wie das Tröpfeln des Waßers wenn es auf eine Stelle

/ fällt

|P_64

/fällt, die gröste Würkung thut, so werden auch die Pfosten
unsers Körpes, wenn sie immer auf gleiche Weise angestren-
get werden, zulezt gantz aus einander gerißen. Derham
erzählt; daß Jemand bloß darum, sein Hauß nicht habe einem
Musico vermiethen wollen, weil durch seine BaßGeige be-
ständig das Hauß erschüttert würde, und er befürchtete das
Hauß möchte mit der Zeit einfallen. Wenn Soldaten über
eine Brüke marchiren, so kann sie durch den gleichen Tritt
leicht aus ihrer Verbindung gesezt werden. Man muß daher
die SeelenKräfte nicht zu sehr auf ein und daßelbe Ob-
ject anstrengen, sondern zuweilen durch Lesung angenehmer
Bücher die schwach werdenden Kräfte erfrischen, denn durch
die ZwischenRäume wird das Bewustseyn unsers Lebens ver-
größert, welches unser Wohl aus macht.

/III.) Die Neuigkeit sezt allemal was zum voraus, welches
in unsern gantzen vorigen Zustande nicht war, obwohl das-
jenige bey einigen wiederum neu ist, was vergeßen war.
Die Neuigkeit ist uns so angenehm, daß wir uns wohl den
gantzen Tag damit beschäftigen konten, denn wenn wir
in Gesellschaft kommen; so ist gemeiniglich die erste Frage
diese, was giebts Neues? Bey der Neuigkeit kommt es nicht
so wohl auf die Neuigkeit der Sache; als auf die Erkenntniß
an, wenn aber beydes verbunden ist: so ist die Würkung größer,
weil Communicatio ist, %und also das gerne erzählen was andre noch

/ nicht

|P_65

/nicht wißen. Bey der Taffel spricht man gemeinhin von Neuig-
keiten zuerst, und wenn Jemand kommt und nichts neues weiß, so redet
man gemeiniglich vom Wetter, weil man von draußen kommt %und es auf
die Art recht empfunden hat. Man kann auch vom Wohl der Personen
reden, und vom Zimmer in welches man tritt, allein darüber würde
sich ein jeder wundern, wenn man beym Eintritt in die Stube, von
Grichen und Römern und andern alten Sachen sprechen wolte. Wenn
ein Mensch aber gar nichts zu reden weiß: so pflegen die Italiener
zu sagen: der Mensch hat den Tramontan verlohren. Tramon-
tan nennen sie die Nordwinde, die über die Gebürge wehen.
Sie meynen also der Mensch könte doch wenigstens vom Wetter
oder vom Winde reden, wenn er nichts anders wüste. Die
Neuigkeit macht auch sogar Sachen zum Besiz angenehm. Die Selten-
heit besteht in demjenigen, was nicht häufig angetroffen
wird, oder was nicht gemein ist.

/Die Menschen bekommen deshalb oft einen Werth, wenn sie etwas
singulaires haben, wenn es gleich sonst nicht zu loben ist. Uber-
haupt fordert man von einem jeden Menschen etwas Characte-
ristisches. Eine Münze, von der man sagt, daß sie selten an-
getroffen werde, hat bloß deshalb einen Werth bey den Menschen.
Allein derjenige der eine Sache bloß um der Seltenheit willen schäzt,
verräth einen verdorbenen Geschmack, denn dieses kann nicht
aus der allgemeinen Vorstellung hergeleitet werden, sondern es
ist bloß die Würkung der Eitelkeit. So hält mancher eine Putz-
scheere hoch, bloß weil sie Epictet gebraucht hat. In dieser

/ Verfaß- 

|P_66

/Verfaßung kann man den Menschen recht kennen lernen.

/In Holland war ehedem die Blumen Liebhaberey so groß, daß
man im vorigen Jahrhundert, wohl 2 biß 3000 Holländische Gulden
von der Kanzel demjenigen bieten ließ, der eine seltne Blume
hätte. Wenn man nun eine recht seltne Blume hatte, und eine
eben solche im Garten eines andern sah: so kaufte man sie wohl
mit 5000 Gulden ab und zertrat sie, damit man nur allein
in dem Besiz einer solchen Blume wäre. Es ist aber auch bekandt
daß die Holländer keinen Geschmack haben.

/Die Lust an geschehenen Seltenheiten aber ist wieder ein gantz
aparter Trieb. Man hält einen solchen Menschen der viele Selten-
heiten gesehen, auch darum für einen seltenen Menschen. Allein
man muß nicht solche Seltenheiten bemerken, als der Handwerks-
Bursche, der öfters ein Wappen über einem Stadtthor, das
falsch und schlecht gemahlt ist, sich besonders merkt, und es Wahrzeichen
nennt, als etwa ein Stephans-Stein, oder eine besondere Art
Marmor, und Stein der zu nichts nüze ist, als in der Mauer
zu gebrauchen.

/IV.) Wenn man die Seltenheiten und ihre Eigenschaften recht auszeichnen
will: so sagt man gemeinhin zuerst, wie die Sache nicht ist. Der
Contrast bestehet darinn, daß man ein Ding mit demjenigen,
welches sein Wiederspiel ist zusammenstellt. Es wird auch die
Abstechung genandt, und ist dem Menschen sehr angenehm. So hält
oft eine Dame KammerMädchen von schlechter Bildung, daß sich ihre
Schönheit desto mehr ausnähme. So giebt es viele Contraste

/ in

|P_67

/in der Natur. ZE Pontoppidan beschreibt, wie er in den Nordischen
Gegenden bald ungeheure Felsen, bald rauhe Berge, bald vortrefliche
und fruchtbare Thäler angetroffen. So beobachten die Chineser in An-
legung ihrer Gärten einen Contrast. Ein gewißer Auctor gedenkt
eines kleinen Menschen der sich sehr hütete bey Jemanden im Parla-
ment zu sitzen zu kommen, der 6 Fuß hoch war, damit er als denn
wegen seiner Kleinheit nicht gar lächerlich würde. Der Microme-
ger des Voltaire ist auch hieher zu rechnen. Allein wenn der Con-
trast mit einem Wiederspruch verbunden ist; so erniedrigt daß
den Menschen sehr. ZE wenn man einen wohlgekleideten Menschen
wahrnimmt, daß er ein schwarzes und zerrißenes Hemde anhat,
so ist dies ein Contrast mit einem Wiederspruch verknüpft.
Ferner ist die Continuitaet oder der allmälige Ubergang von
dem Absprunge zu unterscheiden, denn jenes lieben wir und
dieses ist uns verhaßt. Wir verlangen jederzeit, daß unser
Zustand allmählig verändert werde, daher mißfällt uns jeder-
zeit das ekigte, das abgeschnittene, und eine Rede die keinen Zu-
sammenhang und Verbindung hat, so auch die spitzige Schale in der
Malerey. Der plötzliche Absprung ist allemahl etwas wiedriges,
wenn Jemand einen in Affect sezen will, so muß er ihn allmälig
dazu praepariren. Wir wollen noch einige Beyspiele vom Contrast
hersezen. Ein Successor der accurat und %.ordentlich ist, hat es gut
wenn er einen %.unordentlichen Antecessorem gehabt, weil er ab-
sticht. Es ist jederzeit gefährlich eine Wittwe zu heyrathen,
weil wenn sie einen guten Mann gehabt hat, sich immer deßelben
erinnert, und mit ihrem jezigen unzufrieden ist. Es wäre

/ sehr

|P_68

/sehr gut, wenn bey Besezung der Ämter darauf gesehen würde
daß jedem Amt ein solcher fürgesezt würde, der mehr Meriten hätte
als zu diesem Amt erfordert würden, weil es gut absticht. So
kann einer ein vortreflicher Schulmann seyn, der wenn er Pre-
diger wäre verachtet würde. Bey wiedersprechenden Contras
ten, wo 2 Dinge vereinigt werden, deren eines dem andern ent-
gegengesezt ist, wird der Contrast zwar stärker aber die Ver-
einigung schwächer, dieser Contrast ist allemahl schädlich und muß
verhütet werden. So zE ist es ein wiedersprechender Contrast
wenn ich ein wohl gekleidetes und dem Schein nach artiges Frauen-
zimmer, einen pöbelhaften Ausdruck aus stoßen, oder plattdeutsch
reden höre, oder wenn ein Prediger ein französisches Wort
brauchte, denn die deutsche SPrache, welches eine ursprüngliche
SPrache ist, ist so delicat, daß ein jedes Wort aus fremden
SPrachen darin zu merken ist. Die wiedersprechende Con-
traste bringen uns oft zum Lachen, ZE wenn eine Menge Per-
sohnen bey einem Actus versammlet sind, wo alles ernsthaft
zugehen soll, als denn sind sie am meisten zum Lachen gestimmt,
es darf als denn nur ein Hund unter sie kommen, oder einer
Zoten reißen, so brechen sie alle ins Lachen aus, und denn können
sie das Lachen nicht hemmen, weil einer nur den andern ansehen
darf, und nur an die vorige ernsthafte Stellung gedacht werden
dürfte um immer zu lachen. So lachen wir wenn wir sehen, daß
Jemand stolpert und fallen will, welches ein boshaftes Lachen
zu seyn scheint - und dasjenige ist allemal ein boshaftes

/ Lachen

|P_69

/Lachen wenn es der andre nicht mit machen kann. - Dieses aber
kommt daher, weil wir an seinen vorigen stoltzen Gang dencken
und ihn mit dem Stolpern vergleichen. Ferner wenn Jemand in
prächtigen Kleidern aus geg{2- ang -2}en ist unterwegens bemerkt, daß er
ein Loch im Strumpf hat, so wird dadurch gantz decontinencirt,
weil er bey jedem Tritt an den Contrast denckt der hinter ihm ist.
So bemerken wir auch, daß von 2 gegeneinandergesezten Dingen
eines hart ist, und gleichsam schreyet. Hieraus pflegen wir ur-
theilen zu können, ob Farben sich zusammen schicken oder nicht ZE
keine Farbe schickt sich, die der andern sehr nahe kommt, aber doch
nicht ganz gleich ist. ZE wenn einer einen dunkelblauen Rok hat,
und eine etwas lichtere Weste, hier stellen wir uns vor, daß die
Weste noch etwas blauer seyn könnte, und daß solches ein Mangel sey,
Jeder Mangel aber mißfällt. Wir stellen uns hier vor, daß
der Mensch den Zweck wohl intendiret, gute Kleider zu haben
aber daß er seines Zweks verfehlet. Wie kommts, da«s»ß ein blauer
Rock und eine rothe Weste gut laßen, aber nicht ein rother
Rock und eine blaue Weste? Die Ursache ist, der blaue Rock
bedeckt zum theil die Rothe Weste, und das Auge des Menschen
geht vom blauen Rock durch das Violette oder der Mischung von
vielem blau %und wenig roth, auf das rothe, hier ist also ein Uber-
gang. Allein wenn wir vom rothen Kleide auf die blaue Weste
sehen, so gehen wir eine schmutzigrothe Farbe durch, die
aus der Vermischung von viel roth und wenig blau entsteht. Es
liegt hier immer Beurtheilung zum Grunde, das leichtere muß

/ immer

|P_70

/immer nur den kleinsten Theil ausmachen, ferner das Futter
von einem Kleide muß immer lichter seyn, wenn es abstechen soll,
oder wenn es von derselben Couleur seyn soll: so muß es Seide,
welche wegen ihres Glantzes schon an sich heller ist, seyn. Das
Steigern ist sehr angenehm. Das harte schickt sich beßer für die
Jugend als für das Alter. Ein Wilder liebt jederzeit das rothe.
So bemahlen die NordAmerikaner ihr ganzes Gesicht mit Zinober
den sie von den Franzosen erhalten. Das Ponceau rothe ist die
stärkste Farbe. Die hellen Farben kleiden alle Jungen Leute, für
das Alter schickt sich nur das sanfte, nicht weil der Mensch alt ist
und der Welt absterben muß, sondern wegen der Gesichts_Farbe
und dem Zügen des Gesichts. Einen Menschen dem nicht wohl ist,
wird beym Anblick harter Farben noch übler. Man hält
die dubieusen Farben für die sanften. Für Leute die blond
aber dabey gesund sind, schickt sich die blaße Farbe %und für brunette
Leute schicken sich die harten Farben. Auch die schwarze schickt sich
für blonde Personen %und zwar durch den Contrast, denn hier ist ein
völliges Gegentheil. Unsre Empfindungen werden schwächer bloß
durch die Dauer. Sie schwächen sich durch sich selbst %und das kommt daher,
weil das Gemüth in der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der
immer einerley ist, nachläßt. Man sagt ZE wenn Jemand seine Ehegattin
verliert: so soll der Schmerz darüber eben so seyn als wenn man
sich an den Ellenbogen stößt, der zwar groß ist, aber bald nachläßt.
Man muß daher nicht lange über eine und dieselbe Sache dencken,

/ sondern

|P_71

/sondern dazwischen etwas andres vornehmen, dadurch die Auf-
merksamkeit wiederum Kräfte bekommt. Zuweilen kann man sein
Gemüthe von einer wiedrigen Sache gar nicht abziehen. Wenn wir wollen,
daß etwas lange dauren soll: so müßen wir es so machen, daß noch
immer Hoffnung zum Wachsthum da sey. So dauert eine Freundschaft,
die bald zu ihrer völligen Reife kommt, nicht lange. Wenn wir glücklich
seyn wollen, so müßen wir uns nicht auf einmahl von unserer
vortheilhaftesten Seite zeigen. Das Gemüth hat eine völlige Repug
nanz wieder die Monotonie oder Gleichförmigkeit, es abhorrirt nichts
so sehr als immer an denselben Fleck gebunden zu seyn. Wenn wir
an den Zustand des Menschen gehen; so finden wir, daß die Empfin-
dungen des Menschen zuweilen klar, zuweilen dunkel sind. Der 4fache
Zustand, worinn der Mensch sich seiner Empfindungen «nach» nur dunkel
bewust ist, ist im gesunden Zustande, bey der Trunckenheit und dem
Schlaf und im kranken Zustande: bey Ohnmacht und Sterben.

/Man sagt der Mensch ist seiner selbst nicht mächtig, wenn
sein Zustand seiner Willkühr unterworffen ist, und er ist seiner
selbst mächtig, wenn sein innrer Zustand oder er selbst seiner Will-
kühr nicht unterworffen ist. So ist zuweilen jemand in Furcht %und
Bangigkeit, wenn ihm gleich seine Vernunft sagt, daß er nicht so
viel zu befürchten habe, daher kommt es auch, daß die Herzhaf-
tigkeit so zweifelhaft ist, indem die Tapferkeit, auch manchem
beherzten General manchen Tag versagt. Zuweilen befinden
wir uns aber in dem glücklichen Zustande der Selbstherrschaft.
Montesquieu führt an, daß ein General, dem wenn er im

/ Schlaf- 

|P_72

/Schlafrok ist, angekündiget wird, daß der Feind aufbricht, weit
weniger herzhaft ist, als wenn er in seiner Uniform ist. Die
Ursache kann vielleicht diese seyn, weil ein Mensch wenn er gantz
angekleidet, weit wakrer ist, indem durch die paßende Kleidung
die Muskeln beßer zusammen gehalten werden, oder auch, weil
man sich als denn zu allen Unternehmungen fertig sieht. Ein
sehr bequemes Leben macht den Menschen feige, der gröste Grad
der Glückseeligkeit bestehet wohl darinn, daß er über sich Meister
ist, denn die Uebel treffen uns nur, in so fern sie zum Besiz
der Seele gelangen. Dieser Selbstbesiz war die Lehre der
Stoiker, und obwohl die Epikuräer ihre Glückseeligkeit in
die Fröhligkeit sezten, so zeigt doch das, wenn man animi compos
ist, nur größre Stärke an. Man ist ferner seiner nicht mächtig,
wenn man durch Bewegung des Gemüths zu unwillkührlichen
Handlungen gebracht wird. So ist es mit dem Zorn des Menschen
bewandt. So ist das Schreyen der Frauenzimmer eine %.unwillkührliche
Bewegung, allein die Natur hat dieses diesem schwachen Ge-
schlecht zum großen Nutzen eigen gemacht, indem das Schreyen
einen so Gleich vom Schreken befreyet, und das Blut, welches durch
das Schreken zusammen gezogen wird, wieder aus einander treibt.
Man nennt auch die unwillkührlichen Handlungen Passionen. Ein
Zorniger wird oft durch die Größe des Zorns ohnmächtig sich
zu rächen, und seinen Zorn aus zu drücken. Eben so ist es mit

/ einem

|P_73

/einem gar zu heftigen Liebhaber beschaffen. Wenn man einmahl
seiner selbst Herr ist: so darf man nur seinen Verstand informiren
Wenn das nun aus gemacht ist, daß eine sehr klare Empfindung
die übrigen verdunckelt: so ist leicht einzusehen, daß das aus
sich selbst gesezt zu werden, die Dunkelheit in Absicht aller Empfin-
dungen zu wege bringt.

/Der Auctor redet nunmehr von der Extasi, oder vom aus sich
selbst gesezt werden. Wenn nur Jemand durch eine angenehme
Empfindung aus sich selbst gesezt wird: so ist dies das Entzücken,
wenn man aber durch eine unangenehme Empfindung aus sich selbst
gesezt wird, so ist das die Betrü<ä¿>bung - der Pöbel versteht durch
die Entzückung, daß der Geist aus dem Körper in einen gantz
andern Ort wandele oder versezt werde - Physikalisch wird
Jemand betr<ä>ubt, wenn er gar zu sehr schreyt und lärmt; mo-
ralisch, wenn alle Empfindungen dadurch verdunkelt werden.
Diese Betrübung macht gemeiniglich den Zustand des Wachens
dem Menschen zweifelhaft, man denckt als denn zu träumen. - 
Wir wollen etwas vom Zustande der Trunkenheit reden. Wenn
es nicht die Erfahrung lehrte; so würde man es nicht geglaubt
haben, daß ein Mensch ohne seine Gesundheit zu verlezen
sich in einen solchen Zustand versezen könne, da man voller
Chimaere ist; %und alle Dinge gantz anders erkennt als sie würklich
sind. In solchen Ländern, wo die Natur nicht einen solchen starken
Saft hervorbringt weiß man nichts von der Trunkenheit, als
die Grönlaender, die Esquimaux. Alle rohen Völcker sind als denn

/ am

|P_74

/am glücklichsten wenn sie truncken sind, daher lieben sie
auch alle den Rausch, und wenn sie solchen Tranck einmahl
geschmekt haben, so stehen sie nicht davon ab, als die Canadi-
schen Wilden in NordAmericka. Die Orientalischen Völcker
werden durch den Trunck beynahe rasend. - So gerathen
die Türken, wenn sie besoffen sind gemeiniglich in Wuth,
dahingegen bey den Nordischen Völkern der Rausch eine
Geselligkeit hervorbringt. Wir müßen aber sehr wohl
den Rausch der gesellig macht, von der versoffenen Neigung,
die da unthätig zu der Geselligkeit macht unterscheiden.
Es ist noch nicht aus gemacht, ob nicht vielleicht ein mittel-
mäßiger Rausch - oder ausgekünstelte Fröhligkeit - er-
laubt sey. Man wird finden, daß wenn ein Mensch zu Hause
vor sich allein trinckt und betrunken wird, sich jederzeit
schämt, wenn ihm Jemand in einem solchen Zustande besucht,
wenn er aber in Gesellschaft truncken geworden: so schämt
er sich gar nicht. Ein mäßiger Rausch macht gesellig, offen-
herzig und gesprächig und in so weit ist er erlaubt. Wir
müßen aber auch merken, daß nicht alle starke Getränke
gesellig machen, sondern sie haben ihre verschiedenen
Würkungen. - So ist der Brandtwein ein ungeselliger
Trunck, er macht daß man mistrauisch, und aus dieser
Ursache auch heimlich wird, man behält alles für sich und
mag nicht gern Jemanden seine wahre Meynung enddeken,

/ daher

|P_75

/daher hält man auch den, der sich am BrandtWein betrinkt für
schändlich. Das Bier macht gleichfals schwer und unthätig zur
Geselligkeit. In Ansehung der Personen hat man zu merken,
daß sich nicht alle Menschen betrinken müßen ZE: Weiber,
Geistliche - p Uberhaupt müßen alle diejenigen die eine
Schanze zu bewahren haben, dem Rausch entsagen - Nun scheint
es, als wenn die Natur alle Mittel auf die Frauenzimmer
verschwendet hätte, dasjenige zu scheinen, was man nicht
ist, und umgekehrt. Da nun die Eigenschaften zu besitzen und zu
scheinen, die man nicht besitzt viele Achtung und Vorsicht erfor-
dert wird: so muß kein Frauenzimmer sich betrinken, und wenn
es sich betrinckt, so weiß man schon, daß sie die Kunst etwas
zu scheinen, was sie nicht ist, verlohren habe. So wunderbar
scheint es auch zu seyn, wenn ein Jude sich besäuft. Die Ur-
sache ist diese: weil die Juden von allen Regeln im Gemeinen
Leben sich aus nehmen, so wohl im Eßen als Kirchen Ceremonien
und daher sollten sie mehr auf ihrer Hut seyn, und sich nicht
betrinken. Die Trunkenheit scheint nur ein Privilegium
der Bürger zu seyn. Es heißt von den alten Deutschen: sie
faßten ihre Rathschlüße beym Trunck, damit sie herzhaft
wären, und beurtheilten sie nüchtern, - damit sie nicht
ohne Verstand wären. Und gewiß das ist nicht zu tadeln,
denn weil ihre Anschläge mehrentheils auf Krieg %und Frieden

/ gingen,

|P_76

/gingen, so mußten sie herzhaft seyn und daher war beym Trunk
der Wille schon einmal erklärt, auf den andern Tag schämte
man sich dies alles zu wiederruffen, was man den vorigen
Tag so prahlerisch geredet hatte und daher moderirte man nur
etwas den Entschluß wenn er etwas ausschweifend gewesen.
Seneca sagte, als man «den» vom Cato redete also: Virtus
ejus incaluit mero; ich will entweder behaupten, daß Cato
sich nicht betruncken, oder wenn er sich betrunken hat, so behaupte
ich, daß die Trunckenheit kein Laster sey; - gewiß partheyisch -  
Hieraus folgt nur, das diejenigen die nichts zu verbergen
haben, jederzeit aufrichtig sind, sich eher berauschen können,
als die falschen. Daher auch den Deutschen der Trunck
nicht so sehr verarget wird. Man darf aber nicht denken
daß man bey der Trunkenheit den Character des Men-
schen werde kennen lernen, ob wohl sein Temperament
dadurch bekandt wird. Die Gesinnungen der trunckenen
Menschen sind gantz verschieden, einige Menschen werden
als denn zänkisch einige prahlerisch, einige zärtlich und
wehmüthig, welches man gemeinhin bey gemeinen Leuten
bemerkt, allein dies sind nicht Beweißthümer ihres Cha-
racters, denn wenn solche Leute nüchtern werden, so lachen
sie gemeinhin über ihr Betragen. Aber das zeigt ihr Tem-
perament an; so sind einige Menschen nach der Mahlzeit

/ oder

|P_77

/oder vor derselben etwas zornig. Unter Heinrich_III König
in Frankreich beging ein Vornehmer Mann ein groß Ver-
brechen, er dachte aber, weil er den König allezeit großmütig
erkandt hatte, Gnade zu erhalten, und reisete in der Absicht
nach Paris ab. Ein Connetable der dies gehört hatte, sagte zu
dem andern: dieser Mann verliehrt gewiß seinen Kopf,
und als der andre in fragte, woher er das wiße:
so sagte er: es ist heute ein kalter Tag und denn ist der
König gemeinhin hart. Der Mann kam nach Paris und wurde
auch würklich enthauptet.

/Wir wollen nunmehr von dem Schlaf von der Ohnmacht
und von den willkührlichen Bewegungen reden. Der Schlaf
findet sich durch allmälige Grade; unsre Aufmerksam-
keit auf die Gegenstände wird immer schwächer, oder die
SPannung aller Fasern läßt nach, welches daher kommt, weil
wir im Tage viele Kräfte aufgewandt haben. So ange-
nehm es ist unsre Thätigkeit zu empfinden, eben so ange-
nehm ist es auch, wenn wir allmählig unthätig werden;
wenn es scheint, daß uns alles angenehm ist, was die An-
wendung und Ersezung der Lebenskräfte bewürket. Da
nun durch den Schlaff die Kräfte ersezt werden: so ist
es auch angenehm, wenn uns derselbe anwandelt. Wir be-
merken aber, daß wenn uns schläfert uns zu frieren an- 

/ fängt

|P_78

/anfängt; die äußere Wärme verläßt uns als denn. Uber-
haupt wird beym Schlaf die gantze Wärme im Körper
verringert, welches man durch Versuche, indem man einem
Schlafenden, ein Thermometer in den Mund gesezt, erfahren.
Auch der Urin den ein Mensch nach dem Schlaff läßt, ist weit
kälter als sonst. Es läßt also die innre Wärme nach.
Die Erkältung des Bluts verursacht den Schlaf. So weiß
man daß Menschen vor Kälte in einen Schlaf gerathen.
Die SPitzmauß und Murmelthiere schlafen bey der Kälte
gantz fest, ja wenn man die Torex aus ihrem Loche zieht %und
sie reiniget: so schreiet %und quäckt sie dennoch, ihre Lebens-
wärme ist als denn größer als die Wärme der Luft, und
ihr Blut ist ganz klebrig. Da nun die Schläfrigkeit von dem
Nachlaßen der Lebenswärme herkommt: so kann man leicht
einsehen, wie schädlich das viele schlafen sey, es ver-
dirbt das Blut. Bey einem schläfrigen läßt die Aufmerk-
samkeit auf die Gegenstände nach, und die Chimaeren ver-
treten die Stelle der Empfindungen. Es ist überhaupt ein jeder
Mensch auch beym Wachen voller Chimaeren, aber die äußeren
Empfindungen machen, daß man die Einbildungen von denselben
würklich unterscheiden<2> leicht<1> kann<3>; so wie ein angezündetes
Licht bey Tage durch die Sonne verdunckelt wird, welches
doch ein finsteres Zimmer gantz erleuchtet: so ist es auch mit

/ der

|P_79

/der Einbildungskraft; beym Wachen wird sie durch sinnliche
Empfindungen geschwächt, aber des Nachts ist sie sehr merklich.
Wir bemerken ferner, daß das geschwinde Einschlafen, immer
mit einer Bangigkeit verknüpft ist. Jungen Leuten wenn sie
geschwinde einschlafen däucht es, daß sie von einem Thurm,
oder ins Waßer fielen, daß kommt lediglich daher, theils, weil
die Systole und Diastole des Herzens zu geschwinde nachläßt,
oder weil die Muskeln, die die Brust bewegen zu eilig
nachlaßen. Eine solche Bangigkeit ist nur mit einem
tiefen Schlaf verknüpft; ehe man einschläft siehet man
allerhand Gegenstände mit gebrochenem Lichte, die Pupill,
die sonst in beständiger Bewegung ist, steht als denn starr,
gleich einem gläsernen Auge, daher man denn auch einem
an den Augen den Schlaff ansehen kann. Der Zustand eines
schläfrigen ist jederzeit mit einer Mattigkeit verbunden,
und nach dieser Mattigkeit entsteht der Schlummer. Bey diesem
hat man würklich einige äußere Empfindungen. Man hört
ZE etwas, macht sich aber dabey falsche Begriffe. In diesem
Zustand des Schlummers entstehen die Träume, nicht aber im
tiefen Schlaff. Die Sinne müßen die Imagination exerciren
ob man nun gleich beym Schlaf Chimaeren hat, so kann man
sich ihrer doch nicht beym Aufwachen erinnern, denn nur die

/ Chimaeren

|P_80

/Chimaeren deren man sich wachend erinnern kann, heißen Träume.
Ein Mensch in einem Tiefen Schlaf ist einem Todten sehr ähnlich.
Der Athemzug geht als denn so leise, daß er fast unmerklich
ist. Dieser Zustand des Schlafs begegnet dem Menschen alle
24 Stunden wenigstens einmahl. Es ist rathsam, daß wenn
der sich selbst gelaßene Schlaff nachläßt, man sich nicht weiter
bemühe einzuschlafen, denn der Zustand des Einschlafens ist
allemahl etwas krampfigtes, und wenn man öfters nach
einander einschläft, so gewöhnt sich die Natur an das kram-
pfigte, so daß hieraus gemeiniglich die Nerven_Fieber ent-
springen; daher der Nachmittags_Schlaf schädlich ist. Alle
unsre Empfindungen geschehen durch die Nerven: so daß
die Theile des Leibes, welche keine Nerven haben, auch keine
Empfindung haben; wie solches Haller von der Lunge und
andern Theilen des Leibes erwiesen hat. Die %.Gemeinschaftliche
Wurzel aller unsrer Nerven, ist das Gehirn, in demselben
ist das Nerven_System oder der Hauptstamm, welcher die
Medulla oblongata genandt wird, aus welchem sich die Ner-
ven in alle Theile des Leibes verbreiten. So wie man
nun ein Stück von der Wurzel des Baumes abhauen kann,
ohne daß der Baum davon ausgehet, eben so kann Jemand
ein Stück vom Gehirn verliehren, und doch leben bleiben.

/Die Fabrique des Nerven_Saftes ist das Gehirn. Es bestehet

/ «aus» das

|P_81

/das Gehirn aus dem Cerebro und Cerebello - aus dem Vorder und
Hinter_Gehirn - Im Cerebello scheint das Principium aller Lebens
Bewegung zu steken, dagegen im Cerebro oder Vorder_Gehirn die
Organen der sinnlichen %.Empfindung und der %.willkührlichen Bewegung
liegen. Man hat mit einem Hunde das Experiment gemacht,
indem man das Vorder und Hinter_Gehirn trennte, so schlief der
Hund ein. Daher die Schlafsucht oder Letargie bloß von der
Drukung des Vorder Gehirns durch eine Feuchtigkeit hervor
zu kommen scheint. Da die willkührliche Bewegung nur bey
Gelegenheit der äußern Empfindungen vor sich gehen, so müßen
die Organen deßelben auch im Vorder_Gehirn liegen. Wenn man
nun den gantzen Tag gewacht hat, so hat man die willkührlichen
Bewegungen sehr geübt, wenn nun der Nervensaft aus dem
Gehirn zu fließen nachläßt, so laßen auch die SPannungen nach,
und hieraus entstehet die Schläfrigkeit, und eine gewiße
einförmige Erschütterung, welche von der Unachtsamkeit
auf die Verschiedenheit, herkommt. Diese einförmige Erschütte-
rung macht schläfrig, daher kommt es, daß Leute in der Kirche
einschlafen, wenn sie einen Prediger immer in einem Tone reden
hören, schreyt nun der Prediger beständig einförmig, so
schläft man auch gemeinhin fest, %und hört auch nicht eher auf zu
schlafen, als biß er zu schreyen aufhört, dieses macht die
Abstechung. Uberhaupt ist die Rede schon ein soporiferum quid.

/ Es

|P_82

/Es entspringt die Schläfrigkeit wenn die Lebens_Geister
auf etwas anders gezogen werden. ZE: werden sie auf die
peristaltische Bewegung der Eingeweide und auf die Verdauung
gezogen. Der Schlaf kühlt das Blut. Weil nun zur Verdauung beson-
ders Wärme erfordert wird, so ist der Schlaf gleich auf die
Mahlzeit nicht dienlich. Obgleich die Ruhe nach der Mahlzeit sehr
gesund ist, weil wenn die Muskeln nicht %.willkührlich bewegt
werden, und durch ein lustiges Gespräch in Ubung erhalten
werden, sie beßer und tauglicher zur Verdauung sind.
Daher liebt der Mensch auch beim Eßen ein jedes Gespräch,
was zum Lachen reizt, weil dadurch das Zwergfell erschüt-
tert wird. Des Morgens spricht der Mensch gern von Geschäften
und des Abends gern von Gespenstern. Fette Leute lachen
über alles, und es schickt sich auch zu Lachen nur ein kurzer
drolligter Kerl, denn ein langer und hagerer Mensch ist
gar nicht zum Lachen gemacht. Es ist zu bewundern, daß
die Natur uns einen unsern Bedürfnißen so angemeßenen
Instinct gegeben. Es geht also mit dem Schlaf folgendermaßen
zu: die Lebens_Geister und der Nerven_Saft muß sich
in 24 Stunden aus dem VorderGehirn ins Hinter_Gehirn
bewegen, wenn nemlich die Säfte in großer Menge im
Tage verdünstet, so wird zwischen dem Vorder und Hinter
Gehirn gleichsam ein Schutzbrett vor die Mühle vorgezogen,
damit der Nervensaft wieder einen Zufluß erhalten

/ könne.

|P_83

/könne. Wenn nun beym Schlaff ein genugsamer Zufluß ge-
schehen, so wird dieses Schutzbrett gleichsam wieder aufge-
zogen, und die Lebens_Säfte fangen an sich wieder zu er-
gießen. Man nennt im allgemeinen Rede Gebrauch alles
schläfrig, wo eine Mattigkeit herrscht. Es ist ein Unglück wenn
einen Menschen der Schlaf oft unwillkührlicher Weise überfällt,
den man durch Zwang vertreiben muß. So gesund der Schlaf ist,
so schädlich ist er p wenn er übertrieben wird. In den Nor-
dischen Gegenden richten sich die Menschen gemeiniglich im Schlaf
nach den Jahres Zeiten. In Iakutzkan schlafen die Menschen
gemeiniglich 20 Stunden und wachen nur 3 oder 4 Stunden.
Diese Unregelmäßigkeit in Abwechselung des Tages und
der Nacht verursacht bey den Völckern auch eine Unordnung
in der Lebensart, als in einem Theil von Rußland. Dahingegen
die Leute in dem wärmern Clima, wo beynahe 12 Stund Tag und
Nacht ist, auch weit mäßiger <%und>, ordentlicher leben. Wir haben
Vermögen, und diese sind gleichsam nur Werkzeuge, wir haben
aber auch eine Kraft, welche diese Vermögen in Wirksamkeit
sezen kann, und daß ist die freye Willkühr. Wenn diese Ver-
mögen aber den physikalischen Kräften unterworffen sind, so
würken in uns nicht die Obern Kräfte. So hat das Waßer ein
Vermögen Mühlen zu treiben, wenn es gleich nicht allemahl eine
Mühle treibt. Diese Vermögen werden bewegt entweder durch

/ eine

|P_84

/eine physikalische Nothwendigkeit, dieses sind die untern Kräfte - 
die macht die Niedrigkeit, die Thierheit des Menschen aus - oder
durch die freye Willkühr, und dies ist die Obere Kraft. Der
Zustand der Dunkelheit beraubt uns der Macht in Ansehung
äußerer Dinge, denn ein trunckener Mensch ist jederzeit schwach
ob er gleich weit unternehmender ist als im nüchternen Zustande,
und eben dieser Wahn den ein trunkener Mensch hat, reizet ihn
zum Trunck und nicht die Annehmlichkeit des Geträncks. Denn
es ist bekandt, daß Menschen, die wiedrigsten Geträncke trinken,
bloß um berauscht zu werden. Möchte man sich um der Annehm-
lichkeit des Geträncks willen betrinken, so wäre dieses noch
eher zu vergeben. Die Folgen der Trunckenheit sind.

/1. Ohnmacht. 2. Unvermögen. 3. Die Obere Kraft wird ge-
hindert. Oft will ein trunckener Mensch nicht erscheinen,
allein man darf ihm nur aufgeben das Licht zu putzen.

/Alle die Spiritus die aus gegornen Säften bestehen, bringen
den Wahn, von einem großen Vermögen bey, daher ein solcher
Mensch sich einbildet, weit mehr sein Leben zu fühlen, welches
daher kommt, weil die Nerven zwar mehr relaxirt, aber weniger
corroborirt werden. Dieses eingebildete Vermögen scheint der
Grund zu seyn, warum sich Menschen betrincken. Es wäre
in der Medicin noch zu untersuchen, woher diese falsche
Opinion entstehe, und gesezt, daß ein trunckener Mensch

/ auch

|P_85

/auch alle seine Kräfte beysammen hätte, so würde es ihm doch
an der Macht fehlen über sich selbst zu herrschen, er würde doch
immer nur willkührliche Phantasie haben, und gewiß wenn der
Mensch als denn nicht schwach wäre: so würde er durch diese Phan-
tasie noch gefährlicher werden, aber die Natur hat schon dafür
gesorgt, daß die Geträncke, welche närrisch machen, auch zugleich
ohnmächtig machen diese Narrheit aus zu üben. Was die Ohnmacht
betrift, so entspringt solche aus der nachgelaßenen Lebens_Be-
wegung. Es findet sich aber beym Ohnmächtigen ein träumerisches
Wohlbefinden, %und ein sanfter Zustand ein. Wenn wir hier vom
Tode reden: so reden wir nur vom Ubergange vom Leben zum
Tode. Wenn ein Mensch natürlicher Weise stirbt, so stirbt er als
ein Thier nach mechanischen Gesezen. Durch eben die Mittel wo-
durch der Mensch wächßt und sich nähret, eben dadurch muß der
Mensch auch sterben, weil nemlich die Nahrungs_Mittel an ein jedes
Glied sich ansezen, und die alten weiter getrieben werden;
so geschiehet es, daß, wenn immer mehr frische organisirte
Theilchen hinzu kommen, und die alten nicht mehr die Theile des Kör-
pers durchdringen können, solche verstopft werden, daß ein
Mensch von 80 Jahren weit «mehr» <weniger> es fühlt, solches verursacht
die Ungewißheit des Todes und verursacht die wenige Furcht
vor dem Tode. Ein jeder Mensch hoft noch lange zu leben, ja selbst
ein Kranker, dem der Arzt und alle umstehende Verwandte

/ das

|P_86

/das Leben absprechen, hoft noch zu leben wenn er gleich sagt:
daß er gewiß sterben werde. Sehr oft rühmen sich alte Leute
der Gesundheit, und der Tod liegt schon in ihren Gliedern, denn wie
könnten sie sonst über wenige Zeit sterben. Aber das kommt von
dem Mangel der Empfindsamkeit her, die mit dem Alter abnimmt,
er empfindet keine Schmerzen mehr wenn gleich innre Ubel an
seinem Untergange arbeiten. Der Schmerz in Krankheiten ist
eine Anzeige von vielen Lebensfähigkeiten, aber der schon ganz
bleich im Bette liegt und sagt: daß er keine Schmerzen empfinde,
von dem kann man gewiß sagen, daß nichts mehr an ihm lebe
als das Gehirn. Es geht also die Stumpfwerdung der Empfin-
dungen vor dem natürlichen Tode vorher. Die Unempfindlichkeit
der Alten macht auch, daß sie starke Geträncke lieben, welches
junge Leute nicht vertragen können. Nach verlohrner Lebhaf-
tigkeit muß endlich der Verstand nachlaßen, vom würklichen Tode
wollen wir nachher reden. Wir müßen einen Unterschied machen
zwischen dem Ober und Unter_Vermögen, und der Obern Kraft.
Zwischen einigen Bestimmungen ist eine natürliche Verbindung,
einige Bestimmungen entstehen bloß willkührlich, aber dies
sezt eine natürliche Bestimmung der Dinge zum voraus.

/Die Handlungen des Verstandes, wodurch ich mancherley Dinge
unter Geschlechter bringe sind %.willkührliche Handlungen. Andre
Bestimmungen lauffen in eins fort, nach Gesezen der Sinnlichkeit,

/ als

|P_87

/als bey dem Wort Rom müßen wir uns nothwendig eine Stadt
dencken. So wie im nothwendigen Zusammenhang die Theile, des Kör-
pers stehn, so haben auch die natürlichen Ideen ihren Gang. Diesen
Ideen kann der Verstand zwar eine Leitung geben, allein er
muß sich ihnen doch accommodiren. So darf man wenn man das Waßer
an einen niedrigen Ort haben will, nicht Machinen anwenden, das
Waßer herunter zu werffen, sondern man darf nur Canaele ziehen.
Zu den Thätigkeiten, die mit dem physikalischen Vermögen ver-
knüpft sind, gehören:

/1. Das Bildungs_Vermögen

/2. Nachbildung.

/3. Einbildung.

/4. Vorbildung.

/5. Ausbildung.

/Die Sinnlichkeit bringt lauter Bilder hervor, der Verstand aber
Begriffe.

/I.) Vom Bildungs_Vermögen. Bey Oeffnung der Augen geschehen viele
sinnliche Eindrücke, mein Gemüth sezt solche zusammen und macht
daraus ein gantzes, und das ist das Bildungs_Vermögen. So hat ein
Mahler, wenn er die komischen Züge einer gantzen Gesellschaft in
ein Bild bringen soll, große Mühe. Bey allen Empfindungen oder
sinnlichen Anschauungen sind wir leidend, aber das Bildungs_Ver-
mögen ist thätig.

/II.) Von der Nachbildung. Wir können eine Sache, die ehedem geschehen
jezo uns als gegenwärtig vorstellen, dies ist die Quelle von der
Fruchtbarkeit vergangener Zeiten in Ansehung künftiger. Man nennt

/ dies

|P_88

/dies Vermögen auch die Imagination, in Gesellschaft ist die
Praetension: erzählen sie doch was, und eben als denn weiß man
nichts zu erzählen. Wie kommt das? Der Vorrath der Bilder kann
bey einem sehr groß allein man sie nicht gleich nachbilden. Sehr
oft das Gegenwärtige die Ursache das Vergangene zu re-
moviren. Es ist also eine Connexion zwischen den Empfindungen
und den Bildern vergangener Zeiten und zwar eine physi-
kalische Verbindung.

/III.) Die Vorbildung geschiehet eben so wie die Nachbildung. Man
sezt nemlich das gantze Bild vergangener Zeiten auf die künf-
tige Zeit, und dies ist ein natürlicher Fleiß. So gar ein
Hund weiß, wenn der Jäger das Jagdzeug nimmt, daß die Jagd
vor sich gehen soll. Wer dieses SPiel unsers Gemüths versteht,
wird leicht im dichten und reden zu rühren wißen.

/Wir wollen hier kürzlich die vorigen Säze wiederhohlen.
Daß das Bildungs_Vermögen von der Anschauung ganz unter-
schieden sey, sehen wir daraus, weil derjenige der eine
Sache zum erste<@n@>male sieht, zwar eben die Empfindung hat,
als der sie öfters gesehen, allein jener weiß sich noch kein
Bild davon zu machen. Wir bemerken ferner, daß das Gemüth
so gerne bildet, daß wenn auch nur «ein» einigermaßen eine
Aehnlichkeit zwischen Dingen da ist, es das Bild also bald voll-
ständig macht. ZE wenn ein Mensch halb schlummernd im Bette liegt

/ und

|P_89

/und ganz gleichgültig die Gegenstände, die um ihn sind, an-
sieht, und er ohngefähr einen Flecken, an der Wand gewahr wird,
wo etwa Kalk abgebrochen: so kommt ihm solches bald als ein Men-
schen_Kopf mit einem grauen Barte vor. Wie kommts aber daß
das Gemüth am geneigtesten ist, allenthalben eine Aehnlichkeit
vom Menschen zu entdecken. ZE wenn Jemand des Abends reiset
und einen Baum in der Entfernung siehet: so kommt es ihm bald
als ein Mensch vor? Dies kommt daher; weil dem Menschen nichts
mehr im Sinne liegt als ein Mensch, indem nichts wichtiger in
Ansehung unserer als ein Mensch ist, denn vom Menschen hängt
öfters unser Glük und Unglück ab. Man sieht aber auch daß
das Gemüth im Bilder formiren geübt werden muß. So ist ZE
bekandt, daß als die Patres missionarii nach China kamen, sie
unter andern Künsten, auch die Musick auf das Tapet brachten.
Nun war den Chinesern schon sonst die Musick bekandt, sie
hatten auch schon ein musicalisches Tribunal gehalten, allein
ihre Musick ist jederzeit nur einstimmig gewesen, da sie
nun die Musick der Europaeer die aus vielen Stimmen bestand
hörten: so kam es ihnen als ein Geräusch vor, und sie konten
keine Einheit bemerken, dieses kam bloß daher, weil sich ihr
Gemüth kein Bild davon machen konnte. Mancher kann sich sehr leicht
ein Bild von einer Sache machen, ein anderer schwer. Das Ver-
mögen zu bilden, äußert sich entweder bey Gegenwart

/ der

|P_90

/der Dinge, welches man eine Anschauung nennt, oder es ist
nur eine wiederhohlte ehemals gehabte Anschauung, und dies ist
das Nachbildungs_Vermögen.

/IV.) Wir können uns aber auch etwas einbilden, wenn die Sache nie-
mals in der Erscheinung gelegen hat vordem. Wir copiren zwar
bey jeder Einbildung die Materialien zu neuen Bildern, denn
ganz Original ist kein Bild, aber die Zusammensezung geschieht nach
Belieben; dies nennt man die Einbildungskraft, welche das Fun-
dament von alle dem ist, was erfunden wird. Das Vermögen
zu bilden aber liegt jederzeit bey der Einbildung zum Grunde,
die Nachbildung nennt man die Phantasie, unsre gegenwärtige Zeit
ist ein Bild von der vorigen. Bey jedem Wort bildet man sich
die Vorstellung nach, die man mit dem Worte zu verknüpfen pflegt,
und bey Nennungen eines Nahmens bildet man sich allezeit einen
Menschen vor. Wir sind voll von Phantasien, selbst des Nachts
sind sie so stark, daß man die nachgebildete Vorstellungen an
zuschauen glaubt, im Zorn werden sie durch die äußere Empfin-
dungen verdunckelt. Diese Reproductiones sind bey verschie-
denen Leuten auch sehr verschieden. Junge Leute sehen mehr auf
das künftige, Alte mehr auf das Vergangene, und zwar ist bey
den Alten die Reproductions_Vermögen bis weilen so stark,
daß sie die jezige Welt, ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig
halten, keine einzige Vorstellung hat bey ihnen mehr einen rechten

/ Ein- 

|P_91

/Eindruck es dringt nichts mehr biß zu ihren Gehirn, %und hieraus
kommts, daß sie sich den längst vergangenen Zustand leicht,
den kurz vergangenen aber beynahe gar nicht reproduciren können.
Sie glauben daß nunmehr nichts so angenehm ist, als zur Zeit ihrer
Jugend, ja sogar die Sonne deucht ihnen nicht mehr so helle zu schei-
nen, als vor dem, und woher rührt das? bloß daher, weil ihre
Nerven mit einer dickern Haut umgeben, und sie
nicht mehr die Empfindsamkeit besitzen, die sie in
ihrer Jugend hatten. Sehr oft aber ist auch die Parthey-
lichkeit die Ursache dieses Misfallens dieser Welt, weil
sie derselben nunmehr bald Abschied geben müßen. Diese
Reproduction ist entweder die der Empfindsamkeit, oder
die der Bilder. Leztere ist objectiv jene subjectiv. Wir
können uns die Bilder klärer vorstellen als die %.Empfindung
ZE wenn einer vorher in dem elendesten Zustande gewesen
%und hernach reich wird, so kann er sich zwar, das Bild seiner
Armuth lebhaft vorstellen, aber sehr schwach - dagegen
die Empfindung die er bey damaligen Umständen gehabt
fast ganz verschwunden. Doch giebts Fälle wo auch die
Empfindungen lebhaft reproducirt werden, daher man von
einer solchen Sache nicht gern mag reden hören. Das Ver-
mögen nach zu bilden ist zwar allen Menschen nöthig. Aber

/ eine

|P_92

/eine sehr lebhafte Nachbildung ist uns auch nicht selten
hinderlich. Von demjenigen was selten empfunden wird,
kann man sich nicht leicht ein Bild formiren, wenn aber eine
Sache gar zu oft empfunden wird, so wird das Bild in uns
immer schwächer. Daher muß eine Sache mit gewißen In-
tervallis vergeßen werden, wenn sie eine rechte Kraft
auf unser Gemüth haben soll. Daher kommt es daß in einem
Lande, wo auf alles Straffe erfolgt, man sich zulezt gar
nicht am die Straffe kehrt. Rousseau führt an, daß ein
Vater seinen Sohn der allen Wollüsten ergeben war, einst
in ein Lazareth geführt, welches mit lauter solchen %.unglücklichen
Leuten angefüllt gewesen, die natürliche Strafe ihrer
Laster erduldeten, und durch %glückliche Anwendung dieses
Bildes auf seinen Zustand ihn von seinen schädlichen Aus-
schweifungen gäntzlich abgezogen habe. Hieraus sieht man
wie stark ein seltnes Bild sey. Man muß ferner so zu
Werke gehen, daß man seine Empfindungen steigern könne.
Denn es ist bekandt, daß in den Ländern, wo auf die ge-
ringsten Verbrechen eine barbarische und unmenschliche
Straffe gesezt ist, man sich am wenigsten dran kehrt.
Die Ursache ist, weil ein starkes Bild das vorige schwächere
verdunkelt, und wer die größten Straffen - aus Gewohnheit - 

/ ohne

|P_93

/ohne Schaudern ansehen kann, der wird um so weniger die
kleinern fürchten. Wo man die Diebe flüchtig aufhängt, da
wird am meisten gestohlen. Ferner giebt auch die Neuigkeit
der Imagination eine Stärcke, solches sieht man an den Empfin-
dungen der Verliebten, die als bald schwinden, wenn man sich
vereheligt hat. Die Imagination wird durch die Neuigkeit exer
cirt, %und das vorgebrachte Bild haftet länger, das Bild haftet
allemal länger im Gemüth als die Sache selbst, denn wenn wir
das Bild einer Sache in unsrer Seele zeichnen: so fließen hier
allerley Neigungen mit ein, nach deren Verschiedenheit denn auch
das Bild verschieden ausfällt. Gewiße Leidenschaften ver-
ursachen, daß manche Gegenstände mehr in der Abwesen-
heit als in Gegenwart gefallen. So ist es mit der soge-
nannten Zauber Liebe beschaffen da die Imagination dem
Verliebten von der Schönen immer ein vortheilhaftes Bild
einflößt, wenn er von ihr gegangen, als wenn er bey ihr
ist. Solche Verliebten sind unheilbar, indem die Entfernung
ihre Gemüths Kranckheit mehr vermehrt, als vermindert,
dasjenige was nach der Reflexion gefällt, gefällt weit
inniglicher als das, was sich unsern Empfindungen aufdringt.
Daher kommts daß ein Frauenzimmer wenn es nicht so bezaubernd
schön ist, daß sie gleich beym ersten Anblick gefallen sollte,

/ sondern

|P_94

/sondern bey der man vermöge der Reflexion vortheil-
hafte Züge entdeckt, immer das glücklichste ist, es ist hiemit so,
wie mit dem Nachschmak beschaffen. Die süßen Weine
haben gemeinhin im Schlunde einen wiedrigen Geschmack, %und
umgekehrt, die im «Sch» Anfange einen wiedrigen Geschmack
äußern, haben im Schlunde, wegen der feinen Saltze
einen angenehmen Geschmack. Mit den Jahren lieben die
Menschen immer die Weine die ihnen im Nachschmack ge-
fallen - So giebt es auch nur Menschen die im Nachschmak
gefallen, und dieses sind gemeinhin solche, die in Gesellschaft
so etwas an sich haben, welches theils gefällt, theils mißfällt.
Wenn wir ZE: einen Menschen in Gesellschaft sehen, der einen
wiedersprechenden Contrast bey sich führet, dem etwa
die Nath im Kleide aufgetrennt ist, so mißfällt er
uns schon, kommen wir aber nach Hause und denken an
ihn: so läßt die Imagination diesen Fehler weg, %und geht
nur auf das hohe, welches er etwa in seinen Gesprächen
gezeigt hat, kurz er gefällt uns. So ist es mit den
recht witzigen Einfällen beschaffen, da man %.anfänglich
stuzt; sie entwickeln sich aber ohne Zeit Verlust, und
wir merken leicht, wohin sie abzielen. Eine gleiche Bewand-
niß hat es mit dem Lachen. Die Materie worüber man

/ lacht

|P_95

/lacht, muß gleichsam zwey Seiten haben; wenn man sie nur
von einer Seite betrachtet, und im Augenblick das Gegentheil da-
von in die Augen fällt, so legt sich das Lachen in uns. Als der
Pabst einen Poeten, der auf ihn ein Gedicht gemacht hatte eine
Stelle darinn wieß wo ein Vers mangelte, so «antete» ant-
wortete ihm lezterer: er möchte das Gedicht zu Ende lesen,
vermuthlich würde zulezt einer zu viel seyn; so fing der
heilige Vater an zu lachen. Hier ist eben das Gegentheil,
da ein Vers am rechten Orte zu wenig und am unrechten zu
viel ist. Das Nachbilden ist angenehm, in so fern wir uns etwas
aus Partheylichkeit von der vortheilhaften Seite vorstellen.
Hingegen kann man sich kraft dieses Bildungs_Vermögens von
künftigen Dingen ein fürchterliches Bild entwerffen, und in
diesem Fall ist man elend dran, weil man hier ohne Hoffnung
ist, da doch Hoffnung und Schlaf die Mittel sind, wodurch
wir uns alles Unglück erträglich machen können. Stärke,
Richtigkeit und Ausbreitung der Imagination sind sehr von
einander unterschieden - So haben Frauenzimmer eine
starcke und ausgebreitete Imagination, aber sie ist
darum nicht immer richtig. Die Leute die alles nachaffen
können, zeigen eine starke Imagination, man hält dieses
gemeiniglich für Witz, es ist aber nur Lebhaftigkeit.
Diese Imagination muß uns helffen, wenn wir uns

/ an

|P_96

/an die Stelle andrer sezen - So muß ein Redner,
ein Dichter eine starke Imagination haben, wie auch Comoe-
dianten. Keiner taugt zu den Geschäften, der nicht
Imagination hat. Als eins mals eine Actrice, die Rolle
einer Liebhaberin spielte, und der Principal ihr nachher
sagte, daß sie die Rolle schlecht und frostig gemacht hätte,
und sie zugleich frug, was sie wohl machen würde, wenn
ihr Liebhaber untreu würde, so antwortete sie: ich würde
einen andern wählen, worauf der Principal sagte: sie
verdiente nicht geliebt zu werden, am aller wenigsten
aber Actrice zu seyn. Das beste Mittel für Comoedianten,
ihr Rolle gut zu spielen ist, daß sie sich die Sache so vorstellen
daß sie vergeßen, als wäre es eine Nachahmung. Solche
Menschen können auch keinen eigentlichen Character studiren,
auch keinen haben, weil sie sich zu viel mit Fremden ab-
geben müßen.

