/δTitelblatt
/ ≥ Immanuel Kant'
/Menschenkunde
/oder
/philosophische Anthropologie.
/Nach
/handschriftlichen Vorlesungen
/herausgegeben
/von
/Fr. Ch. Starke.
/Wer Menschen kennen lernen will, der muß sie nach ihren
/Wünschen beurtheilen.
/Hippel.
/Leipzig, 1831
/Die Expedition des europäischen Aufsehers. ≤
/δVorrede_des_Hg: δS_III-XVI
/δnicht_transkribiert
/δInhaltsverzeichnis: S_XVII-XX
/δnicht_transkribiert
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/ ≥ Kant's philosophische Anthropologie.
/Nach Vorlesungen bearbeitet. ≤
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/Zwei Arten des Studirens muß man unterscheiden: es giebt grüblerische Wissenschaften, die dem Menschen nichts nutzen, und es gab ehemals Philosophen, deren ganze Wissenschaft darin bestand, einander an Scharfsinn zu übertreffen, diese hießen Scholastici; ihre Kunst war Wissenschaft für die Schule, man konnte aber keine Aufklärung fürs gemeine Leben daraus gewinnen. Es kann Einer ein großer Mann seyn, aber nur für die Schule und ohne daß die Welt Nutzen von seiner Kenntniß hat. Eine zweite Art des Studirens besteht darinnen, daß man sich nicht bloß für die Zunftgenossen der Schule ein Ansehen verschafft, sondern daß sich auch das Wissen über die Schule hinaus erstreckt und man seine Kenntnisse zum allgemeinen Nutzen auszubreiten sucht: dies ist das Studium für die Welt. Schulgerecht ist eine Wissenschaft, die der Schule und den Professionsgerechtigkeiten gemäß ist; dies ist eine nicht zu verachtende Vollkommenheit; denn erst müssen alle Wissenschaften schulgerecht; hernach können sie auch populär seyn, um von bloßen Liebhabern angenommen und benutzt zu werden. Zuerst soll die Wissenschaft den Studierenden von Handwerk gnüge thun und dann sehen wir, wie sie von gemeinen Menschen am besten gefaßt werden kann. Derjenige, der von seinen
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/Kenntnissen einen scholastischen Gebrauch macht, ist ein Pedant, er weiß seine Begriffe bloß mit den technischen Ausdrücken der Schule zu bezeichnen und spricht bloß in gelehrten Redensarten; er macht einen Gebrauch in der Welt von bloß scholastischen Erkenntnissen, aber hier muß man seine Kenntnisse immer nur populär anzuwenden verstehen, damit auch Andere, nicht bloß Gelehrte von Profession, uns verstehen. Man lacht, wenn Pedanten ihre Kenntnisse so unschicklich anbringen, daß sie in der Welt von denselben einen scholastischen Gebrauch machen; denn man lacht über nichts mehr, als wenn einer keine Unterscheidungskraft (judicium discretivum) zeigt, und nicht sieht, was sich für die Umstände schickt. Daher giebt der Pedant, der sonst ein verdienstvoller Mann seyn kann, oft Gelegenheit zum Lachen. Es ist also nothwendig, daß wir von unsern auf Universitäten erworbenen Kenntnissen einen populären Gebrauch machen lernen, damit wir im Umgange mit Menschen wissen, wie wir Menschen bilden oder uns bei ihnen beliebt machen wollen. Wir sollen nicht mit der Schule, sondern mit der Welt zu thun haben, wir müssen also die Welt studiren. Ein Mensch hat Welt, oft wenn er wenig weiß, aber das Wenige gut andern Menschen beibringen kann. Jemand kann sehr gelehrt seyn, aber da er nicht Weltkenntniß hat, so kann er davon keinen vortheilhaften Gebrauch machen, und seinen und des gemeinen Wesens Nutzen dadurch befördern. Weltkenntniß heißt auch sonst Kenntniß der Natur, aber das ist nicht die Bedeutung der populären Sprache, da heißt sie bloß Menschenkenntniß. -_
/Der Mensch kennt die Welt d.h. er kennt den Menschen in allen Ständen. Weltkenntniß im gewöhnlichen Verstande heißt Kenntniß des Menschen. Die Franzosen sagen, der Mensch hat Welt, d.i. er hat
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/Kenntnisse, die nicht bloß in Speculationen bestehen, sondern die er wohl an den Mann zu bringen weiß. Wir bedürfen der Beihülfe anderer Menschen zur Erlangung anderer Dinge; daher nennt man vorzugweise die Weltkenntniß Kenntniß des Menschen. Was ist nun zu thun, um die Welt kennen zu lernen? Um zu ihrer Kenntniß zu gelangen, geht der Eine auf Reisen, der Andere tritt aus seinem Familienkreise heraus und erweitert seinen Umgang bis zu dem Theile der menschlichen Gesellschaft, der am meisten gebildet ist, d.i. bis zum vornehmen Theile. Anfänglich war sein Umgang nur auf seine Familie, auf seine Zeitgenossen auf der Schule eingeschränkt, dann geht er zu verfeinerten Leuten über. Die Uebung und die Erfahrung geben für uns die beste Schule, ab, die Menschen kennen zu lernen, aber sie reichen allein nicht zu, unsere Weltkenntniß zu vollenden und praktisch zu machen. Ohne daß man über Menschen nachdenken lernt, wird man durch den Umgang nicht viel gelehrt werden. Daher muß man den Andern zum voraus auf das bringen, worauf er bei den Menschen acht zu geben hat; man muß hiervon Grundideen angeben, wornach man Menschenkenntniß sich erwerben kann: ist man nicht unterrichtet, so kann man mit Menschen lange umgehen, ohne etwas an ihnen gewahr zu werden. Hat man uns aber die Hauptmomente gezeigt, worauf wir zu achten haben, so wissen wir, worauf wir merken müssen. Zur Erkenntniß des Menschen gehört also eine vollständige Belehrung von dem Mannigfaltigen und Charakteristischen im Menschen. Die beiden letzten sind von großer Wichtigkeit und müssen allemal bei der Erkenntniß des Menschen vorausgehen und dadurch müssen die Erfahrungen erweitert werden. Mit diesen Belehrungen ausgerüstet, kann man in kurzer Zeit mehr lernen als ein Anderer in seinem ganzen Leben; denn wenn sie ein-_
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/mal zum Grunde liegen, so wird es leicht, sie zu erweitern, und man hat dadurch auch mehr Vergnügen im Umgange, weil der größte Theil desselben überhaupt im Nachdenken besteht. Oft kann ein übler Ton tödtliche Langeweile verursachen, aber ein denkender Kopf findet bei solchen Ungeselligkeiten immer Stoff zu seinen Betrachtungen; dabei lernt er und er hat seine Zeit nicht unangenehm zugebracht. Diese Präliminärkenntnisse werden das Nöthige seyn, um in der Menschenkenntniß fortzukommen.
/Es giebt dreierlei Arten von Lehren, die alle zu unserer Vollkommenheit beitragen. Die eine Art macht uns geschickt, die andere klug, die dritte weise. Zum Geschickt werden dienen alle Wissenschaften der Schule: so lernt man z. B. Geschichte, um geschickt zu werden in Bestätigung der Dinge der Erfahrung. Wollen wir einen Schritt in die Welt thun, so müssen wir lernen, wie wir klug werden sollen.