/Man sagt, daß Valesius ein Mathematiker eine so starke
Imagination gehabt habe, daß er aus einer Reihe von 15
biß 20 Ziffern die Cubic Wurzel im Finstern habe aus-
ziehen könne. Die Orientalischen Nationen haben eine starke
Imagination, daher alle ihre Schriften so bilderreich sind,
dagegen haben sie eine desto schwächere Vernunft.

/ Die

|P_97

/Die Araber und Türken können kein ausgeschnitztes Bild
leiden, weil ihrem Vorgeben nach die bösen Geister solche
Statüen die keine Seele haben, bewohnten; oder wie andre
sagen, weil diese Statüen in der Ewigkeit die andern
Menschen anschwärzen werden, weil man ihnen keine Seele
gegeben. Der wahre Grund aber ist wohl dieser, weil
ihre Imagination beym Anblick dieser Statüen so groß ist,
daß sie solche als lebendig vorstellen; es ist ausgemacht,
daß die Menschen je weniger sie reflectiren desto mehr den
Phantasien unterworffen sind. Das größte Unglück der
Hypochondrischen Menschen bestehet bloß darin, daß sie ihre
Imagination nicht unter der Herrschaft der Willkühr haben,
daher ein solcher Mensch über eine ihm einfallende Chimaere
gantz vor sich lachen kann, ob er es gleich einsiehet, daß es, dem
Wohlstande zuwieder.

/Ein Hypochondrischer Mensch ist einem Wahnsinnigen ziemlich
ähnlich. In den Leydenschaften werden jederzeit die Bilder
in ihrer Richtigkeit verfälscht, daher irrt sich ein Redner
sehr, wenn er glaubt, daß eine Rede welche die Leiden-
schaften rege macht, schön sey. Das rührende ist jeder-
zeit das niedrige Produckt des Menschlichen Genies, in-
dem es nur die Anwendung einer schon vorhandenen Vor-
stellung auf die Triebfedern des Gemüths ist.

/ Wenn

|P_98

/Wenn nicht Richtigkeit in der Rührung ist, so verschaft
es nachmals dem gerührten den größten Verdruß, wenn
es doch ärgerlich ist, daß man dem andern gleichsam zum In-
strument gedienet, da er auf meinen Nerven gleichsam
gleichsam als auf Seiten gespielet hat. So ärgert man sich
über einen Dichter, der durch die Geburten seiner ausge-
laßenen Phantasie, wohl noch gar rühren will. Wenn
aber in dem Gedicht Wahrheit herrscht d. i. wenn die Erdichtungen
der Menschlichen Natur und der Vernunft gemäß sind,
und ich als denn gerührt werde, so ärgert mich dieses gar
nicht, denn ich sehe mich als denn gleichsam ins Land der
Möglichkeit versezt.

/Eine ungezähmte Einbildungskraft ist eher schädlich als
nüzlich; Vernunft und Erfahrungen müßen der Ima-
gination Schrancken sezen. Um seine Phantasien zu
mäßigen, muß man sehen, ob Richtigkeit darinn
herrsche und denn muß man sich hüten, daß sie uns
nicht allenthalben unwillkührlich verfolgt. Denn alle
Ausschweifungen rühren von ihr her. Wer mehr
von seiner Phantasie als von der Gegenwart der
Sache dependirt, ist unglücklich.

/ Vom

|P_99

/ ≥ Vom Witz und von der Urtheilskraft.

/oder vom Vermögen Aehnlichkeit und Unter-
schied zu bemerken. ≤

/Diese Vermögen bestehen eigentlich nur in Actibus der
Vergleichung und sind von der Sinnlichkeit gantz unter-
schieden, als wodurch die Vorstellungen bey uns erzeugt
werden. Es kommt also bey diesem Vermögen würklich
etwas auf die physische Beschaffenheit unsers Gehirns
an, und es ist nicht unrichtig wenn Swift in seinen phy-
sikalischen Betrachtungen von der Dichtkunst sagt: daß
das Gehirn der Poeten mit Würmer angefüllet sey, die
durch das verschiedene Nagen der Nerven, verschiedene Ein-
fälle zu wege bringen. Obwohl er dieses satyrisch sagt:
so ist doch gewiß, das keine characteristische Fähigkeit des
Menschen ohne physikalische Veränderung im Gehirn möglich.
Obgleich niemand diese Veränderung im Gehirn selbst durch
Vergrößerungs_Gläser nicht bemerken wird. Eine jede
distincte Empfindung erfordert eine besondere Organisation
des Gehirns, denn es ist bekandt, daß es gewiße empyrische
Genies giebt, die im Stande sind, alles genau zu beobachten
besonders die ein vortreflich Augenmaaß haben. Werden
denn die Bilder der Sachen in meiner Seele oder in meinem
Gehirn aufbehalten? Wir befinden uns zuweilen in
einer solchen Gedanckenlosigkeit daß wir, wenn

/ wir

/~δRand_99_Z_2

/{2- Von der Imagi-
nation -2} ~

|P_100

/wir in Gesellschaft gebethen werden etwas zu erzählen,
nicht wißen was wir anfangen sollen, wenn aber Jemand
etwas anfängt: so kommen wir sehr leicht auf Materien
die zur Unterhaltung dienen. Es muß also doch etwas im
Kopfe liegen was angränzende Bilder hat. Wenn nun ein
Bild rege gemacht wird, so würckt hier ein Vorfall den
andern. Es ist wahrscheinlich, daß alle Bilder, die einmahl
in unser Gehirn kommen, niemals wieder aus demselben ver-
schwinden, aber dadurch daß sie nicht gebraucht werden
gleichsam so in Staub und Schutt begraben liegen, daß sie
gantz unkenntlich sind. Diejenigen Medici die mit der Ar-
zeney_Wißenschaft die Kenntniß von den Seelen_Kräften
verbunden haben: sagen, daß die Bilder der Sachen, im Gehirn
aufbehalten werden. Die wahre Gelehrsamkeit ist allein
die Kunst dasjenige im Gedächtniß aufzubewahren, was
seines Nuzens wegen im Gemeinen Leben, in demselben auf-
behalten zu werden verdient. Aber die Neubegierde
besteht in einer eitlen Aufmerksamkeit auf alles das,
was nicht dahin gehört, und worauf die Welt, weil es un-
nüz ist, am wenigsten achtet. Die genaue Richtigkeit ist
das rechte Verhältniß der Theile gegen einander und ihre
Ubereinstimmung zu einem Ganzen, der diese nicht hat,
begnügt sich mit einer Genauigkeit in Kleinigkeiten und
beschäftiget sich mit Sylben und Worten.

/ Wir

|P_101

/Wir haben eine lebhafte, aber auch matte Imagination.
Wenn wir worauf dencken und etwas schreiben wollen, so
müßen sich viele Dinge in unsrer Seele offeriren, woraus
wir dasjenige, was zu unsrer Materie nüzlich ist aussuchen
können: gleich als ein Officier, der die größten Leute aus einem
Regiment aussondern soll, sie alle zusammen kommen läßt:
so müßen wir es auch in Ansehung unsrer Bilder machen.
Wir müßen denn gleichsam im Gehirn Lerm schlagen, und
alle Bilder rege machen; hierauf überlaßen wir uns
dem Strom unsrer Vorstellungen, denn bringt eine Vor-
stellung die andere hervor, und wir haben hiebey weiter
nichts zu thun, als daß wir die HauptVorstellung nicht aus
dem Gesichte laßen, denn die Bilder lauffen immer fort,
nach dem sie im Gehirn vergesellschaftet sind, und weil
nun die Imagination oft den Gang nimmt, den die Bilder
in Ansehung der Zeit haben: so können wir sehr leicht ganz
von unserm Object abgeführet werden, wenn wir nicht
aufmerksam sind. Wir haben eben so wenig Macht über
unsre Imagination als über den Lauff unsers Bluts, nur
das können wir thun, daß wenn sie gar zu sehr ausschweift,
wir sie sistiren. Als denn muß man wieder da anfangen
zu dencken, wo man erst angefangen, und ihr hierauf
wieder freyen Zug laßen, als denn wird sie wieder
einen andern Gang nehmen. Man muß sich aber hüten

/ seiner

|P_102

/seiner Imagination Gewalt anzuthun, denn auf die Art
hindert man den ganzen Fortgang der Ideen. In diesem
Lauff der Imagination fließen die Bilder entweder nach
ihrer Nachbarschaft, je nachdem sie zusammen liegen, oder
nach ihrer Verwandschaft, welche von jener gantz unterschieden
ist. Man wird auch zuweilen durch die Nachbarschaft der Ideen
eben so verdrüßlich als wie man sich im gemeinen Leben
über einen nichts würdigen Nachbarn ärgert. Die Imagina-
tion denckt selber nicht, sondern ich bemerke nur ob ich in
den Strom meiner Imagination nicht Bilder entdecke, die
in meine Materie einschlagen. Bisweilen geschiehet es
daß in dem Fluß dieser Bilder, mir eins augenblicklich
entwischt, welches ich doch hätte brauchen können, als denn
ist man gemeiniglich unruhig und bekümmert. Das beste
Mittel, wieder auf dieses Bild zu kommen, ist, daß man
wieder von neuem anfängt zu dencken, kann ich es noch
nicht ausfindig machen: so fange ich es von eben dem Punkt
an, und gemeinhin gelingt es, das verlangte Bild zu er-
tappen, denn jezt darf es nur noch einmal vorkommen:
so wird man es leicht bemerken, weil man schon praeparirt
ist, es auf zu fangen. Wenn man also etwas schreiben
will, so muß man einige Zeit vorher, der Imagination
freyen Lauff laßen; man darf nur gleichsam einen

/ Zettel

|P_103

/Zettel im Gehirn anschlagen, darauf die Haupt Idee nieder-
schreiben, denn kann man unbekümmert in Gesellschaft gehen,
und wenn sich diese in Partheyen getheilet, und man nur Augen-
blicke für sich gewinnt, so fällt einem gemeiniglich der Gedanke
ein, den man sonsten nur mit Mühe hervorgebracht hat. Wenn
man zu Hause ist und sich mit dieser Materie beschäftiget;
so darff man nur noch Bücher von gantz andern Subjecten
ZE lustige Geschichten, Erzählungen, Reisebeschreibungen zur
Hand nehmen; wird die Imagination schwach, so lieset man
in einem solchen Buche, zuweilen geschiehet es, daß ein einziges
Wort, was darinn vorkommt, bey mir ein gantz vortrefliches
und meiner Materie anpaßendes Bild darbeut. - Dasjenige
worauf man sich am wenigsten praeparirt ist das naivste - 
Bey allem diesem Dencken aber muß man einen gebrochnen
Bogen Papier zur Hand haben, worauf man alle Bilder,
die etwa zur Materie gehören promiscue aufzeichnet.
Ferner muß man auch einige Intervalla beym Denken haben,
die zur Erhohlung und Stärkung der Imagination ungemein
viel beytragen. Man muß sich auch hüten, das, was man
selbst aufgeschrieben hat, oft durchzulesen, sondern
man dencke nur immer an die Sache, und sammle Bilder.
Wenn nun alle Materialien zu unsrer Materie da sind,
so wird beym Durchlesen in uns ein Schema entspringen,
welche wir in kurze Säze einkleiden und ohne Zwang aus-
beßern. Ist das Schema richtig, so recurriren wir

/ zu

|P_104

/zu unserm Bilder Magazin. Nun schreiben wir die Ma-
terien in einem Zug ohne nachzusinnen nieder %und fällt
uns etwas nicht gleich ein, so laßen wir ein Spatium und
notiren mit einem Wort am Rande das, was dazwischen kommen
solte, darauf sehen wir es durch, füllen das was noch fehlt
aus, und denn schreibet man es nochmals ab, während dem
Schreiben polirt man es hin und wieder noch etwas ab, und
so wird es fertig. Wer etwas auf einmal recht gut machen
will, und dazwischen seine Gedancken anstrengt; der denkt
sich dumm und verfehlt seines Zwecks gewiß. Auch beym
Bücherlesen ist es rathsam, daß man es erst flüchtig durch-
lese, wenn man gleich nicht alles versteht, findet man daß
der Auctor selbst gedacht hat, und nicht ein Schmierer ist,
oder einer, der uns ein alltäglich Zeug erzählt: so lieset
man nach einem nicht großen Intervallo noch einmal. Und
denn nimmt man eine Bleyfeder zur Hand und notirt
sich die vorzüglichsten Stellen, es sey nun eine gute Historie,
oder recht was arges, oder ein schöner Einfall, denn man
kann das alles brauchen. Da wir nun schon die Absicht der Auctors
beym ersten Durchlesen gesehen, so werden wir bey den Beweisen
oder Definitionen, worauf der Auctor seinen ganzen Vortrag
gründet etwas stille stehen, %und das, was der Auctor gesagt,
genau examiniren, da wir solches erst, ehe wir wusten,
was der Auctor hieraus folgern wolte, übergingen.

/ Alles

|P_105

/Alles dieses was bisher gesagt ist, dient dazu daß man
einsehen könne, wie die Ideen verbunden, und wie man aus
dem Strom seiner Ideen einige nach Willkühr ausziehen könne.
Das Gedächtnis ist das Vermögen beliebiger Reproductionen
ehemals gehabter Vorstellungen. - Es unterscheidet sich also vom
der Phantasie hauptsächlich darin, daß man nach Belieben seine
Vorstellungen müße reproduciren können, da die Phantasie un-
willkührlicher weise die vorigen Bilder in unser Gemüth zu-
rückbringt. Die Phantasie ist einer rastlosen Thätigkeit gleich,
sie ist gleichsam ein Strom von Bildern der unaufhörlich dahin
fließt. Dieser Bilder sind wir uns zuweilen bewußt, zuweilen
auch nicht, hier macht ein Bild das andre rege, und das geht ohne
Ende so fort. Wenn wir also eine Sache verheelen wollen:
so müßen wir im Discours alles dasjenige sehr sorgfältig de-
cliniren, was beym andern das angränzende Bild von dem, was
ich verheelen will excitiren könnte. Wenn man ZE wohin reisen
will, man einem andern aber seine Reise zu entdecken nicht ge-
sonnen, damit man nicht mit Commissionen beschweret werde:
so muß man, wenn man mit ihm spricht, beyleibe nichts von
der Post oder vom Wege reden, denn vom Wege kommt er leicht
aufs Reisen, darauf kommt er, auf mich und frägt mich, ob ich nicht
nach diesem oder jenem Ort hinreisen wolte? %und auf diese Art
habe ich dann Beschwerden zu ertragen. - Man pflegt den

/ Narr- 

|P_106

/Narren vom Klugen zu unterscheiden, nicht durch das was
er denckt, sondern daraus, daß ein Narr alles sagt was
er denckt, ein Kluger aber nur das sagt was sich schickt.

/Möchte ein jeder in der Gesellschaft reden was ihm nach Ge-
sezen der Phantasie einfällt, so würde man den klügsten auch
für einen Narren halten müßen. Hieraus folgt auch, daß
wenn ein Wilder verrückt wird, er niemals ein solcher Narr
seyn könne, als ein anderer der mehrere Materialien in der
Phantasie gesammlet hat. Unsre Phantasie ist mit ein Stoff
zur Klugheit, wenn sie aber nicht unter unserer Willkühr
stehet: so ist sie mehr schädlich als nüzlich. Es können Leute
eine starke Imagination haben und ein schlechtes Gedächtniß.
Ja oft ist die gröste Lebhaftigkeit der Phantasie die Ursache
eines schlechten Gedächtnißes. Wie aber das Gemüth das mache,
daß es aus allen Bildern, das hervorlangen könne, was es
will, ist nicht zu begreiffen.

/Zum Gedächtiß gehören vornemlich 3 Stücke

/1. Etwas faßen.

/2. Etwas behalten.

/3. Sich etwas erinnern.

/Die Fähigkeiten äußern sich bey manchem Subject nur langsam,
bey andern sehr leicht. Man kann ein gutes Gedächtniß haben,
aber doch etwas sehr langsam %und schwer faßen, solches

/ findet

|P_107

/findet man gemeiniglich bey Leuten die wenig Witz haben;
wenn sie sich aber einer Sache erinnern, sie solches mit weit mehrer
Richtigkeit thun als andre. Etwas im Gedächtniß faßen ist,
wenn man es wieder hervorlangen kann, wenn man will,
und lezteres aber zu Stande zu bringen muß man Ideen mit
einander verknüpfen. Dieses geschiehet erstlich dadurch, wenn man
Bilder oft zusammenstellt ZE: Wenn Jemand einen Nahmen nicht
behalten kann, so darf man ihn nur einen andern ähnlichen
Nahmen nennen, so daß wenn er nur einen behält, dieser
ihn sogleich auf den zusammengepaarten ähnlichen führt.
Demnach ist das erste Mittel Ideen leicht aus der Phantasie
hervorlangen zu können, die bloße Association oder Ver-
gesellschaftung der Begriffe. Diese Association ist un-
terschieden von der Begleitung. Denn man so kann mich Jemand
in engen Straßen eine zeitlang begleiten, der aber deshalb
noch kein Gesellschafter von mir ist. Derjenige ist es aber, der
mich beständig begleitet. Indeßen ist doch nach der Natur der
Phantasie die Begleitung ein Grund von der Association. Diese
Association ist oft ein Grund des Ekels vor einer Sache: so
kann mancher keinen Thee mehr trincken, bloß weil er den
Rhabarber, welchen er ehemals einnahm, darin zu schmecken
glaubt. So gar Wörter bekommen eine andere Bedeutung
durch eine zufällige Association ZE: Cour machen, hat
Jemand vielleicht im Scherz gebraucht, statt an den Hoff
gehen, und nun denckt sich fast ein jeder beym ersten

/ auch

|P_108

/auch das leztere, ja die Ideen hintergehen zuweilen die Men-
schen. Es hat das, was durch einen Umschweiff der Phantasie
in unser Gemüth gebracht wird, lange nicht einen so starken
Eindruck, als was gerade zu in unser Gemüth kommt. Woher
kommt das, daß Authores oder auch Leute in Gesellschaft von
lauter Gelehrten, die Wörter die die Naturalia hominis an-
gehen, nicht deutsch sagen, sondern lateinisch, da sie es doch
so gut verstehen, als das Deutsche? Daher weil man das
Wort in Gedancken übersezen muß, und also der Begriff durch
ein kleinen Umschweiff in unser Gemüth kommt, welcher weg-
fallen würde, wenn man den deutschen Ausdruck gebraucht
hätte. Es wird also durch den lateinischen Ausdruck die
Bescheidenheit nicht so grade zu beleidigt wird. Allein wenn
ein solcher Umschweiff oft gebraucht wird: So laßen wir
ihn zulezt gar weg und nehmen doch den Begriff unmittel-
bar in unser Gemüth auf. So nannte man die Kranckheit
der Wollüstigen, die aus West_Indien ihren Ursprung nahm,
oder die Venerische Krankheit, zu allererst eine neapoli-
tanische Krankheit, weil solches aber mit der Zeit zu grob
klang, so brauchte man den Französischen Ausdruck: Mal
de Naples; da aber die französische SPrache so gemein wurde,
daß man keinen Umschweiff mehr brauchte um diesen Begriff
ins Gemüth zu faßen: So brauchte man wieder den Ausdruck:
neapolitanische Kranckheit. Hier kann nun ein Mensch

/ würklich

|P_109

/würklich seinen Witz zeigen, wenn er in Gesellschaft, da er
mit dem Frauenzimmer von Dingen redet, die gern gehört werden
welche doch aber wieder wie Geseze der Frauenzimmer liefen,
wenn er sie %.deutlich ausdrückte, wenn er sage ich solche Wörter
brauchen kann, die zwar ein jeder versteht, bey denen sich aber ein
jeder so stellen kann, als verstünde er sie nicht. Die erste Methode
also sich etwas leicht zu reproduciren, ist die Association. Wenn
Kinder etwa einen SPruch auswendig lernen, so beten sie ihn so
oft her, daß einem andern die Ohren wehe thun, sie associiren
aber dadurch theils die Wörter unter einander, theils den ganzen
SPruch mit allerley andern Vorstellungen die sie beym Herbeten
haben, und auf die Art behalten sie ihn. Ferner wenn ein
Kind, das Ein mahl Eins auswendig lernt, so hat es eine
Zahl mit der andern in Gedancken so associirt, daß nur eine
Zahl durch die andre reproducirt wird; daher kommt es, daß
wenn man es frägt, wieviel etwa 5 mahl 7 wäre, es die
Ganze «Welt» Reihe wiederhohlen muß biß es an diese Zahl
kommt. Es ist diese Association gefährlich, weil es vielleicht
das Ganze Ein mahl Eins vergeßen könte, welches auch oft ge-
schehen würde, wenn man nicht rechnen möchte. Wie«r»derholt
man ein Wort auch nur einige Mahle, so ist das schon eine As-
sociation mit den Begriffen, die man bey jeder Wiederhohlung
gehabt hatte. II.) Das 2te Mittel der leichten Reproduction ist

/ die

|P_110

/die Aehnlichkeit, hier wird durch das SPiel des Witzes eine
Vorstellung mit der andern associirt: allein wenn man nur
immer gleichsam mit der äußern Seite der Dinge spielt:
allein wenn man nur immer gleichsam mit der äußern Seite
der Dinge spielt: so wird dadurch der Verstand corrompirt.
Als in Banonius Bilder Bibel um Julius Caesar zu behalten,
dabey geschrieben ist: eine Uhl scharrt im Käse, oder um
den Titel aus den Pandecten zu behalten: de Heredibus suis
et legitimis, hat man einen großen Geldkasten gemahlt - 
Heredibus - bey diesem ein paar Säue - suis - und zulezt
die Taffeln Moses - et legitimis. - Diese Aehnlichkeiten.
sind allerdings schwerer zu behalten als die Sache selbst.
Wir bemerken ferner, daß wenn Jemand etwas falsch ge-
rathen, <oder> etwas einmahl falsch ins Gedächtniß gefaßt; so
bleibet das immer; daher müßen die ersten Eindrücke
immer richtig seyn. Es ist auch nicht gleich leicht, Historie %und
Geographie zu lernen: Denn in der Geographie gehe ich mit
dem Finger nur die ganze Land Charte herum und zeige
die Provinzen und wenn ich eine Provintz verlaße, so bleibt
sie doch da, daher ist sie weit leichter wie die Historie, wo
immer der eine König weg ist, wenn der andre kommt. Es ist
auch interessanter, daß ein Land in der Welt liegt, als das
ein Churfürst in der Welt gelebt hat.

/ Man

|P_111

/Man nennt Leges Phantasiae brutae wenn das Bild bloß durch
die Zusammensezung oder Zusammenpaarung hervorgebracht
wird. Wenn man durch eine Aehnlichkeit eine Sache reproduciren
will, so muß es eine wahre Aehnlichkeit in den Sachen, nicht aber
in %.willkührlichen Zeichen seyn. Ferner sind Mittel der leichten Re-
production.

/I.) Die Verbindung der Begriffe nach logischen Gesezen, in so
fern Dinge unter Claßen gebracht werden. Man kann sich den
Verstand als einen unermeßlichen Raum vorstellen, in diesem
Raum nun, sind für jeden Begriff Abtheilungen, welche man
Loci logici nennen kann, in diese muß eine jede¿ neue Vor-
stellung gesezt werden, wenn man sich dieselbe reproduciren
will.

/II.) Daß die Dinge verglichen werden nach dem Verhältniß
des Verstandes und der Vernunft, es wird hier nemlich
nur die Ursache mit der Würkung verglichen. Wenn man
ZE das Mumia minerliter behalten will, so muß man wißen
daß es ein Balsam sey, vermittelst deßen man den zerbro-
chenen Fuß eines kleinen Thieres in 24 Stunden heilen kann.

/III.) Muß man die Dinge in ein Verhältniß sezen mit den
Gesezen unsrer Neigungen, das ist die größte Aehnlichkeit.
Daher kommts, daß man von judiciösen Leuten sagt: daß sie
allemahl ein schlecht Gedächtniß haben, %und es ist nicht ganz un-
wahr, denn solche Leute behalten nur solche Dinge, die sie
mit dem Gesezen des Verstandes zusammenpaaren können,

/ da

|P_112

/da aber solches von den wenigsten Dingen gilt: so behalten
sie auch wenig. Hätten solche Leute weniger Verstand, so
würden sie mehr mit ihrem Witze spielen, und dadurch mehr
behalten. Es darf sich aber niemand damit prahlen, daß er
ein schlechtes Gedächtniß habe, und also sein starkes Judium
habe, denn es ist immer ein Fehler, wenn die Unter_Vermögen
schwach sind, und man kann den Verstand auch mehr brauchen
in so fern man viele Materialien hat. Diese Materialien
geben uns die äußern Dinge, die man ins Gedächtniß faßen
muß. Die Association an welche wir oben gedacht, ist
theils sinnlich, theils bildlich. Jenes ist die Association der
Empfindungen, diese der Anschauungen.

/Die Geographie ist leichter zu behalten als die Historie,
denn in lezterer ist eine solche Anschauung nicht möglich,
indem die Stelle der Verstorbenen Könige nicht mehr übrig
bleibt. Man weiß auch kein Mittel die Geschichte leichter ins
Gedächtniß zu bringen. Das beste Mittel wäre wohl, daß
man die Zeit in große Abschnitte, diese wiederum in
kleine theile. Weil auch ein jedes Land seine eigene Ge-
schichte hat, so trägt der Sym«p»<c>h<r>onismus. viel dazu bey.
Die Aehnlichkeit macht daß man etwas leicht behalten kann
wie auch die Abtheilung des Ganzen in Theile. Überhaupt
hilft alle Ordnung dem Gedächtniß.

/ Die

|P_113

/Die Dinge die sich unter allgemeine Regeln bringen
laßen, sind schwerer zu behalten. Gemeinhin machen sich die
Menschen nicht viel daraus, daß sie ein schwaches Gedächtniß
haben, aber wenn man ihrem Verstande etwas entziehen will,
so empfinden sie solches sehr übel, weil ein jeder Menschen seinen
Verstand für groß genug hält. Der Grund hievon ist dieser,
weil ein jeder die Größe seines Verstandes nur durch den
Verstand selbst erkennet. Das judiciöse Memoriren ist einem
Menschen von Jahren sehr leicht, aber das sensitive memoriren
fällt ihm schwer; daher es denn rathsam ist, das junge Leute
biß zu ihrem 30ten Jahre sich einen Hauffen Materialien
ins Gedächtniß faßen, weil nach dem 30ten Jahre solches
fast unmöglich ist. Es ist daher unverantwortlich das Lehrer
die Kinder in den Schulen, mit einer Art von Philosophie,
Naturlehre, und andern %dergleichen Wißenschaften beschweren,
da sie sich doch nur für ältere Leute schicken. Allein es
ist ein allgemeiner Fehler der Eltern %und Lehrer, daß sie
Kinder wieder ihre Natur zu alten Leuten machen wollen,
da sie doch dieselbe nur darinn unterrichten sollten, was
sich für ihre Kindheit schickt. In diesem Alter soll man sie
viele Sachen sensitiv memoriren laßen, weil sie als denn
am fähigsten dazu sind. Es scheint zuweilen daß man etwas
vergeßen hat, allein es sizt dennoch im Gehirn. So weiß

/ man

|P_114

/man, daß ein Engländer, der vorher die deutsche SPrache
gelernt hatte, hernach sich über 3 Jahr in England aufgehalten,
als er wieder zurück kam glaubte er, daß er die ganze SPrache
vergeßen hätte, jedoch nach einigen Wochen, redete er die
deutsche SPrache so fertig, als vorhin. Was den Grund des
Gedächtnißes anbetrift, so findet man hievon WunderDinge.

/Ein Polyhistor hatte den Inhalt von ganzen Bibliothequen
inne, und wäre es möglich, alles was in der Seele eines solchen
Mannes befindlich in ein klares Anschauen zu sezen: so würde
man erstaunen. Ein außerordentliches Gedächtniß
hatte Maliabeche ein Bibliothecair des Herzogs von
Florenz, der anfänglich ein Bauern Junge war, der
allenthalben Bücher suchte, wo er sie nur ertappen konnte;
er war zuerst bey einem Gärtner, darauf bey einem
Buchhändler, wo er lesen lernte, und seyn Glückliches Gedächt-
niß äußerte, alles was er las, behielt er; endlich wurde
er wegen seiner großen Belesenheit zum Biblithecair
von gedachtem Orte gemacht. Er war das Orackel von
Europa: wenn man eine Stelle nicht aus machen konnte, wo
sie zu finden war, so frug man Maleabechen, %und er
konte einem sagen, daß die Stelle in diesem oder jenem
Buche, in einer Bibliothek zu Constantinopel in dem %und
dem Fach, auf der und der Seite befindlich wäre. Dieser
Maleabeche aber, war dabey ungemein schmutzig, er

/ trug

|P_115

/trug lederne Beinkleider, die so abgeschmutzt waren, daß
er zu weilen mit einer Steknadel seine Gedanken drauf schrieb.
Ein nicht weniger merkwürdiges Beyspiel eines glücklichen
Gedächtniß war Robert Hill, ein Schneider in England,
der etwa noch vor 15 Jahren lebte, und der die Arabischen
Schriften und andre SPrachen weit beßer verstand, als der
größte Gelehrte. Man sehe in Bentloys Polyhistor das
arabische Manuscript von Hill. Er wurde auch zum Bi-
bliothecair in Cambridge gemacht, befand sich aber dabey
schlechter als bey seinem Metier. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß alle Eindrücke auf unser Gehirn fest kleben bleiben,
und daß es nur daran liegt, daß einer vor dem andern
ein beßeres Mittel hat, die Sachen in ein gewißes Licht
zu sezen. Das Kinder etwas leichter behalten, wenn
sie des Abends etwas übersehen, hat seinen Grund, weil
die Seite Vocabeln die sie gelernt, Nacht über in der Phan-
tasie schweben, und diese kann sie sich desto leichter vor-
stellen %und lebhafter vorbilden, je weniger die sinnlichen
Gegenstände die als denn daran fehlen, sie hindern können.
Wir haben ferner ein Vermögen Vorstellungen hervor
zu bringen, die niemals in unserer Phantasie aufbe-
halten waren, ja die niemals in unsern Sinnen gelegen,
und dies ist das Dichtungs_Vermögen. Dieses Vermögen
ist nicht nur ein promus Condus, der die Vorstellung her

/ vor

|P_116

/hervorlangt, auch werden die Vorstellungen durch daßelbe
nicht removirt, sondern es werden neue hervorgebracht oder
fingirt. Man nennt einen Töpfer Figulus bloß weil er dem
Thon die Form giebt; so wie der Töpfer aber erst den Thon
haben muß, ehe er ihm eine gewiße Gestalt giebt; so müßen
auch einem Dichter jederzeit zum Dichten die Materialien ge-
geben seyn. Bey den sinnlichen Dichtern liegen die Phan-
tasmata von den Erscheinungen und Empfindungen zum Grunde,
die von ihnen auf mancherley Art verändert werden.

/Ein Mensch dichtet auch im Traum, der Stoff aber dazu liegt
in der Empfindung, weil aber keiner sich eine Empfindung
erdichten kann, so hat man auch daraus die Formel gemacht:
das könnt ihr euch nicht vorstellen, was das für Angst oder
Schmerz, oder Traurigkeit ist. Vielfältig bildet man sich ein,
daß etwas selbst müße empfunden werden. Das Dichten
geht bald unwillkührlich, oder aus physikalischer Nothwendig-
keit, bald willkührlich in uns vor. Das unwillkührliche Dichten
gehört «g» unter das Vermögen zu dichten. Das Romanen lesen
macht träumerisch und verursacht ein unwillkührliches Dichten
man verliehrt dabey auch alle Gelehrsamkeit, so daß wenn
man nachher andre Bücher lieset und eine Seite herunterge-
lesen hat, man nicht weiß was man gelesen hat. Das Dichten

/ im

|P_117

/im Traum ist von der Stärke, daß man es für würkliche
Erscheinung hält. Alle Hoffnung ist eine Art von Dichten,
wenn aber das was man dichtet keine Möglichkeit enthält,
so ist dies ein Hirngespinst. Ein Hypochondrist dichtet je-
derzeit unwillkührlich, und darinn besteht eben die gröste
Krankheit, man lacht aber gemeinhin einen Hypochondristen
aus, weil die Hypochondrie im höchsten Grade der Narrheit
ähnlich ist, und weil man denckt, daß so ein Mensch wenn er
wollte, alle die Poßen könte fahren laßen, allein es ist ihm
nicht möglich. Man hat gemerkt, daß melancholische Leute ge-
meiniglich geschickt zum Dichten sind, und ihre Gedichte sind
lebhaft; vielleicht bestehet die Melancholie bloß im Dichten.
Das Dichten ist uns theils nüzlich theils schädlich, damit wir uns
aber vom unwillkührlichen Dichten befreyen, so müßen wir unsre
Aufmerksamkeit immer auf Erfahrungen richten. Ein
Mensch ist zerstreut, bloß weil er dichtet. Wir können aber
wie gesagt, die gröste Gewalt zum Dichten moderiren, die müßige
Einsamkeit giebt Gelegenheit zum unwillkührlichen Dichten, daher
man solche sorgfältig vermeiden muß. Ein Hypochondrist denkt
gemeiniglich den Gesellschaften beschwerlich zu fallen %und bleibt
also zu Hause. Er schlägt das einzige Mittel aus, wodurch ihm
könnte geholffen werden. Wir können auch nach dem bloßen
Hang der Phantasie dichten, und als denn giebt den Matrien,

/ die

|P_118

/die uns die Phantasie darbeut, entweder der Verstand,
oder der Geschmack, die Form. Es ist ein Unterschied zwischen
dem Dichten beym Lügen und dem Dichten beim Poeten. Das
Dichten hat nicht die Aehnlichkeit, die man beym Poeten findet.
Ferner geht man mit dem Poeten die Convention ein, daß er
uns etwas vorliegen soll, das ist aber ein ganz anderes lügen
welches entweder aus der ungezähmten Dichtungskraft, oder
auch aus Eitelkeit herrühret, in dem die Wahrheit etwas gemeines
ist. Es sind auch Leute die da lügen oft gute Leute, denn
es giebt würklich ganz unschädliche Lügen, ja ein solcher Lügner
kann durch seine Kunst zuweilen Feinde mit einander versöhnen
indem er wechsels weise einem jeden vom andern versichert
daß er nicht feindseelig gesonnen wäre, sondern ihm alles
Gute gönne. Einen solchen Lügner haßet man zwar nicht,
aber man verachtet ihn. Es fließen diese Lügen bloß aus
einem aus schweifenden Hange zum Dichten. Betrachtet
man den Dichter als Dichter, und nicht als einen solchen, der
allt«g»äglichen Gedancken einen schönen Schwung giebt, und sie
in Reime bringt: so sind die Requisita deßelben folgende.

/I.) Er muß neu in den Bildern seyn, die er sich macht - so
sagt ein strenger Recensent daß Gellert ein $pseudo$_Poet sey,
der nicht den Nahmen eines Dichters verdiene, indem er
zwar bekandte Sachen gut zu erzählen wüste, jedoch kein
eigentlicher Dichter wäre, ob er gleich glücklich in der Fabel
wäre, so würde doch dazu nicht das große Talent des ganzen

/ Dichters

|P_119

/Dichters erfordert, überdem sind auch die Fabeln des Gellerts grösten-
theils aus andern Schriften entlehnt.

/II.) Der Dichter muß in seinen Schriften immer ein Analogon der
Wahrheit beobachten, die Bedingungen seiner Erzählung müßen
mit dem angenommenen Character übereinstimmen, er hat also nicht
die Licence zu sagen, was er will. Milton ist ein Dichter im
eigentlichen Verstande. Klopstock kommt ihm nicht bey, denn er
rührt immer par Sympathie, indem er gefühlvoll redet: so be-
wegt er den Leser mit, gleichwie wir einen erblaßen sehen
und mit ihm erblaßen; dieses ist von denen die den Klop-
stok mit Milton verglichen nicht eingesehen worden.

/Der Dichter muß erfinden und seine Erfindung in eine anschau-
ende Klarheit zu sezen wißen. Das Dichten ist die Quelle von
vielen Empfindungen. Wenn keine Dinge da sind die der Dichtung
entsprechen: So ist dieses eine Erdichtung. Das was gedacht ist,
ist noch nicht leer; leer nennt man ein Gedicht, wenn es der Natur
wiederspricht, mäßig nennt man ein Gedicht, wenn die gehörige
Kraft nicht angewandt ist, dasjenige was man dichtet auszuführen.
Pia Desideria sind nichts anders als Dichtungen, von einer moralisch
vollkommenen Welt; ein Philosoph muß auf das practische Dencken
wie er nemlich ein Mittel ausfindig machen kann diese pia
desideria auszuführen, ein Philosoph«e» aber der nur immer
mit solchen frommen Wünschen um sich wirft, ist ein mäßiger
Philosoph. Das Glück des Menschlichen Lebens vollkommener zu
entwerffen, als wir es würklich finden, ist das Werk eines Ro-
manenschreibers, daher das Romanenlesen eine schädliche Würkung

/ hat

|P_120

/hat, außer wenn etwa ein«e» würklicher Character geschildert
wird, in so fern aber Romanen die Welt anders schildern
als sie würklich ist, sind sie mehr schadlich als nüzlich. Sie machen die
Gemüthsart chimaerisch und verzärteln sie, sie machen die Gedanken
des Menschen müßig, und rauben dem Staate einen nüzlichen Bürger.
Ein solcher Mensch beschäftigt sich lieber mit großem Staats Actionen
in seinem Gehirn, als mit seiner Arbeit, sie machen das Herz
welck und weichlich, da doch ein Mensch suchen soll sich genugsam %und
hart gegen die Schicksale des Menschlichen Lebens zu machen. Ja
wenn ein Mensch schon Jahre hat und einen Roman lieset: So findet
er nach dem Lesen jederzeit, daß er nicht so waker ist, als wenn
er eine wahre Geschichte, oder sonst etwas lehrreiches gelesen
hätte, er empfindet einen heimlichen Vorwurff. Unglücklich
ist also der Mann der eine solche Frau hat die Romanen lieset;
die ist gewiß in Gedanken schon an Grandison verheyrathet
gewesen, und nunmehr Wittwe geworden; wie wird Sie Lust
haben nach der Küche zu sehen?

/Eine Idee ist auch jederzeit eine Dichtung, und ist von der
Notion darin unterschieden, daß lezterer ein allgemeiner
von der Erfahrung abstrahirter Begrif ist. Die Begriffe
eines Wesens, des höchsten Wesens, des Himmels p entspringen
alle durchs Dichten und sind Ideen. Der Mensch vergrößert
die Dinge so lange biß er sie zur Vollkommenheit gebracht hat.
Das Wohlwollen und die Freundschaft unter Menschen ist sehr

/ mangel

|P_121

/mangelhaft, indeßen dichtet man sich doch nach Regeln
der Vernunft eine vollkommene Freundschaft, welches die
Idee der Freundschaft ist, welcher man sich in concreto gleich
zu kommen bemühen soll. Das Dichten geschiehet entweder nach
Regeln der Vernunft, und als denn ist es das intellectuelle
Dichten, oder nach der bloßen Erscheinung, %und denn ist es das
sensitive Dichten. Die Idee ist immer das Maximum so com-
plett ist und zum Maasstabe dient, die andern Dinge darnach
abzumeßen: so dachten sich die Stoiker und Epikuräer ein Ideal
vom Menschen, jene sezten es in der Stärke des Geistes, diese
in der klugen Wahl der Mittel zu einer dauerhaften Glückseeligkeit.
Platons Buch de Republica enthält gleichsam ein Ideal.

/Eine Idee die richtig ist, ist nöthig zur Beurtheilung, obwohl sie
niemals erreicht wird. Ein Ideal bedeutet die Idee in Concreto
oder das Maximum in concreto betrachtet. So soll Grandison
das Ideal einer completten Manns_Person seyn, allein weit
gefehlet. Das Ideal muß sehr richtig gezeichnet seyn.
Socrates kann ein Ideal seyn, wenn er so gelebt hat, wie
er geschildert wird, allein die Menschen sind immer geneigt
zu dem, welches zwar vollkommen, jedoch nicht complet voll-
kommen ist, das fehlende zu supliren, weil aller Mangel dem
Menschen verhaßt ist. Das Ideal ist entweder das aus
der speculativische Vernunft oder das aestetische oder das
practische Ideal. Was das aesthetische Ideal betrift: so läßt
sich nur von Empfindungen kein Ideal formiren, daher das,

/ was

|P_122

/was von der Glückseeligkeit der andern Welt gesagt wird,
Worte sind, wozu uns das Concretum fehlt. Ein ist eine solche
Glückseeligkeit zwar ein allgemeiner Begriff, aber kein Ideal.
In der Form der Erscheinung kann man sich wohl ein Ideal erdichten
denn da liegt der unendliche Raum zum Grunde. Ein Mahler kann
in 3facher Rücksicht betrachtet werden, entweder ahmt er
nur nach, und denn ist er kein original Mahler, oder er mahlt
das Werk seiner eigenen Schöpfung, oder er mahlt das Ideal.
Nun giebt es nur ein einziges Ideal, welches ein Mahler mahlen
kann, d.i. die vollkommenste %Menschliche Gestalt. Der berühmte
Mahler Mengs denckt 3 Mahler

/I.) Des Rapael der das Ideal am besten gemahlt, indem er all
das ekigte eines Menschen was Bedürfniße verräth weggelaßen.

/II.) Des Correggio der ein Mahler der Holdigkeit war, der die
Annehmlichkeiten beobachtete der die scharfen Schatten vermied,
und durch das SPiel der Empfindungen Gegenstände anbrachte,
durch deren Reflexion der Schatten der andern gemildert wurde.

/III.) Des Titians der nur ein Mahler der Natur war.

/Unsre Freyheit im Dichten ist durch die Condition der Möglichkeit
eingeschränckt, so gar beym Fabel Dichten ist unsre Licence ein-
geschränckt. Der Character, den man einem Thier giebt muß
der Natur angemeßen seyn. Wenn man den Character
eines Menschen dichten will, so muß er gut ausgezeichnet
seyn und denn muß man die moralischen Empfindungen zu
excitiren suchen, denn dies ist das practische, hierin hat

/ Fil

|P_123

/Filding einen Vorzug weil er sehr launigt zu seyn scheint:
so eifert er auch nicht auf das Böse sondern stellt es lächerlich
vor. Man muß aber auch nicht zuviel vom Menschen
verlangen. Zuweilen fordert das Dichten außer dem Ver-
mögen dazu, einen Grund im Naturell, dadurch wir angetrieben
werden unserm Character gemäß zu dichten, und dieses Dichten
können wir das Dichten aus dem Temperament nennen.

/Hypochondrische Menschen haben beständig den Kopf voll von
traurigen Figmentis und entdecken bey jeder Gelegenheit Ge-
fahr und bey den geringsten Handlungen böse Absichten, welches
Naturell Tacitus in seinen Schriften außer dem darin befindlichen
Scharfsinn verrathen zu haben scheint. Man tadelt dieses
ebenfals am Rousseau, der sonst ein gutes Herz besizt.
Man kann ihn aus der Streitigkeit mit Hume kennen lernen.
Wir nennen dieses einen Hang zu Phantastereyen wenn
Jemand Figmente die er seinem Wunsch gemäß gebildet,
für würkliche Dinge hält. Solche Phantastische Bilder
macht sich gemeiniglich die Jugend von ihren Gegenständen
und sieht bey allen Gelegenheiten den klaren Ehestands_Himmel
vor Augen. Dieses stimmt auch vollkommen mit ihrem raschen
Blut überein. Zuweilen geht die Phantasie auf das Gute,
und Leute die mit tugendhaften Begriffen Leidenschaften
verbinden werden phantastisch genandt. Solche phantastische
Tugend Freunde werden sehr leicht und mehrentheils sehr

/ bald

|P_124

/bald in Menschen Feinde verwandelt, weil niemand
ihrem Ideal von Tugend gleichförmig zu leben vermag.
Das Vermögen zu dichten ohne Verhältniße auf Gefühl
Verstand p und der Mangel eines Characters macht den Dichter
aus. Alle diejenigen nemlich die einen natürlichen Hang zur
Dichtungskunst haben, aber nicht viel Geschicklichkeit dazu be-
sizen, und öfters dieses Naturells wegen ein schlechtes
Aufsehen machen, und nur elende Verse schmieren, scheinen
keinen eigenthümlichen Character zu haben, und die Natur
hat Ihnen alle diejenigen Dinge versagt, durch die sie gut
dichten sollen. Solche Menschen wißen sich in alles zu schicken %und
stellen sich in allen StandPunckten gleich, das aber würde
nicht geschehen wenn sie einem Character vorzüglich ergeben
wären. Derjenige der gerührt ist, kann keine entgegen-
gesezte Bewegungen annehmen und jeder andrer Affekt
verstummet. Man muß von einem jeden Poeten glauben
daß er scherze, und diejenigen sind betrogen, welche keinen
SPaß verstehen und in seine Rede lauter Wahrhaftigkeit sezen,
da doch das poetische Feuer nur immer eine nachgeahmte
Miene bleibt. Ein Acteur muß gleichfals nicht, wie man glaubt,
von dem was er sagt gerührt werden, sondern vielmehr
eine große Einbildungskraft haben, über den Zustand desjenigen
den er vorstellt. Vom Poeten und Advocaten sagt man, daß sie
lügen, jener lügt im Scherz und wird im Scherz bezahlt, dieser

/ aber

|P_125

/aber thuts im Ernst und erhält auch im Ernst dafür Beloh-
nungen, ja er stellt sich beständig das Unrecht einer Sache,
die er als Recht vertheydigen will, wie es würklich ist vor,
und sucht als denn, wenn er bey sich selbst beschloßen, die Bege-
benheit einmal als gesezlich zu behandeln in der Person eines Belei-
digten, wie Cicero für den Milo zu reden. Das Dichten ist auch
bis weilen eine Frucht des Müßiggangs, denn der Faule ist nie-
mals ganz faul, sondern zehrt an seinen Einbildungen und das
Romanenlesen unterhält diese unglückliche Läßigkeit. Eine Idee
ist eine Vorstellung, die den Grund der Möglichkeit einer Sache in
sich enthält: So erblicke ich an keinem Stein, wohl aber
an einer Pflantze, daß sie vor ihrem Daseyn in einer
Idee gelegen haben müße.

/Unter dem Ideal ist das moralische das vollkom-
menste; der diesem Ideal gemäß lebte, dem nannten
die Alten einen Weisen; indeßen ist es in der That
unmöglich, weil kein Mensch von der Natur solche Ga-
ben erhalten, daß er diesem Ideal gemäß leben könte.
Alle diese Ideale sind in der Vernunft wahr, aber
nicht real in der Welt, und diejenigen welche sie zu
realisiren gedencken, heißen Phantasten der Vernunft.

/ Vom

|P_126

/ ≥ Vom unwillkührlichen Dichten ≤

/Unser Gemüth ist beständig geschäftig sich neue Prospecte
der Gegenstände zu verschaffen, und aus den Materien
die es vorräthig hat neue Bilder zu formiren. Dieses
geschiehet im Wachen und träumen, welches leztere keine be-
sondere Kraft in unsrer Seele erfordert, sondern
der Unterschied des Dichtens beym träumen, und wachen,
liegt bloß darinn, daß beym wachen die sinnlichen Ein-
drücke und ihre Lebhaftigkeit und des Bewustseyns der
chimaerischen Fälle berauben und die Reyhe der erdichteten
Bilder, die indeßen immer ihren Lauff in unsrer Einbildungs
kraft fortsezen, verdunckeln. So wie phosphorische Erden
zu leuchten aufhören, wenn sie an das Tages Licht gebracht
werden. So lange der Mensch träumt ist er es nicht fähig,
Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, man nennt auch
denjenigen einen wachenden Träumer bey welchen keine
äuße Veränderungen und Empfindungen haften und Eindrüke
machen, doch ist ihm dieses nicht zu verdencken weil er
sich in seiner erdichten Welt erhohlen kann. Der %eigentliche
Traum aber sezet zum voraus zweyerley.