/Die höchste Stufe der Weisheit ist der Geist der Vollkommenheit, aber sie wird selten erreicht. Das Geschickte ist das Theoretische der Schule, aber die Anweisung, die uns klug macht, ist die Anweisung zum Praktischen, wie wir von unserer Geschicklichkeit Gebrauch machen sollen. Die Geschicklichkeit ist auf Sachen, die Klugheit auf Menschen gerichtet. Der Uhrmacher ist geschickt, wenn er eine vollkommene Uhr macht; wenn er sie aber geschwind an den Mann zu bringen weiß, da er sie gut nach der Mode macht, so ist er klug. Allein wenn wir uns einen Einfluß auf Menschen erwerben können, so haben wir auch einen Einfluß auf Sachen; denn Menschenhände bringen alles aus der rohen Natur hervor. Die Klugheit beruht also bloß in der Kenntniß des Menschen, vermöge welcher wir Andere nach unserer Absicht zu lenken im Stande sind.
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/Die Kenntniß des Menschen ist zwiefach: die speculative Kenntniß des Menschen macht uns geschickt und wird in der Psychologie und Physiologie abgehandelt, aber die praktische macht uns klug; sie ist eine Kenntniß von der Art, wie ein Mensch Einfluß auf den Andern haben und ihn nach seiner Absicht leiten kann. Eine jede praktische Kenntniß, sofern sie dazu dient, unsere gesammten Absichten zu erfüllen, nennt man pragmatisch. Jede Lehre der Weisheit ist moralisch, und jede der Klugheit pragmatisch. Eine Lehre ist pragmatisch, sofern sie uns klug und in öffentlichen Dingen brauchbar macht, wo wir nicht bloß die Theorie, sondern auch die Praxis nöthig haben.
/Die Kenntniß des Menschen nennen wir mit einem allgemeinen Namen Anthropologie, welche auf keiner andern Akademie gelesen wird. Platner hat eine scholastische Anthropologie geschrieben. Wir haben aber weiter nichts zur Absicht, als bloß aus dem Mannigfaltigen, was wir am Menschen wahrnehmen, Regeln zu ziehen; denn so unerhört verschieden die menschlichen Launen auch zu seyn scheinen, so ist hier doch mehr Regelmäßigkeit, als man denken sollte. Dieses Spiel der menschlichen Handlungen werden wir unter Regeln zu bringen suchen. Jeder Mensch ist über eine Regel erfreuet; z.B. Sharp, ein engl. Arzt sagt irgendwo, in England seyn alle Menschen grob, nur nicht die Gastwirthe, in Frankreich aber seyn alle Menschen fein, nur nicht die Gastwirthe. Die Ursache ist: in England sind viele Wirthe, in Frankreich wenige. Diese Regel gefällt, ob sie gleich nicht durchgängig Grund haben mag.
/Von den Regeln in unserer Anthropologie werden wir andere Ursachen angeben, als die von einem Jeden können beobachtet werden, ohne die Theorie derselben vollständig zu machen. Wir werden die Regeln in den
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/mannigfaltigen Erfahrungen, die wir an den Menschen bemerken, aufsuchen, ohne nach ihrer Ursache zu fragen. Die scholastische Anthropologie aber handelt von den allgemeinsten Regeln und deren Ursachen; sobald wir also nach der Ursache der Regeln forschen, kommen wir ins Scholastische. Unsere Anthropologie kann von Jedermann, sogar von Damen bei der Toilette, gelesen werden, weil sie viel Unterhaltendes hat, wenn man allenthalben auf Regeln stößt, die Auskunft geben, und wenn man bei scheinbaren Unordnungen immer einen Leitfaden findet.
/Welches sind nun die Quellen der Anthropologie? Wenn die Triebfedern des Menschen in Thätigkeit sind, so beobachtet er dieselben nicht, z.B. wenn er im Affect ist, so kann er sich beim Spiele seiner Triebfeder nicht beobachten. Wenn er sich aber beobachtet, so ruhen alle Triebfedern, und er hat folglich nichts zu beobachten. Es ist also schwer, das Gemüth des Menschen zu beobachten, sobald seine Triebfedern im Spiele sind. Diese Schwierigkeit wird jedoch dadurch verringert, daß man anfängt, Andere zu beobachten, weil man dabei sehr ruhig seyn kann und von Zeit zu Zeit kann man diese Beobachtungen auf sich anwenden; denn da man schon im Besitze gewisser Kenntnisse ist, so kann man sich, wenn unser Gemüth in Thätigkeit ist, selbst darnach richtiger beobachten. Der Umgang mit vielen Ständen und mit gebildeten Menschen ist eine sehr fruchtbare Quelle der Anthropologie. Bei rohen Menschen ist die ganze Menschheit noch nicht entwickelt, weil sie nicht Gelegenheit haben, alle Eigenschaften derselben zu entfalten. Gehe ich aber zu dem gesitteten Theile der Menschen, so stoße ich auf die Schwierigkeit, daß, je gebildeter der Mensch ist, er sich desto mehr verstellt und desto weniger von dem Andern erforscht seyn will. Der Hofmann will nicht studirt seyn und diese Kunst zu verstellen nimmt mit dem Wachs-_
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/thume der Bildung zu, wo man sich nicht bloß verstellt, sondern auch das Gegentheil davon an sich zeigt. Wir müssen also den Menschen beobachten, so daß wir uns gar nicht das Ansehen eines Beobachters geben, und müssen uns auch verstellen. Man muß sich stellen, als ob man ganz ohne Behutsamkeit spräche und dabei doch gut aufpassen auf alles, was Andere sprechen. Doch es ist noch immer schwer, die Menschen kennen zu lernen, während man ihre Handlungen beobachtet, weil dies einen gebildeten und scharfen Beobachter erfordert.
/Eine andere Quelle der Anthropologie ist die Geschichte, aber doch muß vorher eine Anthropologie da seyn; denn wenn ich nicht weiß, worauf ich acht zu geben habe, so werde ich durch die Erzählung allein nicht wissen, was ich zu bemerken habe. Können Romane, Lustspiele, Schauspiele, Trauerspiele, z. B. Shakspeares anthropologische Kenntnisse abgeben? Die Schauspiele und Romane übertreiben immer das, was sonst wohl eine Eigenschaft eines Menschen seyn möchte. Die Verfasser legen zwar richtige Beobachtungen zum Grunde, aber sie liefern Zerrbilder i. e. übertriebene Charaktere. Im Gegentheil wird die Anthropologie die Schauspiele und Romane beurtheilen, ob sie mit der Menschennatur übereinkommen. Es giebt freilich Menschen, aber nur wenige, die ihre Kenntnisse vom Menschen sogleich passend im Lust- und Trauerspiele anzubringen wissen. Alle Moral erfordert Kenntniß des Menschen, damit wir ihnen nicht schale Ermahnungen vorschwatzen, sondern sie so zu lenken wissen, daß sie anfangen moralische Gesetze hoch zu schätzen, und zu ihren Grundsätzen zu machen. Ich muß wissen, welche Zugänge ich zu den menschlichen Gesinnungen haben kann, um Entschließungen hervorzubringen; dazu kann uns die Kenntniß des Menschen Gelegenheit geben, daß der Erzieher, der Prediger, nicht blo-_
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/ßes Schluckzen und Thränen, sondern wahrhaftige Entschließungen hervorzubringen im Stande ist. Sie ist bei der Politik eben so unentbehrlich; denn um Menschen regieren zu können, muß man Menschen kennen; ohne Menschenkenntniß kann der Regent eine solche Menge von Ständen nicht lenken, es widersträubt ihm alles und er kann sie nicht nach seinem Willen leiten.