/1. Den Schlaff

/2. Die Angränzung des Wachens und Schlafens. - Denn
so bald der Schlaf gantz aufhört: so hören wir auch auf

/ zu

|P_127

/zu träumen, und eben dieses geschiehet, wenn wir im tiefen
Schlaff sind, und alle willkührliche Bewegungen zerstreut worden.
Dieses sehen wir daraus, daß man des Morgens am meisten
träumt, und bey demjenigen der sehr leise schläft, wird dieses
ebenfals bemerkt. Den Anfang des Traums macht allemahl
eine sinnliche Empfindung, worauf denn das Gefolge aus der
Einbildungskraft entlehnt wird. Wir haben im Zustande
des Schlummers oder des Halbschlafes immer stumpfe Empfin-
dungen, welche sich mit unsern phantastischen Gemählden ver-
einigen. Man kann auf die Weise jemanden nach Belieben
Träume erweken, welche mehrentheils schrecklich sind,
wenn der Körper des Schlafenden eine solche Lage
bekommen daß das Blut nicht stagmiren kann, es ist auch
dieses die Würkung welche der Coffee gemeinhin hervor-
bringt. Wenn aber nur der tiefe Schlaf allein Erhohlung
bringt, so muß man vorzüglich Maaß in Ruhe und Abend
Mahlzeit halten, denn so lange man träumt, schläft man
nur mittelmäßig. Im Schlaff und im Traum hören die
willkührlichen Bewegungen auf, jedoch wird der eingebildete
Körper durch unsern Willen im träumen bewegt: so
bald aber auch solches mit unserm willkührlichen Körper
vorgeht, daß sich derselbe damit vereinigt: so wird dieses
die Schlafwanderung genandt, welche im gelindern Verstande
nur vom SPrechen im Schlaff in so fern aber von den

/ will- 

|P_128

/%.willkührlichen Bewegungen gesagt wird. Man kann die so ge-
nandten Schlaff_Wanderer am besten damit aufmuntern
und von diesem Fehler heilen, wenn man eine mit kalt
Waßer angefeuchtete Matte vor das Bette legt, weil so
einer gleich aufwacht wenn seine Füße sie berühren.
Daß aber die Schlafwanderer ganz richtig handeln, aller
Einbildungskraft unerachtet, solches zeigt die Geschichte eines
Italienischen Hauß Hoffmeisters welcher bey einem Grafen
in Diensten gestanden. Abends wurde er verdrüßlich,
gegen 10 Uhr schlief er und höchstens 2 Minuten denn machte
er sich mit starren Augen auf, woraus man leicht den
Schlaff ermeßen konnte, ging schnell herum, bestellte die
Tractamente ging in Weinhäuser, und nahm allerley
Geschäfte vor, schien aber keinen andern Sinn zu haben
als das Gefühl, und träumte beständig von Gästen. Die
Ursache dieses Zustandes scheint diese zu seyn, daß die
Nerven der willkührlichen Bewegung noch Nervensaft
haben, hingegen die der sinnlichen Empfindung außer
eines gewißen Grads von Gefühl deßen entblößt
seyn. Daß aber die Schlaffwanderer bey Nennung
ihres Nahmens aufwachen sollen, scheint nicht ein bloßer
Aberglaube zu seyn. Noch ist ein besonderer Zustand
merkwürdig, welcher sich aber selten bemerken läßt,
ist der, der Erstarrung, man hat dabey keine Empfindung

/ kein

|P_129

/kein Gefühl. Ein besondres Beyspiel hievon zeigte sich an
einem Frauenzimmer mit welchem man erstaunende und
öfters grausame Experimente machte, die sie nachgehends
im Erwachen heftig empfand: sie sprach indeßen %und zwar
vernünftig als im Wachen, jedoch nicht auf die vorgelegte
Fragen, und könte weder durch Waßer noch durch Feuer
aus dem Schlaff gebracht werden. Ferner müßen wir
die Kranckheiten unseres Gemüths erwägen. Das phantas-
tische und das verstörte, davon man noch keine Geseze
und Regeln ausgemacht, da doch Regeln genug und in Über-
fluß ausfindig gemacht sind, nach denen wir in unsern ge-
sunden Zustande verfahren. Ein Phantaste ist der, welcher
das, was er im Gehirn hat, für %.würkliche Dinge hält. Ein jeder
Affeckt wird phantastisch, wenn man mehr dem ideellen
als sensuellen nachhängt. So macht bey der Geschlechterliebe
das idealische das mehreste aus. Uberhaupt dienen die Affecten
zu nichts und verschwinden, wenn die Vernunft die Oberhand
bekommt, indeßen sind sie in der Welt nicht unnüz, sondern
gleichsam für Narren, für welche die weise Vorsicht auch
hat sorgen wollen. Sie machen aus der vernünftigsten Idee
die sonst nicht Chimaere ist Grillen, indem sie ihr gar zu
sehr nachlauffen, und Rousseau irret nur darin, daß
er ein würkliches Exempel an die Hand giebt, wie die
Erziehung auf eine solche Art, wie er sie vorträgt, ge

|P_130

/gelingen könne. Ideale finden sich nicht im Contrefait,
daher auch Aristoteles ganz recht hat wenn er sagt: Lieben
Freunde es giebt keine Freunde.

/Eine Art von Phantasterey ist der Enthusiasmus, der
aus dem Ideale der Vollkommenheit seinen Ursprung erhält,
doch ist ein Enthusiast allemahl ein edler Phantast, und
voller Leben und Stärcke. - Daher auch die Jugend dazu
inclinirt - ja es verschwindet viel Gutes aus dem Lande
wo sie ausgerottet sind. Indeßen sind doch Enthusiasten
gleichsam idealisch betruncken, und die geistige Berauschung
schadet jederzeit mehr als die korperliche Enthusiasterey.
Es giebt auch Phantasten der geistigen Anschauung, welche
Dinge glauben anzuschauen, die bloß aus dem Verstande
entspringen, und durch ihm bekandt werden, die Schwär-
mer heißen. Diejenigen aber welche Dinge, die in
ihrer Einbildung sind in die Stelle der würklichen
substituiren, die auch bey jedem Tritt Geister Er-
scheinungen zu haben glauben, werden Bisconarii
genandt. Das Genus aller Gemüths Krankheiten in so
fern sie keine bloße Abweichung sondern würkliche
Verkehrtheiten sind, heißt Stöhrung. In Ansehung der
Sinne sind sie entweder Wahnsinn oder Blödsinn, jener
sieht zu viel; dieser zu wenig. Blödsinnige sind gar
zu stumpf in Ansehung der Sinne, die für sich allemal

/ gut

|P_131

/gut seyn können, und daß sie von der Aufmerksamkeit
und Reflexion des Verstandes, die bey allen Erscheinungen statt
finden muß, entblößt sind, sonsten aber beweiset der Blödsinn
allemahl Schwäche des Verstandes. Endlich ist noch anzumerken
daß Blödsinnige mehrenteils harthörig sind.

/Der Wahnsinn beruhet nicht auf einem Fehler des Verstandes,
sondern entsteht daher, daß die Einbildung auf einmahl einen
großen Glanz bekommen. Es ist mit den mehresten hizigen
Fiebern verbunden, und die Hypochondrie ist gleichsam die
Vorbereitung dazu, besonders wenn der Hypochondrist ein
Phantaßt seiner Muthmaßungen ist; hier ist er gantz
unerträglich, da man ihm sonst zu gut gehalten, daß er
nur über seine Schmerzen klagt. Die Verkehrtheiten in An-
sehung des Verstandes sind Wahnwitz und Dummheit. Ein
Wahnwitziger reflectiret da, wo die Vernunft gar nicht
applicabel ist, hingegen urtheilt der Dumme gar zu wenig.
Der Unterscheid zwischen Wahnwitz und Wahnsinn besteht
darinn, daß bey dem leztern ein guter Verstand
statt haben kann, bey dem erstern aber die Anwendung
der Vernunft schlecht ist, und diejenige nähern sich ihm
die die Schrancken der Vernunft übertreten wie man
davon in Böhmers schwärmerischen Schriften unendlich
viel Proben hat. Indeßen bleibt der Wahnwiz immer ein
größerer Fehler als der Wahnsinn, weil er beständig

/ das

|P_132

/das Grund Verderben des Menschen anzeigt. Von diesen
Fehlern des Verstandes ist die Albernheit unterschieden,
als welche ein Mangel der Zusammenstimmung mit dem Object,
und in dem SPiel des Witzes welcher aber den Umständen
nicht angemeßen ist, besteht. Es ist beständig eine Lustig-
keit die aber angebracht ist. ZE im Alter. Auch sind
Narren und Thoren unterschieden. Narrheit nennt man
das gereimte welches schädlich und lasterhaft ist, von der
Thorheit aber kann man sagen daß alle Menschen damit
behaftet sind, denn man verfällt in Thorheit, wenn
man alles das sagt, was im Gehirn liegt. Der Kluge
unterscheidet sich nur dadurch vom Thoren, daß er eine
geschickte Wahl zur Unterredung zu treffen weiß.
Die Narrheit aber hat noch daß Besondere an sich, daß sie
sich um ihre Absicht selbst bringt, welches nothwendig
aus ihrer Natur folgt. Der ungereimte Stoltz oder die
Aufgeblasenheit die daraus entsteht, reizt die SPötter
an, den Stoltzen zu demüthigen und sich daran zu diver-
tiren. Es gilt dieses aber nicht von einer jeden Begierde
geehrt zu werden, ja es wird nicht einmahl für Narrheit
gehalten, wenn man das Mittelmaß der Ehrenbezeugungen
die man zu fordern berechtiget ist überfort und
mehr Ehre begehrt, wenn man nur solche Begierden

/ sich

|P_133

/sich nicht äußerlich merken läßt. Man könnte hier leicht
die Frage auffwerffen. Ob nicht alle Laster der Menschen
Narrheiten seyn mögen? Democrit, deßen Character aber
nicht sonderlich aus der Geschichte bekandt ist, scheint den
Menschen aus diesem Gesichtspunckte betrachtet zu haben,
da er die glänzendste Personen nur für verdekte Thoren
hielt. Wenn sich überhaupt die Menschen entschließen möchten
ihre Ambition einzuschräncken, und die Eitelkeiten bey Seite
zu sezen, auch vielmehr der Genuß, welcher eine weit nüz-
lichere Begierde ist, als die Ehrsucht sich angelegen seyn ließen
so würde das gesellschaftliche Vergnügen einen hohen Grad
erreichen. Es ist uns sehr nüzlich daß wir den Menschen
auch von seiner ungereimten Seite kennen lernen, es ist
auch beßer daß wir das Laster von seiner lächerlichen als
von seiner verabscheuungswürdigen Seite betrachten.

/Wir bemerken auch daß hierin Wahrheit sey, denn der
Mensch verwickelt sich in Laster gemeiniglich aus ungereimten
Absichten, und diese Methode das Laster von seiner Seite der
Narrheit zu betrachten, erhält auch die gute Laune desjenigen
der die Menschen beurtheilt. Er wird angereizt den Menschen
zu verabscheuen und ihm feindlich zu begegnen, auch wird
die Verachtung des Lasters eher vergrößert als verringert.
Eine SchreibArt von der Art, daß man alles außer der
Rechtschaffenheit für Tändelwerk ansiehet, gefällt

/ auch

|P_134

/auch ungemein. Filding hat hierin ein großes Verdienst.
Es scheint daß der Mensch auf keine Weise zu etwas ernst-
haften gebracht werden kann, als durch Ceremonien, da indeßen
doch diese Ceremonien, wenn man sie mit geruhiger Vernunft
betrachtet, höchst lächerlich sind, sie zeigen aber, daß der Mensch
eine Neigung zum sinnlichen habe.

/Der Mensch scheint zum Vergnügen gebohren zu seyn, daher
das gezwungene Wesen in Gesellschaften, da sich ein jeder
bemüht eine ernsthafte Stellung anzunehmen, und doch heimlich
wünscht daß der alle Narrheiten ausstoßen könnte, die ihm
einfallen, höchst lächerlich ist. Und man könnte von diesen
Gesellschaften eben das sagen was Cicero von den Haruspi-
cis sagte, daß es ihm wundere, wie sie, wenn sie ein-
ander auf der Straße begegneten, sich ohne Lachen ein-
ander ansehen könten. Man sagt daß die Mungalen
in dem Lande Harey fast beständig lachten. Da also
der Mensch zum Vergnügen geschaffen ist: so mißfällt
es, wenn wir einen mit einem finstern Gesicht einher
treten sehen, besonders wenn es eine Leidenschaft ist
mit der man nicht simpatisiren kann ZE: Wenn Jemand
darüber verdrüßlich ist, daß ihm eine Haarlocke
ausgefallen, und er nicht auf Assembleé gehen kann.
Daher man auch nicht gerne weinen sieht, es sey denn, daß
die Traurigkeit, durch das Weinen zerstreuet wird,

/ welches

|P_135

/welches man gemeinhin am Frauenzimmer bemerken
kann. Alle Menschen haben Thorheiten und es scheint,
als wenn daß die größeste wäre, wenn jemand seine
Thorheit noch dazu zu einer wichtigen Sache macht.

/Ein jeder Mensch hat sein SteckenPferd oder Lieblings-Thor-
heit. So will jemand gerne ein Dichter seyn und sich
unter dem Nahmen hervorthun, er legt deshalb sein
Geschäfte nieder, um sein Glück in der Dichtkunst zu
genießen. Nero suchte seine größte Geschicklichkeit
darinnen, daß er 6 nebeneinander gespannte Pferde
lencken konnte - überhaupt war Nero mehr Narr als
Grausam. Dieses Steckenpferd mag ein jeder immer-
hin behalten. Sterne sagt: es mag ein jeder auf seinem
SteckenPferde auf und nieder reiten, wenn er
mich nur nicht nöthiget hinten auf zu sizen - ein schöner
Gedancke. - Weil ein jeder Mensch seine Dose
Thorheit besizt: so ist es nöthig, daß er mit den
Thorheiten anderer Gedult habe. Es ist zuweit ge-
trieben, wenn man jemanden als einen großen
Mann vorstellt, jeder Mensch ist in seinen Ver-
diensten ein Zwerg, daher wollen wir den Menschen
niemals groß, wohl aber gut nennen. Oft scheinen
Talente eine Größe zu haben, allein dies macht nicht die
Schäzung des Menschen aus. Die Moralität giebt uns keine
Idee von der Größe des Menschen.

/ Von

|P_136

/ ≥ Von der Vorhersehung. ≤

/Die Vorhersehung ist ein besonderes Vermögen der
Seele. Wir übersehen jederzeit einen Umkreiß der
Zeit, nemlich das Vergangene, Gegenwärtige und Zu-
künftige; wir verändern bloß unsre Stelle in der
Zeit. Ein jeder Zusammenhang in Gedancken, Verträgen p
erfordert, daß man perspicire. Ja alle unsre Ver-
mögen der Sinnen und der Imagination sind nur durch
die Prospection möglich. Weil das Gegenwärtige
nur ein Punckt ist; so ist das Feld der Zeit eigentlich
nur die Vergangenheit und Künftigkeit. Das Ver-
gangene hat nur in so fern einen Nutzen, als es den
Samen zum künftigen enthält. ZE wenn Gelehrte und
Bauern eine Feuerkugel sehen: so werden die erstern
fragen: was mag doch die Ursache davon seyn? Diese
dagegen, was mag das bedeuten? Jene sehen auf
das Vergangene, diese aufs künftige.

/Die Voraussicht ist nur möglich, in so fern wir einen
gewißen Umfang der Zeit übersehen. Wir sehen jeder-
zeit mehr ins künftige hinaus, als auf das Gegenwärtige
zurück, wenigstens sehen wir doch in den unendlichen
Raum der Zeit. Es ist die Zukunft für uns auch weit
wichtiger als das Vergangene, und unsere Erkenntniß

/ ist

|P_137

/ist denn praktisch, wenn sie einen Einfluß auf das
künftige hat. Wir sind auch vom künftigen einer Prae-
sension fähig. Durch die Voraussicht in die Zukunft wird
der Mensch bewogen einen Unterschied in der Ordnung in
Absicht auf seine Glückseeligkeit zu machen. So sagen die
Türken um sich zur Mäßigkeit aufzumuntern; es wären
für einen jeden Menschen im Himmel schon gewiße Nahrungs
Mittel abgemeßen, und wenn diese verzehrt wären,
so müßten sie sterben. Wer also wenig ißt, der zährt
lange an seiner Portion, und lebt auf die Art lange.
Es ist doch aber zu bewundern, daß der vorausgesehene
Todt dem Menschen nicht furchtbar ist, es geht dem Men-
schen im Leben so wie demjenigen, der in einer sehr
langen Allée spazieren geht, in einer großen Entfer-
nung scheint die Allee sich zuzuspitzen und das Ende
da zu seyn, wenn man aber dahin kommt; so sieht man
in einer weiten Entfernung wiederum das scheinbare
Ende, man stellt sich beym 3ten oder 4ten mahle wie-
derum so vor, daß es nur so laße, als wäre das Ende
da, und man kommt ehe man es vermuthet zur Allée heraus.
So hintergeht uns oft unsere Praevision selbst, es scheint
aber, daß solches die Vorsicht mit Vorsaz in unsre Seele
gelegt habe, damit ein jeder seinen Kreiß vollende, allein
gemeinhin sezt man die Erfüllung seiner Pflichten weiter

/ hinaus

|P_138

/hinaus, weil man sein Lebens_Ende gleichsam durch
ein optisches Glaß sieht, obgleich die Vernunft einem
alten Manne sagt, daß er unmöglich mehr lange leben
könne. Oft sieht der Mensch die Gegenwärtige Zeit
nur als den Zusammenhang mit dem künftigen Wohlbe-
finden an, und als denn wird ihm dieser Ubergang zu
lange, und die gegenwärtige Zeit wird ihm lästig.
Wenn aber Jemand in der Gegenwärtigen Zeit glücklich
ist, so scheint im die Zeit sehr kurz, daher Shakespear
die Zeit mit einem Pferde vergleicht und sagt: sie
galoppirt mit einem Diebe der zum Galgen ge-
führt wird, und geht im Paß mit einem Bräu-
tigam. Weil man die Gegenwärtige Zeit nur
für einen Uebergang hält; so verträumt man
gleichsam sein Leben. Man empfindet sehr wenig
davon, weil die Praevision unwillkührlich ist,
und man nur immer aufs künftige dencket.
Es ist also nöthig daß man das Vergnügen der
Seele ins künftige herauszusehen, durch die
Vernunft moderire und dirigire.

/ Von

|P_139

/ ≥ Von der Präsagition. ≤

/Es ist gewöhnlich daß die Menschen gerne ihre künftige
Schicksale wißen wollen, weil in der That nicht wichti-
ger als dieses ist. Da nun die Astronomie die einzige Wis-
senschaft ist, vermöge welcher man Phaenomena einige
100 Jahre voraus wißen kann; so hat man geglaubt in den
Gestirnen seine künftigen Schicksale lesen zu können,
daher das Nativitaet Stellen aufgekommen. In der That
aber würde uns die Praevision unsers Glückes mehr
schaden als nutzen. Ein einziges bevorstehendes Uebel,
würde den Menschen einige Jahre vorher bestürzt machen,
und der Lauff der Welt würde ganz anders gehen, als
er solte. Aus eben der Neigung das künftige vorher
wißen zu wollen, entspringt auch das Verlangen die
Veränderung des Wetters vorhersagen zu können. Einige
wollen solches aus einem alten Schaden, andre aus Wetter-
gläsern, und noch andre aus dem Monde prophezeyen;
allein alles zeigt nichts mehr, als das gegenwärtige
Wetter an, und wenn der Mensch mit Gewißheit die Ver-
änderung des künftigen Wetters vorhersagen könnte: so
würde dieses zu vielen Unordnungen Anlaß geben, weil
sie nicht wißen, was sie bey einer jeden Witterung
vornehmen sollen. Dieses sehnliche Verlangen zum

/ prae

|P_140

/praesagiren, macht den Menschen sehr leichtgläubig.
Hieraus entspringt die Neigung zur Wahrsagerey, die
Vorbedeutung der Träume und die Achtsamkeit auf die Stimme
der Thiere. Der Mensch überläßt sich dieser ungezähmten
Neigung nicht aus Mangel der Vernunft, sondern aus gar
zu großem Affekt. Wir wollen in etwas die brodlose
Traumdeutungskunst untersuchen. Es ist nicht möglich,
daß Träume etwas vorbedeuten können, es sey denn
daß die Ursache vom künftigen schon in meinem gegen-
wärtigen körperlichen Zustande liegt. ZE: Krankheit.
Man pflegt zu sagen, wenn Mannspersonen von Kurren
und Frauenspersonen von Stecknadeln träumt; so be-
deutet es ihnen Zank und Streit, wenn es eintrift,
so ist die Ursache hievon nichts anders, als daß im Schlaf
in dem Körper des Menschen eine galligte Disposition
vorgegangen, und da der Mensch schon verdrüßlich auf-
steht; so ist kein Wunder, wenn er leicht zu Händeln
kommt. Wenn aber die Träume ihre Ursache nicht in sich
selbst haben: so bedeuten sie auch nichts.

/Personen die viel träumen zeigen dadurch, daß sie
auch beim wachen, zum träumen aufgelegt sind. Das
weibliche Geschlecht träumt mehr als das männliche. Die
Ordnung welche man bey Träumen bemerkt, hat ver- 

/ ursacht

|P_141

/ursacht, daß man glaubte, die Seelen schwärmen zur
Zeit des Schlafs in der Geister_Welt herum.

/Der weise Mann hat facultatem divinatricem, weil er
die Ursache der Gegenwärtigen Dinge und ihre Verbindung
mit dem künftigen übersehen kann. Wenn alle Vorhersa-
gungen für wahr angenommen werden sollten: so würde
daß die Regel der Vernunft ungemein stöhren. Ver-
nünftige Leute können nicht wahrsagen, aber unwißen-
de Weiber können es. Man sagt, daß unter Carl_XI.
Könige in Frankreich, sich ein Wahrsager gefunden,
den der König vor sich kommen laßen. Der König
hätte den Wahrsager gefragt: wie lange er noch
leben würde? weil nun der Wahrsager wußte, daß
der König ein grausamer Herr wäre, und ihn auf
der Stelle hätte können laßen umbringen: so soll er
geantwortet haben; den Tag seines Todes wüste
er wohl nicht gewiß, aber daß wüste er, daß er
drey Tage vor dem Könige sterben würde, weil der
König nun glaubte, daß es wohl eintreffen könnte,
daß er drey Tage darauf sterben würde, wenn
er ihn umbrächte; so ließ er ihn leben.

/ Von den

|P_142

/ ≥ Von den Zeichen deren sich der Mensch bedinet. ≤

/Es sind gewiße Zeichen die bloß Mittel sind Vorstellungen
herbey zu loken, und andre die den Begriff der Sache er-
sezen. Zeichen von der ersten Art sind Wörter, durch
deren Gebrauch nur unsre Einbildungskraft rege gemacht
wird. Zeichen aber die die Begriffe der Sachen ersezzen,
finden wir bey den Poeten, und daß sind die Bilder,
deren sie sich bedienen; als das Bild des Neides. So kann
die Heiterkeit der Luft als ein Zeichen angesehen werden,
welches den Begriff von der Seelen Ruhe eines Weisen
vorstellt. Bilder %und Wörter sind also sehr unterschieden,
denn die Wörter müßen «an» nach Verschiedenheit der SPrachen
um eben denselben Begriff herbey zu locken, verändert
werden, dagegen ein Bild bey allen %und jeden Nationen
die Stelle eines und ebendeßelben Begriffes vertreten
kann. Ein solches Zeichen nun, welches die Vorstellung einer
Sache vertritt, nennt man ein Symbolum welches sich von den
Characteren unterscheidet. Zur Begleitung des Begrifs
brauchen wir Wörter, je mehr nun der Begriff in dem
Sinne liegt, desto weniger braucht man Wörter, je ab-
stracter aber die Begriffe sind desto mehr Wörter braucht
man. Wir wollen die Symbola etwas näher erwägen.
Die Menschen haben eine große Neigung zu den Bildern,

/ daß

|P_143

/daß den Kindern auch nur durch Bilder können Begriffe bey-
gebracht werden. So ist das Genie aller Orientalischen Völ-
ker, sie sind vorzüglich bilderreich und dies ist ein Beweiß
vom Mangel der Einsicht. Bey Symbolis sezt man an die Stelle
der Sachen andre ähnliche sinnliche Bilder; daß aber die Bilder
eine sehr große Macht haben siehet man daraus weil die
Menschen alles mit %.Symbola begleiten. So sind die Titel %.Symbola
des Ranges. Kleider sind Symbola des Reichthums, der Orden
ist ein %.Symbolum der Gnade, ja in unsern äußern Religions-
Gebräuchen herrschen so gar viele Symbola. Das traurigste
hiebey ist wohl dieses, daß die Menschen sich dahin können
bringen laßen bloß an den %.Symbola kleben zu bleiben und
die Sache selbst darüber zu vergeßen. Man siehet nur auf
den Titel ohne daß man bedenckt wie man sich dieses
oder jenes Ranges durch Verdienste würdig machen könne.
So sind alle %.Symbola und Feyerlichkeiten Vorstellungen einer ge-
heimen Bedeutung ZE die Trauer. Man sieht hieraus daß
um durch den Schleyer der %.Symbola durchzudringen große
Vernunft gehört, je mehr die %.Symbola die Sinne einnehmen.
Diese Symbola bringen ferner dem Menschen eine Menge
Irrthümer bey ZE man stellt sich Gott als einen Fürsten,
und die Menschen als Unterthanen vor; dieses %.Symbolum ist gut,
allein der gemeine Mann vergißt, daß der Fürst die
Unterthanen, und diese jenen nöthig haben, und daß der

/ Fürst

|P_144

/Fürst nicht ins Herz<1> sehen<4> kann<5> der<2> Unterthanen<3>, daher<6> ge-
wöhnt sich der Mensch nur äußerlich Gott zu dienen, ob er
gleich im Herzen ganz anders dencket, man muß sich also
hüten daß man das Sinnbild nicht für eine Aehnlichkeit zu
der Erkenntniß kommt, ein Prediger kann symbolisch schön
predigen, obgleich die Predigt nicht die wahre Schönheit hat d.i.
wenn sie nicht die Entschließung einer Beßerung hervorbringt.
Zahlen sind symbolische Vorstellungen der Größen wenn
sie aber intuitiv werden sollen, so müßen sie auf
eine Sache angewandt werden. Da man den Grönlaendern
die Menge der Menschen zu London faßlich machen wollte:
so sagte man ihnen nicht die Zahl, sondern daß ihrer so
viel wären, daß sie einen Wallfisch zum Frühstück
verzehren könnten. Hasselquist in seiner Reise nach
Aegypten sahe daß er einen ganz speciellen Begriff
von den Pyramiden gehabt hatte ehe er nach Aegypten
gereiset, allein beym Anblick vergaß er daß er jemals
von ihnen gewußt hatte. Zuweilen dient ein Symbolum
dazu nur um einen andern Begriff uns deutlich zu machen.
Professor Heite zu Cambridge berechnete die feinen
Theilchen der assa foetida, die aus einem einzigen Loth
in die Luft steigen, ob nun gleich die Zahl die herauskommt
sehr groß ist: so sieht man doch die Zahl gelaßen an.

/ Um

|P_145

/Um aber Bewunderung zu erregen, hat er eine andere Be-
rechnung erwählt. Er berechnete die Sandkörner die auf dem
Berge Pico befindlich, der eine Meile hoch und 5 Meilen im Um-
fange hat, hierauf sagt er, daß in einem Loth assa foetida
so viel kleine Theilchen wären, als in 5 Bergen, die so groß
als Pico wären, Sandkörner sind. Dieses sezt in Erstaunen.
Zuweilen können Menschen von Sachen so sprechen daß jemand
sie völlig versteht, aber die Sache selbst nicht versteht. So
können Menschen auch zuweilen empfindungsvoll sprechen,
ob sie gleich keine Empfindung haben. Da Menschen von Tugen-
den viel rühmen hören, so sind bey ihnen die Worte mit
ähnlichen Regungen verbunden, ob sie gleich die Tugend selbst
nicht hoch halten. Frauenzimmer fragen mehr darnach,
was die Leute von einer Sache sagen, als nach dem Werth
der Sache selbst, daher kommts daß sie par Sympathie in ge-
wißen Worten Achtung und Verachtung gegen eine Sache
äußern. Daher muß man vom Frauenzimmer nicht ver-
langen was über ihre Kräfte geht, man muß ZE keine
gar zu große Freygebigkeit fordern, denn da sie nicht
erschaffen sind ein Vermögen zusammen zu bringen, so
sollen sie auch keines dissipiren. Bloße Wörter können
bey einem Menschen mit Empfindung verbunden seyn. Wenn
man ZE bey einem englischen Schriftsteller lieset, daß

/ Vulcan

|P_146

/Vulcan dem Jupiter die Pfeile schmiedet, und darunter
Blitz, Hagel, Donner, dicke Finsterniß mischt: so rühren hier die
bloßen Wörter. Wenn man Jemanden auf der Stelle rühren will:
so ist es gut sich rührender Worte zu bedienen. Bey Predigten
aber kommt es auf die Sache selbst an die vorgetragen wird.

/Klopstok ist bei weitem nicht ein Dichter im eigentlichen Verstan-
de denn er rührt par Sympathie weil er gerührt redet, man
lese ihn aber mit kaltem Blute, so verliehren seine Schriften
viel. Er bedienet sich öfters einer ganz ungewöhnlichen SPrache,
die zuweilen halb polnisch ist, er redet abgebrochen %und zeigt
wie gerührt er ist. Wenn man daher etwas lieset, so
muß man sehen ob einem die SPrache selbst, oder das Bild
worinn die Sache vorgestellt ist, oder ob nur bloß die Worte
rühren.

/ ≥ Vom Witz und von der Urtheilskraft. ≤

/Unser Auctor hat dem Witz die Scharfsinnigkeit ent-
gegengesezt und erklärt jenen, durch ein Vermögen
das Aehnliche, diesen aber durch ein Vermögen den Unter-
scheid der Sachen zu erkennen. Es ist aber beßer, daß
man dem Witz die Urtheilskraft entgegenseze, zum
Erfinden wird Witz, zur Behandlung und Tractation einer
erfundenen Sache Urtheilskraft erfordert. Und zur
Urtheilskraft gehöret auch das Vermögen der Zusammenstimmung
der Verhältniße einzusehen. Der Witz urtheilt nicht, sondern

/ schaft

|P_147

/schaft nur die Materialien herbey, worüber hernach geurtheilt
wird. Der Witz ist das Vermögen zu vergleichen, die Urtheils
kraft das Vermögen zu verknüpfen oder zu trennen. Wizige
Leute können bald Aehnlichkeiten finden. Aehnliche Dinge aber
sind noch nicht verknüpft. Die Ideen der Sachen können in unserm
Kopf wohl verknüpft seyn, obgleich die Sachen selbst himmelweit
unterschieden sind. Scharfsinnigkeit ist das Genus von allen
Vermögen, und bestimmt gleichsam nur den Grad des Vermögens,
durch welches wir auch die Geringste Kleinigkeit leicht bemerken.
Es kann also bey Witz als bey der Urtheilskraft Acumen
oder Scharfsinnigkeit seyn. Ein Advocat muß einen
scharfsinnigen Witz haben, wenn er ZE eine ganz ungerechte
Sache vertheidigen will, er muß alle Geseze hervorzusuchen
wißen, welche dieser Sache auf eine scheinbare Weise patro-
ciniren. Hingegen muß der Richter eine scharfsinnige
Urtheilskraft haben, wenn er diese gekünstelte Verthei-
digung des Advocaten wiederlegen und der gerechten Sache
mit seinem Urtheil beytreten will. Ein Mensch ohne Witz ist
ein stumpfer Kopf, und ein Mensch ohne Urtheilskraft ist
ein Dummkopf. Ein dummer Mensch kann sich gar kein Concept
von einem Dinge machen, weil man nur dadurch, daß man das,
was viele Dinge unter sich ähnliches haben abstrahiret, einen
Begriff bekommt. Viele, die nur stumpfe Köpfe sind, werden
für Dummköpfe gehalten solches sehen wir an dem Beyspiel

/ des

|P_148

/des Clavius. Clavius, der ein Jesuiter Schüler war, war
in der Schule auf die oberste Claße gekommen, als er nun
Gedichte und Chrien selbst ausarbeiten solte, so konte er nie-
mahls auch nicht einen Vers machen, er mochte auch alle Geistes
Kräfte, die er hatte anstrengen. Die Jesuiten, die wie alle
Lehrer die Ausarbeitung einer Chrie oder eines Gedichts für
die höchste Staffel der Geschicklichkeit hielten, die ein Schüler
erreichen kann, hielten den Clavius für einen Dummkopf, und
gaben ihn zum Grobschmidt. Clavius der seine Seelenkräfte
fühlte, ging vom Grobschmidt weg, legte sich auf die Mathe
matik und wurde der größte Mathematiker seiner Zeit,
er war ein stumpfer Kopf nicht aber ein Dummkopf. Indeßen
ist der Witz der Liebling unsers Gemüths, und ein Poet
sezt sich lieber der Gefahr aus, gehangen zu werden,
als daß er einen witzigen Gedancken ersticken solte.
Er hält es gleichsam für einen Kinder Mord. Einen spie-
lenden Witz nennt man in so fern er sich nicht mit den %würklichen
Verhältnißen der Dinge beschäftigt, der nur vergleicht,
aber nicht dazu dient, um die Verknüpfung einzusehen. Er
unterscheidet sich vom wahren Witz dadurch, daß er die
zufälligen Aehnlichkeiten für beständige annimmt. - So kann
man mit den Worten spielen ZE auf den Pallast des Blen-
heim in England worin die Thaten Malboroughs abgeschil-
dert waren, stand ein Hahn und das Lateinische Wort Gallus:

/ welches

|P_149

/welches die Franzosen andeuten sollte. Ein spielender Witz
kann ein schaaler Witz werden, wenn er nur auf willkührliche
Benennungen und zufällige Kleinigkeiten gerichtet ist. So schreibt
Kaestner daß man das Wort Sot durch einen Deutschen der nach
Frankreich reiset %und Fat, durch einen Deutschen der aus Frankreich
zurückkommt übersezt, weil er eben das in Deutschland hätte
lernen können, was er in Frankreich zu lernen gesonnen
war, und weil er aus Frankreich mit lächerlichen Dingen an-
gefüllt zurük kommt.

/Der Mensch wird nicht verdrüßlich, wenn Jemand aus der Ge-
sellschaft ihm keine Beschäftigung giebt, aber er ärgert
sich, wenn ihn jemand mit lächerlichen Schrollen unterhält.
Obgleich ein Mensch ohne Bemühungen nicht glücklich seyn kann:
so ist er in einem solchen Zustande doch glücklicher, da er sich
selbst überlaßen wird, als wenn er sich mit leeren Sachen
beschäftigen soll. Wenn mir Jemand rathen wolte, daß
ich zur Motion eine Gloke ohne Klöppel lauten sollte, weil
ich dadurch meinen Endzweck erreichen würde, und Motion
hätte, und mit meiner Motion auch nicht die Stadt beunruhigen
würde, oder daß ich auf einem Stekenpferde reiten sollte,
wird mich diese Leere Beschäftigung nicht unglücklich oder ver-
drüßlich machen? Man bemerkt an den Schiffs Leuten wenn sie
auf dem Lande spazieren gehen, sie nur immer eine Schiffs- 

/ länge

|P_150

/länge vorwärts gehen, und denn wieder umkehren. Dieses
kommt aus der Gewohnheit, allein wenn wir spazieren gehen, so
machen wir eine weite Tour und kommen als denn wieder zu-
rück, da wir doch eben dieselbe Motion hätten wenn wir nur
eine kurze Streke einigemahl auf und niedergingen Das Leere
aber hindert uns solches zu thun. Gleich angenehmer ist es uns,
wenn wir uns vorgesezt nach einem SPaziergange an einem
bestimmten Orte auszuruhen weil wir nicht gerne ohne Endzwek
handeln mögen. Noch ein Beyspiel von einem Wortspiel, welches
Anfangs Lachen erweckt aber doch schaal ist, ist folgendes. Als
Jemand der bey einem Praesidenten zur Taffel war, und ein Be-
dienter ihm einen Suppenteller überreichen wolte, und ihn begoß,
sagte: summum Jus summa injuria. Es ist lächerlich daß er dieses
Brocandicon der Juristen auf eine Suppe appliciret. Witz und
Urtheilskraft hat, und liebet den der viel Witz besizt. Der
Witz bringt alle Gemüthskräfte in Bewegung, die Urteils-
kraft bringt sie zusammen und hält sie in Ordnung durch
den Witz wird uns alles vorgelegt, und die Urtheilskraft
ordiniret. Der Witz erfordert die Leichtigkeit denn hierin be-
stehet seine Empfehlung. Wenn jemand aber zu reden an-
fängt, und jedermann in die Erwartung eines schönen Einfals
versezt, hernach aber was gezwungenes oder leeres her-
vorkommt so mag er selbst, wie es oft geschiehet noch so
sehr zu seinem Einfall lachen, er erzwingt von der Ge-
sellschaft nichts, als ein wohlanständiges Grüseln, oder eine

/ ver- 

|P_151

vez»verzogene lachende Miene, weil er doch haben will, daß,
man darüber lachen soll, und es die Höflichkeit erfordert,
daß man in sein Gelächter mit einstimme. Wenn sich Jemandes
Urtheilen Schwürigkeiten entgegensezzen, und er sie glücklich
überwindet, so schäzt man einen solchen Menschen hoch. ZE Newton.
Das Gesellige Leben erfordert mehr Witz als Nachdencken.

/Der Witz erzeugt Einfälle - bons mots - . Die Urtheilskraft
bringt Einsichten hervor. Die Franzosen haben mehr Einfälle
als Einsichten, daher ihre philosophische und andere ernsthafte
Schriften voll von Einfällen sind. Terrassons Schriften mögen
hievon zur Probe dienen. «B»Trublets Werk bestehet aus lauter
Einfällen. Montesquieu zeigt auch mehr Einfälle als Einsichten.
Die Engländer haben viele Einsichten, %und ob es gleich bißweilen
scheint, daß etwas ein Einfall sey: so ist doch zu sehen, daß es
praemeditirt ist. Die Feinheit und Naivitaet des Witzes sind
wohl zu unterscheiden. Ein feiner Witz ist jederzeit scharf-
sinnig, der naive aber belustiget mehr als der feine. Es
giebt aber eine grobe und feine naivitaet, von welchem sich
zu überzeugen man nur den Don Quixot lesen «daf» darff,
als er den Sancho Pansa frug, was denn ein irrender Ritter
wäre? antwortete er, ein irrender Ritter ist, der keinen
Tag vor einer Crone und keine Nacht vor Schlägen sicher ist.
Der Witz ist %.veränderlich um Neuigkeiten begierig und wird
ungeduldig wenn ihn etwas lange aufhält. Er sucht so viele Dinge

/ zu

|P_152

/zu vergleichen als es nur möglich ist. Wizige Leute sind ge-
meinhin sehr veränderlich, dieses findet sowohl bey ganzen
Völckern als bey einzelnen Personen statt. Es giebt einen ge-
wißen dauerhaften Witz; so sagt ein Engländer von des Pon@e\c@k
Schriften, ihr Witz gleicht einem Stück Gold welches unter dem
Hammer eines Franzosen weit ausgebreitet werden könte.
Hudibras zeigt den größten Witz, wiewohl er ihn nur
auf pöbelhafte Dinge angewandt, so daß Hume, Voltaire
und andere es für das wizigste in der Welt hielten. Als
Kolecho dem Hudibras rieth: er sollte doch einer Wittwe
den Besuch gönnen, da er ihr ihn versprochen: so antwor-
tete ihm Hudibras: das Gewißen gleicht einem Collegium
wo viele Sachen abgemacht werden, gleich wie die Collegien
ihre Ferien haben, so hat auch jezt mein Gewißen seine
Ferien, ich kann also deinen Antrag jezt nicht annehmen.
Ein solcher Einfall gefällt bey deßen ersten Anbringen
man ernsthaft aussieht, deßen Schwierigkeiten man aber
bald überwindet, und der also im Nachschmack gefällt.
Der Witz hat einen Einfluß aufs Lachen. Es können zwar
auch Menschen ohne Witz lachen erweken, aber solches geschiehet
auf ihre Kosten. Es giebt aber eine Geschicklichkeit das Lachen
durch Einfälle zu erregen. Der Wiz ist zuweilen ernsthaft
ZE der Witz der Ausleger, die alle Aehnlichkeit hervorsuchen

/ um

|P_153

/um ihre Sache zu rechtfertigen. Der ernsthafte Witz zeigt
sich ferner bey Erfindungen, denn alle Hypothesen giebt der Witz
an die Hand. Die Gattungen des Witzes die das Lachen erregen
sind.

/1.) Der Witz der die Laune erhält, man nennt dieses auch
drolligte Einfälle. Hudibras ist voll davon, so wie die
Schriften der Engländer mehrentheils sind. Den Franzosen
fehlt dieses. Hieher gehört auch der Tristram Shandy.
Bey dieser Art des Witzes scheint man gar nicht die Absicht
zu haben das Lachen zu erregen. Unsere Reden von Glück
%und Unglück drücken gemeiniglich unsre Gemüths Art aus,
mit der wir die Verhältniße der Dinge auf uns, annehmen.
Nun nennt man daß eine misantropische Laune, wenn man
alle Menschen in der Welt für Heuchler, für boshafte Schmeichler
hält und deshalb alles mit Verdruß ansiehet, hingegen alles
aber für ein SPiel halten, die Handlungen der Menschen «in»von
der Lustigkeit abzuhalten und die Fähigkeiten besizen, die
Welt gleichsam zu verschönern, eine solche Gemüthsart nennt
man die Laune überhaupt. Man stellt sich die Sache dem speciellen
Gemüths Character gemäß vor. Wenn ein jeder Mensch sich eine
solche Laune anschaffen könnte, daß er alles in der Welt für
ein SPiel ansähe, so würde daß das gröste Glück für
einen Menschen seyn, vorausgesezt daß ihm dieses nicht
hindern müße seinen Pflichten Genüge zu thun. Die Men- 

/ schen

|P_154

/Menschen sind gemeiniglich am geneigsten zum Lachen, ja
manche können über alles lachen. Die wohlbeleibten feisten
Leute sind gemeiniglich am geneigtesten dazu, daher man
auch auf dem Theater wenn man einen recht lustigen Kerl
machen will, die Rolle gemeinhin einen recht drolligten
Kerl aufträgt, denn wenn es ein hagerer langer Mensch
wäre, so würde ihn das Lachen nicht so natürlich seyn.
Je mehr ein Mensch Anlage zu einem feisten Körper hat,
desto mehr bemüht er sich, bey der Taffel alles zum Lachen
zu reizen. Es ist nicht so leicht alle sonst vernünftige
Leute zum Lachen zu bewegen. Alles, was das Lachen
erregen soll, muß unerwartet seyn; und es «ist» muß sich
gleich darauf ein Contrast zeigen. In Frankreich war
der Bau Commission aufgetragen worden eine Brücke zu
bauen, als nun die Leute zum Eßen eines Tages gingen
und einen Gasconier sahen, der immer hin und her ging,
und die Brücke ganz bedenklich betrachtete, so sagten sie
unter einander, dieser Gaskonier muß auch ein Bauver-
ständiger seyn, wir wollen ihn zum Eßen bitten, und ihn um
seine Meynung fragen, der Vorschlag wurde genehmiget,
der Gaskonier sezte sich an den Tisch, und indem die andern re-
deten, so war er beschäftiget seinen Hunger zu stillen, sie
warteten biß er abgegeßen hatte, und nunmehr frug ihn

/ einer

|P_155

/einer, was er von dem Brückenbau, den sie eben unter
Händen Hätten, meynte, sie hätten geglaubt, daß er ein
Bauverständiger wäre. Ja fing der Gasconier mit einer
ernsthaften Miene an, ich sahe daß ihr eure Sachen recht gut
gemacht, besonders daß ihr die Brücke quer über den Fluß
gelegt, denn hättet ihr sie auf den Fluß in die Länge sezen
wollen: so würdet ihr das Werk nicht so geschwinde geendigt
haben. Hier brach ein jeder ins Lachen aus, weil sie sich viel
versprochen hatten, und jezt das Gegentheil gewahr wurden.
Es wird das Gemüth bey solchen bons mots auf gewiße Art
in Direction gebracht wird, und auf einmal wird es gleich
einem Ball zurükgeschlagen. Dies verursacht eine solche
Erschütterung in dem Körper, welche das Lachen genandt wird.
Woher aber das Lachen dem Menschen so angenehm sey,
da es doch nicht für den Verstand ist da jederzeit Un-
gereimtheiten die Ursachen deßelben sind, solches bedarf
einer nähern Untersuchung. Wir wollen@,@ das Lachen
erst von der Seite des Gemüths betrachten, es ist einmal
ausgemacht, daß bey allem was lächerlich ist, ein Wie-
derspruch seyn müße, zuweilen lachen wir aber auch
nur ohne denselben. Das Auslachen ist von dem fröh-
lichen Lachen ganz unterschieden, denn derjenige der
immer lacht ist bösartig, ein gutherziger wird, wenn
jemand ausgelacht wird nicht mit lachen, obgleich er sonsten

/ gerne

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/gerne lacht, sondern er thut es nur als denn wenn alle
mit lachen können. Das Auslachen ist immer affectirt denn
ob man gleich dabey aus vollem Halse lacht, so empfindet
man doch etwas, welches dieses lachen mißbilligt. Einige
Menschen können sehr darüber lachen, wenn sie einen andern
fallen sehen, andre hingegen finden nicht den geringsten Reiz
zum Lachen dabey, denn sie sezen sich in die Stelle desjenigen
der gefallen ist, und dencken, wie ihnen alsdenn zu Muthe
seyn würde. Das fröhliche Lachen muß jederzeit unschuldig
seyn, es giebt aber auch ein Lachen welches aus einer gewißen
Verkehrtheit entspringt, und zum Nachtheil des andern gereicht.
Man lacht in diesem Fall darüber, daß der hochmüthige ge-
demüthiget ist; allein ob hierin gleich dem ganzen %.Menschlichen
Geschlecht Satisfaction geschiehet, so ist das Lachen doch etwas
boshaftes. So lacht man auch wenn Jemand eine phantastische
Rede hat halten wollen, %und hernach steken bleibt. Dies Lachen
ist erlaubt, denn warum übernimmt er sich eine Rede zu
halten; wenn er nicht reden kann. Wenn aber ein guter
Candidat zum erstenmahle predigt %und steken bleibt: so
wird uns dabey auch zugleich kalt, weil der Candidat leidet
und wir uns leicht vorstellen können, was in ihm vorgeht.

/Das Lachen ist eine Art von Bandenlosigkeit und diese ist

/ er- 

|P_157

/erlaubt; wofern ihr nur kein moralischen Gesez entgegen
steht. Wenn wir auf die Materie des Lachens sehen, so ent-
springt es jederzeit aus einem sich plötzlich zeigenden Gegen-
theil. Als ein Gasconier ein Bild sahe, worauf der König
gemahlt war, dem der Genius einen Lorbeer-Kranz aufsezte,
so sagte er: es ist ja nicht zu sehen, ob der Genius dem Könige
den Lorbeerkranz aufsezt oder abnimmt. Eine Braut bey den
Hottentotten denckt ihrem Bräutigam recht liebenswürdig
vorzukommen, wenn sie sich mit Schaaffett beschmieret
und 6 schwarze Striche auf ihr Gesicht macht. Sie denckt
nunmehr auf ihrem Gesicht aller Liebes Götter Pfeile zu tragen
mit denen sie das Herz ihres Liebhabers verwunden könte.
Eine jede plötzliche Ungereimtheit erregt ein Lachen, es scheint
auch daß das Lachen bey uns ein Andencken zurückläßt, denn
wenn wir alle die prächtigen SPeisen, die wir in einer Gesell-
schaft gehabt, lange vergeßen haben, so erinnern wir uns doch
noch dieser oder jener Erzählung, darüber wir so herzlich gelacht
haben, und wir sind unzufrieden, wenn der andre, dem wir den
SPaß erzählen nicht mitlachen will; sich aber darüber freuen,
daß man nicht so dumm ist, wie die andern Menschen, das ist
ein boshaftes Lachen, und man müßte beständig auf der Straße
lachen. Als Heinrich_der_IVte im Louvre einem Edelmann

/ vom

|P_158

/vom Lande sahe, der so groß that: so frug er ihn: was er
bediente? er antwortete, ich diene keinem, sondern ich bin
mein eigner Herr, hierauf erwiederte der König, daß be-
daure ich auch sehr, daß ihr einen solchen Flegel zum Herrn
habt; hier bringt der Contrast, da ihn der König anfänglich zu
bedauern scheint, und ihm darauf eine anzügliche Replique sagt;
das Lachen zu wege. Als ein Indianer in der Englischen Factorey
zu Gaste war, %und sahe, daß, als man eine Champagner Bouteille öf-
nete, der Wein an die Decke herauffuhr, wunderte er sich da-
rüber, biß ihn endlich ein Engländer frug: worüber er erstaune?
Da doch dieses nichts besonders wäre; nun schämte sich der Indianer
daß er sich so bloß gegeben, %und sagte, ich wundre mich nicht daß es
herausläuft, sondern wie ihr dieses in eine Bouteille habt bringen
können. Je mehr das Gemüth ernsthaft zu seyn scheint %und zurückge-
schlagen wird, desto stärker ist das Schwancken des Gemüths. Der wahre
Grund von der Fröhligkeit beym lachen, ist mechanisch, mechanisch
wird das Lachen bey Menschen excitiret durch küzeln. Dies erwekt
ein nur willkührliches Lachen, daher man sich im Lachen gegen den,
den man küzelt nicht %.feindlich betragen kann. Diese Reize sind Zuckungen
der Fasern, deren Erschütterung sich biß zum Zwergfell, welches
ein Theil vom Viscus ist propagiren. Daher ein Mensch wenn er weiß,
daß er gezwickt werden soll, alle Fasern schon im Voraus zusammen-
zieht %und spannt, berührt man diese gespannte Fasern, so geben
sie ein gespanntes Schreken, das Schreken des Zwergfels bringt eine Be-
wegung in der Lunge hervor, %und die Lunge die als denn die Luft

/ ge- 

|P_159

/geschwinder als sonst einzieht %und ausstößt, bringt alle BlutGe-
fäße in Bewegung, und diese große innere Bewegung ist das Lachen.
Die Transpiration wird nach dem Lachen vergrößert, %und der Mensch
findet sich ganz removirt, dagegen das unmäßige Lachen die Nerven
schwach macht; daher einige die stark gelacht haben, ganz träu-
merisch sizen. Wenn die Medici das wißen, daß die innere Bewe-
gung weit beßer sey als die äußere: so würden sie sich bey Patienten
genau darnach erkundigen, wer ihm viel Vergnügen verursacht,
auch wenn sie ihm anrathen, zu fahren, zu reiten, zu gehen, ihm
zugleich einen solchen vorschlagen mit dem er in Gesellschaft gehen
könnte. Alle Handlungen des Gemüths haben eine harmonische
Bewegung im Korper, die Gedancken bewegen die Fasern und
verursachen die Handlungen, daher auch der plözliche Absprung der
Gedanken eine zitternde Bewegung im Zwergfell macht.

/Als Heinrich_IV. die Magistrats Personen einer kleinen Stadt ent-
gegen kamen, %und Esel mithatten, so hielt einer von ihnen eine Rede
an dem König, während der Rede aber fing ein Esel an gräßlich
zu schreyen, worauf der König sagte: Ihr Herrn Magistrats
Personen redet doch nicht alle unter einander, damit ich die Rede
des einen verstehen kann.

/Die Heilkraft des Lachens macht vergnügt, %und nicht die Ungereimtheit,
daher derjenige der Andre zum Lachen bewegen will, sich an-
fänglich gar nicht merken laßen muß, %und den Contrast wo
möglich biß zur lezten Zeile aufbewahren muß.

/ Alles

|P_160

/Alles was das Lachen verursacht, gefällt dem Gemüth nicht
unmittelbar, sondern weil der Absprung der Gedanken
die Nerven erschüttert, die Erschütterung aber biß zum
Diaphragma, von diesem biß zur Lunge gelangt, %und also die
innre Bewegung verursacht. In Gesellschaft erzählt einer
gern selbst, bloß weil ihm das eine größere Motion verursacht,
als wenn ihn ein anderer erschüttert, er lacht über eines
andern Erzählung, weil die ihn auf eine weit lächerlichere
bringt, die er gleich darauf erzählen kann. Er behält eine solche
Historie, damit er andre mit ihr zum Lachen bringen könne,
so ist es auch mit den tragischen Bewegungen, da uns bald
Zorn, bald Hoffnung, bald Großmuth rührt. Von unsern Glied-
maßen sind viele so beschaffen, daß sie die Ausdehnung,
andre hingegen daß sie die Zusammenziehung der Gefäße be-
dürffen, daher geht man zur Transpiration in die Comoedie
und wenn man zur Tragödie geht und Thränen vergißt, oder
doch wenigstens alles das empfindet was Thränen verursachen
kann, so ist das so gut als wenn man sich schröpfen läßt.
Es ist auch zuweilen gut, daß ein Mensch sich ärgere, be-
sonders wenn er ohne Wiederspruch auspoltern kann, ein
solcher Mensch der mit einer gewißen Beredsamkeit seinen
Zorn hat äußern können, kommt hernach recht munter in die
Gesellschaften. - Wir übergehen hier das Capitel vom Ge-
schmack, weil wir zuerst von allen Erkenntnißkräften
reden, hernach aber auch das Gefühl von Lust und Unlust

/ wohin

|P_161

/wohin auch die Lehre vom Geschmack gehört, weitläuftig ab-
handeln wollen. Der Verstand ist das Vermögen zu urtheilen
die Vernunft das Vermögen zu schlüßen, oder a priori zu ur-
theilen. Verstand haben, heißt etwas verstehen: so bedienen
wir uns vieler SPrüchwörter ohne ihren Sensum zu kennen, allein
wir wollen hier nicht die Logick sondern die Antropologie ab-
handeln. Wir sagten also weiter, wir haben bey allen Kräften
des Gemüths keine größere Eifersucht, als wenn es auf den
Punckt des Verstandes ankommt, ja wir wollen in Ansehung eines
gesunden Verstandes und eines guten Herzens keinem nachsehen,
wir gestehen wir haben blöde Augen, ein schwaches Gedächtniß p
Wir geben viel in Ansehung unsers Wizes nach, in Summa
wir sind in Absicht unsrer übrigen GemüthsEigenschaften sehr
nachgebend, nur nicht in Ansehung unsers Verstandes, dies
kommt daher, weil der Verstand alle übrigen Vermögen brauch
bar machen kann, denn ohne Verstand helffen uns unsre Seelen
kräfte nichts, %und Contrair die Disportion unsrer Erkenntniß
kräfte mit dem Verstande, macht die größte Häßlichkeit
der Seele aus. Die Seele ist ohne Verstand krüppelhaft,
einem Menschen ZE der viel Dinge im Gedächtniß, aber wenig
im Verstande hat, lauffen oft viele Dinge durch den Kopf, die,
da er sie öfters unrecht anbringt, ihn öfters %.lächerlich machen.
Viele Leute studiren nur recht große Narren zu werden,

/ weil

|P_162

/weil sie viel gehöret %und nichts recht verstehen, so wollen
sie von allem urtheilen; welches denn dumm herauskommt.
Als Jemand in einer Gesellschaft war, wo sich ein solcher Schrey-
hals eingefunden, der von allem redete und nichts verstand:
so lenckte er das Gespräch so herum, daß er erzählte wie Xerxes
einen bestellet hätte, der immer bey der Taffel aus ruffen müßen,
Gedencke König daß du ein Mensch bist; hierauf applicirte
er solches auf den Schreyhals und sagte: er sollte auch Jemanden
bestellen, der immer ausruffe: Gedencke daß du ein Narr bist.