/Ein großer Nutzen der Anthropologie besteht im Umgange, so daß sie uns zu demselben geschickt macht, und auch einen sehr schönen Stoff zur Unterhaltung abgiebt; denn manche Materien sind nicht für die Gesellschaft; das Frauenzimmer fragt nicht nach Staatssachen, doch will es unterhalten seyn und da findet man, daß gewisse Beobachtungen über den Menschen gefallen, weil ein jeder Mensch über sich dieselben anstellen kann. Da also dieses Studium für einen jeden so anziehend und so wichtig ist, so muß es mit Recht hochgeschätzt werden. Sehr viele Schriftsteller behaupten, es sey schwer, sich selbst zu erkennen. Wenn ich mich soll kennen lernen in Vergleichung mit Andern, und die Frage ist, ob ich mich besser kenne, als Andere, so ist es offenbar, daß jeder Mensch sich selbst am besten muß kennen können; denn da er den Grund aller seiner Gedanken und Triebfedern aufsuchen kann, und es in Ansehung seiner selbst oder seiner eigenen Erkenntniß kein Verstellen oder Verhehlen geben kann, so weiß ich nicht, wen ich besser als mich selbst kennen soll? Aber wenn es so viel heißt: erkenne den Menschen überhaupt, so ist die Erkenntniß des Menschen freilich schwer, denn wenn ich den Menschen erkennen will, so kann ich ihn mit nichts Anderm vergleichen; wenn ich mich selbst kennen soll, nach dem, was ich von Andern verschiedenes habe, so kann ich mich mit Andern vergleichen, und also genauer kennen. Aber wenn ich frage, was ist der Mensch? so kann ich ihn
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/mit den Thieren nicht vergleichen, weil es ein Vorzug für ihn ist, kein Thier zu seyn, und andere vernünftige Wesen kennen wir nicht. Die Kenntniß des Menschen überhaupt ist also schwer, die besondere Kenntniß eines Menschen ist schon leichter, und am leichtesten ist die Selbsterkenntniß; denn mich kann ich mir selbst nicht verhehlen, und folglich fallen hier alle die Decken weg, die uns andere Menschen vorhängen.
/Da es kein anderes Buch über die Anthropologie giebt, so werden wir die metaphysische Psychologie Baumgartens, eines Mannes, der sehr reich in der Materie, und sehr kurz in der Ausführung ist, zum Leitfaden wählen.
/ ≥ Vom Bewußtseyn seiner Selbst ≤
/Das Ich enthält das, was den Menschen von allen Thieren unterscheidet. Wenn ein Pferd den Gedanken Ich fassen könnte, so würde ich herunter steigen, und es als meine Gesellschaft betrachten müssen. Das Ich macht den Menschen zur Person, und dieser Gedanke giebt ihm das Vermögen über alles, es macht ihn zu seinem eigenen Gegenstande der Betrachtung. Dieses Ich begleitet alle unsre Gedanken und Handlungen, und macht unsere größte Theilnehmung aus. Einem jeden Menschen ist an sich selbst am meisten gelegen, und er schätzt sich über alles. Der ist ein Egoist, der sein eigenes Ich immer hervorragend und zum Hauptgegenstande seiner und Anderer Aufmerksamkeit zu machen sucht. Ein moralischer Egoist ist der, welcher sich durch seine Vortheile und Vorzüge so verblenden läßt, daß er Andere darüber gering schäzt. Ein Egoist im Umgange ist der, welcher bei aller Gelegenheit Anlaß nimmt, von sich selbst zu sprechen, und immer mit seinem Ich da ist; dies ist ein Mangel
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/an feinem Benehmen; denn durch den Umgang werden wir inne, daß die Menschen immer ihr Ich gern wollen lautbar werden lassen, wenn aber dies einreißen sollte, so würde das Gespräch niemals einen Zusammenhang haben. Deshalb sehen wir uns genöthigt, diese Neigung der Selbstliebe zu mäßigen, uns zu verhehlen und unsere Selbstsucht zu bändigen, damit unsere Partheilichkeit für unser Ich nicht hervorleuchte. Wir werden also lieber Gelegenheit geben, daß andere Menschen Anlaß nehmen, auf uns acht zu geben, und von uns zu sprechen. Der Egoist des Umganges ist ungezogen; je feiner der Mensch ist, desto mehr Nahrung giebt er der Selbstsucht des Andern. Helvetius sagt: wer in Gesellschaft klug seyn will, muß andern Menschen Gelegenheit geben, ihre Klugheit zu beweisen; denn jeder ist zufrieden über die Gelegenheit, die er hat, sich auf einer vortheilhaften Seite sehen zu lassen. Wir haben auch den Vortheil dabei, daß Anderer Eigenliebe zu uns eine Zuneigung gewinnt, und sich von uns einen vortheilhaften Begriff macht.
/Das Ich ist der stärkste Gedanke, den ein Mensch fassen kann. Sein eigener Name weckt ihn aus den größten Zerstreuungen. In einem Zimmer, wo das stärkste Geräusch ist, hänge ich meinen Gedanken nach; ruft aber jemand meinen Namen oder spricht ihn nur leise aus, so höre ich ihn sogleich. So kann man auch den Menschen aus dem tiefsten Schlafe wecken, wenn man ihn bei seinem Namen ruft. Die Kinder in den ersten Jahren können noch nicht durch Ich sprechen, sondern sprechen nur von sich in der dritten Person, z. B. Wilhelm will essen, trinken etc. weil man ihn mit diesem Namen genannt hat, so meint er, daß er das Unterscheidungszeichen von ihm ist, indem er noch nicht über sich selbst nachdenken gelernt hat; dies kommt nur dann, wenn die Sprache und Begriffe zu wachsen anfangen.
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/Montaigne hat Versuche geschrieben, die das Besondre haben, daß sie in einer sehr leichten Schreibart sehr viele Materien enthalten, worinnen Bemerkungen über viele Gegenstände, nicht systematisch, sondern wild zerstreuet sind, und auf allerlei Betrachtungen führen. Er ist der Lieblingsschriftsteller in Frankreich, und wird es auch wohl bleiben. Man wirft ihm aber vor, er lasse sich eine unausstehliche Selbstliebe zu Schulden kommen und spreche auf jeder Seite von sich selbst. Pascal, der ihn nach aller Strenge der Moral verdammt, hat doch nicht hindern können, daß nicht jedermann ein Wohlgefallen an dieser Selbstsucht finde. Die Ursache ist, er spricht von sich selbst, um den Menschen zu studiren, er will das Charakteristische von sich zeigen, damit die Menschen demnach Aehnliches an sich betrachten, und die Freimüthigkeit, womit er es thut, macht ihn angenehm. Andere hören es gern, wenn jemand von seinen eignen Thorheiten spricht; aber man darf nicht denken, daß die Menschen bei Wahrnehmung der Fehler an Andern, aus Haß oder Neid erfreuet sind, sondern weil sie in Absicht ihrer Fehler getröstet werden. Wenn zwei Betrunkene zusammen gehen, so können sie nicht leiden, daß ein Dritter seine Vernunft beibehält; eben so wird der, welcher seine Thorheiten erzählt, gern gesehen, weil Andere gewahr werden, daß diese Thorheiten auch bei ihm sind.
/Das eigentliche Ich im spekulativen Verstande nennen wir unsere Seele; im populären aber ist der Mensch ohne Seele und Körper zu unterscheiden. Das Wort Seele kommt auch im gemeinen Leben vor, und bedeutet das Innere unsers Lebens. Man sagt, der Mensch ist seelenlos, wenn er keine Theilnehmung und Empfindung für etwas Schönes hat. Ein Gedicht ist seelenlos, das uns nicht belebt. Der Mensch ist seelenvergnügt d. i. innerlich vergnügt. Der Ausdruck, es ist
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/eine gute Seele von einem Menschen, ist ein rein teutscher Ausdruck und soll das Unschädliche, Gefällige und Beliebte vom Menschen anzeigen. Bei der Seele bemerken wir noch den Ausdruck Gemüth. Gemüth scheint die Summe der Empfindungen auszudrücken, vorzüglich beim Schmerze, wenn man ihn innigst seinen Empfindungen einverleibt; davon kommt unten mehr vor.
/Unser Bewußtseyn ist zwiefach; ein Bewußtseyn unsrer selbst oder anderer Gegenstände. Wir sind uns erstens unsers eigenen Subjects bewußt, und zweitens der Dinge, mit denen wir uns beschäftigen. Das Erste ermüdet unsre Kraft sehr, fällt uns beschwerlich, und hat wenig Unterhaltendes. Je mehr wir aber außer uns sind, und uns mit andern Gegenständen beschäftigen, desto mehr schonen wir unsre Seelenkraft. Es giebt Aufpasser auf sich selbst, die sich selbst beschauen und nur auf sich acht haben; dies sind Schwärmer und Hypochondristen, die bloß ihre Aufmerksamkeit auf den Zustand ihres Gemüths, auf den Wechsel ihrer Gedanken und Reden richten. Der Weltmann hingegen ist immer außer sich, und merkt bloß auf die Dinge außer sich. Die Erfahrung lehrt, daß, jemehr der Mensch auf seinen Zustand aufpaßt, er ihn desto mehr verschlimmert. Je mehr jemand auf seine Krankheit merkt, desto kränker wird er. Sich selbst zum Gegenstande seiner Gedanken zu machen, kann zwar bisweilen nach Zwischenräumen geschehen, muß aber kein habitueller Hang seyn, weil es mit Anstrengung verbunden ist, welche die erschöpfendste Bemühung unsers Denkvermögens ist. Wenn wir handeln, arbeiten, so sind wir außer uns und betrachten nicht uns selbst, und die Seele. Die Quelle des Denkens wird am meisten durch unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst angegriffen, und unsre Lebenskraft gewinnt, sobald wir uns von der Aufmerksamkeit auf uns selbst
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/abrufen, weil die Einbildungskraft nicht so tief einzudringen vermag, indem jede Bemerkung an uns selbst uns weit heftiger afficiren, erfreuen oder drücken kann. Wir haben also dabei so viel Interesse. Dies bringt uns dann in einen leeren Raum und verursacht uns Bangigkeit. Die Regel ist daher folgende: beim Studiren muß man sich nur mit Gegenständen, und bei der Erfahrung nur mit Dingen außer sich beschäftigen. Dabei gewinnt das Gemüth Kraft, und das Prinzip des Lebens verstärkt sich. In moralischen Dingen ists freilich bisweilen gut, auf sich acht zu haben, aber die Achtsamkeit muß nur in Zwischenräumen statt finden. Einsiedler, die sich mit Betrachtungen über sich und mit sich selbst abgaben, wurden zuerst Heilige und zuletzt Narren. Viele Menschen haben sich hypochondrisch gedacht, dadurch daß sie auf sich selbst stets acht gegeben haben. Treten Umstände ein, wo es nöthig ist, auf sich selbst acht zu geben, so müssen wir so viel als möglich dieser Achtsamkeit auf uns nicht nachhängen. Es ist merkwürdig, wie die Gemüthskraft durch Betrachtung der Gegenstände gewinnt, und wie sie schwach wird, wenn sie auf sich allein acht hat. Lavater hat ein Tagebuch geschrieben, wo er Beobachtungen über sich selbst angestellt hat. Er ist ein arger Schwärmer, der oft Dinge vorbringt, die mit der Vernunft gar nicht zusammenhängen; den meisten Schaden hat er sich wohl durch dieses Buch gethan.
/- Warum gehen die Menschen in Gesellschaften? -_
/Pascal sagt, um sich selbst vergessen zu machen, dies ist aber ein sehr hypochondrischer Grund; nein! sondern, weil es für den Menschen gesund ist, und seiner Lebenskraft gemäß, sich mit Dingen außer sich zu beschäftigen; denn alle Aufpasser auf sich selbst gerathen in die finsterste Hypochondrie. Wenn ein Mensch sich erholen will, so kann dies dadurch geschehen, daß er entweder
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/gar nichts denkt, oder daß er Dinge denkt, die bald mit andern wechseln, oder wo einerlei Gegenstand ihn nicht lange beschäftigt. Ein Gelehrter kann sich erholen, wenn er ein anderes Buch lieset, als er eben gelesen hat, oder er geht in Gesellschaft, oder bleibt in Gedankenlosigkeit; alles dieses sind Erholungen. Dagegen ist es eine Erschöpfung des Gemüths, wenn der Mensch nur auf sich selbst fixirt ist. Es muß dies dem Gemüthe gewiß schwer werden, und es ist kaum zu begreifen, wie jemand seine Aufmerksamkeit so stark zusammennehmen kann. Solche Schwärmerei hat gemeiniglich nichts als andächtige Nichtsthuerei zum Grunde; denn es ist ja einerlei, ob ich die Zeit mit Aufmerksamkeit auf mich selbst oder mit gleichgültigen Dingen zubringe.
/Wir können uns nicht selbst genug kennen in Ansehung der Art unsers äußern Anstandes, darüber müssen Andere urtheilen, aber wie wir gesinnt sind, und unsere Fehler und Gebrechen müssen wir besser beurtheilen können als Andere. Es ist daher keine zweckdienliche Forderung an einen Freund, wenn man verlangt, daß er uns unsere Fehler zeigen solle. Wenn er uns äußere Fehler in Ansehung unsers Ganges, unserer Stimme u. s. w. sagt, so wird er uns einen Gefallen thun; soll er uns aber unsere innern Fehler vorrücken, die wir besser wissen können als Andere, so sind das Forderungen, die wir auch an den besten Freund nicht machen sollten; denn ich verlange, daß sich Andere überhaupt nicht damit beschäftigen sollen, über mich nachzusinnen und zu urtheilen. Man bedienet sich vieler Regeln in Sprichwörtern und betrachtet sie als nützliche Regeln, ob sie schon auf keine Weise Stich halten. So will z. B. Einer, ein Freund solle ihm sagen, was von ihm Nachtheiliges von Andern gesprochen worden ist; dies ist aber nicht gut; denn der Mensch würde ruhiger seyn, wenn er das, was
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/von ihm Nachtheiliges geurtheilt wird, nicht wüßte. Der Freund erweiset ihm also einen schlechten Dienst; denn erst macht er ihm Unruhe und dann erregt es bei ihm Groll gegen Menschen, mit denen er wie mit Freunden umgegangen seyn würde. Es giebt, wie gesagt, Fehler, die in den äußern Moden bestehen, die ein Anderer besser beurtheilen kann, als wir selbst. Fehler aber, die den Charakter betreffen, lassen wir uns ungern sagen; denn gemeiniglich sind sie sehr tief in dem Temperamente eingewurzelt, und daher ist es unangenehm, wenn Andere darauf aufmerksam sind.