/So wie oft der Himmel einen Verschwender mit Millionen
heimsucht, so trift es sich auch, daß mancher der keinen
Verstand hat, andere Fähigkeiten im großen Maaße be-
kommt. Wir können uns einen Verstand dencken, der durch
die Erfahrung klug geworden. Viele aber werden auch nicht
durch Erfahrung klug, indem sie wenig auf sich Acht haben; es
besizen auch nur sehr wenige %und scharfsinnige Leute diesen
empirischen Verstand; denn es ist das Vermögen etwas in
abstracto zu erkennen ganz unterschieden von dem, was in Con
creto zu beurtheilen. Warum sagt man, dieser Mensch ist
ein großer Theoreticus aber kein Practicus. Mancher hat
einen empyrischen aber keinen speculativischen Verstand, mancher
kann sich keine allgemeine Regel machen. Viele haben einen bloß
practischen Kopf. So finden wir ZE daß einige ein %.vortrefliches
Augenmaaß haben in Ansehung der Kunstwerke. Es giebt

/ Leute

|P_163

/Leute, die «aus» in der Kunst aus zerbrochenem Porzellan schöne
Stücke zu machen ZE Tische auszulegen, Rabatten auszuzieren p
so fertig sind, daß sie gleich wißen, was für eine Farbe von
Porzellan sie ergreiffen sollen, um den Tisch recht zierlich
auszulegen. So auch in Ansehung der Sinne, einem guten Pfer-
den darf man nur wenn es an einen Graben kommt den Zügel
schießen laßen, so hat es schon das Augenmaaß, ob es herüber
kommen wird oder nicht. Es giebt im Grunde einen doppelten Ver-
stand, den einen kann man Talent und den andern Verdienst
nennen. Diejenigen Menschen, die die vorgelegten Dinge ver-
stehen %und gut beurtheilen können, haben ein Talent, nur aber
gehört auch ein Verstand dazu, der da überlegt, was man von
diesem Talent für Gebrauch machen kann, %und daß ist der di-
rigirende Verstand oder das Verdienst, vermittelst deßen
man von dem Ganzen alles möglichen auf die Theile geht;
dahingegen das Talent oder der subordinirte Verstand von
dem Theile zum Ganzen hinaufsteigt. Obgleich viele Wirthschafts
verständige Bauren auf einem Gute sind, so wird dennoch ein
Arendator gesezt, denn die Bauern haben einen subordinirten
Verstand, sie arbeiten alle, jedoch fehlt es ihnen am dirigi-
renden Verstande, der die Wirthschaft im Ganzen übersiehet,
und die Arbeiten so vertheilen muß, daß ein jeder Tag einen
Zusammenhang mit demjenigen habe, was im Ganzen Jahr ver-
richtet werden soll. Den subordinirten Verstand kann man auch

/ den

|P_164

/den administrirenden Verstand nennen. Wir finden viele
Menschen, die einen administrirenden Verstand haben: sie sind zu
allem geschickt, allein ihnen fehlt der dirigirende Verstand:
sie wißen diese Geschicklichkeiten nicht zu einem allgemeinen
Zwecke anzuwenden. Wie kommts, daß einige die Königin
Christina von Schweden für eine sehr kluge, andere hin-
gegen für eine sehr einfältige Dame halten? Sie haben
beyde recht: sie hatte große Talente, kurz sie hatte einen
administrirenden Verstand, es schien ihr aber, als wenn ihr
ihre Völcker zu roh wären, weil sie ihre Verdienste
nicht einsahen, sie reisete herum, changirte die Religion
und legte endlich die Krone nieder, sie wurde hernach
andern Höfen lästig, %und wurde bei ihrem Verstande %.unglücklich
So geht es auch den ComoedienSchreibern, sie wißen wenn
sie einer Person eine Rolle geben, ihr diese vortreflich
spielen zu laßen, sie gut auszudrücken p Wenn aber die Co-
moedie zu Ende gelesen: so läuft der Leser in Gedancken «zu»,
das ganze Stück durch, %und sieht auf die Verbindung, %und denn
kann man oft nicht einsehen, warum der Dichter diese oder
jene Person hereingebracht, Solche ComoedienSchreiber haben
einen administrirenden Verstand aber keinen Dirigirenden,
selbst Lessing fehlt hierin. Wenn man also von diesen einen
für verständig preisen, von jenen aber tadeln hört: so
dörffen wir nur auf den doppelten Verstand recurriren.
Dieser Verstand kommt nicht vor Jahren, ja dieser Verstand

/ der

|P_165

/der da dienet den Werth der Dinge zu schäzen, verspätet sich
oft so sehr, daß er sich wohl selten vor 40 Jahren einfindet. In
diesem Alter geht alsdenn gleichsam eine Palingenesie im
Verstande vor, man verliert öfters die Anhänglichkeit an
diesem oder jenem Dinge, das uns vorhero viel werth war.
Es giebt einen wichtigen, gründlichen, ausgebreiteten, tiefen
Verstand. Der richtige ist, der nicht durch den Wiz irrig ge-
macht werden kann. Der Wiz ist gleichsam der Gauckler in
der Menschlichen Seele. Von allen Nationen haben die Engelländer
einen richtigen Verstand. Die Richtigkeit des Verstandes kommt nicht
auf die Lebhaftigkeit an, sondern ein richtiger Verstand ist oft
sehr langsam, aber um desto zuverläßiger. Man bemerkt
daß das Frauenzimmer wohl einen subordinirten Verstand
oder Talente habe, aber keinen dirigirenden Verstand, daher
sie auch geschickt sind, ihnen an die Hand gegebene Mittel
auszuführen, aber sie können sich niemals einen rechten «Be-
griff» Zweck vorsezen; der Mann hingegen ist geschickt
den Werth der Dinge zu schäzen. Ebenso geht es auch in
Ansehung der Wißenschaften. Einige Menschen haben einen
technischen Kopf, andre hingegen einen architectonischen, so
haben Zimmer und Maurerleute einen technischen Kopf, sie
können ein Hauß recht gut bauen, wenn ihnen ein Riß vorge-
legt ist. Diesen Riß aber muß ein architectonischer Kopf

/ machen

|P_166

/machen, der vielleicht keinen technischen hat. Ebenso geht
es auch mit einigen Philosophen. Einige können philosophische
Säze recht gut vortragen, allein sie haben das Erhabene der
Philosophie niemals geschmeckt. Es ist mit einem solchen Menschen
ebenso, als mit einem der in vielen Ländern gewesen, aber
niemals eine LandCharte gesehen hat; dieser wird viel
erzählen können, was er hie %und da gesehen, aber er wird
sich niemals einen ganzen Begriff, von der ganzen Gegend
%und ihrer Lage machen können. So gehts auch der Jugend
der man viel gelehrt, der man aber niemals den Geist
aus vielen Wißenschaften ausgezogen hat. Manche Wißen-
schaften sind so geschaffen, daß man vom Ganzen auf die
Theile gehen muß, als die Geographie %und Astronomie.
Dieser praesidirenden Verstand, von dem wir bisher geredet
haben, ist die oberste Kraft der Seelen. Alle Menschen
die voll von Leidenschaften sind, vergleichen nicht das was
sie thun, mit dem Ganzen aller ihrer Zwecke, sondern nur
mit einer ihrer Neigungen, daher sie auch Sklaven ihrer
Leidenschaften genandt werden. Es ist schändlich wenn der
Große Herr der Verstand, gleichsam degradirt hinter dem
Pöbel der Leidenschaften gehen muß. Der König von
Macedonien sagte zu seinem General, nun will ich nach

/ Italien

|P_167

/Italien gehen und die Römer überwinden. Hierauf frug
der General: und hernach? Der König antwortete: Dann will
ich nach Sicilien reisen %und die dasigen Einwohner überwinden.
Er frug weiter: %und hernach? Dann will ich nach KleinAsien
ziehen %und hierauf nach Syrien, %und nach allem diesem wollen
wir hier ein Glaß Wein in Ruhe trincken; Ey sagte der General
laßt uns unser Glaß Wein jezt trincken %und nicht so lange war-
ten, denn wer weiß was für Unruhen wir uns als denn
aussezen. Es giebt ungemein kluge Frauenzimmer, denen
allen aber der dirigirende Verstand fehlet, sie können nicht
einsehen, warum sie nicht die Herrschaft erhalten, %und doch
sagen sie wenn sie den Mann in Unglück gebracht %und man
es ihnen vorwirft; der Mann hätte sollen klüger seyn.
Es ist nicht zu läugnen daß es auch Fälle giebt, wo
dem Mann der dirigirende Verstand mangelt, %und wo nur
eine Frau denselben besizt, (Mit solchen Frauen mag ich
nicht gerne zu thun haben) allein man muß eine
jede Regel so viel wie möglich allgemein laßen, wenn
gleich einige Fälle davon abgehen, (Nach Kants Meynung
daß durchgehends den Männern die Herrschaft anvertraut
wäre) die Ursache ist diese, weil die Natur doch etwas
im Manne gelegt, was man bey einer Frau vergeblich suchen

/ wird.

|P_168

/wird. Der große Dichter Milton hatte die Parthey des
Cromvells gehalten, als nun die Parthey des Königs gewaltiger
wurde, so traten die meisten von der Parthey des Cromvells
ab, %und auf die Seite des Königs, Milton aber that es nicht,
da man nun aber einen so großen Mann erhalten wolte,
so both man ihm, wenn er zur Parthey des Königs treten
würde, die Stelle eines Secretairs an, wo er jährlich
viele 1000 %Pfund Sterling erhalten hätte. Milton aber der von
der Würde einer Republicanischen RegierungsForm zu
überzeugt war, blieb unbeweglich, seine Frau die er herzlich
liebte, konnte ihres Mannes Betragen nicht begreiffen; Sie
stellte ihm alles mögliche vor, um ihn zu bewegen die Gnade
des Königs anzunehmen. Milton antwortete ihr hierauf:
Sie und ihr Geschlecht wollen in Kutschen fahren, ich aber
muß derselbe bleiben. Der Verstand ist vom Witz ganz unter-
schieden. Wizige Leute ohne Verstand nennt man Witzlange.
Der Witz ist flatterhaft, der Verstand ist thätig. Der
Witz spielt und vergleicht nur die Dinge untereinander
der Verstand aber erkennt die Sachen so wie sie sind, und
vergleicht sie nicht allein, obgleich der Witz dem Verstand
die materialien darbieten muß. Ein Verstand ist auf-
gelegt zu Einfällen, der andre Einsichten. Dem Ver- 

/ stand

|P_169

/Verstand von der ersten Art haben die Franzosen. Ein Einfall
gefällt um desto mehr, je unerwarteter er ist und je weniger
man merken kann, daß er dem Proferenten Mühe kostet, aber
ein ganzes Buch voller Einfälle ist unerträglich. Die Deutschen
sind nicht zu Einfällen aufgelegt ihr Naturel ist langsam.
Die Engländer haben auch zu weilen wizige Einfälle, diese aber
kann man mit Recht wizige Grimaßen nennen, weil sie gar
zu sehr überlegt zu seyn scheinen. Die Französische Nation
ist die Mutter des Geschmacks, es kommt ihr hierin keine Nation
bey, es sey denn daß man sie mit dem alten grichischen Volcke
vergleichen, oder ihnen die Italiener zur Seite sezen wolte.
Allein die Italiener haben nur einen Geschmack der Sinnen
ZE in der Baukunst, Bildhauerkunst, Musick %und Mahlerey.
Die Franzosen aber haben gleichsam einen idealischen Ge-
schmack, er zeigt sich ZE in Gedichten, Gesellschaften p.
Man theilt ferner den Verstand in den seichten %und gründlichen
Verstand ein. Der seichte Verstand erkennt gleichsam nur
die Oberfläche der Dinge, der gründliche aber dringt biß
ins innre der Dinge hinein. Die Redekunst macht seichte
Köpfe, die Mathematik aber könte gründliche Köpfe bilden,
allein da sie sich nur mit einem Gegenstande beschäftigt,
so ist sie hiezu auch nicht hinlänglich. Vortreflich aber ist es,
wenn man jungen Leuten gleich im Anfange moralische

/ Säze

|P_170

/Säze vorlegt, %und sie ihnen hinlänglich beweiset, hierdurch
lehrt man sie nichts ohne Grund annehmen.

/Die Engländer sind diejenigen, die am gründlichsten denken
%und wenn gleich die Arbeit der Franzosen mehr Geschmack
verräth, so fehlt ihr doch die Provision %und Abgemeßenheit
der englischen Arbeit. Ein jeder der eine gründliche Vernunft
hat, will die Sachen in Ansehung der Gründe complett erkennen.
Ein Tischler der alles so macht daß es zusammen paßt,
hat einen gründlichen Verstand, denn sobald eine Sache adaequat
ist der Idee die der Sache zum Grunde liegt, so ist sie gründ-
lich. Es giebt ferner einen anhaltenden %und flüchtigen oder
tumultuarischen Verstand. Lezterer ist der <vom> Witz dahim ge-
rißen wird. Der Verstand ist von der Vernunft folgen-
dermaßen unterschieden. Der Verstand urtheilt über
das was ihm durch die Erfahrung vorgelegt wird, er
darf also nur das verstehen was ihm gegeben ist, die
Vernunft aber urtheilt a priori, d.i. über Dinge die durch
keine Erfahrung gegeben sind %und das nennt man schließen
%und nur durchs schlüßen kann man etwas fürs Künftige
herausbringen, daher kommt die Forderung von diesem oder
jenem Menschen, man sagt nemlich, wenn der Mensch nur etwas
Vernunft gehabt hätte, so hätte er ja leicht dencken
können, daß dieses oder jenes geschehen wäre ZE Wenn man

/ einem

|P_171

/einem Juden deßen Auffenthalt man nicht weiß, Geld
lehnet so ist zu vermuthen daß er solches niemahls wieder-
geben werde. Vorstellungen also die zur Erkenntniß der
«Wahrheit» Erfahrung gehören, gehören für den Verstand. Vor-
stellungen die zu der Provision dienlich bringt die Vernunft
zu wege. Wenn ZE ein General beordert wird seinen Plaz
zu behaupten, und den Feind davon abzuhalten: so braucht
er nur Verstand, damit er diese Ordre recht verstehe, wenn
er aber beordert wird dem Feinde Abbruch zu thun, so gehört
hiezu Vernunft; denn hier muß er selbst schlüßen, wie solches
am füglichsten angehen dürfte. Herren die despotisch regieren
wollen haben gerne Bediente, die nichts als Verstand besitzen.
Man sollte nicht eher Begriffe brauchen, als man sie versteht,
indeßen brauchen doch viele Leute Worte, die sie ihn ihrem
Leben nicht verstehen, ja selbst Philosophen thun solches %und daher
entsteht denn ein vieljähriger Streit, biß man endlich darauf
verfällt %und frägt was verstehet man dadurch? So ist ZE ge-
wöhnlich, daß man einem Krancken sichtige SPeisen vorsezet,
wenn man nun fragen wollte, was ist sichtig: so kommt selbst
der Arzt in Verlegenheit %und er zählt einige dergleichen SPeisen
her, als Schweinfleisch, weiße Erbsen, ohne zu wißen worinn
sichtig bestehe. So ist es ferner mit dem Worte Gift, man
nennt das bald Gift was schädlich ist bald was in der Medicin

/ gebr

|P_172

/gebraucht wird %und verwirrt endlich den Begriff davon
so sehr, daß man nicht weiß, was Gift sey, wenn man das
Gift dadurch erklären wolte, was kein Bestandtheil des
Menschlichen Körpers aus machen kann %und also durch die innere Me-
chanik fortgetrieben würde: so wäre solches der wahre Begriff
vom Gift. Als denn aber könte man viel Medicin zum Gift rechnen,
das China aber %und Eisen giebt würklich dem %.Menschlichen Körper Nahrung
%und ist also kein Gift. Das alte Wort Gift bedeutet soviel als
Dosis, daher man auch Zugift sagt. Das Lateinische kommt her
von venundare welches durch verkauffen übersezt wird. Wenn
man so die ganze SPrache durchgehen sollte, so würde man
erstaunen über die Menge Wörter, die die Menschen brauchen
und doch nicht verstehen, mancher Mensch versteht sich selber
nicht. Wenn man also den Kindern den Verstand excoliren
wolte, so müste man es dahin zu bringen suchen, daß
sie die Worte mit denen sie einen zweydeutigen Be-
griff verknüpfen recht verstehen lernen, hierdurch werden
sie in den Stand gesezt nichts so leicht ohne Grund anzunehmen,
%und was sind die Definitionen anders als Mittel sich das Ver-
ständniß der Worte zu öffnen? Der Verstand ist
analytisch wenn man seine eigenen«en» Begriffe zer-
gliedert.

/ Vom

|P_173

/ ≥ Vom gesunden Verstande. ≤

/Es giebt einen scharfsinnigen, lebhaften %und ausgebreiteten
Verstand, allein der gesunde Verstand hat doch den größten
Beyfall obwohl er seine Schrancken hat, so wie die Ge-
sundheit des Körpers das größte von dem ist, was ein Mensch
wünschen kann, %und die Wünsche die weiter gehen scheinen un-
verschämte Bitten zu seyn. Der Gesunde Verstand ist gleichsam
nur das tägliche Brodt warum wir bitten sollen %und mehreres
gehört schon zum Ueberfluß. So wie ferner die %.körperliche Ge-
sundheit, die da gekünstelt ist %und nur durch ArzeneyMittel unter-
halten wird, keine Gesundheit ist: so muß auch der gesunde Ver-
stand ungekünstelt seyn. Also gehört der gesunde Verstand
zum Naturell, es gehört dazu aber auch ferner eine gewiße
Richtigkeit: so sagte Diogenes als dieser von dem Plato etwas
bath, %und dieser es ihm doppelt gab: der Plato ist doch ein
Schwäzer, er thut mehr als ich haben will. Diogenes forderte
hier Pracision nichts mehr, nichts weniger.

/So wie man zur Gesundheit nicht die Lustigkeit zählen kann:
so darf auch der Gesunde Verstand nicht lebhaft seyn, er
erkennet die Wahrheiten nur in Concreto d.i. in Fällen
die durch die Erfahrung gegeben sind. Der Verstand der
in abstracto die Wahrheiten erkennet ist ein schon subtiler
Verstand. Wenn man einen gemeinen Mann, der bloß
gesunden Verstand hat eine Rechtsfrage ergehen läßt

/ ZE

|P_174

/ZE ob der, deßen Thier seinem Nachbarn schaden gethan
ohne Seine Schuld, schuldig sey, das Damnum zu repariren?
so wird er dieses zwar anfänglich nicht verstehen, wenn
man ihm aber Zeit gelaßen; so wird er sich hier erst
einen solchen Fall dencken, %und dann urtheilen, hingegen
ein Jurist erkennet es in abstracto und wird gleich decidiren.
Das Vermögen in Concreto zu urtheilen ist also der gemeine
Verstand, insofern nun dieser richtig ist, nennt man ihn ge-
sunden Verstand. Man hat im Kirchen Staat 4 Liquadri illit-
terati die weder lesen noch schreiben konnten, zur höchsten
Obrigkeit gemacht, aus der Ursache, damit sie bloß nach
der gesunden Vernunft urtheilen und keine Räncke untermischen
möchten. Ein gesunder Verstand ist zugleich practisch, der abstra-
hirende erkennt die allgemeinen Regeln, nach denen im besondern
Fall geurtheilt wird. ZE dem Willen Gottes gerne thun, heißt
Gott lieben, hier ist ein solcher Fall, ergo. Es ist zu bewundern
daß keine Gelehrsamkeit, keine Unterweisung, auch nicht
der höchste Grad der Scharfsinnigkeit, den Mangel des gesunden
Verstandes ersezzen könne. Der RechenMeister giebt, seinen
Schüler allgemeine Regeln zum rechnen, hat der Schüler
keinen gesunden Verstand, so wird er keinen besondern Fall
unter dieser Regel subsumiren können, denn von jedem
Fall kann man nicht neue Regeln geben, weil dies wieder
die Natur der allgemeinen Regeln wäre. Man kann keinen
Menschen lehren einen Fall unter einer Regel zu subsumiren,

/ Man

|P_175

/Man erkennt einfältige Leute sehr bald, weil sie immer
nach Regeln verfahren, dieses zeigt schon, daß sie gleichsam
im GängelWagen müßen geleitet werden. Einen Narren
kann man am besten nach Regeln leiten, so sagt man ZE
dieser Mann hat es sich zur Regel gemacht nichts wegzu-
geben als was höchst nothwendig ist, %und was ein anderer
mit Recht von ihm fordern kann. Nun kann ein Mensch durch
diese Regel sehr lächerlich werden, indem es zuweilen
die Klugheit %und der Wohlstand erfordert etwas freygebig
zu seyn. Wenn Menschen nicht die Scharfsinnigkeit haben
alles zu subsumiren: so sezen sie sich eine allgemeine Regel
nach der sie beständig handeln. Die Eltern haben
eine Neigung zur Erhaltung ihrer Art, daher sie ihren
Kindern nur zu sehr einprägen so zu heyrathen, daß
sie ein großes Vermögen mitbekommen, wenn ihnen
gleich die Braut oder der Bräutigam nicht gefällt;
sie stellen ihnen vor, wie bald die erste Hitze, denn
die Liebe und mit ihr die Schönheit verblüht; ja sie
sagen zuweilen: die Liebe wird sich schon finden. Alles
dieses zwekt dahin ab, daß sie nur dafür hauptsächlich
sorgen ihre Art zu erhalten. Der gesunde Verstand
ist empyrisch, wenn man aber alle Wißenschaften
in Concreto vortragen will: so würde man keinen
allgemeinen Begriff von einer Sache haben, es wäre als denn gar kein Begriff.

/ Von

|P_176

/ ≥ Von der gesunden Vernunft. ≤

/Die Vernunft ist das Vermögen a priori zu erkennen. d.i.
ohne alle Erfahrungen. Man braucht Verstand stricte Befehle
auszurichten %und Vernunft, was in diesem oder jenem Fall
zu thun nüzlich wäre. Durch den Verstand erkennt man
durch den rothen Aufgang der Sonne daß es regnen werde
wenn man aber aus der Dünnheit der Luft den Regen schlüßen
will, so braucht man Vernunft. Alles Vorhersehen ge-
schiehet durch die Vernunft. Cicero sagt: Ein Philosoph
der die Geschichte mit einem philosophischen Geiste durch-
lieset, kann einen Wahrsager abgeben. Die Vernunft
urtheilt a priore. In jedem Schluß ist.

/1.) Ein allgemeiner Satz, der durch die Vernunft ein-
gesehen wird.

/2.) Die Application eines Falls auf den allgemeinen
Satz, %und dies geschiehet durch den Verstand.

/3.) Die Conclusion, die sowohl durch den Verstand als
durch die Vernunft geschiehet ZE

/Alles was veränderlich ist hat eine Ursache - dies
sieht die Vernunft ein. - 

/Der Mensch ist veränderlich - dies subsumiret der
Verstand - 

/Also hat der Mensch einen Grund - 

/Der gesunde Verstand applicirt eine Regel auf einen

/ casum

|P_177

/casum datum; sehr oft haben Leute die einen feinen
Verstand haben, keinen gesunden Verstand: so können viele
Gelehrte die alles in abstracto erkennen, keinen gegebenen
Fall mit Gewißheit unter eine Regel bringen, denn hiezu
gehört eine empyrische Fähigkeit. Die Vernunft kann durch
Regeln bereichert werden der Gesunde Verstand nicht. Der
gesunden Vernunft ist am meisten die Nachahmung entgegen
gesezt. Diese Nachahmung ist darum der gesunden Vernunft
zuwieder, weil man bey der Nachahmung, weder etwas
a priore noch a posteriore erkennt, sondern nur eine
Copie von dem Verstande eines andern wird. Daher kommts,
daß da wo Jemand Zaubereyen sieht, der Mann von gesun-
der Vernunft nichts als Betrug wahrnimmt. Alles das ist
der gesunden Vernunft gemäß, was den Mitteln gemäß
ist, wodurch die Vernunft a priori urtheilen kann. Diese
Mittel aber, wodurch die Vernunft a priori schlüßet
sind die Geseze der Natur. Derjenige also, der den
Gebrauch meiner Erkenntniß nach Gesezen der Natur
unmöglich macht, handelt dem Gebrauch der gesunden
Vernunft zuwieder ZE der Zaubereyen zu spielen vor-
giebt. Allein die Vernunft incommodirt in der Folge,
%und man löset den Verstand gern von der Schildwache ab,
daher überläßt man sich gern den Neigungen anderer

/ und

|P_178

/und den Phantasien, ja in geheim ist man dem strengen
Gebot seiner Vernunft zu gebrauchen, feind, denn es ist
etwas mühsamer die allgemeinen Geseze zu erkennen
%und bey einem gegebenen Fall die Verblendungen des Wizes
zu vermeiden. Aus eben der Ursache ist der Mensch zu¿
Wunderdingen geneigt, diese befreyen einen von
der Nothwendigkeit seine Vernunft zu gebrauchen, die
Vernunft hat denn gleichsam Ferien. Zu diesen Wunder
Dingen kann man die Träume zählen, die Einbildung
einer schwangern Frau, den Einfluß des Mondes auf
Pflanzen, die Erscheinungen der Geister p Der Wahn den
schwangere Personen haben, daß starke Einbildung einen
Einfluß auf die Geburt haben, wird lange dauern, weil
er vom weiblichen Geschlechte herrühret. Es ist auch
dieser Wahn dem weiblichen Geschlechte sehr nüzlich, denn
zu geschweigen, daß sehr oft unwillkührliche Aehnlich-
keiten die das Kind mit einer fremden Mannsperson
hat, auf diese vermeinte Eindrücke einer starken
Einbildung geschoben werden können: so muß auch
der Mann seiner schwangern Frauen in allem den
Willen laßen %und ihren Appetit genau erfüllen, wenn
er nicht haben will, daß das Kind etwa mit Kazen-
Ohren zur Welt kommen soll. Was die WünschelRuthe
betrifft: so würde man mit den Bergleuten in

/ einen

|P_179

/einen großen Streit gerathen, wenn man derselben
die ihr einmal beygelegten Würkungen absprechen wolte - 
selbst Valerius in Schweden ist dieser Meynung - Mit der
WünschelRuthe soll es diese Bewandniß haben: es muß
ein Zweig von Haßeln in der JohannsNacht abgeschnitten
werden, so daß sie die Gestalt einer Gabel hat, %und wenn
man diese 2 Zacken anfaßt %und auf den Berg geht: so sollen
die Metalle die SPize der Ruthe an sich ziehen. Diejenigen
welche alle angeführten Umstände für nichts bedeutend
angegeben, nehmen vielmehr einen abstracten an, den
der Mensch selbst auf die Metalle hat, so daß seine Muskeln
dadurch auf diese Weise bewegt werden, daß er sich mit
dem Stöckchen bücken muß, allein diese Meynung ist eben
so thörigt - Des Mondes Einfluß auf die Menschen und
Pflanzen betreffend: so ist dies wenigstens doch einer Unter-
suchung werth. Daß aber aller dieser Wahn so leicht ange-
nommen worden ist, ist kein Wunder, weil man zur Zeit der
Scholastiker in den Klöstern einen angenehmen Zeitver-
treib dadurch verschaffen konnte, daß man Leuten solch
wunderbar Zeug erzählte, wobey man den Verstand gar
nicht brauchen durfte. Ja man verfertigte zulezt ein
ordentliches System von lauter solchen Grillen.

/ Von

|P_180

/ ≥ Von den Gemüthsfähigkeiten. ≤

/Man nennt die Erkenntnißfähigkeiten im Gemeinen
RedeGebrauch Kopf: so wie man die menschlichen Begierden
%und Neigungen durch das Wort Herz anzeiget, so unterscheidet
man die Menschen ihren Gemüthsfähigkeiten nach, in wizige,
judiciöse Köpfe p Dem Object oder den Wißenschaften nach
in poetische, mathematische, philosophische Köpfe p. Es
ist aber das Studium der besondern Gemüthsfähigkeiten
eines jeden Menschen von der außersten Wichtigkeit. Mancher
Mensch hat einen guten medicinischen Kopf, hiezu gehört
ZE der Geist der Beobachtung. Ein Medicus muß einen ge-
sunden Verstand haben, der zugleich beobachtet, d.i. einen
empyrischen Kopf, den allein die Kenntniß von dem Bau
des %Menschlichen Körpers macht einen guten Medicum nicht aus.
Er muß beobachten können, %und nicht nur gute Sinnen haben,
sondern auch ein Vermögen zu vergleichen; er muß ein gutes
Gedächtniß haben, daß er sich auf viele andere Fälle be-
sinnen kann. Die Medici die keinen solchen empyrischen
Kopf haben, streiten sehr oft nach dem Tode desjenigen den
sie curirt haben, über die Frage: woran er kranck ge-
legen? Dagegen wir ein vortrefliches Beyspiel des
Nuzens eines empyrischen Kopfs bey der Medicin in den
Hamburgischen Magazin zu finden. Es soll in Sachsen

/ eines

|P_181

/eines Bauren Sohn eine besondere Krankheit gehabt haben,
so daß er ganz ausgedörret gewesen aber doch noch herum-
gegangen sey; im Gehen aber klapperten alle seine Glieder.
Die Medici stritten nun über die Art seiner Krankheit, %und über
die Mittel, wie sie solche heben könten; man erkläret sich endlich
daß die Krankheit von nichts anders, als von dem austroknen
der Säfte, die sich in den Muskeln befinden, durch welche die Glied-
maßen biegsam erhalten werden, herrührte. Allein nun war
die Frage wie man diesen Saft «erweis» erreichen %und herstellen
sollte, man sann sehr lange nach biß endlich ein empyrischer
Kopf sich auf die Erfahrung besann, daß das Quecksilber sich
mit dem SPeichel so vermengen ließe, daß es es eine zähe Ma-
terie abgäbe, hieraus schloß er, daß durch solche mercuria-
lische Mittel, auch vielleicht die Säfte ihre vorige Flüßigkeit
erhalten könnten. Er probirte solches an dem kranken Menschen
%und stellt ihn dadurch völlig wieder her. Hieraus läßt sich nun
erklären, wie Aerzte die durch doch wenig Theorie haben, viele
glückliche Curen unternehmen können, ja selbst Hypocrates
der an der SPize aller Aerzte steht, %und deßen Asche mit Recht
von allen verehrt wird, war immer der glücklichste Arzt,
ob er gleich noch nichts von der Circulation des Bluts wuste.
Aerzte also, die viele Theorie aber keinen empyrischen Kopf
haben, studiren zuerst die Natur der Krankheit %und und dann curiren

/ sie

/~δRand_181_Z_16

/{2- Einen in Milch@bad@
zum Schwitzen zu bringen
mechanische @Mittel rathen@
statt innerer, ZE
mit dem Gewichte, sogar
bey Flüßen im Arm -2} ~

|P_182

/sie dieselbe. Es ware nüzlich, wenn das Genie eines
jungen Menschen erst wohl probirt werden möchte, ehe man
ihm eine Wißenschaft anfangen ließe, denn die Wißen-
schaften sind sehr unterschieden, %und einer ist hiezu, der andre
zu was andern aufgelegt. So ist zE ein mathematischer
Kopf von einem philosophischen himmelweit unterschieden
denn die Mathematik kann %.ordentlicher Weise gelernt werden
%und ein solcher Kopf der sie zu lernen fähig ist, muß %ordentlicher
Weise Contenance haben, seinen Kopf auf eine %und eben-
dieselbe Sache lange zu heften, er muß auch Gedächtniß
haben, es ist aber nicht nöthig daß ein mathematischer Kopf
etwas erfinden müße, er kann ohne das ein großer Ma-
thematiker seyn. Er muß das SPiel des Witzes hemmen können,
damit ihn solcher nicht im Nachdencken stöhre. Ja zuweilen ist
es gut, wenn ein Mathematiker einen stumpfen Kopf hat,
ob es auch gleich Genies in der Mathematik giebt, die da ver-
gleichen %und «emp»<er>finden, so fließt doch das aus einer ganz andern
Quelle %und gehöret nicht wesentlich zum Studio der Mathematik.
Hingegen wird zu einem philosophischen Kopf express Witz
erfordert, damit er die Sache von allen Seiten betrachten,
%und auf die Folgen sehen, %und diese untereinander vergleichen
könne. Ferner die einfache Begriffe von Punckten, Linien,
u. s. w. sind in der Mathematik am leichtesten, %und in
der Philosophie am schwersten, in der Philosophie ist es

/ auch

|P_183

/nothwendig daß die gesunde Vernunft dem feinern Verstande
immer zur Seiten gehe %und controllire. Ferner in der Philo
sophie geht das Concretum vor dem Abstracto, in der Ma-
thematik das Abstractum vor dem Concreto. Wenn man sich in der
Philosophie einen allgemeinen Begriff von der Billigkeit machen
will: so muß man sich einen Fall in Concreto dencken %und hievon ab-
strahirt man die Billigkeit. In der Mathematik aber redet man
erst von einer aufgerichteten Linie %und hernach applicirt man sie
auf Berge %und Anhöhen. Wenn der Philosoph die Idee der Flüßig-
keit abstrahiren will; so muß er sich erst mit den Eigenschaften
des Waßers oder einer andern flüßigen Materie bekandt machen.
Was den Poetischen Kopf betrift, so differirt solcher von allen
andern ungemein, denn er ist schöpferisch. Diejenigen aber
die schon selbst schaffen, bekümmern sich nicht viel um Geschöpfe,
die schon da sind. Ein Poet muß an die Stelle der Sachen Schatten
sezen können, denn Schatten kann er schaffen. Wenn er die Ju-
gend schildern will, so muß er die SPrache eines Heldemüthigen
sprechen können. Ein Poet besizt keinen einzigen Character,
aber er muß alle andere Charactere nachmachen %und annehmen
können so wie ZE der Siegellack an sich selbst keine sonderliche
Gestalt hat, aber geschickt ist alle Gestalten anzunehmen.

/Ein Poet muß vor allen Dingen nur die Erscheinungen kennen,
%und wenn er von dem Innern des Menschen redet, so muß solches
doch nur auf die innern Erscheinungen eingeschränckt seyn. Er

|P_184

/Er muß viele Vergleichungen anstellen können. Man will
beobachtet wißen, daß wenn ein Poet recht dichten will,
er auch die Mienen desjenigen deßen SPrache er redet, annehmen
soll, %und die Erfahrung lehrt es, daß man jemandes Character
nicht vollkommen schildern kann, wenn man nicht auch seine
Mienen annimmt. So sagt man vom %.Professor Pietsch, der ein
berühmter Dichter war, daß wenn er einen Helden dichten
wolte, er Reitstiefeln angezogen %und beym Dichten so herum-
gegangen sey. Was einen mechanischen Kopf anbetrift: so
bemerkt man, daß Kinder schon von ihrer Jugend an schnitzeln
dies aber zeigt schon an, daß sie einen mechanischen Kopf
haben. Wenn man den Kopf eines jeden jungen Menschen je-
derzeit analisiren möchte, so könnte man voraus bestimmen,
was für ein Metier er künftig ergreiffen müßte, allein
die jungen Leute selbst solte man hierinn niemals wählen
laßen, denn sehr oft will ein Kind welches einen mechanischen
Kopf hat, bloß darum ein Medicus werden, weil er solche
Männer oft in Kutschen fahren sieht, oder weil er ein
Krüppel ist, oder weil er gehört hat, wie vie Stadt-
Neuigkeiten er seinen Eltern zu erzählen pflegt. Oder
er will ein Geistlicher werden, bloß weil er gesehen,
daß der Herr Pfarrer von der ganzen Welt geehrt
wird. Es ist aber nichts kläglicher, als wenn ein Mensch
auf eine Wißenschaft verfällt, zu der er gar keine

/ Fähig

|P_185

/Fähigkeiten hat, da geschiehet es denn, daß das Stecken-
pferd alle andre Pferde aus dem Stalle jagt, daß ein Mensch
alles das incultivirt läßt, wozu er geschickt ist, %und das bearbeitet
wozu er im höchsten Grade ungeschickt ist. Dies aber kommt bloß
daher, weil die Menschen immer gern etwas andres seyn mögen,
als sie würklich sind. Sie dencken: daß kann dir doch keiner neh-
men, was du schon bist, es ist aber doch gut daß du suchst,
noch was andres zu werden. So klappert mancher zu ganzen
Tagen auf dem Clavier %und vernachläßigt dabey alle mögliche
Geschäfte, weil er doch noch gern ein Musicus seyn will.

/Menschen suchen die Veränderung, gleich als wenn sie Prome-
theus mit einem groben Ton beseelt hätte. Aus allem die-
sem siehet man wie nöthig und nüzlich das Studium der
Köpfe sey, wofür obwohl Schulen %und Examinatoria ange-
ordnet sind, noch nicht gesorgt ist. Nunmehr werden die
Departements der Wißenschaften durch den Zufall besezt,
ja oft geschiehet die Wahl aus Noth oder aus Wahn %und dahero
kommts, daß die Menschen in der Welt mehrentheils an
eine unrechte Stelle kommen. Wie mancher Mensch,
der gemacht ist gute Stücke auf dem Buckel zu tragen
läuft jezo mit dem Barbier_Becken herum.

/Wenn man nun alle Menschen an ihre«r» rechte Stelle sezen
wollte, was würde da für ein lustiger Plan herauskommen.
Da würde mancher, der jezo Recht spricht und dabey

/ in

|P_186

/in Gesellschaften geht um sie zum Lachen zu bewegen
%und viel schnattert, ein ehrbarer Gastwirt werden, man-
cher Jesuit, Minister, mancher General, Trommelschläger werden.
Da aber dieser Plan nicht zu hoffen ist, so muß man glauben,
daß die Verkehrte Versezung, vielleicht die schöne Mannig-
faltigkeit der Welt ausmacht. Aus der bisher vorgetragenen
Materie fließt endlich die Idee des Genie. Dies ist ein Crimi-
nal_Geist. Man bedienet sich des Worts Geist in vielen Fällen
ZE: die Rede hat keinen Geist, wir haben diesen Abend einen
Discours geführt, der ohne Geist war. Man siehet hieraus,
daß das Wort Geist nichts anders, als das Principium
des Lebens bedeute.

/ ≥ Vom Gefühl der Lust und Unlust. ≤

/Nachdem wir die Erkenntniß_Kräfte erwägen, so gehen
wir zu dem Gefühl über, wodurch der Werth des Menschlichen
Zustandes bestimmt wird. Ehe wir uns aber zu den Characteren
der Menschen wenden, müßen wir einige Begriffe fest-
sezen. Was in der Empfindung gefällt, das vergnügt,
was in dem Geschmack gefällt das ist schön %und was denn
im «Gestande» Verstande gefällt, das ist gut %und wird gebilligt.
Was vergnügt, ist angenehm, was gefällt, ist schön, %und was
gebilligt wird ist gut. Wenn wir den Sokrates in Ketten
und den Caesar vom ganzen Rathe begleitet, betrachten, der

/ %.Empfindung

|P_187

/Empfindung %und dem Geschmack nach, so gefällt uns der Zu-
stand des Caesars. Erwägen wir aber ihren Zustand durch
den Verstand: so ziehen wir den Zustand des Socrates dem Zustand
des Caesars vor. Lust und Unlust haben eine 3fache Beziehung

/1.) Beziehen sie sich auf unsre Empfindungen, %und denn nennen
wir es Vergnügen oder Schmerz.

/2.) Auf den Geschmack, %und denn nennen wir es schön oder häßlich.

/3.) Auf die Vernunft und denn nennen wir es gut oder böse.

/Wenn die Tugend so angenehm wäre, als sie gebilliget wird, so
würde jedermann tugendhaft seyn. Aber an und vor sich
vergnügt die Tugend nicht. Das wahre Gute muß durch den
Verstand erkandt werden. Wir haben die verschiedenen Arten
der Lust %und Unlust angezeigt. Es frägt sich: worauf be-
stehet der Unterschied zwischen Lust und Unlust? Weil
sich doch zulezt alles aufs Gefühl referiren muß: so
wollen wir zuerst das Gefühl erwägen und das Prin-
cipium des Vergnügens und des Schmerzens aufsuchen.
Wir finden, daß das Gefühl des ganzen Lebens alles ent-
hält was da belustiget. Jedes Organ wenn es nach seinem
Mechanismo in die größte versezt wird, so empfinden als denn
sein ganzes Leben. So ist es auch mit dem Geschmack. Es
scheint daß die GeschmacksDrüsen am Gaumen, der Zunge
und der Lunge sehr genau zusammenhängen, weil man dasjenige
was gut schmekt auch gut verdauen kann. Diese Geschmacks- 

/ Drüsen

|P_188

/Drüsen sind pyramidalisch, und also spizig. Wenn nun
die Saltztheilchen der SPeisen, diese ihre SPitzen in Bewe-
gung sezen: so empfindet man in Ansehung des Geschmacks
das höchste Principium des Lebens. Eben so ist auch mit
dem Gehör beschaffen. Die in gleichen Zeiten auf einander
folgende Eindrücke, bringen in einem Körper der der
Schwanckung fähig ist, zulezt eine sehr große Schwankung
hervor. Daher es nicht rathsam ist, daß wenn Soldaten
über Pontons gehen, sie tritt halten, weil diese in gleichen
Zeiten aufeinander folgende Eindrücke, der Brücke zu-
lezt eine solche Schwanckung geben könten, daß sie einfält.
Nun ist ein jeder Ton gleichgültig, denn dadurch unter-
scheidet er sich vom Schall, %und diese gleichzeitigen Töne
bringen im Ohr zulezt die stärckste Bewegung hervor.
Daher die Zertrennung des Körpe<r>s einem viele Schmerzen
verursacht. Wenn aber Theile des Körpers gedehnet
werden, so ist dieses ein langdauernde Hinderniß des
Lebens, %und alsdenn der gröste Schmertz. Viele Vergnügen
aber scheinen zu schädlich zu seyn, als der Soff? Wenn
ein Mensch trinckt so vergrößert er das Gefühl seines
Lebens auf eine 2fache Weise.

/1.) In Ansehung des Geschmacks.

/2.) In Ansehung der Berauschung.

/Die Organen schwellen durch das Trincken vom Blut an.

/ Ein

|P_189

/Ein Berauschter ist auch gleich munterer und empfindet
keine Sorgen daher trincken die Türcken Opium. Das Opium
macht zwar stumpf aber im Anfange macht es stark und
herzhaft. Man hat angemerkt, daß beym Menschen
die schädlichsten Dinge nicht immer den größten Schmerz ver-
ursachten, sondern öfters die unschädlichsten ZE Zahnschmer-
zen sind entsezlich, %und doch ist noch niemand davon gestorben,
hingegen die Lunge kann ganz verzehrt seyn %und der Krancke
empfindet - wenn er nicht hohe Treppen steigt - keinen Schmerz,
weil die Lunge keine Nerven hat, %und also auch nicht empfindsam
ist. Noch haben wir ein gewißes Vergnügen, welches ent-
springt aus dem Gefühl des Lebens eines einzigen Organen.
Der welcher sein ganzes Leben fühlt, ist zu frieden. Man
kann die Sinnen aller Empfindungen unmittelbar fühlen,
ohne darüber zu reflectiren. So fühlt man nach dem Eßen,
wenn man ruhig seyn kann, sein Leben. Es ist wunderbar,
daß der Mensch fast niemals seine Gesundheit fühlt,
denn wir empfinden nichts, als was da absticht. Viele
junge Leute sind deshalb unzufrieden weil sie gesund sind.
Sie haben immer Appetit, sie werden von vielen Projecten
des Vergnügens turbirt; indeßen giebt es auch Augenblicke,
darin man seine Gesundheit fühlt d.i. nach dem Eßen
bey der Decoction %und Digestion. Ein Mensch kann zufrieden
im Zustande des Wohlbefindens seyn, obgleich einige Schmerzen

/ seine

|P_190

/seine Ruhe stören, denn sein Leben im Ganzen gefällt
ihm doch.

/ ≥ Von der Zufriedenheit. ≤

/Wir finden Menschen die da fähig sind, ja das kosten
was vergnügt, deren Ruhe aber weder durch die «Ver-»
Ergötzlichkeiten vermehrt, noch durch irgendeinen Verlust ver-
mindert wird, sie empfinden zwar auch den Schmerz, sie stöhnen
auch, weil dies ein Mittel zur Erleichterung des Schmerzens ist,
so wie durch das Schreyen, das Blut, welches beym Schreken
nach dem Herzen zusammenführt, wieder dissipirt wird.
Wer nicht unter dem Schmerz stöhnen will, der affectirt.
Manche empfinden Schmerzen %und sind doch vergnügt, weil ihnen
ihr Leben im Ganzen Betrachtet doch wünschenswerth vorkommt.
Wir müßen einen Unterschied machen zwischen dem was mis-
fällt, %und zwischen dem was uns zufrieden macht. Man kann
viele Dinge verlangen %und doch zufrieden seyn. Dieses scheint
eine Contradiction zu seyn; allein man kann wünschen die
Anmuth seines Lebens zu vergrößern, %und wenn man es nicht
erlangen kann, so hört man es auf zu wünschen. Bey einem
solchen Menschen ist das Leben gleichsam eine schwere Maße,
kein Vergnügen macht ihn sonderlich lustig, kein Schmerz sonderlich
betrübt. Lustigkeit %und Traurigkeit ist die Modification schwacher
Seelen, Standhaftigkeit aber gefällt %und ist wünschenswerth. Ein
standhafter Mensch ist niemals ein Gegenstand der Beneidung aber
auch kein Gegenstand des Mittleidens, er besizt sich selbst.

/ Alles

|P_191

/Alles dasjenige was nicht das Gefühl des Lebens hindert,
trägt etwas zu unserm Vergnügen bey; der Schmerz ist
eine Hinderniß das Vergnügen des Lebens zu vermehren.
Die Zufriedenheit ist nichts positives. Wenn man aber, weder im
Geistigen noch im körperlichen Leben eine Hinderniß empfindet:
so befindet man sich wohl, oder ist zufrieden. Epicur sezte
die ganze Glückseeligkeit in einem frohen Herzen. Wenn
nemlich die Zufriedenheit oder das Vergnügen aus dem Menschen
selbst entspringt. Es giebt verschiedene Gattungen von Menschen
einige haben ein fröhliches Herz, andre sind lustig, andre
haben eine scherzhafte Laune. Es zeigt sich daß die Dinge der
Welt, nicht nothwendiger Weise den Zustand des Menschen schmerz-
haft machen, sondern es kommt bloß darauf an, wie ein Mensch
Schmerz aufnimmt. Es giebt solche Menschen die gleichsam
der Tyranney des Schicksals spotten, %und bey alle dem, was
ihnen schmerzhaft seyn könnte, Ausflüchte wißen. Ja selbst
bey Sterben weiß ein solcher Mensch sich aufzurichten. Er
denckt ZE an die Kürze des Lebens, %und daß er nicht ein Leben,
sondern nur Jahre zurückgelegt. Das einzige Mittel eine solche
glückliche GemüthsArt zu erlangen bestehet darinn, daß man
allen Zufällen des Lebens ihre Wichtigkeit nehmen müße, so
wohl dem Vergnügen als dem Schmerz. Und hierin bestehet das große
Kunststück zufrieden zu seyn. Man muß glauben daß ein
Mensch nicht eben so etwas wichtiges ist, %und daß nur bloß

/ das

|P_192

/das Wohlverhalten den Wahren Werth des Menschen ausmacht.
Man muß also moralisch gut leben, aber ob man einige Jahre
langer oder weniger lebt, das ist nichts wichtiges, %und es kommt
nur bloß aus der Befolgung andere Meynungen her, daß
man für die Verlängerung des Lebens besorgt ist. Alles und
fürnemlich die Kürze des Lebens ladet uns ein, das Leben
nicht für wichtig zu halten. Vernünftiges Leben, Rechtschaf-
fenheit, %und Tugend sind die Waffen wieder alle Ungemäch-
lichkeiten des Lebens. August auf einer Schaubühne vorge-
stellt, frägt seine Generals: meynt ihr wohl daß ich die Rolle
meines Lebens gut gespielet habe? %und sie antworten; Ja,
sehr wohl, Nun sagte er: so klatscht %und zieht den Vorhang zu.
Was kann uns das am Ende unserer Tage helffen, daß
wir gut geschmauset haben, %und in Kutschen gefahren sind?
nur allein in Wohlverhalten liegt die Wichtigkeit des Lebens,
Habe ich zeitlebens rechtschaffen %und tugendhaft gelebt,
und giebt es eine andere Welt: so bin ich auch würdig da-
selbst einen andern Posten zu bekleiden. So denckt der
Zufriedene. Wenn wir aber mit dieser Zufriedenheit
die Lustigkeit %und Traurigkeit vergleichen, so scheint
Lustigkeit vor der Zufriedenheit noch einen Vorzug zu
haben, denn der Lustige besizt gleichsam den Reichthum,
der Zufriedene aber nur das Nothdürftige. Allein fließt
daraus, daß Jemand mehr besizt als seine Bedürfniße

/ fordern

|P_193

/fordern, auch daß er glücklicher sey? Wenn Jemand über
die Zufriedenheit noch die Lustigkeit sucht, so sucht er etwas
was er entbehren kann. Man kan alle Vergnügen so genießen
daß man dabey eine Entbehrlichkeit spührt ZE Ein Zufriedener
kann eine Musick mit Vergnügen anhören, wenn er sie aber im
ganzen Jahr nicht gehört hat: so macht er sich daraus auch nichts.
Wenn man es in Ansehung aller Dinge so machen könte, so hat
man schon das Wesentliche der Zufriedenheit. Die Vergnügungen
tragen nicht einmahl etwas zur Glückseeligkeit bey. Denn die
Glückseeligkeit bestehet in der Zufriedenheit der Summa aller
Neigungen. ZE die Comoedien schaffen uns Vergnügen, allein
wir verliehren auf der andern Seite auch dabey, indem wir
zu Hause auch ein gutes Buch hätten lesen können. Dort müßen
wir frieren, hier können wir unsere Gemächlichkeit haben,
%und also tragen die Comoedien zu unserer Glückseeligkeit nichts
bey. Es ist aber wohl unbillig, daß ein jeder reich zu werden
wünscht? Wir antworten: Nein, denn ein jeder will gern
alle seine Neigungen befriedigen. Das Geld ist das Mittel
dazu. Je reicher Jemand ist, desto mehr Gewalt besizt er
seine Neigungen zu befriedigen. Das Geld ist gleichsam
eine souveraine Gewalt über alles, was in der Macht des
Menschen steht. Es aber kein Wunder, daß Jedermann reich
werden will; ob aber der alleinige Besiz des Geldes glücklich
macht, das ist nicht ausgemacht. Zwar ist das Bewustseyn
alle Mittel in Händen zu haben, glücklich zu werden sehr

/ an- 

|P_194

/angenehm, - denn der Geldkasten ist gleichsam ein optischer
Kasten, worin er Geizige, Kutschen, prächtige Taffeln, Musick p
%und alles sieht - allein die bloße Macht glücklich zu werden,
macht den Menschen noch nicht glücklich, sondern der Zustand muß
würklich seyn. Es giebt würklich einige Vergnügungen die
zu unsern Glück etwas beytragen. Eigentlich können wir
bey uns nichts anders zu wege bringen, als die Zufriedenheit.
Die Lustigkeit aber ist ein positiver Grad des Vergnügens
der größer ist als die Zufriedenheit. Bey der Lustigkeit
aber ist das Gemüth nicht mehr im Gleichgewicht. Wenn aber
ein Mensch um sein Vergnügen bey der Taffel zu ver-
mehren, sich eine Taffel Musick hält: so ist die Frage; Ob
sie bey derselben nicht mehr verliehren als gewinnen,
indem sie keine vernünftige Discousre führen können.
Man überlege nur, ob es nicht beßer sey mit einem
andern guten Freund zusammen zu seyn, der so zufrieden
wie ich ist, oder in großer Gesellschaft zu seyn, wo
Musick %und viel Lärm ist. Die sogenante Lustigkeit ist
zerstöhrend %und räuberisch, Sie ist mit einem englischen
Windspiel zu vergleichen, welches man in der Stube
hält, %und welches auf Taßen %und Gläser herumspringt.
Es ist eine Art von convulsivischer Bewegung bey dem
Menschen, da der Nervensaft gleichsam über seine

/ Ufer

|P_195

/Ufer tritt. Daher kommts, daß lustige Leute, nach dieser
Bewegung traurig werden. Es giebt auch Leute welche eine scherz-
hafte Laune haben, welches die Franzosen Humeur nennen, wie-
wohl Humeur eigentlich eine üble Laune heißt. Die Menschen haben
ein Vermögen den Dingen einen Werth zu geben, nachdem sie
sie einsehen. So sieht ZE Jemand eine große Ceremonie mit
vieler Ehrerbietigkeit an, dagegen der andere während dem lachet.
Es liegt also die Wichtigkeit, bloß in der Art, wie Jemand die Sache
ansiehet. Es ist also nöthig

/1.) daß man die Sachen in ihrem wahren Lichte besehe

/2.) daß man sie so ansehe, als es unsrer Seelen am Heil-
samsten ist. Bloß der Wahn %und Thorheit haben den Dingen
einen falschen Werth gegeben. Betrachtet man dahero die
Menschen von der falschen Seite, so hält man sie bald
für beneidenswerth, bald bemitleidigt man sie, betrachtet
man sie aber mit einem forschenden Auge in ihrer
wahren Gestalt: so erscheinen sie uns alle in der Nar
renKappe. Die Menschen hängen der Thorheit aus
Neigung, dem ernsthaften aber aus Zwang nach. Ein
zufriedener ruhiger Mensch findet <bey> aller Wieder«stand»
wärtigkeit etwas, woraus er einen Scherz macht %und
sich beruhigen kann: so sagte Thomas Morus Groß-
Kanzler von Engelland der ein rechtschaffener Mann
war %und immer spaßen konnte, als er bereits

/ den

|P_196

/den Kopf auf den Blok legte, zum Hencker: er solte ihm
nur nicht den Bart mit abhauen, denn solches stände nicht
im Urtheil. Das ist eine glückseelige GemüthsVerfaßung.
Bey den Dingen in der Welt denen man die größte Wich-
tigkeit beylegt, ist nichts anders als ein großes Lerm, über
thörigte Absichten. Die Traurigkeit ist das Urtheil über das
Elend des Zustandes, %und kommt von der falschen Schäzung her.
Wir finden, daß wir sie gar nicht leiden können, daher wir
uns gerne von traurigen entfernen und verweilt man
sich dennoch bey Ihnen so geschiehet es, um nicht den Nahmen
eines falschen Freundes hören zu wollen. Dagegen bleiben
wir nicht ungern in Gesellschaft desjenigen der Schmerzen
duldet, sie aber großmüthig erträgt. Wir ertragen
auch nicht leicht einen lustigen Menschen theils weil wir
ihn verächtlich finden, theils weil wir voraussehen,
daß er eben so trostlos seyn werde bey dem Schmerz
der ihm etwa zustoßen könnte, als wie er jezo lustig
ist: theils aber auch, weil wir bey seiner Gemüthsart
anfangen neidisch zu werden. Der Schmerz sowohl als
die Freuden müßen communicativ seyn, welches dann ge-
schiehet, wenn sie nicht das Mittelmaaß ausmachen, %und
in der Empfindung bestehen. In einem solchen Zustande sich
zu versezen ist möglich, wenn man sich von Jugend auf

/ übet,

|P_197

/übet, von angenehmen %und unangenehmen Gegenständen die
Gedanken sogleich abzuwenden, um so mehr als das Gegentheil
den Charackter sogleich verschlimmert. Es bringt aber das Ver-
gnügen nicht allein die gegenwärtig Empfindung, sondern
das Voraussehen, daß es künftig entweder beßer, oder ärger
werden kann hervor. Es ist curieus daß die Alten den Tod
als ein Mittel zur Aufmunterung brauchten, daher auch der
Beschluß ihrer Grabschriften beständig so lautete: Sey
vergnügt %und brauche dieses Leben, weil du in kurzem das
bist, was dieser Verstorbene ist. Die heutigen Menschen aber
brauchen den Tod um Furcht %und Grausen zu erwecken. Es
ist auch merkwürdig, daß einige von den Alten ihre Todten
verbrandten; wie die Römer, andre sie einbalsamirten
wie die Egyptier. Beyde standen in der Meynung dem Leichnam
einen Gefallen zu erweisen. Nur sezten ihn einige darin,
sie ganz und gar von der Verbindung des Körpers zu trennen,
die leztern aber damit sie noch lange die Gemeinschaft der
Seele mit dem Körper unterhalten möchten. Der Geschmack
ist von der Empfindung darin unterschieden, daß die leztere
eine Lust in der Beschauung ist, die wir von dem Objecte
haben. In einigen Organen haben wir mehr Erscheinung als
Empfindung, in andern aber umgekehrt. Im Gefühl hingegen
ist gleichviel Erscheinung als Empfindung. Eine gar zu große
Empfindung hindert die Aufmerksamkeit auf das Object.