/Müssen wir uns damit beschäftigen, die Gedanken auf uns selbst zu richten, und uns selbst zum Gegenstande unserer Gedanken machen? Es kann seyn, daß jemand auf sich selbst acht hat, um zu speculiren, und den Menschen überhaupt zu studiren, wie die thun, welche die Natur des Menschen untersuchen. Dieses Beobachten der Triebfedern der menschlichen Handlungen ist ein ruhiges Studium, wo wir mit unsern eigenen Gedanken gleichsam spielen, um daraus zu sehen, welches Spiel die Natur mit den innern Anlagen aller Menschen vornimmt. Aber sich selbst nur auszuspähen und unabläßlich sich bei allen Schritten zu beobachten, ohne daß diese Beobachtung im Gebrauche nützlich wird, erschöpft die Seelenkraft und bringt Verwirrung hervor. Hypochondrische Leute sind diejenigen, die auf sich beständig acht geben und auf die geringste Bewegung ihrer Gedanken und auf die gemeinste Veränderung im Körper merken, deshalb sie auch jede Krankheit, von der sie in Büchern lesen, selbst zu haben glauben. Schwärmer in der Religion sind auch solche Beobachter ihrer selbst. So hält Lavater seine Gedanken in seinem Tagebuche mehr für Eingebungen als Belehrungen des Verstandes. Es ist gesund, sich mit Dingen außer sich zu beschäftigen, etwa mit einem Ge-_
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/spräche, ohne sich selbst aufsuchen zu dürfen, wo man nur einen leeren Raum findet, indem man phantasirt und herumschwärmt. Junge Leute beobachten gerne alle ihre Anwandlungen, welches die Gemüthskräfte überspannt. Wir üben aber unsere Kräfte, wenn wir uns Gegenstände machen, es mag seyn, daß ich mechanisch arbeite oder mich mit andern Menschen in Wortwechsel einlasse, wenn ich Umgang mit Andern suche. Die Langeweile ist in der That nichts anderes als eine Leere, wo man durch keinen Gegenstand von sich selbst abgezogen wird; denn, wenn der Mensch mit nichts beschäftigt ist, so fällt er auf sich selbst zurück, und naget an sich selbst. - Gesellschaft, Jagd und dergleichen, wo Menschen sich Mühe geben, ohne einen wichtigen Zweck zu haben (denn der Hase ist der Mühe nicht werth, die man sich giebt, ihn zu schiessen), scheinen nichts zur Absicht zu haben, als sich von sich selbst abzuziehen. Eben so ist es mit dem, der studirt, und sich mit Sachen beschäftigt, aber Schwärmer und dergleichen Personen verfallen auf solches Quälen ihrer selbst, und thun ihrem Gemüth großen Schaden.
/Es giebt noch eine Art von Selbstbewustseyn, die uns oft in Gesellschaften überfällt und unsern gesellschaftlichen Eigenschaften nachtheilig ist. Wenn in Ansehung des Anstandes die Aufmerksamkeit auf sich selbst ruhet, den man äußerlich Andern erweisen mag, so ist man entweder gezwungen oder geziert. Wer sich selbst in Ansehung seines Anstandes beobachtet und dabei verlegen ist, indem er nicht glaubt, mit gutem Anstande zu erscheinen, ist gezwungen (genirt); wer aber glaubt, mit einem vortreflichen Anstande zu erscheinen, ist geziert. Alle Beide beobachten sich in der Gesellschaft selbst, nur ist der Eine besorgt, nicht mit gutem Anstande zu erscheinen, der Andere dagegen ist in sich selbst verliebt. Das
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/air degagè (ein freies, ungezwungenes Ansehen) in Gesellschaft zeigt an, daß man gar nicht auf sich selbst acht giebt, sondern so viel Zutrauen zu sich hat, daß man glaubt, demohngeachtet sich beobachten zu können, übrigens auch nicht in sich vernarrt ist, und Pantomimen macht, um sehr zu gefallen. Die Vollkommenheit des äußern Anstandes besteht also darin, daß der Mensch nicht scheint sich selbst zu beobachten, und sich doch so zeigt, daß er gefällt. Wer diese Kunst durch Uebung inne hat, bei dem fällt das gezwungene und gezierte Wesen weg, welches von einer zu schlechten oder zu eitlen Achtsamkeit auf sich selbst entsprungen ist. Man muß häufig solche Gesellschaften besuchen, wo man sich einigen Zwang anthun muß, vorzüglich von Frauenzimmern, die wir hochachten, besonders dann, wenn sie Klugheit verrathen. Dies macht im Anstande zur Gewohnheit, nicht gezwungen, noch auf eine affenmäßige Weise in sich selbst verliebt zu seyn, indem man sehr oft auf die Wahl seiner Worte, Stimme, Kleidung u. s. w. sieht; denn die Menschen vergeben es uns niemals, wenn sie sehen, daß wir, anstatt mit ihnen beschäftigt zu seyn, uns mit uns selbst abgeben; sie glauben, daß wir dazu da sind, uns mit ihnen abzugeben. Hier ists also nicht so leicht, die Aufmerksamkeit von sich abzuziehen, und die Kunst der Leichtigkeit im Umgange zu zeigen.
/Die Naivität ist ein Betragen, wo man nicht acht darauf hat, ob man von Andern beurtheilt wird. Den Ausdruck naiv hat noch Niemand so recht erklären können, und er gehört unter die Vorstellungen deren Begriffe wir zwar haben, aber nicht auseinandersetzen können. Naiv schreibt ein Mann, wenn er vernünftig schreibt, aber so, daß es scheint, als habe er gar nicht darauf acht, wie er werde beurtheilt werden, sondern daß er sich selbst genug thue. Wer noch nicht in Ansehung der Urtheile
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/Anderer schüchtern worden ist, wie z. B. ein junges unschuldiges Mädchen, der sagt etwas, was ganz richtig ist, aber man merkt sogleich, daß er nicht fürchtet von Andern beurtheilt zu werden, und da fällt es denn naiv aus. Wir haben aber nicht bloß auf die Richtigkeit dessen acht zu geben, was wir sagen, sondern auch wie es von Andern aufgenommen wird, nur muß die Peinlichkeit dieser Sorgfalt nicht in die Augen fallen. Bisweilen kommen uns Ausdrücke in den Mund, die das Merkmal an sich haben, daß keine Behutsamkeit dabei angewendet worden. Dergleichen naive Einfälle erregen ein Lachen, das zum Vortheile dessen ist, der sie sagt. Die Peinlichkeit und Sorgfalt hingegen misfällt, wie etwas vom Geschmacke Anderer aufgenommen werden möchte, welches uns sehr beunruhigen kann. In den Reden der Teutschen kann nicht große Naivität herrschen, weil ihre Sprache voller Ceremonien in der Unterhaltung und im Briefwechsel ist, so daß man nur die Peinlichkeit bemerkt, dem Range Anderer keinen Abbruch zu thun; denn der teutsche Styl muß, wenn er nicht endlich abgeschafft wird, alles Genie unterdrücken; daher kann nichts naives zum Vorscheine kommen; in unserer Aengstlichkeit sind wir nur damit beschäftigt, wie wir etwan von Andern beurtheilt werden mögen. -_
/ ≥ Von den dunklen Vorstellungen, deren man sich nicht bewußt ist. ≤
/Es hat Streitigkeiten in der Philosophie gegeben, ob es dunkle Vorstellungen gebe, deren wir uns nicht überall bewußt seyn. Verschiedene Philosophen sagen, dunkle Vorstellungen seyn von der Art, daß wir nicht wissen, daß wir sie haben; wie können wir aber behaup-_