/ So

|P_198

/So können wir, wenn wir auf einmahl aus einem finstern
Keller ans Licht, oder an Schnee kommen, nicht auf die herum-
liegende Gegend Acht haben. Ein Grund der Lust, welcher in
der Erscheinung liegt, heißt das Schöne, der Grund der Unlust das
Häßliche. Eine Lust aus der Anschauung hergenommen, vergroßert
unsre Glückseeligkeit nicht im mindesten, %und ist weiter nichts,
als das Verhältniß meiner Erkentniß zum Object. Wenn aber
die Schönheit unser Wohlbefinden vermehrt, so daß wir
den Gegenstand noch einmahl zu sehen wünschen: so ist sie
schon mit einem Reiz verknüpft. Wir gehen jezo zu den
Bedingungen des Geschmacks, %und merken zuförderst an, daß
die Schönheit allein, ganz unmittelbar gefalle, da es
hingegen ein unmittelbar angenehmes ZE das Geld, %und ein
unmittelbares Gutes ZE. «das» die Wissenschaften giebt.
Die Schönheiten sind ferner mehrentheils unnütz,
%und das, was man wesentlich schön nennt, erhält einem
andern Zuwachs. Wir<1> zuweilen<3> wollen<2> etwas gantz
rein, %und also auch den Geschmack so haben - das Vergnügen
über die Empfindung %und Auflösung mathematischer Beweise
ist ganz rein - %und hier findet der Mensch ein Vergnügen,
wenn er eine Tätigkeit einer ganz besondern Kraft
verspühret, da er überdem ein gleiches fühlt, wenn
er alle seine Vermögen vermischt %und in Thätigkeit

/ versezt

|P_199

/versezt siehet. Wenn etwas im Geschmack gantz allein
gefallen soll, so muß man gar keine Rücksicht auf
den Nuzen der Sache nehmen, daher gefällt uns eine
wohl gemachte Dose von Papiermachée weit beßer als eine
köstlich ausgearbeitete silberne Dose, weil aus dieser der Geiz
gleichsam hervorkuckt, %und es nemlich verkauft %und zu Gelde
gemacht werden kann. Das Porcellan, die unköstlichen Gar-
nituren Brabander SPizen werden aber aus Mangel des
Nuzens für schön gehalten, doch nennen wir ein wohlge-
arbeitetes Gefäß von Gold auch schön, indem man sieht, wie
man, da doch Gold hiezu nicht verwandt zu werden pflegt,
gleichsam auf den Nuzen deßelben renonciret. Der Nuzen ist
ein Gegenstand der Reflexion, der Geschmack aber ein Vor-
wurf der Anschauung. Wir finden auch, daß wir recht
stoltz darauf thun uns so fein zu fühlen, wenn wir
im Geschmack %und in der Anschauung Vergnügen empfinden.
Ja wir haben ZE von einem Bauern, der ein schönes Ge-
mählde statt eines Pfluges sich angeschaft %und den viel-
leicht eine herumstehende Menge auslachen wird, sogleich
eine große Meynung, ob wir ihn gleich für einen schlechten
Wirth halten werden«,». Gefühl %und Geschmack unterscheiden
sich unendlich. Vergnügen %und Schmerz werden nur vom
Sinne begleitet, %und wird von allen denjenigen was einen

/ Eindruck

|P_200

/Eindruck zu wege bringt, hingegen ist der Geschmak
eine Vorstellung der Sache, wie sie im Wohlgefallen er-
scheint, so aus unsrer eignen Thätigkeit gegen einander
Haltung %und Vergleichung entlehnt ist - Bey einigen Sinnen
attendire ich mehr auf die Vorstellung als auf die Eindrüke - 
So viel ist zwar wahr, daß ich auch die Vorstellungen
im Geschmack gleichfals mit einem Gefühl vergleiche, doch
doch nur in Ansehung der Vorstellung. Es giebt aber auch
noch eine Art von Vergnügen, einen schönen Gegenstand
gesehen zu haben, für einen der kein Kenner davon ist,
daß nemlich aus der Zuneigung entsteht, wo wir vielen
die es noch nicht gesehen oder gehört haben, davon zu er-
zählen wißen. Sonst aber gehört zum Geschmack eine
Urtheilskraft ganz allein. Zum Gefühl aber, als welches
Reitz %und Rührung zum voraus sezt, nur Sinn: daher
giebts viele Menschen die zwar viel Gefühl haben, weil
sie Reizbarkeit haben, aber keinen Geschmack, weil sie
an Urtheilskraft Mangel haben. Der Geschmack muß
beständig erlernt werden, dahingegen das Gefühl durch
die Ubung nur höchstens verfeinert %und vergrößert wird.
Ferner richten auch alle Künste, die für das Gefühl sind,
allen Geschmack zu Grunde. Daher scheinen alle Dichter,

/ die

|P_201

/die stürmisch oder sehr süß rasen, denselben zu entbehren
weil der Geschmack ganz richtig ist. Eben das gilt von
Predigten, die gar keinen weiteren Nutzen haben, als der
sich auf einige Augenblicke bezieht, wenn sie nemlich das Ge-
fühl rege zu machen suchen, welches man aber wohl vom
moralischen Gefühl, da man das Gute nicht aus Nachahmung
sondern aus Anschauung erkennt, zu unterscheiden hat. Da
man nemlich bald ruhig wird, wenn der Prediger mit dem
Donner seiner Beredsamkeit aufhört, indem das Gefühl
nichts beständiges hervorbringt. Uberhaupt muß man nur
Thoren durchs Gefühl bewegen, %und der größte Schaden ent-
stehet daraus, wenn man sich bey Untersuchungen darauf
beruft. Was im Geschmack gefallen soll muß allgemein
seyn, das Urtheil welches durch ihn gefällt wird, muß
nicht ein Privat, sondern ein Allgemeines Urtheil, oder
ein allgemeiner Grund des Wohlgefallens seyn. So
speiset der nach Geschmack, der nicht bloß dem Appetit
sich accommodirt, sondern seinen Tisch so besezt, daß
alle Menschen gerne miteßen möchten, wie wohl man
jezo den Grund eines guten Wirths gantz umgekehrt
hat, %und mit diesem Nahmen einen solchen belegt, der nicht
für sich selbst %und noch weit weniger für andere gut
speiset, oder kurz ein karger Geitzhals ist. Es er- 

/ werben

|P_202

/erwerben daher diejenigen, die beständig allein eßen
können, keinen Geschmack; hiebey wäre es werth zu un-
tersuchen: ob auch wohl bey allen Arten von Empfindungen
ein allgemeiner Grund der Ubereinstimmung seyn kann?
Daß ein solcher beym Geschmack seyn müße, erhellet daraus,
daß es anders nicht möglich seyn würde, für alle Personen eine
schmakhafte Mahlzeit zuzubereiten, %und sie darauf einzu-
laden. Indeßen kennen wir den Geschmack der auf Empfin-
dungen hinauslauft, nur aus Erfahrungen; denjenigen aber
welcher sich auf Anschauungen bezieht, oder den ädealischen
Geschmack a posteriori. Doch können wir auch zuweilen
bey neuen Gerichten errathen, ob sie denn Geschmak all-
gemein gefallen werden, oder nicht. Der Geschmack ist
ferner gesellschaftlich %und ein Principe des Zusammen-
haltens einer Gesellschaft, %und des allgemeinen Ver-
gnügens, daher ein Mensch in der tiefen Einöde, gar
nichts nach dem Geschmack frägt, ja es ist sehr zu ver-
muthen, daß derselbe an einer wüsten Insell, selbst
mit einer häßlichen Frau sehr zufrieden seyn würde,
%und daß also der Werth einer schönen Gemahlin nur
darinn bestehe, daß man sie andern vorziehen könne.
Doch wird endlich der Punckt, daß ein Ding allen gefalle,

/ der

|P_203

/der stärckste: so sieht man sich sehr um, ob nicht einer
in der Gesellschaft dem andern einen Schnack erzählt, wo-
rüber er sehr gelacht, sich belustige, wenn man nicht ein
allgemeines Gelächter ausbrechen sieht. Das Wohlgefallen
kann groß seyn, obgleich das Vergnügen selbst sehr wenig
beträgt, %und hierin besteht eben das Edle des Geschmacks,
da wir die Schäzung des Werths an einem Dinge, nicht
in Rücksicht eines einzigen, sondern im Verhältniß auf
alle vernehmen. In der Einsamkeit %und auf dem Lande gefällt
uns einmahl ein Garten, sodann ein Wald; in der Stadt
aber würket es das Gegentheil, weil er nemlich das Land
im kleinen Maasstabe vorstellt, %und es scheint überhaupt
daß der Mensch allein betrachtet, gar keinen Begriff von
Schönheit haben würde, dahero wir ihn auch bey ungeselligen
gar nicht bemerken. Der Geschmack aber hat auch innere Prin-
cipia, welche in der Natur des Menschen ihren Grund
haben, allein Beobachtungen müßen uns erst die Regeln
deßelben vorzeigen, wenn aber Jemand dawider einwenden
solte, daß dasjenige, was man schön nennt sehr wechselt:
so müßen wir sagen, daß dies der modische Geschmack
sey, der aber nicht den Nahmen eines OriginalGeschmacks

/ ver- 

|P_204

/verdient. Derjenige wählt aus Mode, der daß schön nennt
was nach derselben gefällt. Ob nun gleich die Einstim-
mungen, die man der äußern Form giebt, biß sie nemlich
mit der Form der mehresten übereinstimmt, eine Art von
Schönheit ist, %und das altväterische anzeigt, wie man nichts
als gut zu finden fähig ist, als deßen man schon gewohnt
ist: so stimmen dennoch die Regeln %und die Urtheile des
Schönen gar nicht mit der Mode überein, %und Mode und
Gewohnheit sind dem Geschmack entgegen. Der Mann urtheilt
nach Grundsätzen, das Frauenzimmer nach der Mode.

/Einige Moden verfallen sehr geschwind, andre dagegen
erhalten sich lange, vielleicht daher, weil kein andrer
Ton angegeben worden. Viele laßen sich daher in Rö-
mischer Kleidung mahlen, weil diese beständig bleibt,
unsre hingegen fast alle Tage geändert ist, %und die alten
Moden der Enkelwelt lächerlich vorkommen. Manche
Moden entstehen daher, weil man jemanden den alles
gut kleidet, damit prangen sieht, %und man verwirrt
gemacht wird, worin eigentlich die Schönheit bey ihm zu
sezzen sey. Der Geschmack zeigt die sinnliche Ubereinstimmung
einer sinnlichen Beurtheilung an, es ist also falsch, daß man
über den Geschmack nicht disputiren könne; denn disputiren

/ heißt

|P_205

/heißt so viel, als beweisen daß mein Urtheil auch für
den andern gültig sey, %und das SPrüchwort: Ein jeder hat seinen
eignen Geschmack, ist so wohl ein Saz der Unwißenheit, als
ein Principium der Ungeselligen. Zwar ist vieles in
ihm empyrisch %und bey Gelegenheit der Erfahrungen gesam-
let, allein es sind doch nicht alle Regeln von derselben ab-
strahirt, %und denn wenn das Urtheil des Geschmacks vom
Verstande begleitet wird, so liegen sie gewiß in der Natur
unsrer Sinnlichkeit. Hieraus sieht man denn, daß sie
niemahls sich entgegengesezt seyn können, denn da sie von
dem Object gelten, oder da die Gesezze der Sinnlichkeit
bey allen einerley sind, so würden entgegengesezte Ur-
theile des Geschmacks eine Contradiction hervorbringen.
Eins müste wahr, das andre falsch seyn. Hingegen kön-
nen Urtheile des Gefühls sich opponirt seyn, weil Emp-
findungen uns den subjectiven Ausdruck, nur müßen
es nicht Reflexiones seyn, die man für Empfindungen
hält. Schönheit und Häßlichkeit gilt würklich von den
Objecten, %und es werden so wohl allgemeine Gesezze der
Sinnlichkeit, als des Verstandes, so wohl eine Wißenschaft
für jene %und eine Aestetick als für diese d.i. eine
Logick angefertigt werden könen. Eins ihrer Geseze
ist dieses: Alles was die Sinnlichen Anschauungen erleichtert

/ %und

|P_206

/und erweitert, entfernt {3- erfreuet -3} uns nach Objectiven Gesezen,
die vor alle gelten. Unsere sinnliche Anschauungen
sind e«t»ntweder im Raum nemlich die Figuren %und Gestalten
der Dinge, oder in der Zeit nehmlich, das SPiel der Ver-
änderungen. Zweyerley gehört nur zur sinnlichen
Anschauung im Raum nemlich proportion der
Theile oder ihr Ebenmaaß, und ihre Richtigkeit faßet
Symmetrie Euri{3- y -3}thmie in sich. Eine Ordnung der
Dinge in der Zeit nennt man ein SPiel, und ein SPiel
der Gestalten ist ein Wechsel derselben Zeit. In einer
guten Musick wird gleichfals zweyerley, nemlich der
Tackt, oder eine gleiche Abbildung der Zeit, dann
aber auch wenn viele Töne vereinigt werden, eine
Consonanz, oder eine Proportion der Töne, erfor-
dert. Es gefällt dieses, weil alles was unser
Leben vergrößert, diese Würckung bey uns her-
vorbringt, welches man allerdings von einer Erleich-
terung des sinnlichen Anschauens sagen kann, in-
dem die Menschen ein größtes Mannigfaltige
sich nicht anders vorstellen können. Eine Erweiterung
unsrer Erkenntniß und Mannigfaltigkeit aber,
wird zum sinnlichen Wohlgefallen erfordert.

/ Es

|P_207

/Es möchte aber hierwieder eingewendet werden, daß
wenn gleich ein Gegenstand nach den obenerwähnten
Regeln eingerichtet wäre, dennoch derjenige, der
etwas besonders gesehn, verachtet. Allein man muß
merken, daß dieses von der Vergleichung der Gegenstände,
gegen einander, die man anstellt, herkommen, sonst würde
man demohngeachtet, daß man etwas beßers gefunden,
dennoch einen Gegenstand schön nennen. Daß aber die
Vergleichung eine solche Veränderung hervorbringen könne,
zeigen folgende Beobachtungen. Alle, auch selbst
die schönste Mannsperson in Frauen-Kleider einge-
hüllet, sehen frech %und unangenehm aus, daher Bielefeld
sagt, daß wenn man bey der Vorstellung einer häß-
lichen Mannsperson eine Wette anstellt, daß sie die
häßlichste wäre, die existirte. Wie nun der andre
eine Weibsperson die freylich in Ansehung andrer
Weibspersonen sehr schlecht aussähe, vorzeigte; so sezte
der erste ihr seine Perücke auf den Kopf, indem er wohl
wuste, daß der Anschein der größten Häßlichkeit von
der zwischen ihr %und andern Frauenvolcke angestellten
Vergleichung herrührte, %und bald darauf sahe sie leidlicher
aus. So giebt man den alten Frauenzimmern darum so

/ %.empfindliche

|P_208

/empfindliche Beywörter, ZE Hexen, weil sie das Un-
glück haben mit jungen Mädgens verglichen zu werden,
da sie in Rücksicht auf ihr Geschlecht freylich mehr abge-
nommen, und verächtlich geworden, als die Männer gleiches
Alters, welche gegen jene noch immer schön genug aussehn.
Da Proportion %und Gleichheit der Eintheilung unsrer Anschau-
ungen sehr erleichtert: so stimmt es mit den subjectiven
Gesezen unsrer Sinnlichkeit überein, und das gilt von allen
was uns die Vorstellung des Ganzen leicht macht, und die
Erweiterung unsrer Erkenntniße befördert. Wir müßen
aber einen billigen Unterschied zwischen schönen Gegenständen
und den schönen Vorstellungen von denselben machen. So
sind ZE gewiße Thiere ZE die Schlangen häßlich in unsern
Augen, allein eine accurate Abbildung derselben in Mar-
mor nennen wir schön, und obgleich geometrische Figuren
gar keine eigentliche Schönheit haben, wenigstens ziehen wir
sie nicht in Betrachtung: so ist dennoch eine geometrische
Demonstration, wenn sie kurz und Leicht ist, eine Schönheit
bey uns, es ist also bey ihnen der Grund des Wohlgefallens
offenbar in der Leichtigkeit zu sezzen. Etwas stimmt
also mit den objectiven Gesezen überein, wenn in der
Erkenntniß Wahrheit, Uberzeugung und Deutlichkeit
anzutreffen ist, wenn sie gleich mit Schwierigkeiten

/ er

|P_209

/erlangt wird; hingegen mit unsern subjectiven, wenn
sie die Thätigkeit unsers Verstandes in ein leichtes SPiel
versezt. Wir machen aber dennoch einen Unterschied zwischen
dem Schönen wobey immer zugleich ein Reiz mit vorhanden,
%und dem hübschen, wobey derselbe nicht anzutreffen ist. So
giebt es Mädchen %und andre Dinge, die zwar gute Züge
haben, jedoch vom Reiz entblößt sind, und wiederum an-
dere die reizen ohne schön zu seyn ZE die Züge der Sanft-
muth, weil diese den Mangel des Hindernißes in Gesellschaft,
%und die Züge der Munterkeit, welche die Erleichterung des
Umganges anzeigen. Jezt gehn wir zur Beobachtung vom
Reiz. Dieser ist entweder körperlich, oder idealisch, wel-
cher leztere gemeiniglich die Moralität zum Gegenstande
hat. Er kann bloß aus Nebendingen ZE aus Neuigkeit wenn
man der erste ist, der den Gegenstand gesehn, aus Zu-
neigung pp entstehen. Der Reiz, der durch körperliche
Bewegungen hervorgebracht wird, heißt der indirecte
Reiz. Gewiße Dinge werden sinnlich angeschaut, bringen
eine Idee in uns zu Wege und würken wiederum zu-
rück, von dieser Art ist das Lachen, bey welchem die
Idee eine unerwartete Umkehrung des vorhergesehenen
ist, welches sonst gleichgültig ist. Sie unterscheidet sich vom
Contrast dadurch, daß hier nur Vorstellungen

/ neben

|P_210

/neben einander, dorten aber eine ordentliche Wieder-
kehr des Verstandes ist, so wie Monstom in seinen Reise
Beschreibungen erzählt, daß als ein Curländischer Edel-
mann von Sack auf Befehl des Herzogs nach Kam-
schatka reisen solte, er niemals dahin gekommen, sondern
als er eben glaubte, weit genug gereiset zu seyn, so
sahe er sich vor seiner eignen Hausthüre zurückge-
führet, ob er gleich 2 Jahre gereiset. Dieses Vergnügen
bringt bloß eine körperliche Bewegung zu wege. Eine gleiche
Bewandniß hat es mit Tränen die wir uns gerne ab-
locken laßen: so sehen wir das gerne, was wir uns
mit beständigem Grausen vorstellen müßen. So stellen
wir uns gerne einen Menschen vor, der in einer wüsten
Einöde in eine abscheuliche Tiefe fällt, das kommt daher,
weil in unserm Körper ein@e@ sehr feines Gewebe von
Nerven ist, zu denen kein Mittel, keine Motion, keine
Medicin durchdringen kann. Auf diese nun würken unsre
Ideen und zwar auf eine verschiedene Art. Zwey Beo-
bachtungen rechtfertigen dieses vollkommen.

/1.) Einige Personen werden dadurch gesund, daß
sie sich ärgern, wenn ihnen nur keiner wiedersteht.

/2.) Ein berühmter Arzt, der sich besonders sehr mit der
Meßung des Gewichts des Menschen abgegeben, entdeckte

/ wie

|P_211

/wie derselbe beym Carten spielen nicht nur größern
Appetit überkommt, sondern auch in ihm bey dieser Beschäf-
tigung eine weit stärkere Transpiration vorgehe, als
durch starke Motion, dies ist sehr vortheilhaft, daß wir nicht
sehen, nicht reden können, ohne daß die Ideen auf unsern
Körper würken. Die Ursache warum Junge Leute gerne
Tragödien aufführen sehen, die Alten aber Comoedien, lieget
bloß darin, weil theils ihre Leichtsinnigkeit darinn ein Gegen-
gewicht findet, theils weil die Trauer bey ihnen nicht haftet,
sondern nachläßt, wenn das Stück geendigt ist«,». Doch müßen
wir sagen, daß so wohl die Leute die sehr viel lachen, als
die, welche ernsthafte Gesichter machen, über einige Ange-
legenheiten keinen Geschmack zeigen. Die Schönheit ist ernsthaft,
doch ist die Neigung, alles ins belachenswerthe zu ziehen,
nur eine Heiterkeit des Genies, und diese, wenn sie sich über
alles verbreitet, ist nur eine Masque der gesunden
Vernunft«,». Die Beschäftigungen des Gemüths mit dem
Schönen verfeinern das Gemüth %und machen es zu moralischen
Eindrücken fähig, und die Cultur des Geschmacks schärfet
die Urtheilskraft. Das zu sehr modische im Geschmack
verräth einen Menschen ohne Grundsäze, ein solcher
Mensch denckt nicht vor sich selbst, sondern er sucht nur der

/ erste

|P_212

/erste in dem zu seyn, von dem er zum voraus sieht, daß,
es allgemein werden kann. Der Gebrauch und die Mode im Ge-
schmack sind also unterschieden. Man kleidet sich nach dem Gebrauch,
wenn man sich in der Kleidung nach dem allgemeinen richtet, man
kleidet sich aber nach dem Mode, wenn man der erste ist, der sich
der Kleidung bedient, die hernach allgemein wird. Die Mode
ist also der Anfang des Gebrauchs, es schickt sich schon nicht
für einen vernünftigen Menschen wenn er sich in den Grund-
säzen nach dem Gebrauch richtet, viel weniger wenn er darin
modisch ist. In Dingen aber die bloß in die Augen fallen sollen, kann
man sich auch nach dem Gebrauch richten, weil dieses die Einför-
migkeit unter den Menschen stiftet und sie verbindet.

/Aber in Grundsäzen modisch zu seyn, ist wenigstens einem
Mann unanständig. ZE Wenn man der Mode folgen wolte,
daß man seine Frau immer allein gehen und fahren ließe:
so ging es in Frankreich, daß als ein Fremder einen Mann
ganz kaltsinnig mit seiner Frau gehen sahe, %und einen Fran-
zosen frug: lieben sich diese? lezterer ihm antwortete,
o Nein, es ist ja seine Frau; da wäre die Mode daß man
sich gar nicht lieben müste. Ja in Genua %und andern Städten
Italiens muß sich die Frau schämen mit ihrem Manne zu-
sammen zu gehen, denn eine jede Frau hat außer ihrem

/ Mann

|P_213

/Mann einen Cavalier Servante. Derjenige der im Geschmack
zeigt, daß er gar keinen Geschmack habe, ist bedauernswerth.
So hat man in der SchreibArt allerley Moden angenommen,
bald ist sie gedrungen, bald weitläuftig, bald ist es Mode so
compress zu schreiben, daß Demosthenes sich der Wörter hätte
bedienen können %und sie statt Kieselsteine in den Mund zu nehmen,
%und durch ihre Vermittelung eine reine Aussprache zu lernen.
Hernach kam das brilliante bey der Schreibart auf, da man
von nichts als von Gold, Edelgesteinen, Donner, Blitz pp
redete, bald darauf das tändelnde, da vielleicht jemand
einen französischen Schriftsteller, den er vielleicht
selbst nicht verstanden nachahmen wolten. Man kann aber
einer Schreibart leicht ansehen, auf welchen Leisten sie
hätte sollen gepaßt seyn. Die wesentliche Eigenschaft
einer guten Schreibart ist die Leichtigkeit. Alle Sinnlichkeit
bereitet dem Verstande schon die Sachen vor so daß die Hand-
lung des Verstandes dadurch eine gewiße Leichtigkeit
bekommt; der Geschmack führet uns nicht durch allgemeine
Regeln, sondern durch besondere Fälle. Die Vernunft ist eine
Art von Hoffmeisterin, mit der man sich nicht aus Neigung,
sondern bloß aus Nothwendigkeit beschäftiget. Derjenige
der die Vernunft mit dem Geschmack verbindet, bestreichet

/ gleichsam

|P_214

/gleichsam den Rand des Bechers, der von von einer
etwas zwar wiedrigen aber sehr nüzlichen Arzeney
ist, mit Honig. Aber viele Menschen sind wie die Kinder,
%und lecken den Honig vom Rande ab, ohne die Arzeney
zu berühren; sie lesen schöne Bücher bloß nur für den
Geschmack etwas zu sammlen, als schöne Ausdrücke, Historien
und dergleichen und dencken nicht einmal an den Endzwek,
den der Autor gehabt hat.

/Wir bemerken bey einer jeden Sache etwas selbstständiges
Schönes, indeßen versteht es sich von selbst, daß die Sachen
die an sich selbst nichts selbständiges haben, auch nichts selbst-
standiges Schönes haben. ZE das Modische. Jeder Mensch
will ein Original seyn und diese Idee recommandirt ihm die
Sache. Es liegt bey jeder Sache eine Idee zum Grunde.
Man kann keine Sache eher für schön halten, als biß man
weiß, was es für eine Sache seyn soll. Man muß
also allemahl die Idee der Sache «v»zum voraus sezzen.
Diese Idee ist nach Kants Meynung von vielen Dingen zu
sammen genommen abgeleitet und gleichsam, das mittlere
von allen Excessen %und Defecten vieler Specierum. So
kann man ZE noch nicht urtheilen, ob ein gemahltes Gesicht
schön sey, wenn man noch nicht weiß, ob es ein Frauenzimmer
oder Manns Gesicht seyn soll. Das Muster der Schönheit

/ liegt

|P_215

/liegt also in dem Mittlern der Species. In Ansehung aller
Dinge, ist die Ubereinstimmung der Rührung mit der
Idee, die wahre Schönheit. Man muß die Materialien der
Schönheit von der Schönheit selbst sehr wohl unterscheiden«,».
So sind ZE hübsche Farben die Materialien der Schönheit,
allein die Schönheit selbst entstehet, wenn diese Materialien
der Schönheit zusammen gesezt werden. Es muß die Sache,
die schön seyn soll, mit der Idee zusammen stimmen.
Die Alten machten an den Häusern Pfeiler, nach einer
spiralLinie, weil sie die Pfeiler nach unsrer Art
für plump hielten, allein man sieht gleich, daß dieses
nicht mit der Idee des Hauses übereinstimmt, denn ein
Hauß muß fest seyn, %und die Schönheiten sind nur Ac-
cidentia. Alle Annehmlichkeiten %und Reize, welche der Ab-
sicht der Dinge wiederstreiten, sind dem selbstständigen
der Schönheit entgegen; so kann man ein Kleid, welches sehr
enge ist, nicht schön nennen, weil ein Kleid zur Gemächlich-
keit dienen soll. Moden die viel Peinlichkeit haben,
können nicht dauerhaft seyn. In einer Rede ist die
selbstständige Schönheit die Beziehung der Sinnlichkeit
auf Gründlichkeit und Wahrheit. Die Kenntniß des
Menschen, und in Wißenschaften bewandert zu seyn,

/ giebt

/~δRand_215_Z_2

/{2- Es ist also die
Idee aufzusuchen.

/

/

/Es liegt bey der
Schönheit <%.der Plan> zu Grun-
de, welcher die
Rührung erwekt. -2} ~

|P_216

/giebt uns den Stoff an die Hand, über den wir alle
Schönheit verbreiten könen. Die Schönheit ist nicht dauer-
haft, die dem Verstand wiederstreitet, es ist alles umsonst
ein schöner Geist mit einem leeren Kopf werden zu
wollen, wenn man den David Hume der einer der
neuesten Schriftsteller ist, und einen Englischen Zuschauer
lieset, so weiß man nicht ob man hier die Schönheit, oder
die Gründlichkeit und die Einsichten schäzen soll. Die Lehre
des Geschmacks ist keine Doctrin, sondern eine Critik.
Die Critik ist die Unterscheidung des Werthes in einem
schon gegebenen Subject, denn wäre die Lehre eine
Doctrin so könnte man lernen wizig @werden@; allein
die Critik hat den Nutzen, daß man sich selbst beurtheilen
lernt, sie schärft unsre Urtheilskraft %und excitiret
indirecte unser Genie. Nun kann man eine ganze Lehre
der Critik abfaßen, es macht jemand ein Gedicht, nach
allen aestetischen Regeln, und dennoch gefällt es zu-
weilen nicht. Wem ist es nun zu glauben, den aesthe-
tischen Regeln oder dem, dem es nicht gefällt? Dem
leztern, denn alle aesthetische Regeln sind nur vom
Geschmack vieler Menschen abgezogen. Nichts schadet
dem Genie mehr, als die Nachahmungen und man kann

/ ganz

|P_217

/ganz sicher behaupten daß der Mangel an Genie bloß aus
den Schulen herrühre, wo man den Kindern Regeln zu
Briefen, Chrien p vorschreibt, wo man ihnen die Latei-
nischen Phrases auswendig lernen läßt p. Wie sehr
aber möchte ein Römer, der die jezigen Lateinischen Schriften
lesen sollte, wenn sie gleich im zierlichsten Latein abge-
faßt wären, lachen, weil man, obgleich die Wörter
immer dieselben sind, sich in der Verbindung derselben
ungemein irren kann. Das deutsche Wort übersezzen
ist übelangebracht, wenn man sagt: er hat das deutsche
in das Lateinische übersezt, das ist zwar grammaticalisch
richtig gesprochen %und doch ist der Ausdruck lächerlich. Der
Geschmack scheint nichts wesentliches zu seyn, denn man
sieht wohl ein, daß er von der Vollkommenheit sehr unterschieden
indem er uns nur Dinge, als vollkommen vorstellt, die
es nicht sind. Bloße Politesse zeigt eben noch nicht gute
Gesinnungen, so wie ein guter Ausdruck noch keinen Verstand
anzeigt. Es scheint also der Geschmack nur etwas überflüs
siges %und ein bloßes BlendWerk zu seyn, obwohl es nur
beym Geschmack lediglich darauf ankommt, zu machen, daß
eine Sache gut erscheine, %und also vom Verstande ganz was
verschiedenes ist, so ist es doch eine wahre Bemerkung,

/ daß

|P_218

/daß wenn die Urtheile des Verstandes practisch
werden sollen, der Verstand sich zur Sinnlichkeit herab-
laßen muß, denn so wie ein Compass zwar die Richtung
des Schiffs bestimmt, solches aber noch nicht bewegt;
so schreibt der Verstand auch Verstand auch Regeln vor,
deren Ausübung aber in so fern nur möglich ist, als
sie auf Gegenstände der Sinne angewandt werden.
Es müßen demnach die Menschen Geschmack haben um
die Regeln der Vernunft in Ausübung bringen zu können,
%und in der That ist auch der Geschmack im Umgange nichts
anders, als die Tugend angewandt auf Kleinigkeiten,
oder auf Gegenstände, die aber keine große Angelegen-
heit des Menschen ausmachen. Es ist eben so, als wenn
man einen Krieg nachmacht, wo alles eben so zugeht, als
wenn es würklich zwey feindliche Partheyen da wären,
obgleich doch keiner die Intention hat, den andern zu
schaden. Die Politesse übet uns auch an dem Geschmack
zu finden, was edel und gut ist. Wir fordern von
einem Menschen von Geschmack, daß er dem weiblichen
Geschlecht mit Distinction begegne, was ist dies anders
als Großmuth, die aber hier auf etwas unerhebliches
angewandt wird. Ein Mensch der Politesse besizt, muß

/ wenn

|P_219

/wenn er Gäste bey sich hat, an der Taffel die unterste
Stelle einnehmen, er muß seine größte Mühwaltung darin
bestehen laßen, seine Gäste zu bewirthen, die Gesellschaft
aufzumuntern, wenn es gleich mit den größten Unbequem-
lichkeit von seiner Seite verknüpft ist, was ist das anders
als Freundschaft, %und Bemühung andrer Wohl zu befördern?
Ferner muß ein Mensch von Geschmack in Gesellschaft nichts
von sich selbst sprechen, dies zeigt an, daß man sich kein vor-
züglicheres Recht vor andern einräumen muß, %und so geht es
mit allen Regeln des Geschmacks im Umgange. Der Geschmack
in Kleidung aber, ameublement, Anlegung eines Gartens,
indem er von den Menschen verfeinert, und einen Ein-
druck nach seinen kleinsten Theilen abwiegen lehrt, macht
den Menschen fähig<2> zugleich<1> in<3> Ansehung des wichtigen sehr
leicht die Disharmonie zu empfinden. Alles sittliche ent-
hält zugleich das schöne, wenn ein Mensch spricht, was sich
nicht schickt: so sagt man: er hat keine Conduite, allein
oft kann man etwas sprechen, was sich schickt, aber was
dennoch nicht gefällt«,». Es ist unser Geschmack gleichsam ein
Augenmaaß von allem schicklichen. Das Urtheil, welches
wir in Gesellschaft, von jeder Miene andrer Persohnen,
von dem Betragen der Kinder gegen ihre Eltern

/ fällen

|P_220

/fällen hat jederzeit seinen Grund in der Natur der Mo-
ralität, ob wir es gleich zur Politesse rechnen. Auf
solche Weise arbeitet der Geschmack der Moralität vor
%und giebt ihr das Gefällige %und machet daß die Tugend auch in der
Erscheinung gefällt, denn in sofern sie nur durch oder in
der Vernunft gefällt, ist sie ein Gebot, Gebote aber sind
dem Menschen jederzeit verhaßt. Es ist demnach die Verfei-
nerung des Geschmacks, weil er ein Analogon der Vollkommen-
heit ist, von großer Wichtigkeit. Nun aber entstehet die
Frage. Wie wird der Geschmack studirt? Der Mensch muß
alles lernen, ja der berühmte Hume behauptet in Ansehung
des Rousseau, daß selbst die Tugend müße gelehrt werden
%und er hat in gewißer Art recht. Es ist demnach kein Zweifel
daß auch der Keim des Geschmacks durch Erlernung excolirt
werden müße. Welches ist aber die Art der Erlernung?
Durch Regeln kann man keinen Geschmack hervorbringen
sondern der Geschmack unterwirft sich nur der Anschauung
d.i. dem Beyspiel, oder der Erscheinung selbst. Kein
Wesen vermag mir zu sagen, daß soll %und muß dir
gefallen. Allein es kann mir Jemand eine Sache unter
der Versicherung zeigen wollen, daß sie mir gewiß
gefallen wird. Die Regeln also die da etwas in
Ansehung des Wohlgefallens gebieten, sind jederzeit

/ lächerlich

|P_221

/lächerlich, weil die Regeln sich auf die Beobachtung gründen
und von der Menge der Fälle abstrahirt sind. Wenn es sich
also zuträgt, daß Jemanden etwas ob es gleich nach allen
Regeln des Geschmacks eingerichtet ist nicht gefällt: so kann
man nicht sagen daß der Geschmack dieses Menschen unrichtig
sey, sondern die Regel ist falsch. Es ist sonderbar genug,
daß hier die Appellation vom Verstande zur Erscheinung
gilt, da es doch sonsten gerade umgekehrt ist.

/Lessing ist ohne Zweifel der stärckste Kenner der Regeln
des Theaters, indeßen gefallen doch viele von seinen Stücken
im Zusammenhange nicht, obgleich so gar die Theile deßelben
gefallen. Wenn Lessing einem solchen, dem seine Gedichte
nicht gefallen, zeigen wolte, daß seine Lustspiele nach allen
Theatralischen Regeln eingerichtet wären, was würde
ihm jener antworten? O würde er sagen, laßt mich
mit allen euren Regeln zufrieden, genug es gefällt mir
nicht. Dies ist ein sichres Zeichen, daß die Regeln unrichtig
sind. Eine jede Regel erfordert eine besondere Be-
stimmung. Nun läßt sich durch solche Regeln leichter an-
zeigen, was da misfällt, als was da gefällt, weil
der allgemeine Wiederstreit leichter zu beobachten ist,
als der Grund der Verknüpfung. So laßen sich auch
vom Geschmack zwar viele negative gute Regeln geben

/ aber

|P_222

/aber nicht positive. Es ist der einzige Weg unsern
Geschmack zu bilden, daß uns viele Gegenstände
der Natur vorgelegt werden, und daß wir an
denselben das Reizende %und das Rührende zu unter-
scheiden suchen. Der Reiz gehöret zum Schönen, die
Rührung zum Erhabenen, zu beyden gehöret Ur-
theilskraft. Zum Erhabenen gehöret kein Geschmack,
denn nur die Urtheilskraft vom Schönen ist Ge-
schmack. Alles was durch die Mannigfaltigkeit, die
Thätigkeit unsers Gemüths in Bewegung sezt, gehöret
zum Schönen und zum Reiz: was aber dem Grade nach
die Thätigkeit des Gemüths befördert, das ist erhaben.
Das Erhabene erregt Achtung und gränzt an die Furcht.
Das Schöne erregt Liebe und gränzt an Verachtung, denn
das, was bloß schön ist, erreget Eckel. Da alles das
was reizet, den Menschen immer zwickt, alles schöne
aber zugleich reizt, so wird durch das beständige zwicken
der Mensch endlich ermüdet. Wenn man des Abt Trablet
Einfälle lieset, so wird man der übermäßigen bons
mots so überdrüßig und müde, daß man wohl die
abgeschmacktesten Mährlein bey der Hand zu haben
wünschet. Uberhaupt kann man keiner Sache überdrüßiger
werden, als des Schönen, daher die süßen Herren

/ die

|P_223

/die voll von Gefälligkeit und Höfflichkeit sind
zulezt unerträglich werden. Was das Erhabene be-
trift, so spannet solches die Nerven aus %und schmerzt,
wenn es starck angegriffen wird. Ja man kann das Er-
habene bis zum Schrecken und zur Athemlosigkeit bringen.
Alles wunderbahre ist erhaben und daher angenehm,
wenn es in Gesellschaft erzählet wird, allein in der
Einsamkeit schreckt es; ja selbst der Gestirnte Himmel,
wenn man sich bey deßen Anblick erinnert, daß das
alles WeltKörper und Sonnen sind, die wieder
eine ähnliche Menge WeltKörper um sich drehen laßen,
als unsre Sonne, erreget ein Grausen %und Schrecken
in der Einsamkeit, weil man sich einbildet, daß man
als ein kleines Stäubchen in einer solchen unermeßlichen
Menge von Welten nicht verdient von dem Allmächtigen
Wesen bemerket zu werden. Alle diese Bewegungen
nun, die wie das Schöne %und Erhabene, lauffen zulezt
auf etwas sehr mechanisches heraus. Alle diese
Thätigkeit befördert unser Leben im Ganzen.

/ ≥ Vom Wohlgefallen oder Misfallen in so ferne
Gegenstände als gut oder böse angesehen werden. ≤

/Nachdem wir aber geredet, von dem, was in der Empfin- 

/ dung

|P_224

/dung und in der Erscheinung gefällt, so gehen wir
zur 3ten Abtheilung und reden von dem: was im
Begriff gefällt, oder was gut ist. Die Gründe des
Wohlgefallens beym Vergnügenden %und Schönen sind
subjectiv, die Gründe des Wohlgefallens aber, von dem,
was gut oder böse ist, sind objectiv. Es ist aber auch
der Grund von dem was in der Erscheinung gefällt
zum Theil objectiv, aber nur in Ansehung der Sinnlich-
keit. Was angenehm oder unangenehm sey, das ver-
stehet ein jeder gerade zu, wenn aber Jemand eine
Sache erzählt ZE der Apfel ist mit einer farbigten
Rinde umgeben, die dem Auge gleichsam liebkoset,
so redet er von Erscheinung. Uns erscheint zwar
ein und dieselbe Sache, nicht allein auf dieselbe Art, in-
deßen ist doch in jeder Sache etwas, was allgemein
gefällt oder mißfällt. Es sind demnach alle Beur-
theilungen der Gegenstände in Ansehung des Wohlgefallens
nach Gesezen der Sinnlichkeit nicht objectiv, und mein
Urtheil von dem, was schön ist, wenn ich etwas
schön zu nennen Recht habe, muß auch für andere
gelten, da im Gegentheil aber die Annehmlichkeit nicht
für alle gilt. Wenn also zwey über etwas was
schön ist streiten, so hat einer unrecht, dahingegen

/ zwey

|P_225

/zwey mit gutem Recht über die Annehmlichkeit streiten
können nach Gesezen der Sinnlichkeit. Denn alle Urtheile
des Geschmacks sind allgemein gültig nach Gesezen der
Sinnlichkeit. Reiz %und Rührung sind subjectiv und gehören
vor das Gefühl. Dahero wenn Jemand von seinem Gedicht
behauptet, daß es reizend sey, dieses Urtheil nicht all-
gemein seyn kann. Es giebt keine allgemeine Geseze in
der Empfindung, und wenn ja einige darin überein
kommen; so geschiehet es zufälliger Weise, so weiß
man vom Zucker %und von der Süßigkeit überhaupt, daß
es allen Thieren wohl schmecke, allein dieses rü¿hrt aus
uns unbekandten Ursachen her. Es giebt allgemeine
Geseze der Sinnlichkeit, die von aller Anschauung a
priori erkandt werden, das ist Raum und Zeit.

/Nur allein die Musick ist im Stande bey uns ein Wohlge-
fallen zu erregen, das aus dem bloßen SPiel der Empfin-
dungen herrühret. Denn das bloße Klopfen der Luft
auf die Ohrtrommel kann uns nicht so sehr vergnügen,
sondern die vielen Bebungen der Luft in einer be-
stimmten Zeit, und die Proportion der aufeinander
folgenden Töne, erreget bey uns das Vergnügen, obwohl
ein einziger Thon schon wohl vergnügt, das kommt aber
daher, weil auch ein einziger Ton schon ein SPiel unsrer
Empfindungen verursacht, indem bekandt ist, daß

/ ein

|P_226

/ein Ton 500 und mehrere Bebungen in Einer Secunde
verursachet. Das Verhältniß des Mannigfaltigen
in der Zeit, ist das SPiel. In der Zeit gefällt also
das SPiel und im Raum die Gestalt. Die Größe im Raum
gefällt eigentlich gar nicht, sondern sie gehört zur Rüh-
rung. Der aber seine Seele nicht so ausdehnen darf
um diese Größe zu faßen, wird auch nicht würklich
gerühret. So sagt man daß die Ungarischen Tartarn
wenn sie einen von unsern Officiren sehen, die Hände
ausrecken um seine Größe zu meßen, diese werden
gerührt durch die Größe. Wir aber sind gleichgültig
dabey. Das Erhabene gehört also gar nicht zum objectiven
Urtheil: werde ich durch die Größe nicht afficirt, so ist die
Sache in Ansehung meiner auch nicht erhaben. Die Menschen
können sich also in Ansehung des Erhabenen mit Fug wieder-
sprechen. Dem Lilliputer in Grönland kommt einer von un-
sern GuardeOfficiers erhaben vor uns aber nicht. Die
Urtheile für das Schöne, müßen zwar für das ganze
Menschliche Geschlecht gültig seyn, aber nicht für ein jedes
Wesen. Dagegen das was gut ist, auch für jedes Wesen
gut seyn muß. Das Erhabene kann mit zum Gefühl gerech-
net werden, das Schöne aber gehört nur dem Geschmack.
Einiges ist zwar so erhaben, daß man sich Rechnung machen

/ kann

|P_227

/kann von allen für erhaben aufgenommen zu werden ZE
der Ocean, die Unermeßlichkeit der WeltKörper, allein es
gehet hier eben so wie mit der angeführten Empfindung der
Süßigkeit. Es scheint dieses eine gewiße allgemeine Gültig-
keit zu haben %und für den Geschmack zu gehören, allein hier kommt
es nicht auf die Proportion sondern leediglich auf das Ge-
fühl an. Das also was keiner allgemeinen Regel unterge-
ordnet ist, das kann auch nicht allgemeinen Regeln gefallen.
Da nun zum Erhabenen eine allgemeine Regel erfordert
wird, so kann es auch nach keiner allgemeinen Regel wohlgefallen.
Ein Englischer Autor schreibt, daß er niemals den Eindruck
des Erhabenen vergeßen werde, den er auf dem Berge
Aetna, da er die ganze Insel Sicilien mit ihren Städten,
Neapel %und hinter Neapel, das Adriatische Meer hat
übersehen können, empfunden hat. Ein französischer
Autor sagt: eine lange Linie ist sehr erhaben %und eine
große Tieffe ist das erhabenste: allein es wird vom
angeführten Autor deshalb das Erhabendste genandt,
weil eine große Tieffe uns am meisten dem Schreken
nähert. Blos Verhältniße sind einer Regel fähig,
das also auf den Eindruck oder auf keine Verhältniße
gehet, kann keinen allgemeinen Regel untergeordnet seyn.
Der Ocean ist erhaben, aber nicht für einen Seefahrer, der
schon einmahl in Indien gewesen. Das Schöne aber gefällt

/ jeder

|P_228

/jedermann ZE ein Stieglitz muß wegen seinen %fürtreflichen
Farben %und ganz besondern Proportion Jedermann ge-
fallen, weil die Proportion sich unter allgemeinen Regeln
bringen und durch den Verstand erkennen läßet. Man
hat bemerkt, daß eben demselben Menschen dem es am
Geschmack einer Art gefehlet, auch in allen Arten an
Geschmack fehle - zum voraus gesagt, daß es Leute seyn
müßen die Umgang und also Gelegenheit haben müßen
ihren Geschmack zu cultiviren - Man sagt: der Mensch
hat einen schlechten Geschmack d.i. eben so viel als, der
Mensch hat keinen Geschmack, denn Geschmack gefällt an
und vor sich selbst. Es giebt Menschen die sich nichts aus
der Musick machen %und man wird an diesen zugleich finden
daß sie nichts von einer schönen Schreibart, und von
Poesien halten. Eben die Singularitaet die Jemand
in seiner «SchreibArt» Kleidung beweißt, hat er
auch im Umgange. So glaubt Kant daß er aus eines
Menschen SchreibArt wohl urtheilen könne, wie er auf
der Straße geht, ob steif oder flüchtig. Ja ein Auctor
will übernehmen aus der Wahl der Farben, die ein
Mensch in einer Reyhe von Jahren getroffen, zu
treffen, was er für eine Gemüthsart habe. Das

/ alte

|P_229

/Das alte SPrüchwort noscitur ex Foro möchte also auch
beynahe eintreffen, denn im Geschmack offenbahren
sich die übrigen Gemüthszüge des Menschen - Man könte
wohl aus einem Briefe sehen ob der Verfaßer ein Heuchler
oder ein aufrichtiger Mann sey. Es hat aber auch zuweilen
eine große Geschicklichkeit ohne Geschmack statt: so giebt
es große Tonkünstler, ohne allen Geschmack. Diese er-
sezen den ihnen mangelnden Geschmack durch die ihnen
eigenthümliche Kunst, allein man vermißt doch in ihren
Musicken jederzeit das Gefällige. Man sagt aber auch
er versteht es nicht, darum gefällt es ihm auch nicht, es
ist freylich wahr, man muß erst die ganze Absicht
einer Sache wißen, ehe man sagen kan, ob sie gefalle.
Es giebt Leute die bloß die Kunst bewundern ZE daß
Jemand die Haubois spielen kann, daß sie den Ton
einer Flöte verräth; allein solche Leute gehören in die
Classe derjenigen, denen eine Sache ihrer Seltenheit wegen
gefällt, %und diese haben gar keinen Geschmack Man hat
die sogenanten PassingDrechsler, die alles schön ge-
ädert %und nett drechseln. Wenn nun Jemand eine solche
gedrechselte Dose sieht, %und nicht weiß daß es eine Dose
ist, %und was für Arbeit sie dem Künstler gekostet hat:

/ so

|P_230

/so gefällt es ihm auch nicht, allein wenn Jemanden
blos etwas darinnen gefällt, weil er versteht, was
es für Mühe gekostet, so ist das ein Kunstverständiger
hat aber deswegen noch keinen Geschmack, %und im Gegentheil
die Natur des Geschmacks ist die Leichtigkeit. Wenn also
ein Mensch von Geschmack, einen schönen angelegten,
aber mit vielen 1000 %Reichsthalern zustande gebrachten Garten,
oder eine prächtige Taffel siehet, wo ein großer Auf
wandt herscht: so gefällt ihm dieses eben nicht sehr,
aber mit wenig Kosten so einzurichten daß es gefält,
dies gehört für den Geschmack. Die Pracht ist also dem
Geschmack ganz entgegen, denn Magnificence %und Geschmak
sind unterschieden, obwohl auch beym Geschmack einiger
maßen magnificence seyn muß. Als Zeuxis die von
einem andern mit vielen Perlen, Gold %und Silber ge-
mahlte Venus sahe, sagte er dem Künstler: da du
die Venus nicht hast schön mahlen können, hast du sie
reich gemahlt.