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/ten, daß wir etwas von Vorstellungen wissen, deren wir uns unbewußt sind? So lange sie dunkel sind, sind wir uns ihrer nicht bewußt; sie liegen in der unmittelbaren Empfindung, aber durch Schlüsse können wir doch hervorbringen, daß sie da sind, z. B. wir sehen am Himmel die Milchstraße, die Alten sahen sie, der Tubus zeigt uns jetzt, daß es der Wiederschein von vielen kleinen Sternen ist, folglich haben die Alten auch diese kleinen Sterne gesehen; denn sonst hätten sie auch die Milchstraße nicht erblickt, außer daß sie noch nicht jeden einzelnen Stern sahen, sondern nur den Wiederschein derselben; daher lag die dunkle Vorstellung schon von den Sternen in den Alten, weil sie darauf schließen konnten. Wir können die menschliche Seele mit einer großen Charte vergleichen, worauf eine ganze Menge von Plätzen unilluminirt sind, wenige aber sind illuminirt. Das Unilluminirte ist das Feld der dunklen Vorstellungen, die wenigen illuminirten Plätze machen die klaren Vorstellungen aus und unter den klaren Vorstellungen stechen Einige durch ihr eigenes Licht hervor: dies sind die deutlichen Vorstellungen. Die dunklen Vorstellungen machen den größten Theil der menschlichen Vorstellungen aus, und wenn sich ein Mensch aller Vorstellungen bewußt werden könnte, die wirklich in seinem Gemüthe liegen, die aber nur bei Gelegenheit hervortreten, so würde er sich für eine Art von Gottheit halten, und über seinen eigenen Geist erstaunen; denn er hat keinen Begriff von einem Wissen von so ungeheurer Erkenntniß, als er selber hat. Ein Mann, der viel gelesen hat, und gebeten wird, etwas zu erzählen, wird wohl antworten, er wisse nichts. Nun darf man aber nur von einer Sache anfangen, so wird er sogleich dieses oder jenes zu erzählen wissen. Wenn man nun die vielen Dinge bedenkt, worauf man ihn bringen kann, damit er sogleich heraus rückt, in Spra-_
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/chen, Geschichten, Wissenschaften u. s. w. und er könnte sich alles dessen auf einmal bewußt werden, so ist das so ein ungeheures Ganzes, daß er selbst erstaunen würde. Es sind viele Vorstellungen, deren wir uns in unserm Leben nicht wieder bewußt werden würden, wenn nicht eine Veranlassung käme, die uns wieder daran erinnerte, die vorher schon in embryone in uns waren. Kein Mikroscop kann mir von einem Gegenstande etwas mehr zeigen, als was mein bloßes Auge gesehen hat. Den kleinen Wurm sehen wir nur mehrentheils für einen Staub an, durch ein Mikroscop sehe ich nun auch Kopf, Füße, Ringe u. dergl. Dieses war schon alles vorher da, aber nur in einer dunklen Vorstellung; denn hätte ich nicht Kopf, Füße und dergl. gesehen, so hätte ich gar nichts gesehen; dieselben Lichtstrahlen, die durch das Glas gingen, gingen vorher durch mein Auge, außer daß sie im Glase vergrößert wurden, ob sie gleich auch im Auge waren. So ist es auch mit dem Telescop bewandt; es wird da nichts Neues entdeckt, sondern die dunklen Vorstellungen werden zur Klarheit gebracht. Alles, was das Mikroscop und das Telescop noch entdecken werden, ist schon in der dunklen Vorstellung des Menschen enthalten, nur daß die Klarheit die Vorstellungen aus einander breitet, und das Bewußtseyn größer macht. Es ist also nicht eine Vergrößerung der Kenntnisse, deren man sich bewußt ist, sondern nur eine Deutlichmachung derselben. Und wenn man sich alles, was durch das Mikroscop entdeckt worden, und der Gegenstände, die nie dadurch entdeckt werden, auf einmal bewußt wäre, so würde dies eine ungeheure Menge von Dingen seyn.
/Eines Theils sind wir ein Spiel dunkler Vorstellungen, andern Theils spielen wir mit dunklen Vorstellungen. Wir sind ein Spiel dunkler Vorstellungen, i. e. dunkle Vorstellungen bringen im Menschen eine Wirkung
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/hervor, wo er bloß sein Urtheil klar machen, und es Andern mittheilen kann; allein die Quelle des Urtheils weiß er nicht, sie liegt in der dunklen Vorstellung. Unsere sogenannten Gefühle (denn die Modesprache bringt es so mit sich, moralische Gefühle von Sittlichkeit, Ehre, etc. zu haben, wie können wir aber Ehre fühlen?) sind nichts weiter als der unbekannte Grund in uns, der wohl in uns ist, den wir aber nicht entwickeln können, durch den es geschieht, daß Urtheile über uns uns so sehr anziehen. In solchen Gefühlen sind Gründe da, warum wir sie als einen wichtigen Gegenstand ansehen, daß des Andern Urtheil von uns wichtig sey. Die Philosophie sucht solche dunkle Vorstellungen zu entdecken, z. B. man meint, ein Mensch, der grob beleidigt ist, handle richtiger, wenn er sich selbst Genugthuung verschaffe, als wenn er beim Richter klage. Hier ist eine dunkle Vorstellung, daß es Fälle der Art gebe, die nicht vor den öffentlichen Richterstuhl gehören, vielleicht, weil bloße Meinungen, Minen, Schimpfwörter u. s. w. keine Eigenschaften sind, die ich so dem Richter beschreiben kann. Hier scheinen wir also zu verlangen, daß sie zur Privatrache gehören, ob die Vernunft diese gleich verwirft. Welchen Grund mag das Gemüth haben, die Privatrache zu verlangen? Ein jeder würde finden, daß dies mit der öffentlichen Gerechtigkeit zusammenhängt, doch ist dies schwer zu erforschen. Eine Ursache möchte es vielleicht seyn, daß man glaubt, Menschen müssen ihren persönlichen Werth vertheidigen. Doch dies ist schwer auszumachen und die Aufklärung solcher dunklen Vorstellungen durch die Philosophie erfordert viel Scharfsinn.
/Man beklagt einen jung verstorbenen Mann, ohne sich selbst zu beklagen, ob die Vernunft gleich sagt, daß der Tod nicht unter die Uebel zu rechnen, sondern das Ende aller Uebel sey. Ein todter Mann kann demnach nicht
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/beklagt werden, und doch weinen die Leute, wenn sie ein so junges Blut (wie sie sagen) begraben sehen. Dies rührt daher, daß unsere dunklen Vorstellungen mit ins Grab spazieren, und ob es gleich ungeräumt ist, zu glauben, daß die Einsamkeit im Grabe dem Todten schaden werde, so können unsere dunklen Vorstellungen doch nicht davon ablassen. Das Grausen vor dem Tode ist Eine von diesen dunklen Vorstellungen. Ich gehe auf einen Thurm; auf einmal kommt es mir so schauderhaft vor, daß ich es nicht wage, mich an ein gut befestigtes Geländer anzuhalten; hier muß es in der dunklen Vorstellung so zugehen: indem wir länger auf dem Thurm bleiben, kommt die Imagination und stellt sich die möglichen Fälle des Herunterfallens vor. Nun widerlegt die Vernunft dies, aber die Beschäftigung der Einbildungskraft ist durch die Vernunft nicht ganz widerlegt, und so sind wir immer in der Furcht und in der Widerlegung derselben. So könnte man sagen, die Furcht vor dem Tode sey bei den meisten Menschen eben das, was die Furcht der Menschen auf dem Thurme ist.