/Das SPiel in Gesellschaft zeigt keinen Geschmack, sondern
es muß nur zum NothMittel, der langen Weile vorzubeugen
gebraucht werden, und als denn wenn die Gesellschaft
eine Monotonie bekommt. Das SPiel aber ist so weit gut,

/ weil

|P_231

/weil bey demselben ein beständiger Wechsel von Leiden-
schaften statt hat. Das Gemüth hat eine Motion allein es ruhet
sich auch aus, es befreyet einen auch in etwas von der bestän-
digen Höfflichkeit, weil ein jeder sein ganzes Recht dabey
braucht, dem andern zu schaden sucht, und ihm Masken macht.
Es vergnügt deshalb, weil durch die Leidenschaften, das
Principium des Lebens auf alle Art gezwicket wird - 
Santorius sagt, daß er beym SPiel am ersten transpi-
rire - ferner in einer jeden Gesellschaft sucht die Manns-
person dem Frauenzimmer zu gefallen, weil diese die
beste Richterin in Ansehung des Äußern sind. Es sind
demnach die Gesellschaften die Schulen des Geschmacks für
Mannspersonen; es ist aber sonderbar, daß der Umgang
der Frauenzimmer mit Mannspersonen für erstere keine
Schule des Geschmacks ist, sondern um diesen zu lernen,
müßen sie mit andern Damen umgehn. Das Frauen-
zimmer hat das Männliche Geschlecht in Gesellschaft nur
darum nöthig, weil ihre Talente von leztern aufge-
fordert werden. Frauenzimmer kleiden sich nicht für
Mannspersonen, denn sie wißen, daß sie diesen öfters
beßer im Negligée gefallen, als im Putz; sondern bloß
für andre Frauenzimmer deren Musterung durch- 

|P_232

/durchzugehen nichts leichtes ist.

/ ≥ Vom Geschmak verschiedener Nationen. ≤

/In Europa ist eine Nation die das eigenthümliche in
Rüksicht aller Nationen in der Welt hat. Das ist die
Französische, ihren Werth wollen wir hier nicht unter-
suchen, weil hier die Urtheile, sehr verschieden aus-
fallen würden; es scheint schon zu Caesars Zeiten diese
Nation im Geschmack sich hervorgethan zu haben. Es
herrscht bey derselben eine besondere Fröhlichkeit, und
eine glückliche Art von Leichtsinn, vermöge deßen sie
die wichtigsten Dinge en bagatelle tractiren %und zuweilen
Kleinigkeiten sehr erheben können. Es ist daher ausge-
macht, daß wenn bey Ihnen eine Sache in großem
Ansehen ist, solches ein sichres Kennzeichen ist, daß ihr
bevorstehender Untergang nahe sey, %und daß im Gegen-
theil eine Sache die ganz heruntergekommen, eben deshalb
ein Schicksal zu erwarten hat, welches sie emporbringt.
Es gehöret auch in der That ein beständiger Wechsel für
den Geschmack. Ein sehr munterer Geist macht diese
Nation zum wahren Muster des Geschmacks, welches

/ sie

|P_233

/sie auch wohl nicht aufhören dürfte zu seyn, es sey denn
daß eine besondere Art von Regierung solches be-
würken sollte. Im alten Grichenland scheint noch etwas
mehr als Geschmack geherrscht zu haben, für welches man
keinen Nahmen weiß, weil bey Ihnen nicht nur die Leichtig-
keit, sondern eine Art von Proportion %und ein wahres
Wohlgefallen nach Gesezen der Sinnlichkeit statt hatte.
Es haben die Franzosen in Ansehung der Manieren ganz
etwas besonderes, %und ihre Erziehung ist durchgängig
so gut, daß die Tochter eines Handwerkers eben die
Conduite hat, als die Tochter einer Herzogin, solches hat
selbst beym Männlichen Geschlecht statt. Bey uns aber ist
hierin eine erstaunende Gradation, %und doch findet man
oft auf der obersten SProße plumpe Leute. Dasjenige
was an den Franzosen nur allein zu tadeln ist, ist
der unbändige Leichtsinn der Jugend, sie haben die sitt-
samsten Ohren %und sind doch selbst nicht sittsam, indeßen
haben sie doch keine wahre Höfflichkeit, die Deutschen
sind eigentlich viel höflicher als sie. In Gesellschaft des
Frauenzimmers binden sie sich an keine Reinlichkeit im
Ausdruck %und in der Aufführung, sie haben vielmehr

/ hierin

|P_234

/hierin zu viel Hardiesse. Wenn sie aber zu Jahren
kommen, haben sie eine besondere Annehmlichkeit im Umgange
die sie auch bis in späteste Alter behalten.

/In Frankreich wird Fremden sehr höflich begegnet, aber
zu Gaste bittet ihn keiner, dagegen herrscht in Deutsch-
land die Gastfreyheit durchgängig. Es ist aber wahr,
daß die Deutschen in Ansehung des Geschmacks niemals
werden original werden, ob sie es gleich in Ansehung
des methodischen in ihren Schriften sind, wie ein
Menschlicher Körper dem die Haut abgezogen, wo zwar
viele Zusammenstimmung in den Muskeln und Nerven
herrscht, der aber doch niemals in solcher Gestalt ge-
fällt. Es herrscht viele Genauigkeit in den Schriften
der Deutschen aber keine Schönheit. - Der Geschmack
ist noch von der Reinlichkeit unterschieden, obwohl er-
sterer ohne lezteren nicht bestehen mag; dahero finden
wir Nationen, wo zwar Geschmack aber keine Reinlichkeit
herrscht, welches man von Italien zu verstehen pflegt.
Es ist daselbst ein recht hoher Geschmack, aber der Rein-
lichkeit befleißigt man sich da «d»nicht sonderlich. Die
Holländer hingegen die die reinlichsten sind, haben gar

/ keinen

|P_235

/keinen Geschmack. Der Geschmack unterscheidet sich vom Ver-
gnügen in der Empfindung, denn der Appetit wählet das,
was ihm gefällt. Die Reinlichkeit %und besonders die Zierlichkeit
hat unter mehreren Menschen statt, wo einer die
Musterung des andern paßiren muß. Von einem Menschen
aber, der ganz isolirt, sich auf einer wüsten Insel be-
findet wäre solches nicht zu fordern, es wäre auch in der
That lächerlich wenn er, ehe er aus der wüsten Insell heraus-
tritt, sich erst die Haare kräuseln wolte. Dieses zeigt
offenbahr, daß der Geschmack nur auf das äußere der Men-
schen gehet. Was die Englische Nation betrift, so zeigt
selbige in ihren Verrichtungen Sentiment, man hat im
Deutschen keinen Ausdruck, der den Sinn des Wortes
im Verstande, wie es hier genommen wird entspräche,
man könte es durch innre Empfindung übersezzen, allein
innre Empfindung zeigt wieder mehr als Sentiment an.
Es druckt eine gewiße Vollkommenheit aus, die für die Ver-
nunft gilt, derjenige also, welcher eine Vernünftige Ur-
theilskraft, welche das Vermögen ist Dinge zu wählen, nach
den Sinnen erwogen, die vernünftige Urtheilskraft hingegen
ist das Vermögen Dinge zu wählen, durch die Vernunft erwogen.
Man sagt von einem Menschen er sey sehr vernünftig, wenn

/ er

|P_236

/er durch eine willkührliche Anwendung der Vernunft den
Werth und Unwerth der Dinge unterscheiden kann. Wenn aber
Menschen die nicht studirt haben, ganz unpraemeditirte Vernunft
in ihren Reden äußern: so gefällt solches noch mehr. Wenn
ZE jemand einen andern aus Noth geholffen, lezterer ihm
hernach solches wiedergeben will, er aber sagt: ich hatte schon
da ich Ihnen das Geld gab, im Sinn es Ihnen zu schenken, ich muß
also das Versprechen, welches ich mir selbst gethan, halten p.
Es hat mit dem Sentiment auch noch ferner die Bewandt-
niß, daß wer solches hat, mit der Erkenntniß des Guten %und
Bösen «nicht für das Gefühl» noch eine Art von Gefühl deßelben
beweiset. Es gehöret eigentlich das Gute und Böse nicht für
das Gefühl, wie wir schon wißen, sondern für den Verstand.
So schäzt ein jeder die Tugend, auch der allerlasterhafteste,
aber sie vergnügt nicht. Ein MenschenFreund kann für
seine Person einem andern ganz gleichgültig seyn, obwohl
objective die Menschenfreundlichkeit an ihm geschäzt
wird, aber als denn hat der andre kein Gefühl und kein
Sentiment. Es giebt viele Lehrer, die die Tugend unab-
läßig lehren, aber selbst in Ansehung derselben gantz
gleichgültig sind, diese sind den Wegweisern nicht unähnlich
die zwar immer den Weg zeigen, sich aber niemahls von der

/ Stelle

|P_237

/Stelle bewegen. Es entstehet hier aber die Frage: was
denn bey uns das sogenannte Gefühl der Lust %und des Abscheues
hervorbringen kann? Der Grund hievon ist schwer einzusehen,
indeßen ist so viel gewiß, daß es keine geistige Regung seyn
kann, weil es eine Contradictio in adjecto wäre, sich bey einem
Menschen eine geistige Regung zu dencken %und alles Wohlgefallen
beym Menschen kommt von Körper her. Wir kommen jezt wider
auf die Englische Nation zurück, sie hat gar keinen Geschmack,
aber doch etwas, was dem Geschmack sehr ähnlich ist oder sehr
nahe kommt, man könnte es ein Analogon von Sentiment nennen.
Man bewundert billig die Richtigkeit und Vollkommenheit in
den Arbeiten der Engländer, die die Gegenstände der Sinne
betreffen, - bey einem Gegenstande der Sinne ist die Bonitas
%und Pulchritudo so nahe verwandt, daß man sie kaum unter-
scheiden kann - der Richtigkeit halber, der man sich in
England befleißiget, ließ die Französische Regierung auch
alle ihre astronomischen Instrumente daselbst verfertigen,
ob nun gleich die Richtigkeit in den Werken der Engländer
das größte Lob verdient, so fehlt es doch derselben
an einem wahren gout. Es ist indeßen nicht zu läugnen,
daß das was richtig ist, auch einigermaßen schön sey, weil
die Vollkommenheit %und Schönheit stark an einander gräntzen.

/ Was

|P_238

/Was die Schriften anbetrift, so ist die HauptAbsicht
der Franzosen in denselben die Verschönerung, so daß
sie außer der Mathematik, in allen Wißenschaften
ihren Witz spielen laßen, ja so gar die Metaphysik
halten sie für einen fruchtbaren Boden, für die Blumen
des Witzes; sie gehen in ihrem Tändeln so weit, daß
jezt schon alle Gründlichkeit bey Ihnen wegfällt, %und
daß man außer Mathematik und Physik aus allen
ihren Wißenschaften nicht den geringsten Nutzen mehr
ziehen kann. Die Engländer zeigen in ihren Schriften keinen
Geschmack, aber doch eine Art von Sentiment %und Genie.
Das Genie ist von dem Geschmack noch sehr weit unter-
schieden, denn des Genie bringt Materialien her-
vor, der Geschmack aber disponiret und ordnet sie
so, daß sie in der Erscheinung gefallen, es ist hier aber
so ein Unterschied, als zwischen einer Taffel, wo zwar
alles mögliche Eßen vorhanden ist, wo aber einer die
Suppe, der andre den Braten, der Dritte den Kuchen
ißt, und wo alles ganz ungeordnet hingesezt ist,
daß man in einem Augenblick sich ein Bild von der ganzen
Taffel in seiner Seele machen kann, bey der leztern
herrscht Geschmack, bey der erstern nicht. Die größten

/ Auctores

|P_239

/Auctores der Engländer, als Young, Pope, Addison haben
etwas frappantes und hohes in ihren Schriften aber nichts
gefallendes, keinen Geschmack; Hume selbst einer ihrer
größten Auctoren gestehet von seiner Nation alles das,
was wir angeführt haben.

/Aus dem Geschmack der Nation kan man sehr leicht den
NationalCharacter beurtheilen; wenn der Geschmack
prächtig ist, so zeigt solches den Stoltz der Nation an, als
in SPanien. In Italien findet man den sogenanten edlen
Geschmack, in der Mahlerey, Baukunst, Musick p zeigt
sich derselbe besonders, ihre jezige beste Mahler, als Ra-
phael und Michael Angelo, zeigen in der Mahlerey einen
recht hohen Geschmack. Ohnerachtet des vorzüglichen Geschmaks
der bey den Franzosen herrscht, vermißt man die Empfin-
dung, man merkt solches auch am Umgange mit dem Frauen-
zimmer; sie sind ungemein artig, aber dabey ohne Empfin-
dung, auch ihre Gebäude zeigen es, wenn man selbst Ver-
sailles, ihr Meisterstück betrachtet, so findet man zwar
viel prächtiges, aber nichts frappantes, dagegen in
England die großen Parks, darin sie den Geschmack
der Chineser angenommen zu haben scheinen, frappiren
sehr. Bey uns sieht man nicht das geringste Beyspiel
von der Idee des Gartens, das kommt daher, weil man

/ diese

|P_240

/diese Sorge ganz einfältigen Leuten überläßt. Es
hat ein gewißer Autor den Geschmack der Chinesischen
Gärten beschrieben, man findet auch Nachrichten hievon
in der Bibliothek der schönen Wißenschaften. In Asien
ist keine Nation die Geschmack hat, außer der Persischen.
Die Perser sind die Franzosen in Asien, wo aber das
Tartarische Blut hingekommen, da hat es die Nation grob
und ohne Geschmack gemacht. Wie weit sind die Türken
von allen feinen Empfindungen entfernt, sie tanzen gar
nicht; nur ihre Frauen, ihre Musick ist biß zum melan-
cholischen schwerfällig. Sie thun nichts als Toback rauchen
und Coffee trincken %und wenn sie verstohlner Weise Wein
trincken, so schweifen sie sehr aus. Die Perser haben
einen weit feinern Geschmack, sie sind gute Dichter %und
dem Scherz ungemein ergeben, sie sind satyrisch im
Dichten und wizig. In Ansehung ihrer Religion aber
sind sie so leichtsinnig als die Franzosen, sie plau-
dern in ihren Moscheen, trincken auch Coffee im denselben
sagen auch wohl gar zu weilen zu ihrem Predigern:
ja, ja du hast gantz recht. Die Türken hingegen sind
von gantz unglaublicher Ernsthaftigkeit. Wir finden im
Haknon eine Passage, wo ein Türke erzählt, daß ein

/ Franz

|P_241

/Daß ein Franzose mit dem Teufel auf dem Wege zu-
sammengekommen, worauf sie Gesellschaft gemacht, und unter
sich eingegangen wären, daß einer den andern auf seinen
Achseln wechsels weise tragen solte, so lange als der getra-
gene würde singen können, hierauf hätte sich der Franzose
zuerst aufgesezt, und sein tralleri trallera gesungen.
Nun sagt der Türke, daß derjenige der sich mit dem Fran-
zosen im Singen einließe übel daran wäre.

/China scheint einen Privat Geschmack zu haben, solches
bemerkt man an ihren Gebäuden, die alle nur eine
Etage haben, aber doch sehr bequem gebaut sind. Wenn
man sich einmahl an ihren Geschmack gewöhnt hat, so
gefällt es einem recht gut unter ihnen. Was die
alten Nationen betrift, so verdienen die Grichen in
Ansehung ihres Sentiments, oder des sogenanten
edlern Geschmacks der ihnen eigen war vor allen den
Vorzug. Die Urheber aller Künste und Wißenschaften
sind die Indianer, von diesen kamen sie auf die Grichen,
die sie ausbildeten, ja die Grichen brachten sogar die
Musick in eine Art von Theorie. Pytagoras machte
den Anfang und entwarf lanones musices, nach ihm
Aristoxen von Tarent. Die Römer die die Schüler

/ der

|P_242

/Der Grichen waren, brachten es niemahls so weit, am
wenigsten in Werken des Geschmacks. Die Grichen haben
bey der Bildhauerkunst die Idee, die zum Grunde liegt,
beynahe getroffen, es ist aber auch wahr, das die mytho-
logische Religion viel zur Vollkommenheit der Bildhauer
kunst beyträgt, und überhaupt ist eine Religion, die von
das sinnliche klebt, den Künsten sehr förderlich. Bacchus
wurde in einer sehr schönen Gestalt praesentirt, nicht so
wie man heut zu Tage den Bachus mahlt. Sie hatten
3 Welt_Alter angenommen. 1. Die Zeiten des Saturnus,
die das güldene Zeitalter war. 2. Die Zeit des Jupiters,
da die Wuth und Gewaltthätigkeit im Schwange geht.
In dieser Zeit leben wir. 3. Die Zeiten des Bachus
da heißt es wären die Menschen fröhlich und guter
Dinge seyn. Ihre Bellona stellte die kriegerische
Wuth, Minerva die kriegerische Klugheit vor, den
Mars mahlten sie im Königlichen Ansehn, sehr reizend,
und nichts übertraff die Schönheit der Venus. Kurz alle
Statuen zeigen zeigen von ihrem freien Geschmack, %und
von dem Verstande der Mahler, die aus so vielen
Bildern, die ihnen die Phantasie vormahlte, diejenigen
Stücke zu richten wusten, die mit der Idee des Menschen

/ so

|P_243

/so vollkommen übereinstimmten«, d». Daß man es heut zu Tage in
der Mahlerey etwas weiter gebracht, dazu hat die Erfindung
der Perspective %und der Oehlfarben von der die Grichen nichts
wusten Anlaß gegeben. Man hat gewiße alte Gebäude,
als den Nordsen in England, und andre mehr, von denen
man sagt, daß sie im gothischen Geschmack gebaut wären,
man findet viel edles in dieser Bauart, und es ist daher
nicht einer so rohen Nation zuzuschreiben, daher auch einige
die Mohren für deßen Verfertiger halten. Die Schreibart
der Morgenländer ist nicht nachzuahmen, weil sie sehr bil-
derreich ist, denn diejenige welche viele Bilder brauchen,
zeigen wenig Verstand? so wie die, die mit den Händen,
viel fechten, nicht viel mit dem Munde zurecht kommen
können. Ein Bild welches einen Begriff anschauend macht
ist fürtreflich, als eine richtige Vergleichung Das Bild
aber muß nur als eine Folge der Idee anzusehen seyn.
Die Vernunft braucht die Sinnlichkeit, so wie die
großen Herren ihre Bediente, allein die Morgen-
länder sezen an die Stelle der Vernunft die Sinn-
lichkeit.

/ Noch

|P_244

/ ≥ Noch etwas von der vernünftigen
Urtheilskraft. ≤

/Diese beurtheilet ob etwas vollkommen oder unvollkommen
gut oder böse ist, das Urtheil dieser vernünftigen Urtheils
kraft muß vor allen gelten, daher man auch von den guten
und bösen Maximen die Principia der Beurtheilung a priori
geben kann. Um aber zu bestimmen was schön oder häßlich ist
müßen wir viele Erfahrungen haben d.h. wir müßen es
a posteriori herleiten. Wir kennen dasjenige was unsre
Sinnlichkeit in ein Spiel bringt, durch Erfahrung nur. Es ist
etwas vollkommen entweder in Beziehung auf einen andern
Zwek oder vor sich selbst, jenes macht die mittelbare Boni-
taet oder die Nüzlichkeit, dieses die unmittelbare bonitaet
aus. Es ist die Tugend im Ganzen betrachtet immer nüz-
licher als das Laster, denn ich bin versichert, daß wenn
ein jeder Mensch 100 Jahre leben möchte alle Schelme
zulezt an den Galgen und alle Tugendhafte zu Ehren
kämen, nun aber ihre LebensZeit kurz ist, so kommen sie
nicht an den rechten «Ort» Mann der den tugendhaften
belohnen und den lasterhaften zu stürzen suchen möchte.
Außer der Nüzlichkeit aber hat die Tugend einen
innern Werth oder eine unmittelbare bonitaet.
Es kann etwas nach logischen Regeln gut seyn was

/ wahr

|P_245

/wahr und deutlich ist, oder auch nach practischen Regeln
wenn es brauchbar ist, dieweil die Vernunft nichts desto-
weniger würket, ob wir uns gleich ihrer Thätigkeit nicht bewußt
seyn, so kommt es, daß wir durch den Verstand urtheilen %und
es anzuschauen gedencken. Wir haben auch ein Sentiment
der gesunden Vernunft, welches man am meisten am Voltaire
am meisten bewundern muß. Das Sentiment ist in Ansehung
des Guten das, was der gustus in Ansehung des Schönen ist.
Die Menschen befinden sich zuweilen im Stande, wo sie sich
keiner Empfindung bewußt sind, zuweilen aber sind
sie so unruhig, daß sie beständig wünschen, und doch keinen
Gegenstand ihrer Wünsche «S» haben. Einige Menschen sind capa-
bel den ganzen Tag am Fenster zu sehen die Leute vorbey
passiren, und eine Pfeiffe Toback zu rauchen. Diese
glauben recht ordentlich zu leben und wißen nicht, daß
das Leben gar nicht darin bestehet, daß man seinen
Körper die nöthigen NahrungsMittel reichet, dennoch
aber ist diese glückliche Gedanckenlosigkeit weit beßer,
als das man wünschet und selbst nicht weiß was man
wünschet, dies ist gemeinhin der Zustand der Reichen.
Man nennt diesen Zustand auch denjenigen der Vapeurs
und der üblen Laune. Ein Mensch der sich eine beständige

/ Ab- 

|P_246

/Abwechselung des Vergnügens oder an eine unermüdete
Geschäftigkeit gewöhnt hat, und auf einmahl in die Ein-
samkeit geräth, den quält nicht allein die lange Weile - 
die unter dem Nahmen der Vapeurs das Frauenzimmer
verzehrt - sondern auch die beständigen Wünsche ohne
Gegenstand. Der Mensch kann sich an alles gewöhnen, doch
hat er auch einen Hang zur Einförmigkeit oder auch zur
Abwechselung, daher auch einige, wenn sie zu Hause sind
und nicht Abwechselung haben, unruhig sind. Es zeigt aber
schon eine Kranckheit an, wenn der Mensch etwas wünscht,
und nicht weiß was, dies ist der grilligte Zustand,
oder die üble Laune die sehr gefährliche ist, daher
ein gewißer Autor sagt: die Engländer hingen
sich auf, bloß um sich «zu» die Zeit zu vertreiben.
Als Lord Molnau sich mit einer Pistole erschoßen, fand
man auf dem Tisch ein Billet, worin stand: alle Tage
spielen, schmausen, in Kutschen fahren, Maitressen
caressiren p ist dieselbe Abwechselung in der Welt,
man muß in eine andre Welt gehen %und Abwechselungen
suchen. Gewiß man hätte ihm diese Abwechselung nicht
verdacht, wenn er nur zurückgekommen wäre. Unsre

|P_247

/Unsre Fähigkeit zu genießen wird matt, wenn man gleich
das Vermögen hat, sich alles werden zu laßen, daher auch
bey Manchen Leuthen die ganze Zeit zwischen der Mittags
und AbendMahlzeit verlohren geht, das Gemüth wird in
der Fähigkeit zu genießen ganz stumpf. Eine solche Krank-
heit ist nun nicht anders zu heilen, als durch Geschäfte die
man mit Zwang thut, denn wenn dies Mittel nicht gebraucht
wird, so verliehrt der Mensch zulezt den Geschmack an
allen Vergnügen. Ein jeder Mensch hat diese Aussicht,
nemlich erst was zu lernen, um nur erst ein Amt zu
bekommen, hernach eine Frau zu nehmen und sich in Ruhe
zu begeben. Die Faulheit ist also die lezte Aussicht, die
ein Mensch intendirt. Ein Mensch der sich selbst, eine Arbeit
auferlegt, %und arbeitet so viel als es ihm beliebt - denn
keiner wird sich mehr Arbeit auflegen, als er tragen
kann - arbeitet gar nicht, sondern seine Beschäfti-
gung ist nur eine Occupation. Es muß ein jeder Mensch
zur Arbeit gezwungen seyn, folglich muß seine Bemühung,
eine beschwerliche Bemühung seyn, auf diese beschwer-
liche Bemühung folgt eine Ruhe des Gemüths, daher
ein Kauffmann am Posttage, wenn er Vormittags

/ ar- 

|P_248

/arbeitet, Nachmittags gerne in lustige Gesellschaften
geht, weil er alsdenn am aller vergnügtesten ist. Denn
da wir durch die Arbeit unsere Gefäße von Nerven-
saft ausleeren: so werden selbige bey unsrer Ruhe
wieder gefüllt, welches das Vergnügen hervorbringt.
Ein Mensch der schon gar keinen Herren hat, hat schon
einen großen Mangel. Der launigte Zustand, von dem
wir oben geredet ist voll Sehnsucht, es giebt nun aber
müßige Begierden und Wünsche %und auch thätige Begierden.
Die thätigen Begierden gehen auf dasjenige was in
meiner Macht ist zu erlangen. Es ist aber für den Menschen
nichts unanständiger, als sich mit müßigen Begierden zu
beschäftigen. Diese müßigen Begierden werden
gereizt.

/1.) Durch ein vorgemahltes Idealisches Glück, welches
in den Romanen geschiehet, die das Gemüth zu leeren
Wünschen disponiren. Mit einer solchen Idealischen
Welt kann man sich nur eine Zeit vergnügen.

/2.) Durch die Beschäftigung mit einem wahren Ideal,
solches siehet man von denjenigen, die nichts als von
Tugend und Vollkommenheit reden und schreiben, aber

/ nie- 

|P_249

/niemahls bemerkt haben, wie groß der Grund der
Tugend sey, deßen ein Mensch fähig ist. "Hierin hat
Gellert gefehlet, er blähet das Herz gleichsam mit mora-
lischem Winde auf. Er redet von nichts anders, als von
Wohlgewogenheit, Menschenliebe, Mitleiden und von
einer aufsteigenden Thräne, bey Erblickung eines Noth-
leidenden, niemahls aber bemerkt er, ob seine Forde-
rung auch dem Menschlichen Vermögen angemeßen ist."
Man seze aber einen solchen Menschen in die Welt, der
von allem unterrichtet ist, so wird man zwar
finden, daß er an die Bewunderung eines solchen Cha-
racters gebunden, allein er haesitirt, wenn es zur
Ausübung kommt. Solche Menschen sagen gemeiniglich, O!
wenn ich so viel Geld hätte, wie gerne wolte ich es
mit den Armen theilen, mit welchem Vergnügen würde
ich den Elenden unterstüzen: kommt man aber zum
Vermögen, so heißt es: es wird mir niemand ver-
dencken, daß ich gemächlich leben will, ich muß Wagen
%und Pferde kaufen, und dann bleibt für Arme nichts
übrig. Erlangt er weitlauftige LandGüter; so
denkt er sich in den GrafenStand erhoben zu sehen,

/ und

|P_250

/und hier fordert es freylich die Ordnung, daß
man anständig leben muß; wo will da für die
Armen etwas übrig bleiben? Im Hamburgischen
Magazin findet man eine gute Aneckdote: es wären
nehmlich 2 Vertraute gewesen, die sich von dem nie-
drigsten Stande, biß zu den höchsten Stuffen empor ge-
schwungen; sie hätten aber beyde in allen ihren Lebens
Umständen geklagt, daß sie nicht mit genugsamen Glücks-
Gütern versehen wären, selbst als Räthe klagten sie
noch über die Unzulänglichkeit ihrer Einkünfte, keine
Ausflucht war ihnen übrig eine complette Bequem-
lichkeit zu bewirken, als Betrügerey und Ränksucht,
die sie auch würklich zufrieden stellte. Allein man
Allein man schlage nur verbothene und Gesezwiedrige
Wege ein: so wird Verrätherey nicht ferne seyn,
ihr Ausgang zeigt es; denn es wurde entdeckt %und
sie musten den Rest ihrer Jahre im Zuchthause zubringen
hier zeigte es sich, daß sie genug zu leben hatten.

/Die Menschen werden durch die müßigen Begierden oft
hintergangen ZE in Ansehung der Frömmigkeit, weil ein
Mensch überzeugt ist, daß es gez@iemend@ sey: Gott zu

/ ehren

|P_251

/ehren, so wünscht er inniglich, Gott herzlich ehren und fürch-
ten zu können, ja er äußert es wohl bisweilen mit Wor-
ten, die dem Anscheine nach, aus einem Ehrfurchtsvollen Herzen
fließen; nun bildet er sich ein, er fürchtet schon Gott, geht
also an seine anderweitigen Geschäfte, und glaubt schon genug
gethan zu haben. Hier ist aber kein beßerer Probirstein, als
das Leben eines solchen Menschen, wenn man darauf genug-
same Aufmerksamkeit hat, so wird uns sein Seelen_Zustand
bald sichtbar werden. Es ist beßer standhaft, zufrieden,
und hart zu seyn, als ein gar zu weichliches Herz zu
haben. Ich verlange nicht daß Leute mit mir Mittleiden
haben sollen, ich werde schon mein Elend allein zu tragen
suchen: will mir jemand seine Affection zeigen %und
helffen, so nehme ich es mit Freuden an; kann man,
so muß man helffen, ohne zu weinen; kann man nicht
helffen: so tritt für die Meynung der Stoiker ein: sey
nicht ein SPiel von des andern Empfindungen, sondern suche
deinen Freunden zu helffen, gehts nicht an, so kehre dich um
und sey hart.

/Wir wißen nunmehro, daß es müßige und thätige Be-
gierden im Menschen giebt. Diejenige Leute, die emsige Begierden

/ haben

|P_252

/haben, sind gemeinhin verdrüßlich: sie wünschen und
nichts ist ihren Wünschen gemäß. Da nun aber in der Welt
nicht alles unsern Wünschen entspricht, so ist es am besten
daß man seinen Willen nach dem Lauf der Dinge richte
und zu stimmen suche: Volentem facta durant, nolentem
trahunt. Der Lauff der Dinge wird durch unsern Willen
gehemmt, er raft uns mit, wenn wir uns gleich wieder-
sezzen wollen. Ein hartnäckiges Wollen zerreißt das
Herz mit leeren Begierden. Ein Mensch der aufgebracht
ist, und denn nachdem er zornig ist, nichts schaden kann,
ist allemal weit zorniger, als der, der seinen Zorn aus-
gießen kann. Die Desideria bey den Alten bedeuten eine
wunderbahre Sehnsucht nach Dingen, die schon geschehen:
nos omnes coepit desiderium defuncti. Ein Mensch kann
begehren %und doch zufrieden seyn, wenn er seine Begierden
nur für entbehrlich hält. Wir können unsere Begierden
in sinnliche und niedere, und in intellectuelle %und obere
Begierden eintheilen. Die sinnlichen entspringen aus
der Vorstellung des Angenehmen und Schönen; die intel-
lectuellen aus der Vorstellung des Guten und Bösen.
Die sinnlichen entspringen also aus der Art, wie man

/ affic

|P_253

/afficirt wird und heißen: Trieb oder Hang ist ein Grund,
woraus eine Neigung beym Menschen entspringt. Die Begierde
nach einem Gegenstande heißt, Neigung: die Begierde nach einem
noch unbekandten Gegenstande ist, instinct. Der Mensch hat oft
einen Hang zu etwas wozu er noch keine Neigung hat: so hat
manche wilde Nation einen Hang zum Sauffen, der den aller-
erst zur Neigung wird, wenn sie ein starckes Getränck kennen-
lernt. Das Weib eines Wilden, welches doch niemals ans
herrschen gedencken darf, hat doch einen Hang dazu.
Bey Kindern ist oft ein Hang zum Bösen, wenn sie noch keine
Neigung dazu kennen. Solche Kinder kann man unschuldig
nennen in Ansehung des facti aber nicht in Ansehung
eines Characters. Diesen Hang rechnet man mit zum
Temperament: man kann ihn bey frühen Jahren zurück-
halten %und ihn auf die Gegenstände lencken. Der Instinct
ist also eine sinnliche Begierde nach einem Gegenstande
den man selbst nicht kennet. So hungert einen Menschen
wenn er gleich niemahls eßen gesehen hätte; eine gleiche
Bewandtniß hat es mit der Geschlechter Neigung. Die
Neigung ist ein dauerhafter Antrieb, in Ansehung eines
Gegenstandes, den er kennet. Ein Antrieb ist also keine Neigung,

/ sondern

|P_254

/sondern dadurch, daß man diesem Antriebe öfters folgt,
bekommt allererst einen habitus, %und so entsteht erst eine
Neigung. Die Neigung kann einem jeden Menschen jeder-
zeit reprochirt werden: allein kein Antrieb, denn zur
Neigung ist man durch öftere Befriedigung des Antriebs
gekommen, da man doch nur nach Grundsätzen handeln
sollte. Einige Menschen faßen sehr geschwinde zu etwas
eine Neigung, allein ebendieselbe bekommen auch zu bald
eine Abneigung davon, und in der That kann es nicht
anders seyn, denn ein Baum, der lange Zeit «wären»
dauren soll, muß lange wachsen. Ein Trieb ist nicht zu
verwerffen, es ist gleichsam ein Winck der Natur,
dadurch sie den Menschen zu etwas einladet, denjenigen
bey dem kein Ding einen Trieb verursacht, nennet man un-
empfindlich: so sagt man, daß alle Indianer in Nord_America
und die Neger unempfindlich wären. Es ist wahr, man
schäzt einen Menschen, der nach Grundsäzen handelt, han-
delt er aber nie aus Neigung: so wird man übel mit ihm
zufrieden seyn. ZE Wie würde sich eine Frau gebehrden
wenn sie wüste, daß der Mann ihr bloß darum beywohnte,
um den Stand der Ehe zu erfüllen, aber nicht aus Neigung.
Indeßen ist es doch durch die Erfahrung bestättigt,

/ daß

|P_255

/daß die Ehen, da Jemand bloß wegen einer regelmäßigen
Wirthschaft eine Frau genommen, weit dauerhafter sind,
als alle enthusiastische Ehen: denn ein solcher Mann erzeigt
seiner Frau die gebührende Ehre und Hochachtung, %und in der
Länge der Zeit findet sich auch Neigung ein.

/Wir handeln noch etwas von dem Begehrungs_Vermögen ab. Es
ist oben schon gesagt, daß der Hang, der Trieb, die Neigung
und der Affeckt ganz unterschieden sind. Man kann
eigentlich nicht sagen, der Mensch hat eine Neigung zu
allem Bösen, sondern er hat einen Hang dazu. Wie
wenig Ursache hat also ein Mensch sich über einen andern
zu erheben: daß einer zum Galgen geführet wird, der
andre die höchste Ehrenstuffe erreicht, kommt vielleicht bloß
von der Erziehung her, indem er erste Gelegenheit gehabt
seinen Hang zum Bösen in Ausübung zu bringen: beym
leztern aber dieser Hang erstickt worden oder anders
gelenckt. Denn der erste Hang des Menschen ist jeder-
zeit thierisch. Der Hang ist eine hypothetische Möglichkeit
zur Begierde, denn man hat zu demselben noch keine
Empfindung. Der Trieb - stimulus - ist der Grund des
Ursprungs einer sinnlichen Begierde, durch den Trieb
wird der Mensch zur Begierde gereizt, aber man begehrt
noch nichts. Die Triebe sind beym Menschen wegen Mangel

/ der

|P_256

/der Vernunft oft nöthig; aber die Natur giebt uns
die Triebe, wo die Vernunft vielleicht zu schwach ist den
Menschen zu überreden. ZE bey der Geschlechter Neigung:
wenn hier die Menschen keine Triebe hätten, wie wenig
würde die Welt bevölckert seyn. Alle Triebe zusammen
genommen machen das Fleisch, die Bewegungs_Gründe
der Vernunft aber den Geist aus. Diese wiederstreiten
einander sehr oft, da nun aber alle Triebe blind sind - 
denn die Triebe urtheilen nicht - so müßen sie von
der Vernunft im Zaum gehalten werden. Die Natur hat uns
Triebe zur Fortpflanzung unsers Geschlechts gegeben,
eben so den Eltern für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen
aber nicht umgekehrt, den Kindern für ihre Eltern zu
sorgen, aber Triebe der Danckbarkeit; wenn es aber
die Kinder thun, so ist es bloß eine Sache der Reflexion
von Seiten der Kinder. GroßEltern lieben ihre Enkel
noch weit mehr als ihre rechte Kinder, die Ursache, die
Helvetius hier anführt, ist etwas hart, er sagt
nehmlich; sie lieben sie daher, weil sie die Feinde ihrer
Kinder sind, weil sie nehmlich ebenso auf den Tod ihrer
Eltern warten, als die rechten Kinder auf den Tod ihrer
GroßEltern warten, allein so böse darf man die Sache nicht

/ aus

|P_257

/auslegen. Die Neigung ist eine Begierde zu etwas, in so ferne
diese eine Bedürfniß des Menschen aus macht. Eine Bedürfniß
aber ist ein Verlangen nach etwas, deßen Abwesenheit uns un-
zufrieden macht. Wenn man aber etwas in der Form des
Entbehrlichen begehret; so ist dieses keine Neigung, denn durch
eine Neigung wird man gefeßelt; es ist daher rathsam,
daß kein Philosoph oder ein anderer Mensch, sich durch Neigung
an eine Sache hänge, sondern lediglich durch BewegungsGründe.
Es kann eigentlich keine Neigung auf etwas Gutes gehen,
obgleich unsre Neigung auf etwas gerichtet seyn kann, das
gut ist, so ist sie doch niemals auf die bonitaet gerichtet.
Nur allein die Vernunft kann die Gründe enthalten, wo-
durch wir zu etwas Gutem gewogen werden. Zum
Guten müßen wir vernünftige Maximen haben,
es ist aber oft zuträglich, daß wir uns das Gute in
einem sinnlich - vortheilhaften Lichte vorstellen und
auch zugleich die Neigung excitiren, weil wir nicht blos
Vernunft, sondern auch Neigungen haben, die befriedigt
werden wollen. Die Neigung - appetitio bruta - ist
blind, wenn mit derselben keine Erkenntniß des Verstandes
verbunden ist. Es kann aber der Mensch nicht allein ohne
sondern auch wieder die Neigung handeln, jeder Mensch

/ reflectirt

|P_258

/reflectirt zuweilen über seine Neigungen und wünscht
andre zu haben. Wir sehen also, daß sie kein Fundament
des BegehrungsVermögens ausmachen, obwohl sie es vom
thierischen sind. Man soll eigentlich ein Kind so gewöhnen,
daß es gar keine Neigungen habe, weder zum Frühstück
eßen noch zum frühen Schlafengehen, noch zu sonst etwas,
damit es im Alter gar nicht durch Neigung regieret werde,
denn alle Neigungen unterjochen den Menschen und schrän-
cken die Macht der vernünftigen BewegungsGründe ein,
und in der That macht nicht der Mangel der Sachen,
sondern die Neigung zu etwas, deßen man nicht hab-
haft werden kann, den Menschen unzufrieden.

/Eine jede Begierde, die so groß ist, daß sie uns
unvermögend macht, die Summe aller Neigungen zu
befriedigen ist ein Affekt, denn beym Wohlbe-
finden kommt es darauf an, daß man einen Gegenstand
mit der Summe aller seiner Neigungen vergleiche,
beym Affekt aber folgt man bloß einer Neigung.
Ein Mensch kann lieben ohne verlieb zu seyn, diese
Liebe ob sie gleich kaltblütig zu seyn scheint, ist
gemeinhin die dauerhafteste, eine solche Liebe er-
laubt dem Menschen Überlegungen anzustellen,

/ ob

|P_259

/ob nehmlich ihre Befriedigung, nemlich dieser alleinigen
Neigung, mit der Summe aller Neigungen überein-
stimme. Man kann lieben, aber auch zugleich überlegen
ob die Person die Meine Neigung zum Vorwurff hat,
Geld habe, aus guter Familie abstamme, ob sie eine
gute Wirthin, eine vernünftige Mutter, gefällig
oder herrschsüchtig p seyn werde. Es giebt auch eine
Rachbegierde von dieser Art, da der Mensch noch Zeit
zur Uberlegung hat, ob es auch in seiner Gewalt stehe,
dem andern seinen Zorn empfinden zu laßen, oder
ob er auch selbst Gefahr lauffe unterzuliegen, und
und seinem Feinde Gelegenheit zum triumphiren
zu geben. Daß aber ein Verliebter ein Thor sey,
das liegt schon in terminis, denn eben dadurch,
daß er alle seine Vortheile für nichts achtet, und
sie gerne verliehret, wenn er seine Schöne nur
heyrathen kann, und daß er alle ungereimte
Befehle seiner Geliebten, bloß um ihr zu ge-
fallen, ausübet, eben dadurch zeigt er, daß er
ein Thor, ja blind sey, denn blind oder«m» im Af-
fekt seyn, ist einerley. Man nennt den Affeckt

/ im

|P_260

/im Deutschen Leidenschaft, weil ein solcher Mensch
leidet, daß er hingerißen werde. Der Affekt wieder-
streitet der Klugheit. Wir können hier eine schöne
Gradation merken, nemlich

/1.) Eine jede Neigung wiederstreitet der Sittlichkeit.

/2.) Der Affeckt wiederstreitet nicht nur der Sitt-
lichkeit, sondern auch der Klugheit.

/3.) Ein blinder Affeckt wiederstreitet nicht nur der
Sittlichkeit und der Klugheit sondern auch der
Geschicklichkeit. - Um dieses zu beweisen
ist folgendes zu mercken.

/ad. 1. Die Moralität bestehet darinnen; daß man
bey allen Vorschriften der Sittlichkeit, seine Hand-
lungen doch nach den Bewegungs_Gründen der
Vernunft dirigire; der aber nach Neigungen
handelt, giebt nicht den Bewegungs_Gründen
der Vernunft sondern der Sinnlichkeit Gehör,
also wiederstreitet die Neigung der Sinnlichkeit.
Die Areopagitae in Grichenland mußten
bloß darum im Duncklen richten, damit sie nicht
aus Neigung gegen eine schöne Person

/ ver

|P_261

/verleitet würden, das Recht zu beugen. Nur allein
die Neigungen machen arm, sie sind gleichsam
viele Mäuler die alle gefüllt seyn wollen,
sie sind Schreyhälse, die dem Menschen gleichsam
keine Ruhe laßen; daher der Mensch der größte
Thor ist, der sich mit Bedürfnißen beladet.

/ad 2.) Die Fähigkeit die besten Mittel zu Glückseeligkeit
zu wählen ist die Klugheit. Die Glückseeligkeit
bestehet in der Befriedigung aller Neigungen, und
also sie wählen zu können, muß man frey seyn.
Es ist der Klugheit alles zuwieder, was blind macht,
der Affekt macht blind, also ist er der Klugheit
zuwieder.

/ad 3.) Der blinde Affeckt ist diejenige Stärke des sinn-
lichen Triebes, daß er den Verstand hindert,
selbst auf die Befriedigung des einigen Triebes,
der ihn blind macht, zu dencken. Es kann der
starke Trieb selbst sein eigenes Theil nicht erreichen,
so weiß man, daß ein heftiger Zorn stumpf
wird, wer recht zürnet, weiß selbst nicht, was
er denn Beleidiger für empfindliche Worte sagen
soll. Ein blinder Affeckt verstummet; so ists

/ mit

|P_262

/mit einem heftigen Verliebten, der weiß nichts
wodurch er sich insinuiren könnte, zu sagen; dagegen
derjenige der am wenigsten empfindet, am
gesprächigsten ist. Da nun die Geschicklichkeit
in der Kunst bestehet, Mittel zu allen möglichen
Endzwecken ausfindig zu machen, ein solcher
Mensch aber, der in einen blinden Affeckt
geräth, nicht einmahl ein Mittel zu einem
einzigen Zweck ausfindig zu machen weiß:
so wiederstreitet der blinde Affeckt der
Sinnlichkeit oder dem Geschicke. Einige englische
Schriftsteller machen einen Unterschied zwischen
einem Affeckt und einer Paßion. Sie sagen:
der Affeckt sey eine so starke Regung des
Gefühls, daß man sich nicht der Summe aller
Neigungen bewußt seyn kann; Paßion aber
sey eine so starke Begierde, daß man sich
nicht der Summe aller Begierden bewußt
seyn kann.

/ Vom

|P_263

/ ≥ Vom Affeckt. ≤

/Alle bodenlose Lustigkeit macht uns unfähig, auf
andre Quellen des Vergnügens zu dencken. Ein dauer
haftes Vergnügen des Menschen bestehet nur darin, daß
man das Vergnügen durch alle Organen empfindet.

/Das Gemüth muß zu allem Vergnügen offen seyn, da-
gegen die Befriedigung einer Neigung, jederzeit Unruh
und Verdrüßlichkeit nach sich ziehet. Das gefühlvolle
Gemüth in Ruhe ist das größte Vergnügen. Es ist nichts
absurder, als eine Taffel Musick, man hat ja weit feinere
Arten des Vergnügens bey der Taffel, die Musick aber
füllt nur den leeren Raum der Gedankenlosigkeit aus,
und kann etwas zur Verdauung beytragen. Beym
Affekt opfert man allemahl etwas von seinem
Zustande auf, bey der Paßion, oder einer heftigen
Begierde opfert man etwas von seiner Thätigkeit
auf. Man nennt einen Menschen der einer Leiden-
schaft ergeben, auch einen Sklaven der Leidenschaften,
weil er dieser Leidenschaft dienet. Ob es nun aber
gleich für einen vernünftigen Menschen unanständig ist,

/ sich

|P_264

/sich dem Affekt zu überlaßen: so sind doch einige
Leidenschaften so beschaffen, daß sie ein andrer billiget,
weil man mit denselben sympathisiret. Es gerathen
öfters Menschen bloß darum in keinen Affeckt weil
sie stupid und ohne Empfindung sind, besonders pflegt man
mit dem Zorn sympathisiren zu können, wenn man
über eine Beleidigung zurück ist, weil die Beleidigung eine
allgemeine Sache ist. Wenn Iemand bestohlen wird: so
findet dieses nicht so leicht statt, weil der Dieb der Per-
son öfters nichts Leides thun will, wenn er nur Geld
bekommen kann. Wenn aber Iemand beleidigt ist, so sagt
jedermann, mit dem Chremes im Terenz: Homo sum
et nihil humani a me alienum esse puto. Brutus der
den Caesar ermordet hatte, sahe den todten Körper
vor der Thüre des Sylla liegen, %und frug; ist denn
keiner, der dieses rächt? und da man ihm mit Nein
antwortete: so sagte er; dann reichet mir den
Degen. Er konte die Beleidigung des Volckes nicht
ertragen.

/Wir billigen auch Leidenschaften.

/ 1.)

|P_265

/1.) Wenn sie uns vortheilhaft sind.

/2.) Weil kein genugsamer δLäsion Ernst da zu seyn scheint, wo
keine Leidenschaft ist, freylich ist der Affect wohl
der beste Beweiß von dem Ernst, allein darum zeigt
der Mangel des Affects noch nicht den Mangel des Ernstes
an. Im Gegentheil ist der überlegte Ernst von weit
größerer Dauer. Es ist nicht gut, wenn man sein Glück
auf einmahl so hoch treibt, daß man es nicht mehr steigern
kann, denn wenn wir einmahl von einer Sache recht stark
gerührt sind: so misfällt uns hernach die Mittlere
Rührung. Derohalben thut man dem, den man mit den
größten Lobsprüchen überhäuft, eben keinen Gefallen,
denn verdient er sie hernach nicht ganz complett, so
misfällt er schon, weil man ihm sonst für einen recht-
schaffenen und geschickten Mann gehalten. Alles
unser Wohlgefallen, wenn es in Abnahme geräth,
zeigt uns schon den sich herannahenden Verdruß, daher
müßen wir es niemals zum Abnehmen kommen laßen.
Es glaubt oft ein Mensch betrogen zu seyn, %und betrügt
sich selbst. Wenn Iemand in seiner frühesten Iugend,
aus seinem Vaterlande gereiset, und in seinem Alter

/ wieder- 

|P_266

/wiederkommt, so glaubt er gemeinhin, daß sich
in der Zeit alles geändert habe, allein er hat sich
selbst verändert, wie kann er jezt das Vergnügen
empfinden, welches er damals empfand, als er
Ball spielte. Beym Heyrathen ist der Mann doch
mehrentheils etwas besorgter als die Frau. Der
Grund hievon ist: die Frau gewinnt dadurch ihre
Freyheit, der Mann aber verliehrt etwas davon.
Ein so genanter frommer Affeckt ist immer
ärger, als alle andre, denn je %erhabener der Zweck
ist, um den man eifert, desto größer ist der Zorn,
denn der Zorn bekommt hier eine Art von Beschönigung.
Daß aber die Natur Leidenschaften in unsre Seele
gelegt hat, kommt daher, weil sie allemahl die Rüh-
rung der Sinnlichkeit, jedoch können wir unsre Leiden-
schaften hierdurch nicht rechtfertigen, denn dazu
haben wir die Vernunft, daß wir dieselbe im Zaum
halten sollen. Die Natur hat uns nur provisorie
den Affeckt gegeben, weil man oft nur sehr
spät zum Gebrauch seiner Vernunft kommt. So

/ wie

|P_267

/So wie man aber einem Kinde einen Hoffmeister
giebt, nicht daß es solchen zeitlebens behalte, sondern
nur so lange seiner Führung anvertrauet bleibt, biß
es zur Ueberlegung kommt: so hat auch die Natur
gewollt, daß wir nur so lange dem Affekt folgen
sollten, biß wir durch die Vernunft geleitet werden
könten. Es ist aber doch sonderbar, daß beym Affekt
das Theil größer ist als das Ganze, weil beym Affekt
der Theil der Bedürfniße würklich die Summe aller
Bedürfniße überwiegt. Alle Neigungen können
zu Affeckten werden, aber die Neigung selbst,
wenn sie gleich sehr stark ist, behält doch noch immer
eine Klarheit, die im Affekt vermißt wird. Es
giebt thätige Affeckten, die mit der Unternehmung
der Handlung verbunden sind, denen die müßigen
entgegengesezt werden. Man solte dencken daß
die Chineser und andre OstIndische Nationen
gar keine Affekte hätten, weil sie sehr zurück-
haltend in ihren Affeckt sind, denn wenn ein Euro-
päer etwa von ihnen Seide kauft, und sie den
Untertheil des Faßes mit etwas andern gefüllt

/ worauf

|P_268

/worauf die Seide gestoppelt ist, ihre Betrügerey
aber vom Europäer entdeckt wird: so fällt ein jeder
auf die Vermuthung, daß der ganze Zorn des Käuffers
darüber entbrennen und in die violendtste Aus-
drücke ausbrechen wird, was aber erwartet man
von dem Chineser darauf für eine Antwort: Nun
warum seyd ihr so böse, euer Mäckler sagte mir
daß ihr die Seide nicht besehen würdet. Obgleich die
Chineser die Europaeer hierinn zu übertreffen
scheinen, so haben sie doch ebenfals dieselben Affekte,
nur sie sind aus Furcht und damit sie sich mit mehre-
rer Uberlegung aus der Sache ziehen können,
sehr zurückhaltend.

/Wir können alle Neigungen aus 2 Gesichts-
Punckten betrachten.

/1.) In so ferne sie die allgemeine Bedingung
aller Neigungen sind, und dies könnte man
die Neigung in abstracto nennen.

/2.) In so fern die Objecte der Neigung eingetheilt
sind. - Die allgemeine Bedingung aller

/ Neigungen

|P_269

/Neigungen ist Freyheit und Vermögen. Die Frey-
heit bedeutet eben den Zustand in welchem man seinen
Neigungen gemäß handeln kann, daher auch die Men-
schen eine erstaunende Neigung zur Freyheit haben,
bloß darum, weil sie die einzige Bedingung ist, unter
der wir unsre Neigungen befriedigen können. Es ist
daher sehr lächerlich wenn ein Guths Herr seinen
Erbunterthanen nach seiner Weise behandelt, und
sie nach seiner Idee von Glückseeligkeit zu leben
zwingt, dabey aber zur Raison angiebt: solche
Leute wißen nicht was Ihnen dient. Es ist die-
ses in der That der schrecklichste Zustand für die
Erbunterthanen, denn man ist nur glücklich wenn
man seinen Neigungen gemäß leben kann.

/Indeßen ist die Freyheit doch nur eine nega-
tive Bedingung, unter welcher der Mensch
seine Neigungen befriedigen kann. Es
muß zu dieser Freyheit noch das Vermögen
kommen; denn man laße einen Erbunterthanen
lauffen, und gebe ihm die Freyheit, wenn er
kein Geld, kein Ansehn und keine Fürsprache hat, so

/ wird

|P_270

/wird demohnerachtet ihn nichts an der Befriedi-
gung seiner Neigungen hindern, allein befriedigen
wird er sie nicht können. Das Vermögen ist die kraft
wodurch man etwas, welches unsrer Willkühr gemäß
ist, zu Stande bringen kann. Es gehören zum Vermögen
eigentlich 3 Stücke, nehmlich

/1. Ansehen.

/2. Natürliche Kräfte, Talente %und «¿»Geschicklichkeit.

/3. Geld. welches das Vermögen genandt wird, weil
es das Mittel ist, sich alles zu verschaffen, was
nur durch Menschliche Bemühungen möglich ist. Ieder
wer Geld hat, kann sich wohl gar Verstand anschaffen,
denn ein guter Vorrath von Büchern ist die Ersezung
des Verstandes. Man hat bemerkt, daß die Stärcke
der andern zu überwältigen, mit ein Gegenstand
der Menschlichen Neigungen sey, ja bey allen
rohen Nationen ist die Tapferkeit die größte
Tugend, unter gesitteten Nationen sind die Dis-
putationen bey Gelehrten eingeführet, die in
der That ein wahres Hahnen Gefechte abgeben.
Bilefeldt erzählt in seinen Briefen eine sehr
lustige Geschichte, die sich auf einem Coffée Hause

/ zuge

|P_271

/zugetragen. Es hatte nemlich ein bescheidner Mann
ein Urtheil worüber gefällt, ein andrer wiedersezte
sich ihm, und bemühte sich eine Stunde lang, ihn durch tausen-
derley Gründe zu wiederlegen, sogar daß ersterer
gantz stillschweigen müßen, hierauf wandte sich lezterer
zu einem Engländer hin, der in einem Winckel saß, und
ruhig seine Pfeiffe Toback rauchte, und fragte ihm: ob
er jenen nicht gut abgefertiget? Der Engländer ant-
wortete ihm hierauf: O ja recht sehr gut, wenn ich
mit den Philistern in Streit gerathen sollte, würde
ich mir euren Kinnbacken ausbitten. Man kann zum
Vermögen auch Dreistigkeit rechnen, denn sie macht
den Menschen fähig etwas zu unternehmen, was
ein andrer unterlaßen muß. Diese Dreistigkeit
kann man nicht erlernen; der Mangel der Dreistig-
keit schränckt unser Vermögen ein, und macht uns
schwach. Dreiste Menschen haben gemeiniglich keinen
Muth, sondern wie Homer sagt: das Gesicht eines
Hundes und das Herz eines Hirsches. Solche Men-
schen die schon durch ihr Gesicht eine Dreistigkeit
anzeigen sind unleidlich, wenn aber das Gesicht eben

/ keine

|P_272

/keine Dreistigkeit verräth, der Mensch aber doch
Dreistigkeit hat, so kann es einem solchen Menschen
sehr vortheilhaft seyn. Das Vermögen, sich glücklich zu
machen, ist ein unmittelbarer Gegenstand unsrer
Neigungen. Geschicklichkeiten sind nur Fähigkeiten
einen vorgelegten Zweck auszuführen und diese
Geschicklichkeiten werden öfters höher geschäzt als
alle Endzwecke. So ist die Tapferkeit ein Mittel
den Menschen sicher zu machen; allein sie gefällt
uns auch unmittelbar. Die Ehre vermehrt auch unser
Vermögen, weil wir dadurch mit vielen Menschen
bekandt werden, und unser zeitliches Glück hängt
größtentheils von der Gunst und dem Ansehen unter
Menschen ab. Es ist sonderbar daß sich der Geizige
ungemein hizig bezeigt Mittel zu erwerben.
In Ansehung der Zwecke aber ist er ganz gleichgül-
tig, denn er sucht nur Geld zusammen zu scharren,
wenn es auch mit Unrecht geschehen sollte, auf
die Anwendung deßelben aber, denkt er gar nicht.
Die Erklärung der Möglichkeit von dieser Ungereimt- 

/ heit

|P_273

/heit, liegt darin, daß bloß das Vermögen schon ein
idealisches Vermögen ausmacht, denn ausgegeben Geld
hat nur einen einzigen Nuzen, der in der gekauften
Sache liegt. Allein das Geld hat einen allgemeinen Ge-
brauch, wie wohl diese Allgemeinheit so betrachtet werden
muß, daß man sich zwar für das Geld alles verschaf-
fen kann, aber nicht alles zusammen, sondern nur eins
von allen. Durch diese Allgemeinheit bekommt das liegende
Geld, schon einen Vorzug vor dem ausgegebenen.

/Man könnte zu der allgemeinen Neigung auch die Nei-
gung zur Gemächlichkeit nehmen. Die größte Unge-
mächlichkeit ist wohl der Zwang; man kann aber frey
und doch ungemächlich leben ZE. die Wilden; aber die
Freyheit versüßt alles. Indeßen haben doch auch alle
Wilden einen ewigen Hang zur Gemächlichkeit.
Schwere Dinge werden uns deshalb unangenehm,
weil sie der Gemächlichkeit wiederstreiten:
indeßen giebt es doch Personen die ein desto grös-
seres Vergnügen empfinden, je größere Schwie-
rigkeiten sie zu überwinden haben. Aber man kann
gewiß dencken, daß solche Leute in andern Fällen

/ wie

|P_274

/wiederum ihre Gemächlichkeit suchen. Es misfallen
uns bisweilen Werke der Kunst bloß darum,
weil aus ihnen Aenglichkeit hervorleuchtet; so
mißfällt eine Rede, wo man merken kann, daß
die Ausdrücke mit großer Mühe herbeygeholet
werden.

/Wir gehen zu den verschiedenen Objecten unsrer
Neigungen und Leidenschaften. Unser Auctor
theilt die Leidenschaften nach unsrer Empfindsam-
keit in Schmerz und Vergnügen ein. Es giebt aber
eigentlich nur angenehme und unangenehme *1 Leiden-
schaften, denn Leidenschaften sind heftige Begierden,
wir sind thätig und können hiebey weder angenehm
noch unangenehm afficirt werden. Ein jeder ange-
nehmer Affekt ist Freude, und ein jeder unange-
nehme Affekt ist Traurigkeit. Einer aber
der ruhig ist, ist in keinem Affeckt, auch der-
jenige nicht, welcher fröhlig ist, denn die Fröhligkeit
ist bloß das Vermögen alle Vorfälle unsers Lebens
aus dem Gesichts_Punckte zu betrachten, der uns
auf irgend eine Art an dem unangenehmen Vorfall

/ Vergnüg

/~δRand_274

/*2 Affeckten;
bey den Affeckten
wird unser Zu
stand afficirt %und
wir sind passiv:
daher hat Affekt
seinen Nahmen,
nicht aber ange-
nehme %und unange-
nehme %.Leidenschaften ~

|P_275

/Vergnügen verschaft. So war Epikur der Philosoph
eines fröhlichen Gemüths, keinesweges aber ein Philosoph
der Wollust, denn die Alten haben nur durch Versehen
das Wort Voluptas durch Wollust übersezt; er war weit
entfernt von der Wollust, solches kann man zum Theil
daraus sehen, weil er seine Gäste in seinem Garten, den
er Ihnen als den Ort des Vergnügens anprieß, mit
$polentis$ das ist mit einer Art vom schlechtem Grüze
aufnahm. Nicht ein jeder Schmerz ist eine Traurig-
keit, wenn man ihn biß zum Gemüth dringen läßt,
alle Philosophie zweckt dahin ab, daß der Mensch
kein Vergnügen aber auch keinen Schmerz biß zu seiner
Seele eindringen laße, außer dem Schmerz wegen
Ubertretung seiner Pflichten, und da es der Mensch
würklich so weit bringen kann; so sehen wir hieraus,
daß uns die Natur nicht so gemacht hat, daß wir
dem Affeckt der Traurigkeit unterworffen seyn
sollen. Der Qualitaet nach gehören alle Affeckten
entweder zur Freude oder zur Traurigkeit; dem
Grade nach aber, sind sie sehr unterschieden, obgleich
sie auch dem Grade nach so übereinstimmen, daß

/ sie

|P_276

/sie alle daß Gleichgewicht der Summe aller Nei-
gungen aufhebt. Man verachtet regulariter alle
Menschen die im Affeckt sind, einige Affekten aber
hält man dem Menschen zu gut ZE den edlen Zorn,
da Iemand für die Rechte der Menschheit zürnet,
insbesonders aber über die Unterdrückung der
Armen. Ein jeder Affeckt ist eine Degradation
der Menschheit, weil als denn beym Menschen die
Thierheit praevalirt und er nicht mehr nach Uberle-
gung, über seinen ganzen Zustand disponiret. Eine
ausgelaßene Freude ist kindisch, außer wenn
sie aus der bonitaet oder dem Glück der gantzen
Menschheit entspringt. Alle Thiere sind des Ver-
gnügens und des Schmerzens, aber nicht der Freude
und der Traurigkeit fähig; weil leztere nur aus
der Vergleichung des jezigen Zustandes mit unserm
vorigen Zustande entspringen, ein Thier aber eine
solche Vergleichung anzustellen nicht vermögend ist.
Daß also Menschen auch ihrer Thierheit nach, wodurch
vergnügt oder ergözt werden oder daß sie Schmerz
empfinden, daß kann ihnen nicht verdacht werden,

/ daß

|P_277

/daß sie aber worüber außerordentlich freudig oder
betrübt werden, das steht ihnen nicht an. In allen B
Begierden kann man sich etwas continuirliches vorstellen,
und eine solche continuirliche Begierde nennt man
Sucht. So giebt es eine Herrschsucht, Habsucht, Ehr-
sucht, etc: Diese Sucht macht, daß der Mensch auf den
geringsten Grad seines Vergnügens erpicht ist. Ein
Geldgieriger ist nicht allemahl habsüchtig, denn ein hab-
süchtiger läßt auch nicht den allergeringsten Vortheil
aus den Händen, durch den er sein Geld vermehren kann.
Ein Affeckt gehört zum Gefühl, eine Leidenschaft aber
zur Begierde, man muß sehr wohl die Empfindsam-
keit vom Gefühl unterscheiden. Ein Ehrsüchtiger ist
derjenige, der auch sogar von Narren sich gerne
loben läßt. Die Empfindsamkeit, welche die Fein-
heit in der Untersuchung ist, da nemlich sehr leicht
jemand bemerken kann, was gefällt oder misfällt,
steht einem jeden Menschen an. Das Gefühl aber
entsteht, wenn diese Empfindsamkeit in eine Be-
gierde versezt wird, diese schickt sich für keinen

/ Mann

|P_278

/Mann. Eine Frau verlangt jederzeit daß der
Mann die Ungemächlichkeiten über sich nehmen soll.
Dieses kommt daher, weil sie ein stärker Gefühl
haben, oder weil sie verzärtelt sind. Sehr reizbar
seyn, ist eine große Schwäche, aber die Empfind-
samkeit oder die Zärtlichkeit in der Untersuchung
ist gut. ZE: Iemand der viel Empfindsamkeit hat,
wird in Gesellschaften bey einem Scherz, der per-
sönlich gemacht wird doch immer so sprechen, daß er
keinen besonders kein Frauenzimmer beleidigt, denn
man muß wißen, daß ein Frauenzimmer sich am
allerleichtesten in Ansehung der ihr gebührenden Ach-
tung offendirt findet. Die Ursache hievon ist diese,
weil alle Menschen in Ansehung des Punckts. der ihnen
strittig gemacht werden könnte, am aller aufmerk-
samsten sind. Ist ein Ausdruck zweydeutig: so
bleibt man desto leichter bey ihm stehen, weil man
glaubt, daß man beleidigt ist. So gehts mit dem
Frauenzimmer, denn der Grund der Achtung derselben
ist gewiß zweydeutig genug, indem sie doch selten

/ so viel

|P_279

/so viel Achtung verdienen, als eine Mannsperson und
eben deswegen sind sie in Ansehung dieses Puncktes
so delicat. Die zärtliche Liebe besteht nicht in der
Größe des Affeckts, sondern in der Feinheit der
Beurtheilung alles deßen, was einem andern im min-
desten könnte un«g»angenehm seyn. Die Zärtlichkeit
ist also weit von der Verzärtelung unterschieden,
denn man kann zärtlich lieben und eben deshalb die
grösten Ungemächlichkeiten übernehmen. Es können
bey Iemanden starcke Affekten herrschen, aber sie sind
darum noch nicht heftig. Die Heftigkeit bestehet nicht
im Grade des Affekts sondern in deßen Uberraschung.
Menschen die feig sind, haben gemeinhin große Leiden-
schaften, aber sie sind deshalb nicht ungestüm und
auffahrend. Beym Zorn sowohl als beym Haß,
liegt ein Unwille gegen einen andern zum Grunde,
sie sind aber darin unterschieden, daß der Haß
dauernd, der Zorn aber nicht dauernd sonder heftig
ist. Wahre Leidenschaften aber entspringen nur
aus dem Verhältniß gegen Sachen, eine einzige Aus-
nahme wäre wohl zu machen, wenn man das thierische

/ in der

|P_280

/in der Liebe des Menschen betrachtet, denn hier hat
der Mensch gleichsam einen Appetit zur Sache, er sieht
den Menschen vom andern Geschlecht bloß als eine Sache
an, die man brauchen kann. Diese Liebe enthält auch
keinen Affeckt des Wohlwollens, sondern ein Mensch
macht sich nichts daraus, dem andern Menschen eine Be-
ziehung hat. Nun können wir in Ansehung des Menschen
folgendes merken.

/1.) Der Zustand andrer Menschen ist bey uns ein Grund
der Sympathie, dieser ist ein großer Grund von
Regemachung unsrer Affekten.

/2.) Von unsern Neigungen sind die Menschen Ursache
bloß durch ihre Urtheile. Die Neigung bey andern
in gutem Ruff oder guten Meynung zustehen, ist die
Ehrliebe. Eigentlich aber ist sie keine Meynung, son-
dern nur eine Art von Billigung. Sie ist so wenig
der Tugend entgegen, daß sie vielmehr eine Beglei-
terin derselben ist. Man versteht unter dem Wort
Ehrliebe nichts anders, als den Abscheu, ein würdiger
Gegenstand der Verachtung zu seyn. Die Ehrbegierde
ist ganz von der Ehrliebe unterschieden. Ein Ehrlie- 

/ bender

|P_281

/bender flieht oft die Gesellschaft, und wählt die
Einsamkeit, damit er nur verhindern könne, daß
er sich keine Verachtung zuziehe. Ein Ehrbegieriger
aber sucht die Gesellschaft. Die Ehrbegierde wird zur
Ehrsucht, wenn man bey der Ehre auf die geringste
Kleinigkeiten sieht. Die Ehrbegierde und der Ehrgeitz
sind Leidenschaften die sehr erhöht werden können.
Es liegt in der Ehrbegierde das ungereimte, daß man
eben durch die große Bestrebung nach Ehre ein Ge-
genstand der Verachtung werde.

/3.) Wir haben einen gewißen Hang zur Gemein-
heit, da wir die Dinge bloß nach dem Maaße
schäzen, als sie von andern gebilliget, oder
geschäzt werden. Hierdurch hat die Vorsicht
unsre Neigungen von dem Intereße des Ganzen
abhängend machen wollen.

/4.) Wir besizzen eine Rechts-Liebe d.i. wir
haben einen Affeckt an dem moralischen oder
an den Urtheilen über Recht und Unrecht. Wir
gerathen oft in Affeckt nicht weil wir durch das
Factum eines andern großen Schaden erlitten,

/ sondern

|P_282

/sondern weil uns dadurch ein großes Unrecht
geschehen. Es wird durch das Unrecht entweder das
Recht an der Sache, oder das Recht was der Person
anhängt beleidigt, lezteres bringt den Affeckt
zu Wege. Gewiße Affeckten bekommen ihren
Nahmen nicht von dem Object, sondern von der Art,
wie sie entspringen, Zorn, Ehrbitterung und Haß,
sind nicht dem Object nach, sondern nur dem Grade
nach von einander unterscheiden. Daher man einem
Menschen, der leicht zürnet, oder auch leicht wieder
besänftiget wird, eher duldet, als einen der lang-
sam zum Zorn bewegt wird, deßen Haß aber
langwieriger ist. Indeßen ist doch ein jachzor-
niger Mensch der durch die geringste Kleinigkeit
in Harnisch gebracht wird, doch darum unleidlich,
weil dieses ein habitueller Zustand ist, denn ob-
gleich ein solcher Mensch wegen kurz vorher ange-
thaner Beleidigung, abbittet: so bin ich doch nicht einen
Augenblick sicher, daß er mir nicht wieder Grob-
heiten sagt: Die Irritabilitaet des Zorns nennt
man auch die Empfindlichkeit und die ist höchst

/ ver

|P_283

/verwerflich. Es liegt dies aber bloß an der Erziehung.
Menschen sind heftig und auffahrend, weil sie in der
Iugend keinen Wiederstand gefunden haben. Fast
alle Geographen führen von den Crolen, welches Leute
sind, die in Americka von Europäischen Eltern gebohren
sind, an, daß sie ungestüm, auffahrend, stoltz p seyn
sollen. Indeßen sagt ein neuerer Auctor von ihnen,
daß sie die besten Leute wären, die auch vielen Ver-
stand hätten. Woher kommts denn nun, daß sie auffah-
rend sind? Bloß darum, weil sie von ihrer Kindheit
an mit einer Menge von Neger Sklaven umgeben sind,
die so abgerichtet sind wie Pudelhunde, und die schon
für das bloße Geschrey der Kinder, ohne Untersuchung
abgeprügelt werden. Wenn bey uns die jungen
Herren so erzogen wurden, so können sie eben-
falls solche Careolen werden. Der Mensch ist
ein Thier, welches Disciplin nöthig hat. Die
Fortsezung «betrachtet» der Betrachtung der
Leidenschaften wird unten folgen: jezt wollen
wir reden.

/ Vom

|P_284

/ ≥ Vom Charackter der Menschen. ≤

/Wenn man alles zusammen nimmt, wodurch sich der
Mensch unterscheidet: so können wir ihn in einer
4fachen Rücksicht betrachten, nemlich

/1.) Nach seinem Körper oder Complexion.

/2.) Nach der Verbindung der Seele mit dem Körper
oder nach dem Temperament.

/3.) Nach seinen Gemüths-Kräften oder Naturell.

/4.) Nach dem besondern Gebrauch dieser seiner Ge-
müthskräfte oder nach seinem Character.

/Was die Complexitaet betrift, so geht solche auf die Be-
schaffenheit des Körpers, daher man sagt, der Mensch
ist von einer starcken, feuchten, trokenen Complexion.
Es kommt dieser Unterschied bloß von der Laage und
SPannung der Fasern her. Allein diese Materie
gehöret ganz zur Arzney Wißenschaft. Die Ge-
müthsbeschaffenheit in so ferne sie sich auf die Com-
plexion bezieht, heißt das Temperament. Unter
dem Gemüth versteht man nicht das Vermögen der Seele,
sondern nur die Kraft, sich dieses Vermögens zu be- 

/ dienen,

|P_285

/dienen, mithin die Beschaffenheit der Neigungen und
Affeckten, die aus seiner Complexion fließen.

/Man zählet gemeiniglich 4 Temperamente. Wir wollen
um mehrerer Deutlichkeit willen die Gemüths-Beschaf-
fenheit bey herschenden Neigungen auf eine 2fache
Weise unterscheiden. Zuerst wollen wir die Tempera-
mente auf 2 Gattungen reduciren, und hernach einer jeden
Gattung 2 Temperamente zuordnen. Es ist aber der Un-
terschied zwischen Gefühl und Begierde festgesezt; hieraus
folgern wir, daß Menschen zu weilen gleiche Empfin-
dungen haben, und doch in Ansehung ihrer Begierden
ganz unterschieden seyn können. Die erste Gattung
der Temperamente, ist vom Gefühl hergenommen und
zu dieser Gattung gehöret das melancholische und
sangvinische Temperament. Ein Mensch der nur das
Gefühl der Annehmlichkeit sucht, hat ein sangvinisches,
dem aber alle Gegenstände nur Furcht und Bangig-
keit verursachen, hat ein melancholisches Tempera-
ment. Man siehet hieraus leicht ein, daß es sehr viel
auf den Zustand und die Beschaffenheit, wie ihnen die

/ Welt

|P_286

/Welt vorkommt, und daß die Menschen sehr viel durch
die Seite thun können; von der sie die Dinge der Welt
betrachten. Wir wißen daß der Mensch nicht ver-
hindern kann, daß ihn etwas schmerze oder ver-
gnüge, aber Traurigkeit und Freude stehen sehr
in seiner Gewalt. Der ein sangvinisch Tempera-
ment hat, ist sehr leichtsinnig gemeinhin; der melan-
cholische aber ist hartnäckig in seinen Vorsäzen,
und eigensinnig der Person nach. Bey einem me-
lancholischen haftet alles sehr stark. Ein sangvi-
nischer vergißt leicht sein Versprechen, aber auch die
ihm angethanen Beleidigungen. Daher die Freund-
schaft die mit einem melancholischen Temperament
verbunden, weit dauerhafter und reeller ist, als
bey einem sangvinischen, denn bey leztern ver-
dunstet die Freundschaft leicht. Allein die Melan-
cholie hat wieder das üble, daß ein derselben
ergebener Mensch ganz unlencksam bey seinem
Haß und Willen ist, daher bey einem solchen eine
Freundschaft schwer zu vertilgen ist. Wir sehen

/ aber

|P_287

/aber doch nicht ein, daß die Charactere, die etwas
Achtungswürdiges an sich haben solten, jederzeit eine
Ingredientz von Melancholie haben müßen. So siehet ein
partheyisch gesinntes Gemüth diese Welt nicht als einen Schau-
platz zum SPiel, sondern vielmehr als einen Ort an, der
zu ernsthaften großen und wichtigen Vorsäzen bestimmt
ist. Ein sangvinischer Mensch, der nichts in der Welt für
wichtig ansieht, hat die bequemste Situation. Aber ein
melancholischer der da glaubt daß der Mensch einen sehr
wichtigen Posten in der Welt hat, hat es nicht so bequem.
Weil nun das melancholische Temperament eine jede
Freundschaft dauerhafter macht, so fordert man
daß selbst in der Geschlechter Liebe eine melancho-
lische Zärtlichkeit seyn müße, indem diese von einer
weitgrößern Delicatesse zu seyn scheint als eine
Lustigkeit im Leben. Wenn wir hier den Unterschied
zwischen einem melancholischen und sangvinischen
Menschen aus der Complexion herleiten wolten, so wür-
den wir uns gar «leicht» zu tief in die Medicin wagen,
wo es uns an genugsamen Kenntnißen fehl«t»en

/ dürfte«,».

|P_288

/dürfte. So viel ist indeßen gewiß, daß das Gefühl
des Gesammten Lebens eine Disposition zu allen Ver-
gnügen sey, dieses Gefühl aber auf die SPannung der
Fasern die eine jede Bewegung anzunehmen fähig sind
und auf ein verdünntes Blut, welches recht transpiriret,
oder auf ein dickes Blut ankommt.

/Die zweyte Gattung der Temperamente hat eine Bezie-
hung auf die Thätigkeit der Begierden. Zu dieser
Gattung rechnet man das Cholerische und phlegmatische
Temperament. Das Cholerische ist ein Temperament
der Thätigkeit, das Phlegmatische das der Unthätig-
keit. Im cholerischen ist eine große Triebfeder der
Thätigkeit. Man empfindet sein eigenes Leben dadurch
daß man in sich selbst die Receptivitaet zu allen Ein-
drücken findet. Es sind bey einem solchen Menschen
alle Fasern zur Geschäftigkeit gespannt, er muß
also immer etwas zu thun haben. Er wird daher
immer gewißen Zwecken nachgehen, und gerne
Schwierigkeiten über«b»winden. Eine Folge aus diesem
Temperament der Thätigkeit ist die Ehrbegierde,

/ denn der

|P_289

/denn der Antrieb der am wenigsten der Empfindung
nahe kommt, erfordert die größte Thätigkeit. Nun
aber ist die Ehre ein solcher Antrieb, der am wenigsten
der Empfindung nahe kommt; also muß der Mensch der
durch Ehre bewegt wird, viele Thätigkeit haben. Uber-
dem paßt das Temperament der Thätigkeit immer
auf die Ehre mehr, als auf alle andre Antriebe, weil
man in Ansehung andrer Zwecke es nicht so in seiner
Gewalt hat ihn zu erreichen, als bey der Ehre. Es ist
daher die Ehrbegierde der Reiz, wodurch cholerische
Menschen getrieben werden.

/Ein Phlegmatiker empfindet bey aller Arbeit eine
Ungemächlichkeit, und das unangenehme woher sie
entstehet, bestehet in der Anstrengung der Kräfte.
Ein Phlegmatiker aber in einem guten und mildern
Verstande, bedeutet nur das Gegentheil der Reiz-
barkeit. Die Reizbarkeit aber bestehet darinnen,
daß Iemand leicht zu etwas bewogen werden
kann. Das Phlegma dient dazu, daß es die Über-
eilung im Entschließen und die Entwickelung der
Triebe so lange aufhält, daß die Vernunft da- 

/ durch

|P_290

/durch Zeit gewinnt erst über die Sache recht zu re-
flectiren. Denn eine große Ubereilung macht gemeinig-
lich daß einem sein Unternehmen gereue.
Wir dürffen
nur etwas auf die Personen, bey denen man Cholera
oder Phlegma fordert, sehen. So verlangt man, daß
ein großer General ein Phlegma, damit er erst Zeit ge-
winne lange über seine Entwürffe zu deliberiren, ehe er
sie zur Ausführung kommen läßt. Von einem gemeinen
Soldaten aber fordert man, daß er cholerisch sey, da-
mit er ohne nach der Ursache zu fragen, gleich zuschlage,
wenn es ihm befohlen wird. Einem Mann stehet jederzeit
ein Phlegma wohl an, obgleich nicht ein phlegmatisches
Temperament, weil es als denn nicht mehr in seiner
Gewalt steht, wie lange er über den Entschluß einer
Sache es anstehen laßen will, hingegen ist es ein schlechter
Ruhm für jedes Frauenzimmer, wenn es phlegmatisch
ist, man will daß sie alle cholerisch seyn sollen.

/Seeleute sind gemeinhin phlegmatisch, weil sie
auf ihren SPeisen, theils niemals weiter gehen können,
als die Schiffslänge beträgt, theils weil sie sich in
Ansehung ihrer Reisen, als auch ihres Umganges, an

/ eine

|P_291

/eine große Einförmigkeit gewöhnen müßen, theils auch
weil ein Seefahrer, alle seine Entschlüße und Ordres
die er giebt, zuvor wohl überlegen muß. Die Braminen
in Indostan erzählen in ihrer Cosmogonie oder Theologie,
daß der Gott Brama, der die Menschen erschaffen, nemlich
den Soldaten cholerisch, den Braminen melancholisch,
den Handwerker sangvinisch, und den Kauffmann
phlegmatisch erschaffen. Wenn man die Function die-
ser Leute bemerkt, wird man finden daß die Tem-
peramente vortreflich ausgetheilet sind. Sonst drückt
man durch Wort Cholera bloß den Zorn aus, die
Ursache ist diese, weil der Zorn nichts anders als das
Bewustseyn einer großen Thätigkeit ist. Auch ist
mit Cholera gemeinhin die Polypragmosie ver
einbart, indem ein cholerischer Mensch gerne seine Hand
in alles mischen mag. Am wenigsten steht also die
Cholera einem Geistlichen an. Die sangvinste Nation
in der Welt ist die Französche, diese Nation hat die
Quelle ihrer Freuden in sich selbst; der Bauernstand
der die meisten Unbequemlichkeiten hat, ist fröhlich; die
Fabricanten die die ganze Woche arbeiten, eßen sehr

/ schlecht

|P_292

/schlecht, damit sie nur etwas sammlen, um am Sontage
ausgepuzt und mit einem Degen gehen, tanzen und sich
lustig machen zu können. Die Nordische Nation ist in
Ansehung ihrer Vergnügungen passiv. Die Franzosen
haben gesellschaftliche Eigenschaften. Unsre Vorfahren
suchten ihr größtes Vergnügen in Eßen und Trincken.
Es erschöpft aber die Fröhlichkeit welche im bloßen
Genuß bestehet würklich unsre Kräfte und ist von
Dauer. Bey der Thätigkeit empfindet man sein
Leben. Der Discours in Gesellschaften läßt es einem
ganz empfinden. Der Geschmack des Wirths zeigt sich
darinn daß er die Gäste so pla«n»cire daß einer die
andern vergnügen und unterhalten kann, denn einer
hat Hoffkenntniß, der andre hat Bücherkenntniß
der 3te versteht die Landwirthschaft, nun kommt es
nur darauf an, daß diese Köpfe gut geordnet sind.
Es giebt Personen die nicht dazu aufgelegt zu seyn
scheinen den Discours rege zu machen, die Gesell-
schaft zu animiren. Denn erforschen können was für
eine Materie das Gespräch wohl in Bewegung sezen

/ kann

|P_293

/kann, ist nicht leicht. - Der Effekt einer solchen Gesellschaft
ist eine gute Transpiration, - wie solches Santorius der
in Ansehung des Menschlichen Körpers alles nach Maaß und
Gewicht ausmacht, zeiget. Wenn man aus so einer Ge-
sellschaft mit Mäßigkeit nach Hause geht, so ist man
gleichsam wie von neuem gebohren, und ein Medicus
solte hierauf genaue Rücksicht nehmen.

/Ein Sangvineus empfindet jederzeit ein Verlangen nach
etwas neuem und ist über das alte verdrüßlich.
Er ist modisch, und «D»kann die Dinge nach Belieben
verwandeln, auch einem schlechten SPiel eine gute Wen-
dung geben. Die Einerleyheit erschweret und jeder
Wechsel erleichtert. Solches sehen wir an der Fran-
zösischen Nation. Die Einförmigkeit der Kleidung
zeigt wohl etwas erhabenes an, aber sie muntert
nicht auf. Die Schwäche des Sangvineus ist die Un-
zufriedenheit, über die Einerleyheit, daher «a»er alles
gerne verändert, obgleich zum schlechten. Der Me-
lancholicus hat die Quelle der Unannehmlichkeit %und
Traurigkeit in sich. In der Art der Empfindungen ist

/ zwischen

|P_294

/zwischen einem Melancholischen und sangvinischen kein
Unterschied aber wohl in Ansehung der Aufnahme der
Empfindungen. Die Traurigkeit entspringt durch die
Reflexion über schmerzhafte Eindrücke. Ein melancho-
lischer sieht immer auf die schlechten Folgen zum
voraus. Ein sangvinischer sieht auf dieselben gar
nicht. Ein Melancholicus sieht alles für größer und
wichtiger an als es ist. Der Sangvineus hat zum Object
die Wollust, hier aber muß unter der Wollust nichts
als fröhliches Herz verstanden werden, der Melan-
cholicus aber hat zum Object nach der Bemerkung
einiger Auctoren - den Geiz und Ungeselligkeit.
Allein es giebt geizige Leute, die gar nicht me-
lancholisch sind, und umgekehrt, die melancholisch
und gar nicht geizig sind. Ia die Franzosen, die doch
gewiß nicht melancholisch sind, sind doch einiger-
maßen der Kargheit ergeben, sie sind zwar
gegen einen Fremden sehr höflich, aber zu Gaste
bitten sie ihn nicht. Hingegen sind die Deutschen <die>
weit vom sangvinischen Temperament ent-
fernt sind, weit gastfreyer. Vosvel in

/ der

|P_295

/der Beschreibung von «Co<r>sica»Corsica erzählt von einem
Officier, daß er sich mit vielem Vergnügen der Gast-
Freyheit in Deutschland erinnert habe. Es haben sich also
die Auctoren beynahe geirret, die dem Melancholischen
den Geitz beymaßen. Ein Melancholischer ist nicht so wohl
zum Zorn als zur Rache geneigt. Die Melancholie ver-
fällt gemeinhin auf ernsthafte Dinge. In Religions
Sachen aber sind die Melancholischen, Schwärmer.
Die Engländer sind mehr melancholisch als sangvi-
nisch, ihr Witz hat jederzeit etwas tiefes. Alle ihre
Arbeit hat eine gewiße Dauerhaftigkeit, auch ihre
Schriften sind nicht so wie die Französischen Papillons.
Die herumfliegen aber bald verschwinden, und in
Abnahme gerathen. Ein Melancholischer hat gemeinhin
misantropische Vorstellungen, eben deshalb trägt
er viel zum Besten des Menschlichen Geschlechts bey,
allein der ist doch immer am glücklichsten, der allen
Dingen ihre Wichtigkeit nehmen kann, denn es ist auch
würklich für den Menschen nichts wichtiges in der
Welt. Wir müßen um unsrer Bedürfniße willen
etwas besorgt seyn, aber die Besorgniß muß

/ sich

|P_296

/sich niemals in eine Sorge verwandeln. Das phy-
sische vom Temperament ist schwer zu determiniren.
Diejenigen die es von Beschaffenheit des Bluts her-
leiten, irren ungemein, denn obgleich melancholie
so viel heißt als schwarze Galle so findet man doch
daß ein melancholischer ein mit Galle vermischtes Blut
habe, und ob wohl das lustige Temperament ein dünnes
Blut voraus sezt: so findet man doch auch melancholische
und schwermüthige, die ein dünnes Blut haben. Es
scheint vielmehr die Complexion des Körpers eher
von den festen als von den flüßigen Theilen herzurühren,
indem die flüßigen von den festen bewegt werden,
Diejenigen die die Temperamente nach den Neigungen
eintheilen, irren gleichfals, denn die Menschen können
gleiche Neigungen und doch verschiedene Temperamente
haben, sie differiren bloß in der Art wie sie ihren
Neigungen nachhängen. ZE den Geiz schreibt man
dem Melancholischen zu, allein man hat angemerkt
daß Sangvinei bißweilen geiziger, melancholici aber
nicht geizig gewesen sind. Bey einem Phlegmatischen
findet man nicht viel thätige Begierden, und selbst

/ die

|P_297

/die Zwecke zielen auf Gemächlichkeit ab. Was den
Effeckt der Temperamente in Ansehung der Religion
betrift, so will man bemerkt haben; daß der Me-
lancholische in derselben der Schwärmerey, der San-
gvinische der Freygeisterey, der Phlegmatische
dem Aberglauben, und der Cholerische der Orthodoxie
ergeben sey. Der Grund dieser Meynung läßt
sich auf folgende Art einsehen. Der Melancholicus
ist ein Schwärmer, weil er alles für wichtig ansiehet,
alles ernsthaft tractiret, die gröste Ernsthaftigkeit
aber sich der Schwermuth nähert. Bey dieser Schwer-
muth verfällt er in eine heilige und vermeßene
Kühnheit - d.i. eben die Schwärmerey - so daß.
diese Schwärmerey, wo er sich Gott mit den aller-
devotesten doch aller zuversichtlichsten Worten nä-
hern will, fast in eine Blasphemie degenerirt,
weil er sich oft Ausdrücke bedient, die eine ganz
ungeziemende Vertraulichkeit mit Gott anzeigen.
Der Sangvineus ist der Freygeisterey ergeben.
Er betrachtet die Religion als eine Mode, weil er
gar zu ungeduldig ist, sich an Regeln zu binden - so

/ giebt

|P_298

/giebt es auch eine moralische Freygeisterey - Eine
solche Freygeisterey finden wir bey den Franzosen,
weil überhaupt bey ihnen der Gebrauch ist, das, was die
Leute mit vieler Ernsthaftigkeit tractiren, lächerlich
zu machen, hingegen Kleinigkeiten eine anscheinende
Wichtigkeit zu geben. Sie behandeln alles mit einem
gewißen Leichtsinn, daher man bey ihnen viel Conver-
sation ohne Freundschaft, aber doch auch ohne Falsch-
heit findet. Ihre Sache ist, sich an nichts zu hängen,
doch glauben die Franzosen, daß ihr Frauenzimmer zur
Freundschaft sehr aufgelegt sey. Die Engländer
haben an den Franzosen bemerkt, daß in Ansehung der
Conduite zwischen den Vornehmsten und Geringsten kein
Unterschied sey. Des Handwerkers Tochter weiß so
manierlich zu reden als eine Prinzeßin. In England
aber ist wieder die Kenntniß und Wißenschaften
biß auf den geringsten Mann ausgebreitet, indem
die Zeitungen daselbst nicht nur so eingerichtet sind, daß
sie von dem gemeinsten Mann mit Nuzzen können
gelesen werden; sondern auch in der That von allen ge-
lesen werden.

/Der Cholerische ist in der Religion orthodox. Ob man

/ gleich

|P_299

/gleich keine Nation nennen kann, die cholerisch wäre, so
muß man doch vom cholerischen merken, daß er die Trieb-
feder zur Thätigkeit hat, er muß jederzeit beschäftiget
seyn; daher steigt er gern zu Aemtern, wo er viel zu reden
und zu ordnen hat. Er ist zugleich polypragmatisch und
mengt sich in alle Händel gern. Er weiß sich auch die Miene
eines Verständigen, eines Andächtigen zu geben, wenn er
gleich keinen Verstand, keine Andacht hat. Da er gerne be-
schäftiget ist, so mag er auch die Regeln der Religion
stricte befolgen, um andre zur genauen Observantz
derselben anhalten, daher er auch Kezer macht, wo
keine sind.

/Der Phlegmatische ist abergläubisch. Der Aberglaube
bestehet in einer gewißen Indolentz und entstehet
aus der Unthätigkeit, die man beym Phlegmatischen
findet. Denn weil er selbst nicht gerne Wunder Dinge
erzählen, denen er bald Glauben beylegt. Die Ver-
nunft incommodirt und man muß ihr gleichsam Ferien
geben, um seinen Neigungen nachhängen zu können.
Die Temperamente der Menschen äußern sich auch
in der Schreib Art; Ein melancholischer und tiefsinniger
hohlt seinen Ausdruck aus dem innersten der Wißen- 

/ schaften

|P_300

/schaften her. Der Sangvinische wählt das gefallende
in der Erscheinung, die Nettigkeit und überhaupt das
Schöne, daher die Sangvinische Nationen auch Muster im
Geschmack sind. Bey den Deutschen findet man das metho-
dische in der Schreibart, daher alle ihre Schriften das Schul-
mäßige an sich haben, dies ist ihrem Phlegma angemeßen.
Die Ordnung aber die bey ihnen herrscht, kommt von der
Cholera her, denn die cholerischen Völcker sind gemeinhin
sehr ordentlich -. Sonst bedeutet das Wort Phlegma das
Waßer so man zugießt, um die Stärcke eines Geschmaks
zu dämpfen. Aber hier bedeutet das phlegmatische
Temperament nur den Mangel der Lebhaftigkeit.
Uberhaupt ist die Nordliche Nation mit vielen Phlegma
afficirt, daher sie auch in ihrem Anstande eine gewiße
Sittsamkeit haben. Eben deshalb aber wird auch ein
Deutscher Acteur niemahls die Vollkommenheit erreichen,
die ein Franzose hat, denn ein Franzose wird schon
als ein Acteur gebohren. Man hat bemerkt, daß die
Engländer weit beßer ein Lustspiel vorstellen,
als die Franzosen, und leztere wieder beßer ein
Trauerspiel, da doch der Engländer in Verfertigung

/ der

|P_301

/der Trauerspiele, die Franzosen aber in Lustspielen
Meister sind. Woher kommt dieses? Wir können diese
Frage schon aus dem Vorigen beantworten. Ein Mensch
der eine Person, die diesem oder jenem Affeckt er-
geben, recht vorstellen will, muß selbst nicht afficirt
seyn. So muß ZE ein Herr der seinen Bedienten recht
ausschelten will, und also die Rolle eines Zornigen macht,
in der That wenig afficirt seyn, denn ist er sehr affi-
cirt: so wird er bloß reden wollen, aber nicht Worte
finden. Der Bediente sieht daß ein Herr zornig ist,
er hört aber nichts. Einer der die Rolle eines Verliebten
spielen will, muß nicht verliebt seyn, denn ist er es,
so wird er sich zwar sehr zärtlich und demüthig stellen,
allein er wird verstummen und rothwerden, und sich
wohl gar pöbelhaft aufführen. Da nun die Engländer
so wenig lustig und nicht zum Lachen aufgelegt sind,
mithin nicht zu besorgen ist, daß sie bey der Vorstel-
lung eines Lustspiels, in Affeckt oder Lustigkeit gerathen
werden; so haben sie Zeit genug; sich die Person eines
Lustigen bey der Action recht vorzustellen, und sie
aufs beste nachzuahmen. Hingegen sind auch die Fran-
zosen so weit von der Traurigkeit entfernt, daß

/ sie

|P_302

/sie gewiß bey einem Trauerspiel nicht in Affeckt
gerathen werden, und aus dieser Ursache sind sie
Meister in Ansehung der Trauerspiele die sie auf-
führen. Man pflegt die Temperamente auch zusam-
menzusezen. Nach unsrer Eintheilung in Tempera-
mente der Empfindsamkeit und der Begierde ---- 
ist nur eine 4 fache Zusammensezung möglich.
Denn die sich entgegengesezte Temperamente können
in keinem Menschen vereinigt werden. Die 4 Zu-
sammensezungen sind.

/I.) Das melancholisch-cholerische Temperament;
Das bringt allerley Hirngespinste, große und
blendende Handlungen hervor, und ist der Englischen,
Nation eigen.

/II.) Das melancholisch phlegmatische, wer ein solches
hat grämmt sich gemeiniglich immer, klagt und hängt
sich zulezt auf.

/III.) Ein sangvinisch-cholerischer ist ein sehr nüzliches
Glied im Gemeinen Wesen, indem er arbeitsam ist,
und allen Dingen die Wichtigkeit benimmt, sich über
nichts betrübt, sondern in allen ein Vergnügen sieht,

/IV.) Das Sangvinisch-phlegmatische. Ein solcher ist

/ keiner

|P_303

/keiner Sache so sehr ergeben als dem Wohlleben. Er
ist wie eine Milchsuppe, die sich mit allem verträgt.
Er thut nicht böses, aber auch nichts gutes, weil ihn
beydes incommodirt. Solche Leute sind im Stande den
gantzen Tag am Fenster zu stehen, und die Leute sehen
vorbeygehen. Sie hängen auch zwar ihrem Vergnügen
nach, aber es muß nicht so lebhaft seyn.

/Zulezt ist noch zu merken, daß man nicht jede star-
ke Neigung gleich zum Temperament zählen muß, denn
die Ernsthaftigkeit gränzt sehr nahe an die Melan-
cholie, sie ist aber nicht immer Melancholie.

/ ≥ Vom Naturel. ≤

/Durchs Naturell versteht man die Fähigkeit und
das Vermögen der Menschen. So sagt man: der Mensch
ist von einem gelehrigen Naturel, wenn er Fähigkeiten
hat gelehrt zu werden, und eine Begierde zum lernen
zeigt. Ferner sagt man: er ist von einem sanften
von einem ungestümen Naturel.- Die Rauhigkeit
des Naturels bestehet im Wiederspruche. Was das
Naturel in Ansehung des Vermögens betrift: so sagt
man: der Mensch hat ein Naturel zur Poesie, zur

/ Gesch

|P_304

/Geschichte p. Von manchen sagt man auch, er hat gar
kein Naturel; «hätten» so sagt man den Rußen, daß
sie zwar gelehrig wären, aber kein Naturell hätten.
Sie ahmen gerne und mit vieler Genauigkeit nach, allein
es fehlt ihnen an den ersten Grundbegriffen und Prin-
cipien, daher sie niemahls werden lehren können,
denn man lehret niemals gut, wenn man nur so lehret
als man selbst gelehret worden. Die Fähigkeiten des
Kopfs heißen Talente, die Vermögen deßelben
heißen Genie. Zum Genie wird erfordert.

/1.) ein gewißer Geist.

/2.) Ein eigentlicher Geist.

/So giebt es offt eine Unterredung ohne Geist, auch
sagt man: das Buch ist ohne Geist, wenn nichts als
alltägliche Wahrheiten, darin enthalten sind, denn
man verlangt bey einem Buch, außer der Richtigkeit,
Ordnung und Gründlichkeit, noch einen gewißen Geist.
Nun bedeutet das Wort Geist eigentlich nichts anders,
als das Principium des Lebens. Einen Geist im
Buch nennt man eine Ingredientz, wodurch das Gemüth
gleichsam einen Stoß bekommt, und belebt wird. So
muß ein jedes bon mot etwas unerwartetes und

/ über

|P_305

/überraschendes oder einen Geist enthalten«,». Das Genie
erfordert auch ferner einen eigenthümlichen Geist.
Dies ist dem Geist der Nachahmung entgegengesezt.
Es kann Iemand ein guter Mathematiker, ein guter
Baumeister ohne Genie seyn, weil er hier nur nach-
ahmen darff. Vornehmlich findet man das Genie bey
den Franzosen Engländern und Italienern. Das wahre
eigentliche Genie aber ist bey den Engländern, wo-
zu die Freyheit und die Regierung viel beytragen, denn
wo schon der Hoff alzu gewaltig ist, und sich alles nach
einerley Muster bildet: da muß zulezt alles einer-
ley Farbe enthalten. Bey den Deutschen findet
man grösten theils den Geist der Nachahmung, woran
unsre Schriftsteller viel Ursache haben, denn hier
werden die Kinder mit nichts mehr, als mit Nach-
ahmung und Gedächtniß Sachen gequält. Ia das
ganze lateinisch-lernen in den Schulen, da die
Kinder sogar die Phrases auswendig lernen müßen,
und in Ausarbeitungen sich ihrer bedienen, hindert
nur gar zu sehr den Schwung des Geistes. Ein jeder
Mensch hat etwas eigenthümliches, aber durch solche
Schulanstalten wird solches erstickt, und das Genie

/ des

|P_306

/des Menschen gänzlich verdorben. Die Laune gehört zum
eigenthümlichen der Talente. Der Unterschied zwischen
dem Naturell und Genie ist dieser: wir sind leidend
in Ansehung des Naturells und thätig in Ansehung
des Genies.

/ ≥ Vom Charakter. ≤

/Der Charackter beziehet sich auf die Complexion des
Körpers und bestehet in dem eigenthümlichen der Obern
Kräfte des Menschlichen Gemüths. Der Mensch hat vie-
lerley Fähigkeiten gewiße Formen anzunehmen. Er
hat Antrieb, Begierde, Leidenschaften er kann auch
eine gewiße Antipathie haben, da er von allen
Leidenschaften frey ist. Er besizt aber auch noch
etwas unterschiedenes von allem diesem Appara-
tus, nemlich das Vermögen sich aller dieser Kräfte,
Vermögen, Talente, zu bedienen; seine Begierde,
in ein freyes SPiel zu sezen, oder sie zurück zu
halten, und auf der Beschaffenheit dieser obern Kraft
beruht der Character der Menschen. Es kommt also bey
bey Bestimmung der menschlichen Character nicht
auf seine Triebe und Begierden, sondern lediglich
auf die Art an, wie«e» er dieselbe modificirt.

/ Wir

|P_307

/Wir fragen also darnach nur, wie der Mensch seine
Kräfte und Vermögen gebrauche, zu was für einem
Endzweck er sie anwende, Um also den Character der
des Menschen bestimmen zu können, muß man die
ihm in seine Natur gelegte Zwecke kennen. Die Cha-
ractere der Menschen sind alle moralisch denn die Moral
ist eben die Wißenschaft von allen den Zwecken, nach
denen wir unsre Vermögen richten und anstrengen.
Der Character ist eine gewiße subjective Regel des
Oberbegehrungs_Vermögens. Die objectiven Regeln des-
selben enthält die Moral, mithin macht das eigenthümliche
des Oberbegehrungs_Vermögens den Menschlichen Charac-
ter aus. So betrachtet mancher Mensch alles aus dem
Gesichtspunckt der Ehre, sein ganzes Ober_Begehrungs
Vermögens geht nur auf die Ehre. Ein andrer Mensch
hat wieder eine liebreichen Character, deßen ganzes
Oberbegehrungs_Vermögen auf Wohlthun hinaus lauft. Sehr
oft ist der Character des Menschen ungemein verwickelt,
weil viele Zwecke in seiner Natur liegen. Als denn muß
man die Hauptzwecke aussondern und daraus seinen
Character bestimmen. In den Iugendlichen Iahren ist des
Menschen Character noch nicht kennbar und ein Mensch von

|P_308

/von 16 - 17 Iahren kann noch selbst nicht seinen Character
kennen lernen, weil sich vielleicht noch keine Fälle er-
eignet, wo sich der Character könnte sehen laßen.
Dann bildet sich der Character allmählig aus. Man sagt
der Mensch hat seinen Character verschlimmert oder ver-
beßert. Man kann zwar den Hang, den man wozu hat,
mindern, lindern und lencken, allein daher wird man
nicht einen beßern Character bekommen. Wer einen
bösen Character hat, wird niemahls den entgegengesezten
guten erlangen, weil der wahre Leim fehlet, der zu
dem Ende in unsre Natur gelegt seyn muste.

/ ≥ Von der Physiognomie. ≤

/Die Menschen haben eine große Neigung einander
kennen zu lernen, daß so gar wenn etwas großes
von einem praedicirt wird, und wäre es die größte
Bosheit, man einen solchen Menschen zu sehen wünschet,
als wüste man zum Voraus, das in den Augen eines
solchen boshaften, das bösartige Herz zu lesen wäre,
und daß man bey einem solchen Menschen lernen könnte
andre zu fliehen, die mit ihm einerley Gesichts_Bildung
haben. Woher kommt diese so starke Neigung, mit

/ seinen

|P_309

/seinen Augen die Gesinnungen des Menschen auszuspähen?
Man siehet hieraus, daß ein Mensch in seinem äußern
viel habe, woraus man nach natürlichen Gesezen, auf innre
viel schließen kann. Daher mögen wir gern einen De-
linquenten der zum Richtplatz geführt wird, in die
Augen sehen, gleich als wenn wir bemerken können, was
in demselben vorgeht. Die Natur hat dem Menschen schon
den «Inhalt» Instinckt gegeben, andern ins Gesicht zu sehen,
ja was sonderbar ist, so scheint es, daß wir mehr denjenigen,
was wir in Iemandes Gesicht bemerken, trauen, als selbst
seinen Reden. Der Ausspruch: loquere ut te videam
zielt nur darauf, daß wir aus dem Reden eines Menschen
seine Talente erkennen können. Was aber seine Ge-
sinnungen die aus dem Temperamente entspringen %und
seinen GemüthsCharacter betrift, so trauen wir hierin
noch mehr unserm Auge als den Reden eines Menschen.