/Dunkle Vorstellungen sind das, was bei dem einen Menschen mehr, bei dem andern weniger Klarheit hervorbringt. Der Mensch ist vernünftig, so lange er sich des Einflusses der dunklen Vorstellungen überheben kann; sobald aber diese den Hypochondristen zu martern anfangen, wird er unreimisch. Ich bin der dunklen Vorstellungen nicht jederzeit mächtig; denn sonst müßte jede menschliche Erfindung auch durch dunkle Vorstellungen gemacht seyn, wovon das Vorgefühl und die Ahndung in mir lag. Wenn der Mensch aber die Erkenntniß zu erweitern anfängt, und nun weiß, auf welcher Seite er die Wahrheit suchen soll, so kommt eine Veranlassung, wo das, was dunkel in ihm lag, in Klarheit versetzt wird.
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/Die dunklen Vorstellungen sind oft richtiger als die erkünstelten, die wir unterschieben, ehe wir die andern kennen, und fallen weg, sobald wir die dunklen Vorstellungen ausgeforscht haben, z. B. wenn der Philosoph den Grund angeben will, warum die Achtung vor dem Rechte eines Andern alle Triebe des Eigennutzes bei uns unterdrücken muß, so kann er sich selbst durch die Vernunft kein Genüge thun. Wir sehen also, daß der Moralist nichts weiter zu thun hat, als in den Tiefen des menschlichen Verstandes zu forschen, um die dunklen Vorstellungen in klare zu verwandeln, so wie Socrates sagte, er sey die Hebamme seiner Zuhörer, i. e. er suche die in der Dunkelheit liegenden Grundsätze durch seinen Unterricht in Klarheit zu versetzen. Die Entwickelung der dunklen Vorstellungen bei allen unsern Urtheilen ist eigentlich die analytische Philosophie. In der Physik können wir uns nur Kenntnisse von Dingen erwerben, wovon wir keine dunkle, sondern deutliche Vorstellung haben, in der Moral aber ists nicht so, da müssen wir alles aus unserm eigenen Gemüthe hervorhohlen, z. B. wenn die Frage ist, ob man lügen dürfe und ob Nothlügen gelten? so heißt es, man darf gar nicht lügen, weil jeder Mensch, sobald er lügt, seine Ehre angreift; da hält es nun schwer, den Grund von diesem Urtheile aufzufinden, warum der größe Vortheil mich nicht zum Lügen sollte bewegen dürfen. Diese dunklen Gründe zu entwickeln ist das Geschäft des Philosophen, wobei wir oft die Vortrefflichkeit der entfalteten Einrichtung des Menschen bewundern. Die Keime unserer Gedanken liegen nur in uns selbst, und dies ist der wahre Schatz der menschlichen Seele; das, was man bis jetzt entwickelt hat, ist unendlich wenig gegen das, was man noch entwickeln könnte. Alle Metaphysiker, Moralisten, müssen demnach zur Aufklärung der dunklen Vorstellungen in dem Menschen beitragen, weil es darin
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/auf die Begriffe der Menschen ankommt, die sie bei sich haben.
/Oft spielen die Menschen mit dunklen Vorstellungen. Es giebt Stücke, die der Mensch als Geheimnisse des Menschen behandelt, wobei er die Natur der Menschheit zuvermissen wähnt, und der Rang, den der Mensch gegen die Thiere hat, ihm zweideutig erscheint. Diese sind die Heimlichkeiten des Geschlechts, und die geheimen Ausleerungen. Indem der Mensch die Geschlechtseigenschaften geheim behandelt, muß die Einbildungskraft bloß im Dunklen spazieren. Die alten Philosophen sagten, was nicht schändlich zu thun sey, ist auch nicht schändlich zu sagen, und daraus schlossen sie, daß die Beiwohnung und die Ausleerung des Körpers in einer nackten Sprache erklärt werden können, ja sie hielten es für keine Schande, es öffentlich zu thun, weil es doch von der Natur zu thun geboten sey. Dies heißt cynisch zu verfahren. Die Cyniker übertrieben ihre Grundsätze; denn es ist wirklich der Natur zuwider, welche uns ein Gesetz aufgelegt hat, über solche Dinge, wo wir mit den Thieren zu viel Aehnlichkeit haben, einen Schleier zu werfen. Im Umgange mit dem andern Geschlecht wird oft viel Witz verschwendet, um die Geschlechtstheile oder die Gegenstände, womit sich beide Geschlechter beschäftigen, zu bezeichnen. Dabei ist das Frauenzimmer immer so verstellt, als wenn es nichts verstände, und dabei ganz unwissend wäre, ob es gleich bisweilen grob genug ausgedrückt ist. Solche kleine Witzeleien, wenn einer eine Schrift damit ausschmückt, gefallen; denn im Grunde ist es doch ein Purismus, von solchen Dingen ganz abstrahiren zu wollen. Es ist ein Geschäft der Natur, und kann von dem Manne nicht verleugnet noch geschwächt werden; es ist auch eine Triebfeder der Vertraulichkeit im Umgange beider Geschlechter, da kann nur der Schriftsteller Geschicklichkeit anwen-_
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/den, alles unter einem Schleier zu verstecken, daß die Einbildungskraft im Dunklen herumschweifen kann.
/Was die Ausleerung des Körpers betrift, so pflegen wir so wohl hier, als bei dem vorigen Stücke nur die Worte zu verwechseln, z. B. die Krankheit, die vor ein paar hundert Jahren aus Amerika kam, hat allerhand metaphorische Benennungen; man sagt venerische Seuche, neapolitanische Seuche, das sind sehr weitschweifige Namen, um eine Krankheit zu bezeichnen; denn statt einer Krankheit bezeichne ich eine Nation, und jezt ist das Wort Franzosen eine Grobheit. Cicero spricht in einem Briefe von den Geschlechtsgliedern, und zeigt, wie sich die Wörter dabei immer wieder verändert haben. Der feinste Ausdruck für den Ort der Ausleerung ist jezt Commodité, ehedem hieß er das heimliche Gemach, aber jezt ist dies auch schon zu grob, so daß die Leute zuletzt in Verlegenheit kommen werden, wie sie sich ausdrücken sollen. Dies giebt dem Witze vielen Stoff; denn die Menschen wollen Dunkelheit haben, die sich aber doch durchschauen läßt. - Ein loser Mensch ist der, der den Muthwillen liebt und mit solchen Ausdrücken Schleichhandel zu treiben, ohne daß man es ihm für Grobheit auslegen darf, so daß viele dabei vor Lachen bersten möchten, aber sich es nicht merken lassen dürfen, um nicht für ungezogen gehalten zu werden. Dieser Muthwille ist immer ein Talent, und die Natur macht ihn uns nothwendig, vielleicht würde die Ordnung viel verlieren, wenn wir solche Dinge durch die Feinheit nicht unsichtbar machten.