/Es hat uns also die Natur schon darauf geführet, daß
wir nicht nur den Menschen aus seinen Reden, sondern
auch aus seiner Gestalt beurtheilen sollen. Es hat aber
mit der Physiognomie, oder die Mittel aus dem Anblick
die Gesinnungen des andern kennen zu lernen, eine solche

/ Bewand- 

|P_310

/Bewandtniß, daß man es hierin niemahls zu sichern
Regeln bringen kann. Die Vorsehung hat selbst ver-
hindert, daß dieses niemahls zu einer Kunst geworden,
denn würden sie hievon allgemeine Regeln geben laßen,
so würden sich die Menschen haßen noch ehe einer
dem andern etwas zu Leide gethan. Es würde, da doch
ein jeder Mensch etwas hat was ihm mißfällt, das
Zutrauen unter den Menschen wegfallen. Die Einigkeit
würde aufhören, und die Menschliche Gesellschaft
würde getrennt werden. Es hat zwar würklich die
Vorsehung in den Zügen der Menschen eine gewiße
Masque gelegt, damit man sich vor solchen Leuten in
Acht nehmen könne, allein das Urtheil hierüber, ist immer
ungewiß. Indeßen wo«¿»llen wir doch, soviel sich hievon
sagen läßt anführen. - Unter die Physiognomie
rechnet man nicht nur den ganzen Bau des Körpers,
sondern auch die ganze Manier des Menschen und
seinen Geschmack in Kleidung, überhaupt dasjenige
was man mit den äußern Sinnen an dem Menschen
bemerken kann. Wir wollen zuerst von der Phy-
siognomie reden in soferne man den gegenwärtigen

/ Zustand

|P_311

/Zustand des Menschen beobachtet. Ein Mensch kann sich
sehr vergnügt anstellen, und dennoch erkennt man an
seinen Augen die Traurigkeit. Man stellt sich oft
frey, aber ein anderer entdeckt doch in unsern Augen
eine Verlegenheit.

/Ein cholerischer der ohnedem sehr thätig ist, ist der
Verstellung am meisten fähig, denn seine Fasern
sind starck gespannt, dahero seine besonder Agili-
taet kommt. Er gehet ordinaire steif, und seine SPrache
klinget etwas hoch über die Brust, er trägt den Kopf
gerade, ein sangvinischer aber nimmt allerley
Stellungen an. Der Cholerische kann den Ton eines
Lob Redners annehmen, erkann Iemand«en» große
Achtung bezeigen, aber er ist dies alles nur ver-
stellt. Er hat einen guten Anstand, aber es ist
alles gekünstelt. Seine Muskeln sind in seiner
Gewalt, daher auch wenn er unwillig ist, gar
nicht seine Miene verzerret. Es giebt aber Ge-
sichter, die gar nichts bedeuten, und sagen, um dar-
aus den Zustand der Seele errathen zu können.

/ Solches

|P_312

/Solches gie«b»lt was die Rührung betrift von den Phleg-
matischen. Indeßen wenn man Mienen annimmt, die die
Gesinnungen verbergen sollen, so kommt man doch nicht
sonderlich damit zurecht. ZE wenn man lachen will, bloß
Iemanden zu gefallen, so ist solches nur ein Grausen
wo die Mienen zwar verzogen werden, die Augen
aber gantz starr bleiben, und daß sieht häßlich aus.
So auch wenn sich jemand freundschaftlich stellen will
so kann er es doch nicht so machen, daß es ein for-
schendes Auge nicht merken solte. Man kann sonst
den Zustand des Gemüths, sehr leicht aus den Gesichts
zügen bemerken, nur nicht bey denen die sich verstellen.

/Sonst aber ist wie schon gesagt, die Beobachtung, ob
Iemand gesund oder krank, traurig oder freudig,
lächerlich oder lebhaft sey, nicht schwer. Man kann
solches zum Theil aus den Augen lesen, wenn der
regenbogenfarbigte Rand im Auge von dem
weißen ganz separiret ist: so ist er sehr wohl
disponirt, die dunckle Farbe vom Auge aber,
wenn sich dieser Rand mit dem weißen un- 

/ %merklich

|P_313

/merklich vermischt, ist ein Zeichen der Kranck-
heit und Traurigkeit. Ferner wenn die Augen-
lieder starck geöffnet sind: so ist der Mensch ge-
sund, wenn nicht, so ist er krank.

/Wenn man aber auch den gegenwärtigen Zustand
des Menschen aus dem äußern beurtheilen kann,
so differirt dieser Zustand doch noch von dem Habitus
in der Gemüths-Art. Man kann auch aus dem Anblick
die Complexion des Menschen beobachten. Die Com-
plexion ist die Beschaffenheit seiner Natur, seiner
Einrichtung; ob ein Mensch stark, schwach, gesund,
kranck, lebhaft ist. Ein Mann der heyrathen will
wird auch gewiß sein Augenmerk auf die Complexion
richten. Es sieht darauf auch ein Herr der Sklaven
kauft, oder Bediente annimmt, ferner wenn man Sol-
daten wirbt, so solte auch billig auf die Complexion
gesehen werden, ob sie rauhe Witterung und strenge
Lebensart ertragen können. Indeßen haben oft
Leute die sehr mager sind, die stärckste Complexion,
denn es kommt hier nur auf die Stärcke und Elastici-
taet der Fasern und Muskeln an, besonders

/ wenn

|P_314

/wenn die Muskeln im Gesicht stark sind.

/Man bemerkt auch aus dem äußern des Menschen
sein Naturel, oder alle seine Fähigkeiten und Ver-
mögen, oder Talendte, man sieht, wozu er sich lencken
läßt, und was er thun kann. Die Fähigkeiten der
Menschen laßen sich wohl nicht aus dem Anblick
beurtheilen. Die Talente aber wenigstens will
man ausspähen können, da man ZE sagt: der Mensch
sieht nicht verständig aus, oder dem sieht man den
Witz an, er sieht recht fein aus, man sieht ihm
das poßirliche an. Ia man will einem die Ta-
lente des Muths ansehen, allein darin kann
man sich sehr irren, denn mancher hat, wie Homer
sagt: das Gesicht eines Hundes und das Herz
eines Hirsches; und Leute die sehr blöde zu seyn
scheinen, haben öfters den größten Muth, denn
wenn solche Leute mit aller ihrer Sanfmuth nicht
durchkommen, so biethen sie der Gefahr die SPitze,
und dann zeigt sich ihr Muth, der sich auch so bald nicht
entkräften läßt. Es kommt der eigentliche

/ Muth

|P_315

/Muth nicht vom Bewustseyn der körperlichen Stärke
her, sondern er ist eine natürliche Folge von dem Be-
wustseyn des Besizes der Vernunft, und des festen
Entschlußes, auf alles ja auf sein Leben selbst re-
signiren zu können, wenn der Vorsatz nicht anders in
Ausübung gebracht werden kann. Man sieht auch wohl,
daß ein Mensch, der den schwächsten Körper hat, den-
noch Muth haben kann, denn was braucht er einen star-
ken Körper, wenn er auf sein Leben resigniren kann.
So einem Menschen aber sieht man den Muth nicht an,
dagegen sich eine ungestüme Tapferkeit stark in den
Mienen äußert, und auch sehr bald in eine Feigheit ver-
wandelt wird; ein Muth von der ersten Art aber
ist dauerhafter. Man glaubt auch einem Menschen
den edlen Stoltz ansehen zu können, allein darinen
irret man, den Stoltz kann man einem wohl an-
sehen, aber nicht den edlen; denn dieser ist bescheiden
und äußert sich nicht im mindesten; außert er
sich aber, so ist er nicht mehr edel. Wir bemerken,
daß wenn ein Bauer von einem Könige oder wohl

/ gar

|P_316

/gar von einem Kayser reden höret, er sich ihn als
einen Mann vorstellet, der nicht durch die Thüre
durchkommen kann, und bey deßen Anblick man
gleich in die Knie sincken möchte. Solte er ihn nun
zu sehen bekommen, und der Kayser oder der König
wäre wohl noch gebrächlich: so kann er sich nicht über-
reden, in ihm dem Kayser zu erkennen. Uns aber
geht es in gewißer Art eben so, denn wenn wir
einen Auctor gelesen haben, und deßen tieffe
Kentniß und Gedanken bewundert haben, hernach
aber sein Portrait sehen, welches ihn in unsern
Augen in kleiner hypochondrischer Gestalt vor-
stellt: so kommt es uns fast unglaublich vor, daß
dieser Mensch solche Gute Gedancken solte gehabt
haben; auf solche Weise ist die Gegenwart den
Menschen oft nachtheilig. Dieses beweiset genug-
sam, daß man aus dem GesichtsZügen nicht auf
die Talente des Menschen schließen können. Die
Natur hat gewollt daß sich alle Menschen für solche
ansehen solten, die eine gesunde Vernunft besizen.

/ Indeßen

|P_317

/Indeßen ist doch nicht zu läugnen, daß wenn beym
Menschen es gar zu sehr vom gehörigen Mittelmaaß
abweicht, sich solches doch zu äußern pflegt: so
kann man einem recht dummen Menschen seine Dum-
heit, und einen außerordentlichen Gelehrten sehr
leicht seine Gelehrsamkeit «a¿»oder seinen Verstand an-
sehen. Alle unsre Affeckten äußern sich in Mienen,
und umgekehrt, wenn man die Miene deßen der
im Affeckt ist oft nachgemacht: so geräth man
in Affeckt. Die Mienen sind gewiß eine weit
stärckere SPrache als die Worte, und die Pantomime
kann sicher für eine SPrache gehalten werden, die in
der ganzen Welt verstanden wird. Wenn wir
einen belauschen wollen, der völlig ruhig ist, der
an nichts denckt, was irgend sein Gemüth in Bewe-
gung sezen kann, so liegen die Muskeln des Gesichts
bereits in der Lage, die seinen HauptNeigungen
gemäß ist. Es ist kein einziger Mensch ohne Mienen.
So hat einer eine spöttische, höhnische Miene, der
andre eine neidische p. Ja man kann dem andern

/ sogar

|P_318

/sogar seine Grobheit an den Mienen sehen, und
einen solchen sieht man nicht gerne lange an, weil
man immer besorgt ist, von ihm beleidigt zu werden,
wenigstens in Ansehung seiner Eitelkeit.

/Gewiße Gesichter haben gar keine Mienen aus denen
man etwas abnehmen könte, und haben auch keine
Fähigkeit Mienen anzunehmen. Aber selbst diese Un-
biegsamkeit ist wieder eine Miene, und zeigt an, daß
ein solcher Mensch gar keinen Character habe. Manche
können alle Mienen nachahmen, und dies hält man
für ein Zeichen des Witzes.

/Man liebt überhaupt das pantomimische wenn es sich
nur in Schrancken hält, und in keine Carricatur
oder Grimaßen ausartet, solche Menschen aber
können allerley Gestalten annehmen. Mancher hat
einen poetischen Instinckt, d.i. er muß dichten,
es mag gerathen wie es will, er mag ein Talent
haben oder nicht. Ein solcher Mensch hat eine ganz
besondere Gemüths_Beschaffenheit, er kann alle
Character annehmen, aber für sich hat er keinen

/ Character.

|P_319

/Character. Von unserm Poet Pietsch erzählt man, daß
als er den Prinzen Eugen vorstellen wollte, er mit
großen Reitstiefeln in einer gewißen Art von
Wuth herumgegangen sey, und mit einer solchen Miene
von Wuth sezte er ein Gedicht auf; die Miene brachte
ihn auf gute Gedancken und Ausdrücke. Da nun
ein Mensch sehr viele Neigungen haben kann, so wer-
den sich solche auch in seinen Mienen ausdrücken. Wenn
<man> also aus dem ganzen Zuschnitt des Gesichts und dem
Portrait, diejenigen die besonders hervorstechen,
und die Haupt Neigungen bemerken will: so muß
man den Character des Menschen so spalten können,
wie Newton die Farben des Lichts durchs Prisma.
Die Gestalt des Menschen ist noch von den Mienen
unterschieden. So kann ein Mensch, was noch seine
Gestalt betrift, ländlich oder städtisch aussehen,
und dieser Unterschied der Gestalten hat ganz
gewiß unter den Menschen statt. Es geht auch
ganz natürlich zu, denn diejenigen die auf dem
Lande sind, sind erstlich der Luft mehr exponirt,

/ und

|P_320

/und verliehren dadurch die Delicatesse in ihren Ge-
sichtsZügen; die Muskeln verliehren ihre Bieg-
samkeit. Es wirft ein Mensch der auf dem Lande er-
zogen worden, seine Blicke immer auf die Weite,
wodurch er denn schon einen ganz andern Gebrauch
seiner Augen bekommt, als die welche sich im Zimmer
aufhalten. Es haben auch die städtischen jederzeit
etwas sanfteres in ihren Zügen als die Land Leute,
der Grund ist, weil die Land Leute nicht immer wie
die städtischen mit Leuten zu thun haben die vorneh-
mer sind, als sie selbst, diese dagegen mit niedrigen
ZE Pferdejungen Bauern, dabey sie sich eine ge-
biethrische Miene angewöhnen. Selbst die Stände
geben eine unterschiedene Miene. So bemerkt man
an den Fleischhauern etwas troziges und kühnes,
an den Schneidern etwas demüthiges; weil die
Fleischhauer aufs Land gehen müßen um Vieh
zu kauffen, wo sie es mit den schlechtesten Leuten
zu thun haben, denen sie vorpochen und lermen
müßen, außerdem hat ihr Handwerk schon etwas

/ mann- 

|P_321

/mannhaftes an sich. - Einem Geistlichen der die wahre
Religion hat, sieht man das beate das selbst zufriedne
an seinem Gesicht an, und wer kann auch vergnügter
seyn, als der, der die wahre Religion hat.

/Oft macht schon die Geburt und das Herkommen daß ein
Mensch eine besondere Miene hat. Mancher große
Herr hat schon eine Miene, die jeden zurückhält. Aber
man sagt auch oft von einem vornehmen Mann: der
Mann hat ein gemeines Gesicht; was will dies sagen?
ist denn ein gemein Gesicht so was verhaßtes? Man
muß glauben daß das, was schon so allgemein ist,
einen Grund habe, ob es gleich sehr schwer ist den Grund
ausfindig zu machen. Die Raison von obigem Urtheil
ist diese: die Manieren mancher Menschen schlagen
in das Platte, und das liegt schon in ihrem Naturell.
Wenn diese Züge nur nicht recht starck exprimiret
sind, so ändert die Erziehung eine solche Miene, und
so bekommt der Mensch andre Züge, aber die vorigen
mischen sich doch mit ein.

/Der Character des Menschen läßt sich schwer aus

/ den

|P_322

/den Gesichts_Zügen ziehen, weil man hier nicht nur die
Temperamente aufzusuchen hat, sondern selbst das
Herz untersuchen muß, welches von allen Temperamen-
ten ganz unterschieden ist. Indeßen wenn man in einer
Gesellschaft von Menschen ist, die man alle nicht kennt:
so sucht man so viel nur möglich mit seinen Augen, das
Herz des Menschen auszuspähen, damit man sich einen wähle
mit dem man sich unterhalten kann. Man addressirt
sich als denn gerne an einen, dem man etwas gefälliges
ansieht und der Talente verräth. Das allererste was
sich in dem Character des Menschen äußert, ist die Gut-
herzigkeit, nach welcher man nicht gern thut was einem
mißfällt, und leicht über einen Ausdruck, der den auch
beleidet, erröthen kann. Außer dieser Gutherzig-
keit verlangt man an seinem Gesellschafter auch die
Freymüthigkeit, denn dadurch nähren sich die Menschen
am meisten, sie faßen ein wechselseitiges Zutrauen.
Mit der Gutherzigkeit aber müßen Talente ver-
bunden seyn. Man möchte einem Gutherzigen gern
etwas anvertrauen, allein wie kann man es, wenn

/ er

|P_323

/wenn er bloß gutherzig ist, wißen; ob er es %verschweigen
könne. Man möchte gern einem Gutherzigen Geld leihen, allein
wer weiß, ob er sein Wort halten, und es mir zur rechten
Zeit wiedergeben kann.

/Was die Bücher anbetrift, die von der Exegie der Mienen
handeln, so können zwar darin viele richtige Bemerkungen
seyn, allein es läßt sich doch nichts mit Gewißheit sagen.
Eine Bemerkung anzuführen; so hat es seine Völlige Rich-
tigkeit, daß wenn ein Mensch der sonst nicht schielet,
bey Erzählen schielet, so ist das was er sagt gewiß
gelogen. Das roth und blaßwerden, kann ganz ent-
gegengesezte Ursachen haben, der eine wird roth, weil
er sich «dadurch schon» des Verbrechens, deßen man ihn
beschuldiget, bewust ist, der andre bloß des wegen
roth, weil er sich dadurch schon beleidiget findet, daß
der andre gegen ihn einen Verdacht außert.

/Mancher General der nicht vor Batterien erschrickt, wird
roth, wenn er öffentlich reden soll, das macht es be-
trift einen Ehrenpunckt. Derjenige der sich an eine
gewiße Fermetée gewöhnt hat, %und über nichts scheu

/ oder

|P_324

/oder roth wird, hat wenn er es nur nicht mißbraucht,
das größte Geschenck der Natur. Wenn aber diese
Fermeté in eine Dummdreistigkeit ausartet: so ist
nichts so sehr misfällig. Sehr oft gefällt die Blödig-
keit, so daß auch Cicero sich oft bey seinen Reden blöde
stellte, ob er es gleich nicht war. Die Zuhörer haben
als denn - wenn der Redner nur nicht steken bleibt -
eine gewiße Nachsicht gegen den, der aus Respect gegen
sie blöde ist. Die Blödigkeit empfiehlt sich uns sehr, weil
sie unser Mittleiden rege macht. Wer mit Vorsatz
blöde thut, handelt ungroßmüthig. - Ein Mensch kann
gebildet werden.

/I.) Nach seiner Complexion, so daß er alles in Ansehung
seines Körpers ertragen lernt, und dieses geschiehet durch
die Erziehung.

/II.) Nach seinem Naturell: Dies geschiehet durch die In-
formation. Allein solche Informationen haben wir selten
wo das Kind nicht nur in Wißenschaften unterrichtet
wird, sondern wo auch das Naturell eines Kindes zuerst
ausfindig gemacht, und wenn man in demselben einen
Keim des Genies findet, solches aus zu bilden, auch

/ zu

|P_325

/auch zu excoliren sucht.

/III.) Nach seinem Temperament und dies geschiehet durch die
Disciplin, denn der Mensch ist ein Thier, welches Disciplin
nöthig hat, und der ohne Disciplin aufwächßt, ist einem
wilden Thiere nicht unähnlich, und hierin hat Rousseau wohl
gefehlet, wenn er glaubt daß die Disciplin schon aus
der Natur des Menschen fließe.

/IV.) Nach dem Character: und dies geschiehet nur durch Bey-
spiele, denn dadurch daß man ihm sagt, was rechtschaffen
was gut, und tugendhaft heißt, lernt ein Mensch wohl gut
reden von allem; in sein Herz aber können nur Beyspiele
eindringen. Unsre Eltern bilden nicht einmahl die Com-
plexion des Kindes, sie pflegen und vertändeln es,
und wißen nicht daß sie das Kind eben dadurch unglük-
lich machen. Was die Bildung des Temperaments betrift:
so wird dem jungen Herrn in allem der Wille ge-
laßen, damit er nicht vor Aergerniß kranck werde.
Die Information möchte wohl das einzige seyn, wofür
sie sorgen, wie wohl man sich wenig um das Naturell
des Kindes bekümmert. Die Beyspiele die sie den Kindern
zur Bildung ihres Characters geben, sind öfters schlecht

/ genug.

|P_326

/genug. Einige Menschen sind sehr aufgelegt, auch die
schwächsten Empfindungen und Veränderungen in sich wahr-
zunehmen, andre hingegen sind gar nicht geschickt dazu,
und sind auch nicht vermögend andre zu beobachten. Es kann
jemand in der Physiognomie es sehr weit gebracht haben,
allein er kann diese Geschicklichkeit keinem andern mittheilen,
weil er keinem andern das seine in seiner Auferziehung
geben kann. Manches Gesicht erweckt Zutrauen, ein an-
deres Mistrauen, jedoch können dies einige gar nicht
bemerken. Die Mienen sind desto sprechender, je mehr
Iemand gesprochen hat. Daher man an einem solchen der
seine Zeit in der Einsamkeit mit Handwerk, aber in einem
gedanckenlosen Zustande zugebracht hat, fast nichts
bemerken kann. Es wollen zwar einige bey Errathung
des Characters den ganzen Bau des Körpers und nicht
allein die Mienen in Anschlag bringen, allein aus dem
Bau des Körpers kann man nur die Complexion und
einen Theil des aus der Complexion herfließenden
Temperaments, niemahls aber den Character des
Menschen errathen. Indeßen will man doch bemerkt
haben, daß große Leute sanfter seyn als kleine,

/ welches

|P_327

/welches auch von allen Thieren gelten soll. Der Grund
hievon ist dieser, weil bey einem jeden Thier die Be-
wegkraft der Muskeln und die SPannung der Nerven
und Fasern nach Proportion ihrer zunehmenden Größe
abnimmt, wie solches Galilaeus mathematisch erwiesen
hat. Man kann den Menschen auch ferner beurtheilen, aus
seinem ganzen äußren Betragen, aus der Art der Klei-
dung, aus der Wahl der Gesellschaften, aus seinen Lieblings
Zerstreuungen und so weiter. Aus der Kleidung des Men-
schen kann man schon sehen, wie ein Mensch in die Augen
fallen will. Denn die Kleidung und der Aufputz ist eine
Methode die Aufnahme zu praepariren. Einer der sich in
helle Farben mit Gold besezt kleidet, will schon etwas
distingvirt aufgenommen seyn. Derjenige der sich rein
kleidet und reinlich in seiner Wäsche ist, will auch reinlich
aufgenommen seyn. Derjenige der eine harte und
schreiende Farbe zu seiner Kleidung wählt, dem sieht
man es schon an, daß in seiner Art zu dencken, nicht
das wahre Mittelmaaß angetroffen wird. So kann
man also die Richtigkeit im Geschmack eines Menschen
an seiner Kleidung bemercken, nur muß man viele

/ seiner

|P_328

/seiner Kleider, die er sich erwählt hat, sehen. End-
lich will man sogar am Gange des Temperaments des
Menschen errathen, ein cholerischer geht gemeiniglich
steiff, und das hüpfende im Gange zeigt auch das fla-
terhafte im Dencken an.

/ ≥ Vom Charackter der Völcker. ≤

/Es haben Hume und viele andere fast gänzlich abläug-
nen wollen, daß es einen National-Character gäbe,
aus der Ursache, weil uns oft etwas, ganz gleich zu
seyn scheint, bey welchem wir doch wenn unsre Kent-
niße von der Sache erweitert sind, viele Unterscheide
bemerken. So kann man ein paar Menschen von ferne
für ein paar Brüder ansehen, so ähnlich scheinen sie sich
zu seyn, allein je näher man ihnen kommt, desto mehr
Unterscheidungs_Zeichen fallen uns in die Augen.

/Wenn wir aber wißen, daß durch den Character
die Gesinnungen unsers Gemüths verstanden werden,
und hiebey vieles auf das Temperament ankommt -
Denn so ist ein Mensch jachzornig, weil er sich thätig

/ fühlt,

|P_329

/fühlt, das Temperament aber zum Theil aus der Com-
plexion herkommt, und diese nach Verschiedenheit der
Blutmischungen, der Bildung der mechanischen Theile
des Körpers, und der Reizbarkeit der Nerven unter
verschiedenen Climaten auch sehr verschieden ist, so ist es
wohl nicht zu läugnen, daß es einen National_Character
gäbe. Lind von der Kranckheit, der Europäer und
andern Leiden zeigt; was eine corrumpirende Luft,
für ganz besondere Würkungen habe. Er führet
ZE an, daß unter den Negers einige sehr wizige,
einige ganz stupide und dumme Menschen gäbe, nach-
dem sie entweder auf den Bergen oder in den
niedern Gegenden gebohren und erzogen werden.

/Der Character aller Americaner ist die Unem-
pfindlichkeit und die hieraus entspringende Gemeingül-
tigkeit, ja selbst die Creolen die daselbst von Europäi-
schen Eltern gebohren werden sind von der Beschaffen-
heit. Es afficirt sie nichts, sie werden weder
durch Versprechungen noch Drohungen gerührt, ja
sie sind, selbst in Ansehung der Geschlechter Neigung
kaltsinnig. Die Nation welche wohl am meisten

/ in

|P_330

/in Gedancken sizzen kann, sind die Indianer, die in
ihrer Iugend wohl etwas Würffel spielen - welches
an sich schon ein melancholisch SPiel ist - bey zunehmen-
den Iahren aber wohl etliche Stunden nach einander, an
einer Angel sizen können, wenn gleich kein Fisch ist
der anbeißt. Die Negers in Africa sind von einem
gantz entgegengesezten Character. Sie haben eine
sehr starke Empfindlichkeit, sind aber dabey läppisch;
denn obgleich ihre Fasern sehr reizbar sind: so fehlt
ihnen doch eine gewiße Festigkeit in denselben, sie
sind wie die Affen und sehr geneigt zum Tanzen,
so daß sie auch an dem einzigen Tage, den sie von
ihren Arbeiten frey haben übermäßig viel tanzen,
und wenn sie auch den ganzen Tag gearbeitet haben
so plaudern sie doch fast die ganze Nacht hindurch,
und schlafen wenig, ob sie gleich den folgenden
Tag die schweresten Arbeiten zu verrichten haben;
überdem sind sie sehr leichtsinnig und eitel. Der
Character der Ost_Indianer ist zurückhaltend und
behutsam. Sie sehen alle so aus wie Philosophen.

/ Wenn

|P_331

/Wenn ein Europäer sie anführet, so besänftigen
sie ihn, und entfernen sich gerne, um nicht Streit zu
haben. Dies scheint von der Feinheit ihrer Fasern her-
zu kommen, da sie sehr leicht aus aller Faßung gebracht
werden. Die Türken und Tartarn, welche ein Volck aus-
machen - (man rechne aber hier nicht die Nogayer und
Budziaker her, wenn sie gleich die nemliche Religion
haben so sind sie doch nicht von derselben Race) - haben
schon in ihrem Aussehen einen gewißen Stoltz, sie sind
trozig und unterdrückend, und dies sind sie zu aller
Zeit gewesen und werden es auch wohl bleiben. Ein
National_Character ist nicht eine bloße Chimaere
denn so wie ein Kalmuckisches und Nogaisches Ge-
sicht gleich in die Augen fällt, so leicht bemerkt man
auch, von welcher Nation Iemand ist, wenn man den
National_Character kennt. Wer kennt wohl nicht
einen Franzosen? Unter den Preußen kann wohl
kein National_Character angetroffen werden, weil
die Nation sehr gemengt ist; indeßen will man ihr
doch die Falschheit und die Zurückhaltung beymeßen, das
leztere kann wohl als eine Folge davon angesehen

/ werden,

|P_332

/werden, daß die Familien ganz verschieden, und sich
einander fremde sind. Von Czeremissen - welches Hey-
den sind, die an den Gränzen des Gebürges welches
Rußland vom kasovschen Gouvernement absondert,
wohnen - hat man mir versichert, daß sie alle Fremde
unterscheiden können, sie mögen gekleidet seyn wie
sie wollen.

/ ≥ Vom Charackter der Geschlechter. ≤

/Bey dem Geschlecht unter den Menschen, welches die
größte Schwäche bey sich führet, in deßen Organi-
sation die wenigste Dauerhaftigkeit und die mindste
Stärcke ist, kann man sicher die mehreste Kunst vor-
aus sezen, so wie bey kleinen Machinen zwar nicht
die Dauerhaftigkeit der Großen, jedoch aber mehr
Kunst angetroffen wird; und es ist weit künstlicher
sie so einzurichten, daß kleine Machinen die
größeren bewegen als wenn große kleinre be-
wegen oder sie in Lauff bringen sollten. So muß auch
der natürliche Character eines Weibes die den
Mann bewegen soll, eine angelegte Kunst seyn.

/ Dies

|P_333

/Dies sind die allgemeinen «Regeln» Betrachtungen die
uns zu dem Beweise vorbereiten, daß von dem
weiblichen Geschlecht alles durch die Kunst und unter
einem gewißen Schein ausgerichtet werden müste.
Es gehört zur Vereinigung zweyer Personen nicht
nur die Einstimmung, Einerleyheit, Gleichheit und
Aehnlichkeit, denn wenn dies nur wäre: so könte zwar
eine Person an der andern Gefallen haben, sie könten
aber doch einander entbehren; sondern es wird zur
Vereinigung zweyer Personen von verschiedenem
Geschlecht erfordert, daß sie sich einander unentbehr-
lich seyn müßen, sie können sich aber nur unentbehr-
lich seyn, wenn der einen Person dasjenige fehlt, was
die andre besizt, und einer wechselseitig die Bedürf-
niße des andern ersezen kann, denn nur auf solche
Weise kann eine dauerhafte Verbindung gedacht werden,
wofür denn auch die Natur und die Unentbehrlichkeit
zwischen beyden Geschlechtern gesorgt hat. Sie hat
das dem Weiblichen Geschlecht versagt, was sie dem
Männlichen gegeben, und umgekehrt. Wir bemer- 

/ ken, daß

|P_334

/daß wenn die Weiber critisiren, sie ein Recht zu
haben glauben, über ihre Schwäche zu spotten, und
wenn solches nur mit Manier geschiehet, ohne die Grän-
zen der Achtung zu überschreiten, so findet sich das
weibliche Geschlecht hierdurch gar nicht beleidigt. Der
Grund ist dieser, weil es so sehr gut weiß, daß eben
die Schwäche, der Mangel worüber man spottet,
diejenigen Faden eben sind, in die sie die Männer
verstricken. Der Mann ist einer Fliege nicht un-
ähnlich, die wenn sie ins Gewebe kommt, noch so viel
flattern mag, ihre Erlösung ist vereitelt; ein
Frauenzimmer ist nie liebenswürdig um des
Männlichen, das ihr beywohnet, eben so wenig als
eine Mannsperson es um des weiblichen willen ist,
das er an sich hat. Die Schwäche steht einem Frauen-
zimmer immer sehr wohl an, und hat eine sehr große
Würkung auf den Mann, so daß es sehr oft eine gewiße
Weichlichkeit, Ekel, Furchtsamkeit affectiret, bloß um
die Großmuth bey dem Manne rege zu machen, denn
es liegt schon in der Männlichen Seele ein natürlicher

/ Beruff

|P_335

/Beruff das Weib zu schützen, und es ist gleichsam
dem Diplom der Menschheit zuwieder, das Weib mit
harten Worten viel weniger mit Schlägen anzugreifen.
Es fordert also die affectirte Schwäche, die Großmuth
der Männer auf. Solches sehen wir von allen ZE: wenn
Mann und Frau an ein Waßer kommen welches sie
nothwendig durchwaten müßen und sie hätten beyde
Schuhe und Strümpfe an, so hilft dem Manne nichts, er
muß die Frau auf dem Arm nehmen und sie durch-
tragen. Daß der Mann die Beschwerden über sich
zu nehmen verbunden sey, weiß das Frauenzimmer
so gewiß, daß bey ihnen, dem Mann eine Be-
schwerde zu verursachen, so viel heißt, als
ihm dadurch eine Gelegenheit geben, seinen ihm von
der Natur auferlegten Amte genug zu thun.
Das Weib muß nicht die Natur dirigiren, son-
dern die Natur muß den Mann und der Wille
des Mannes hinwiederum dem Willen der Frauen
unterworffen seyn. Das heißt aber nicht so
viel, die Frau muß den Mann beherrschen,

/ sondern

|P_336

/sondern die Sachen gehören alle zum Departement
der Männer. Wenn also eine Sache im Hause fehlt
muß der Mann für die Herbeyschaffung derselben
Sorge tragen, allein er muß doch hierin die Frau
um Rath fragen und ihrem Willen gemäß handeln.
Am Ende ist also die Frau mächtiger Als der Mann.
sie ist es aber mit mehrerer Bequemlichkeit. Ein
bewunderns würdiges Kunststück der Natur
bemerken wir in dieser Einrichtung, daß sie
nemlich den Mann phisicalisch - stärker als das
Weib gebildet, ihn aber schwächer gemacht in An-
sehung der Neigung. Es ist gewiß daß die Neigung
der Männer gegen die Weiber, die gegenseitige
weit übertrift, und dies ist eben was die Männer
schwach macht. Hieraus entspringt auch das blinde
Zutrauen des Mannes gegen das Weib und die
Leichtgläubigkeit in Ansehung deßen, was ihm
das Weib sagt. «D»Ia die Frau glaubt auch, daß
daß es eine Schuldigkeit des Mannes sey, ihr
alles gerade zu zu glauben. Pope erzählt

/ vom

|P_337

/vom Januarius und der Maja, daß als Ersterer
diese in einem Ehebruch ertappte und seinen Verdruß
äußerte, sie zu ihm gesagt haben soll: Ach Verräther
du liebst mich nicht mehr, denn du glaubst mehr dem,
was du siehst, als was ich dir sage.

/Die große Neigung des Mannes gegen das Weib macht
ihn auch so offenherzig gegen daßelbe, daß er ihr
alles entdeckt, da im Gegentheil das Weib ihre eignen
Geheimniße sorgfältig zu verschweigen weiß.
Das Frauenzimmer kann sonst schweigen, man ver-
stehe dies aber nicht von ihren eignen Geheimnißen.
Das was den Mann ferner schwächt, ist dieses
daß dem weiblichen Thränen zu Gebote stehen.
Die Miene der Unschuld die es anzunehmen
weiß, die paßenden Exclamationen bey ihrer
Vertheidigung, kurz alles vereiniget sich in ihnen
den Mann zu unterwerffen, ihn zu entwaffnen
und seine Großmuth zu excitiren. Zu dieser
ihrer Vertheydigung hat ihnen die Natur auch eine
besondere Beredsamkeit verliehen. Es hat das %weibliche
Geschlecht auch eine besondere Fähigkeit sich sehr

/ ge- 

|P_338

/geschwinde von allen Dingen eine superficielle Kent-
niß zu verschaffen und eine besondere Leichtigkeit von
denjenigen zu reden, was sie nur halb wißen. Es
sagt auch ein gewißer Aucktor, daß es sehr gut und
nüzlich sey, daß das Frauenzimmer so viel spräche denn
wie wolten sonst die kleinen Kinder reden lernen,
wenn nicht jemand wäre der ihnen immer vorschwazte.
Es hat die Natur dem Frauenzimmer zu einen ge-
doppelten Endzwek die Gesprächigkeit ertheilt, nem-
lich um sich wohl vertheidigen zu können, und um
den Mann von seinen ernsten Geschäften ausruhen
zu laßen. Daß es aber besonders geschickt zur
Vertheidigung ist, sieht man an den gemeinen Leuten.
Ein Handwerker schickt, wenn seine Gegenwart nicht
nothwendig erfordert wird gern seine Frau aufs
Rathhaus, um die strittige Sache mit seinen Nachbarn
auszumachen, weil er nicht so gut mit der SPrache zu-
recht kommt als das Weib, denn in Disputen wo es
auf ein Gezäncke ankommt, übertrift wohl nichts das
weibliche Geschlecht. Es glaubt nie genug gesagt zu

/ haben

|P_339

/haben, wenn es gleich einige Stunden lang gesprochen
hat. Die weibliche Neigung ist immer allgemeiner
als die männliche, und die Weiber sind indifferenter
gegen einzelne Männer. Dagegen die Männer leicht
auf eine einzige Person verfallen, und hierin ist eben
das Weib stärcker und der Mann schwächer. Die
Natur muste auch das Weib in Ansehung der Neigung
nicht schwächer machen, denn so wäre sie, da sie phy-
sisch schwächer ist als der Mann, eine vollige Sklavin
deßelben. Es ist auch das Frauenzimmer nicht so fein
in der Beurtheilung und der Wahl der Männer, als
als diese in Ansehung der Wahl auf die Weiber, Das
Frauenzimmer hat hierin einen etwas derben Geschmack
es kann sehr leicht einen Mann vergeßen und
den andern lieben. Allein die Männer beson-
ders in der Iugend, ehe sie zur reiffen Uber-
legung kommen, opfern wohl ihr ganzes Vermögen
auf, bloß eine Person die ihnen gefällt, habhaft
zu werden. Die Ursache liegt zum Theil darin,
die Männer sind nicht so schön gebaut als die Frau-
enzimmer, wenigstens fehlen ihnen die feinen

/ Ge- 

|P_340

/Gesichts_Züge die man beym Frauenzimmer be
merkt. Es mußte also die Natur nothwendig einen
etwas derben und weniger feinen oder zarten Ge-
schmack in Ansehung der Wahl der Männer geben,
denn da sie alle nicht recht schön, so würden sie keinen
lieben können. Hingegen mußte die Natur den Män-
nern einen verfeinerten Geschmack hierin geben,
damit sie nicht vergeblich die feinen Gesichts_Züge an
dem Frauenzimmer verschwendet hätte. Es hat
auch die Natur die Frauenzimmer schon dazu be-
stimmt, nicht Männer zu wählen; sondern sich ganz
gleichgültig gegen das andre Geschlecht zu stellen,
so daß sie nicht anders in die Vereinigung willigen
müßen als wenn sie von der Manns_Person dazu
gezwungen zu seyn scheinen und es schon nicht
anders seyn kann. Sie müßen daher niemahls
eine Neigung gegen eine Manns_Person verrathen,
denn wer einer Neigung anhängt, wird schwach,
nun aber hat die Natur nicht gewollt, daß die
Frauenzimmer, in Ansehung nemlich in Ansehung

/ der

|P_341

/der Neigung schwächer seyn sollen, daher sie ihnen
eine Stärke zugetheilt und ein Vermögen damit ver-
bunden, ganz gleichgültige Mienen annehmen zu kön-
nen, wenn sie gleich für Begierde brennen, einen
Mann zu ehelichen. Das Fundament dieser Masque
ist also, daß das Frauenzimmer in Rücksicht der
Neigung stärcker seyn soll, als der Mann. Der
Mann liebet seine Frau; die Frau aber duldet nur
seine Caressen. Das weibliche Geschlecht muß gegen
die Männer gantz indifferent seyn, denn sie sollen
nicht wählen, sondern gewählt werden. Es geschiehet
auch sehr oft, daß ein Frauenzimmer nicht den
Mann bekommt, den es wünscht, würde nun sein
Geschmack von Natur aus nicht indifferent seyn:
so würde das Frauenzimmer unglücklich seyn.
In Regula kann das Weib alle Männer dulden
wenn sie auch excessiv häßlich sind. Das Fr-
Frauenzimmer soll auch, wenn es verheyrathet
ist, nicht aufhören zu gefallen, daher ihnen
die Natur die reizenden Gesichts-Züge

/ auch

|P_342

/auch im verheyratheten Stande noch läßt, da-
mit es einem dritten gefallen könne, wenn der
Mann stirbt, denn an und vor sich hat das Frauenzim-
mer keine Quelle des Unterhalts. Es ist also jedes
Frauenzimmer auch verheyrathet noch immer eine Co-
quette im gelindern Verstande. Es muß zwar con-
tinuiren zu gefallen, wenn es gleich verheyrathet ist,
nur nicht die Gränzen der Bescheidenheit überschreiten.
Auch bemerkt man, daß ein Frauenzimmer sich nicht sehr
über den Verlust des Mannes härmet, sondern bald
einem andern zu gefallen sucht. Aus allem diesem
leuchtet die weise Sorge der Natur für die Erhal-
tung der Art hervor; es ist diese philosophische
Betrachtung über den Geschlechter Character sowohl
in Ansehung unsrer künftigen Führung, als auch bey
Erziehung der Kinder sehr nüzlich.

/Hume in einer seiner philosophischen Unter-
suchungen führt an, daß ein Frauenzimmer
eher alle Satyren vergeben könne, als die Satyre
auf den Ehestand, vielleicht weil es weiß, daß

/ der

|P_343

/der Mann alle Beschwerden des Ehestandes mit Recht
auf ihre Rechnung bringen könne. Die wahre Ursache
ist wohl diese, weil in der That der Werth des Frauen-
zimmers nur darauf beruht, daß es die einzige
Bedingung sey, unter welcher das männliche Geschlecht
in einer ehelichen Verbindung leben kann; Das männ-
liche Geschlecht vor sich selbst, das weibliche aber nur d
durch das männliche. Der Mann verliehrt bey der
Verbindung, die Frau gewinnt; denn der Mann
verliehrt dabey einen Theil seiner Freyheit, das
Frauenzimmer aber, wird durch die Ehe frey, indem
ihm als einer verehelichten Person vieles frey steht,
was im unverehelichten Stande ihm unanständig
war. Die Freyheit ohne Vermögen ist auch von
keinem Nuzen. Ein Frauenzimmer aber bekommt
durch die Verbindung diese Macht, dieses Vermögen,
worin sie ihre Freyheit äußern kann.

/Was das Regiment im Hause betrift, so muß
man hier die Regierung oder Verwaltung des Hau-
ses wohl von der Herrschaft unterscheiden. Die
Herrschaft im Hause führet der Mann, die Regie- 

/ rung

|P_344

/rung die Frau. Der Mann sieht auch das Gantze
im Hause und schaft das nöthige herbey, die Frau
aber darauf, daß das, was schon in einem Hause
vorhanden ist, zu einem vergnügenden und ange-
nehmen Genuß wird. So findet man doch nicht selten
daß die Herrschaft auf Seiten der Frauen ist;
hier kann man sich eine allgemeine Regel merken:
Ein junger Mann ist allezeit Herr über eine alte
Frau, und eine junge Frau allezeit<2> herrscht<1> über<3>
einen alten Mann. Es zeigt sich hier ein sehr guter
Prospect in Ansehung der Ursache dieser allgemeinen
Regel und Erfahrung. Wir wißen nemlich daß
jederzeit derjenige der nicht zahlen kann sehr höf-
lich ist; daher wenn man 2 Leute bey einem Kauf-
mann siehet, sehr leicht unterscheiden kann, welcher
die Waare von ihnen bezahlt hat, und welcher sie
auf Credit genommen. Lezterer ist jederzeit sub-
miss. Eben so geht es auch mit den Ehen; dahero
es kein Wunder ist, daß wenn der Mann nicht zahlen
kann, die Frau die Herrschaft im Hause führe.

/ Hieraus

|P_345

/Hieraus sieht man, daß das Mittel der Herrschaft
des Hauses, die vorhergehende Iugend sey. Derjenige
also welche«s»r ins künftige nicht ein Sklave seiner
Frau seyn will, sondern an ihr eine Gesellschaf-
terin aber keine Gebietherin haben will, muß alle
Ausschweiffungen in seiner Iugend vermeiden; ob-
gleich die kleine Beobachtungen sind, so fließen sie
doch ins ganze Leben ein. Wenn aber die Frau wieder
die Natur die Herrschaft im Hause führet, so geht
alles verkehrt im Hause zu, denn wenn die Frau
gleich einen großen Verstand hat, so ist er doch von
einer gantz andern Natur als der Mannliche.

/Ein Frauenzimmer ist immer geschickter Mittel zu
einer Absicht zu erfinden, der Mann aber besizt
mehr gesunde Vernunft zu Erwählung eines
Zwekes. Es ist in der That auch die größte Umehre
eines Mannes von den Einfällen einer Frau zu
dependiren. Daß auch das Frauenzimmer sehr
wohl weiß, daß wenn es sich die Herrschaft an-
maßet, es in die Rechte des Mannes greift, solches

/ sieht

|P_346

/sieht man daraus, weil die Frau, wenn sie den Mann
ins Verderben stürzt, doch noch dem Mann Vorwürffe
macht und sagt: Du bist Mann, du hättest es wißen
sollen. Der Haupt Endzweck des Frauenzimmers ist
der Glantz womit sie andere ihres Geschlechts zu ver-
dunckeln sucht, daher sie gemeiniglich für sich allein
schlecht eßen, der Mann wird zwar auch abge-
speiset werden, allein er hat den Vortheil, daß wenn
er eine fete giebt, alles desto prächtiger seyn wird.
Das Frauenzimmer ist überhaupt mäßiger, als das
männliche Geschlecht aber nur für sich zu Hause. Ihre
ganze Bemühung «B»gehet nur dahin, daß sie gut in die
Augen fallen, diesen Instinct hat ihnen die Natur
deswegen gegeben, weil sie gewählt werden sollen;
es ist aber doch sonderbar, wie es kommt, daß ein Frau-
enzimmer sich niemals für Mannspersonen puzt,
sondern für anderes Frauenzimmer. Es betrift
dieses einen Ehrenpunckt, in Ansehung anderer Frau-
enzimmer und ist schwer zu erklären. Die wahre
Ursache scheint diese zu seyn, weil das Frauenzimmer

/ einer

|P_347

/einer durchgängigen Jalousie ist; kein Frauenzimmer
hat an dem andern eine wahre Vertraute. Sie sind
sich einander Nebenbuhlerinnen und deshalb sucht eine
die andre zu übertreffen. Es ist auch das Frauenzimmer
in Ansehung des Titels weit delicater als die Männer.

/Uberhaupt sucht ein jedes Frauenzimmer die Praecedence
vor dem andern ZE eine Adeliche vor der Bürgerlichen.
Der Grund ist dieser. Ie zweydeutiger der Unterschied
zwischen zwey Ständen ist, desto verpichter ist ein jeder
auf Vorzüge. Nun ist der Unterschied des Standes unter
dem Frauenzimmer sehr klein, weil ihr Stand in Ansehung
der Erbfolge von keiner Würkung ist, sie werden von
den Mannspersonen nach ihrem unmittelbaren Werth be-
trachtet, daher ein schönes artiges Frauenzimmer
eher verdient eine Prinzeßin zu werden, wenn sie
gleich von niederm Stande ist, als eine vom vornehm-
sten Stande, die sonst keine Verdienste hat.

/Ein vernünftiger Mann wird auch nicht auf den Rang
des Frauenzimmers sehen, den er ihr durch die Ver-
mählung selbst geben kann - es kann sich auch ein

/ niedriges

|P_348

/niedriges Frauenzimmer, in den Stand in dem sie
ist, leicht schicken - Da also das Frauenzimmer
dem Rang nach wenig unterschieden ist, so ist ihre
Jalousie unter einander desto stärcker. Auch hier
hat die Natur ihre Absicht gehabt, weil sie gewollt, daß
jedes Frauenzimmer ihrem Mann allein anhangen soll:
Wir bemerken auch daß das Frauenzimmer karger ist
als die Mannspersonen; daher sie auch gerne Geschenke
annehmen, wenn sie auch noch so reich sind, dieses
kommt daher, weil es durch Geschencke niemals obli-
giret wird, ein Mann aber wird durch sie zu etwas
verbunden. Man pflegt nach der heutigen Mode
denjenigen einen guten Wirth zu nennen, der karg
ist, in der That aber kann man dem diesen Nahmen
geben, bey welchem man gut aufgenommen wird.
Wer aber ist nun wohl weniger ein guter Wirth,
als ein Karger? Der sich selbst nicht einmahl gut
aufnimmt? Es ist eine ganz plebeje und plumpe
Art reich zu werden, daß man es seinem Munde
entzieht. Es aber so machen, daß man ohne großen

/ Auf

|P_349

/Aufwand doch gut lebt, und andre auf eben die Art
gut aufnimmt, heißt gut wirthschaften.

/Alles Frauenzimmer incliniret zum Geitz und wenn's
ja etwas giebt, so ist es so viel, daß ihnen e«t»ntweder
gar nichts kostet, oder sie nicht brauchen können. Auch
hierin kann man die fürtrefliche Einrichtung der Natur
bewundern, die gewollt hat, daß der Theil des Geschlechts
der nichts erwirbt, auch nicht freygebig seyn soll. Es
ist gut daß der Mann freygebig und die Frau karg ist,
daß oft bloß dadurch ein Hauß in Aufnahme kommt.
Man siehet auch daß das Frauenzimmer dem Putz
und der Reinlichkeit ergeben ist. Es giebt aber in An-
sehung der Reinlichkeit einen doppelten Geschmack, nemlich
einen persönlichen und einen modischen. Der persönliche
Geschmack der Reinlichkeit hat gemeinhin der Mann,
er sieht nicht viel darauf ob es im Hause reinlich ist,
wenn es nur auf seinem Leibe reinlich ist; daher
auch der Mann weit eher ein weißes Hemde anzieht
als die Frau. Das Frauenzimmer hat den modischen Ge-
schmack, es sorgt nur dafür, daß äußerlich an ihrem

/ Leibe

|P_350

/Leibe und im Hause alles reinlich sey was in die Augen
fällt, allein um das was keiner sieht, sind sie unbeküm-
mert. Uberhaupt geht alles Frauenzimmer auf den äußern
Schein, der Mann aber auf die Solidität und wahren
Besiz der Sache. Beyde der Mann und «F»die Frau besizen
eine Ehrliebe und eine Ehrbegierde, aber alle Eigen-
schaften die sie gemein haben, sind doch gantz unter-
schieden. Deshalb ist angemerkt, daß das Frauenzimmer
mehr darauf hält, was man von ihm sagt, die Männer
aber darauf, was man von ihnen denckt. Wenn das
Frauenzimmer nur versichert ist, daß man das, was
man von ihnen weiß, nur nicht sagen darf; so sind
sie schon unschuldig und kehren sich wenig daran was
man von ihnen denckt; dies macht schon eine große
Verschiedenheit des Ehrenpunkts zwischen Mann %und
Frau. Wie mag es kommen, daß das Frauenzimmer
die Schmeycheleyen der Männer nach den Worten
aufnehmen kann? woher ist dies ein Tribut den man
ihnen erlegen muß, da doch sonst die Schmeycheleyen
Laster sind? Die Ursache ist diese; der Mann
giebt sich selbst den Werth, des Frauenzimmers Werth

/ aber

|P_351

/aber hängt von der Neigung der Mannspersonen gegen
sie ab; denn hätte das Männliche Geschlecht keine Neigung
zu dem Frauenzimmer: so würde es die niedrigste Crea-
tur in der Welt seyn. Es ist also eine Schuldigkeit des
Mannes seine Neigungen durch Schmeycheleyen zu äußern,
%und dadurch den Werth des Frauenzimmers zu bestimmen.
Das %.Frauenzimmer weiß auch gut, daß die Schmeicheleyen
ein Tribut sind, daß sie sogar stoltz darauf thun,
und die Männer billigen diesen Stoltz auch sehr, daß
ohne denselben beynahe ihre Neigung wegfallen würde.
Wenn man nun aber einem recht schönen Frauenzimmer
recht hochgetriebenen Schmeicheleyen vorsagt - worüber
man in Geheim lachen möchte - ist möglich daß dieses im
Ernst von ihr aufgenommen werde? vielleicht würde sie
es eben so wenig im Ernst aufnehmen, als man die über-
triebnen Complimente im gemeinen Leben davor hält? Nein!
Daß Frauenzimmer glaubt diese Schmeicheleyen ganz gewiß,
wenn ihnen gleich der SPiegel das Gegentheil sagt, denn weil
man doch keine Regeln von dem hübschen Aussehen geben
kann, so glauben sie daß sie vielleicht in den Augen desjenigen,
der ihnen schmeichelt, würklich hübsch sind, %und daß sie

/ in

|P_352

/in Absicht dieses Menschen eine Zauberkraft besizen. Und
diese Schmeycheleyen, so wie auch die Geschencke sind die beyden
Versuchungen wodurch das %.Frauenzimmer so leicht verführet wird.
denn indem das Frauenzimmer die Schmeycheleyen fest glaubt,
so denckt es, daß es Schade wäre einen solchen Menschen
fahren zu laßen, in deßen Augen sie eine solche Göttin ist,
und dann ist es gefangen.

/Endlich bemerkt man noch; daß das %.Frauenzimmer die Verdienste
nicht nachdem innern Werthe schäze sondern nach dem Verhältniß
welches die Verdienste auf sich selbst haben; daher wenn sie
eines Mannes Freygebigkeit loben hören, so dencken sie gleich:
was hilfts, wenn er dir doch noch etwas gäbe. Dieses aber
zeigt an, daß sie selbst kein Verdienst besizen wollen, sondern
zufrieden sind, wenn sie aus eines andern Verdiensten pro-
fitiren können. Dahero wenn ein Mann %und ein Frauenzimmer
ein %und ebendenselben Roman lesen, worin etwa ein Großmüthiger
Mann geschildert worden ist, so wird der Mann dabey dencken: wärst
du doch auch so ein großmüthiger Mann, die Frau aber wird es
ganz gleichgültig lesen. Diese verschiedene Schäzung der Ver-
dienste aber macht eine große Verschiedenheit in Ansehung der
Moralität der Handlungen.

/δSchnörkel Ende. δSchnörkel