/Witzige Einfälle sind Gedanken, die ins Dunkle gehüllt sind, welche Dunkelheit sich sogleich aufklärt: dies hat etwas Ergötzendes bei sich und verursacht eine nützliche Freude. Ein witziger Einfall muß gar nicht ausgelegt werden, weil er sonst matt wird. Die Ursache ist die
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/Ueberraschung, wenn das Gemüth auf den Sinn des Einfalls geleitet wird, z. E. ein Präsident der Academie zu Paris war sehr geitzig; als eine Allmosen-Collecte gehalten worden war, fragte Einer: gab der Präsident euch das? Er sagte, ich habe es nicht gesehen, aber ich glaube es. Fontenelle, der dabei war, sagte, ich habe es gesehen, aber ich glaube es nicht. Es war so unwahrscheinlich, daß er etwas gegeben hatte, daß er daran zweifelte, ob er es gleich gesehen hatte. Ein Buch, es mag so viel Realität haben als es will, wenn nicht dergleichen Sachen unter metaphorischen Ausdrücken versteckt sind, so daß die Dunkelheit sich von selbst verliert, will nicht gefallen. Die Ursache liegt vielleicht darin, daß die Gemüthskräfte des Lesers auch etwas dabei zu thun bekommen und er seinen Scharfsinn ausbilden kann.
/ ≥ Von der Deutlichkeit. ≤
/Die Deutlichkeit ist ein Erforderniß, sobald etwas zur Unterweisung dienen soll. Zur Belustigung verlangen wir nicht so sehr Deutlichkeit, und wo es darauf ankommt, uns etwas zu rathen zu geben, ist die Dunkelheit angenehmer als die Deutlichkeit, welche die Sachen genau bestimmt; so haben Räthsel immer etwas Angenehmes. Wenn wir aber nicht mit Einfällen spielen, sondern Lehren vortragen, so ist die Deutlichkeit sehr nothwendig. Deshalb können in der Mathematik und Philosophie keine feinen und dabei dunklen Ausdrücke gelten, weil man da etwas lernen will. Die Dunkelheit hat in den Schriften einen Vorzug vor der Deutlichkeit, indem das Dunkle eine große Erwartung des Inhalts erregt, so wie im Dunklen alle Gegenstände größer aussehen. Es giebt Schriftsteller, die durch Dunkelheit glänzen
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/(wenn es kein Widerspruch ist); denn indem Niemand ihre Schriften durchdringen kann, bleiben ihre Fehler unentdeckt. - Die Deutlichkeit beruht auf der Ordnung und alle Bemühungen eines Schriftstellers, seinem Buche Deutlichkeit zu geben, muß auf Ordnung abzielen. Diese Ordnung besteht darin, daß man die Theile nach einer Regel zusammenpaart. - Es giebt Pedanten der Ordnung, die darauf erpicht sind, ohne eine Absicht dabei zu haben, und ordentliche Müssiggänger genannt werden können. Sie haben immer etwas aufzuräumen und dem Dinge eine andere Stelle anzuweisen; da sie aber mit ihrer Ordnung auf keinen nützlichen Gegenstand ausgehen, so ist es nichts als Nichtsthuerei, die den Schein der Beschäftigung mit sich führt, und wobei die gründliche Ordnung verfehlt wird. So wie es Pedanten der Ordnung giebt, so giebt es auch Pedanten der Deutlichkeit. Wenn Einer in seinen Schriften so viel Anordnung zur Deutlichkeit macht, daß der Vortrag dadurch so gedehnt wird, daß er selbst dunkel wird, indem die Mittel der Deutlichkeit so unmäßig angebracht werden, daß man die Deutlichkeit aus den Augen verliert. Und gleich wie die Peinlichkeit der Ordnung einen kleinen Geist verräth, so zeigt eine edle Nachläßigkeit an, daß keine ängstliche Aufmerksamkeit in unserm Betragen herrscht. So giebt die Peinlichkeit in Kleidern, im Putze, Pedanten, die sehr verächtlich sind. Eben dies können wir von der Deutlichkeit sagen; freilich unordentlich zu schreiben, um ein Genie zu heißen, scheint eine thörichte Anmaßung zu seyn, sich vor Andern auszeichnen zu wollen. Aber es mag seyn, daß die Ordnung den freien Aufschwung unsers Geistes hindert, oder es mag seyn, daß unsere Freiheit einen besondern Gang in der Ordnung geht, den wir nicht beschreiben können, genug wir finden, daß die Popularität eine Art der Deutlichkeit
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/ist, wo wir die Ordnung nicht gar zu gern beobachten; die Popularität geht von dem Leitfaden der Deutlichkeit ab, und kleidet sich bisweilen ins Dunkle. Hier muß wohl eine andere Ordnung statt finden, die wir nicht kennen, die alle unsere Kräfte ausbilden kann, so fern wir sie im Umgange mit Menschen gebrauchen. Die Deutlichkeit der Erkenntniß ist also von großem Werthe, wenn es darauf ankommt, unterrichtet zu werden; wenn es aber auf Unterhaltung ankommt, so kann ich von der Deutlichkeit abweichen, und die in der Deutlichkeit beschwerliche Ordnung erleichtern, um die Nichtgelehrten und das Frauenzimmer mehr zu unterhalten.
/ ≥ Von der Vollkommenheit der Erkenntniß. ≤
/Hierbei kommt es auf drei Stücke an: 1) wie die Erkenntniß im Verhältniße zum Gegenstande, 2) zum Subjecte, und 3) untereinander, oder wie eine Erkenntniß zur andern steht. Wenn ich untersuche, wie die Erkenntniß zum Gegenstande steht, so besteht die Vollkommenheit der Erkenntniß erstens in der Wahrheit, zweitens in der Größe, drittens in den Mitteln, zur Erkenntniß zu gelangen, d. i. in der Deutlichkeit. Dies sind logische Vollkommenheiten, wo es darauf ankommt, daß ich den Gegenstand kenne, was er ist. - Beim Subjecte kommt es nicht darauf an, wie ich den Gegenstand erkenne, sondern wie mich der Gegenstand afficirt. Dahin gehört erstens Leichtigkeit der Erkenntniß, welche die genaue Einsicht des Gegenstandes oft abhält, zweitens Lebhaftigkeit und Rührung, durch welche der Gegenstand nicht besser, ja oft schlechter erkannt wird, weil sie sich mehr mit dem Spiele der Sinne, als mit dem Verstande beschäftigen; drittens Intresse. Die Menschen neh-_
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/men an einerlei Gegenstande verschiedenes Intresse, je nachdem ihr Subject verschieden organisirt ist, und nach den Umständen, wie ihre Neigung und Stimmung afficirt wird. Die Vollkommenheit untereinander besteht 1) in der Mannigfaltigkeit, 2) in der Ordnung, und 3) in der Verknüpfung. Die Mannigfaltigkeit in einer Erkenntniß geht darauf hin, daß die Erkenntniß nicht Monotonie (Eintönigkeit) enthält; bei dieser Mannigfaltigkeit muß aber auch Ordnung, Methode und Regelmäßigkeit herrschen, und dann kommt die Verknüpfung dazu, welche die Einheit ausmacht, wornach die Ordnung nach gewissen Principien zus_mmenhängt.
/Die Vollkommenheit der Erkenntniß im Verhältniße zu dem Gegenstande ist schwer, ist aber ein Grund der Hauptvollkommenheit, wenn die Erkenntniß für den Verstand und nicht für die Neigung seyn soll; denn wenn sie gleich in Ansehung des Verstandes vorzüglich ist, so ist sie es nicht für das Vergnügen. Daher sagte der Dichter Wallis zu Karl_II., der ihm vorwarf, er habe in seinem Gedicht Cromwell mehr als ihn gelobt: wir Dichter sind glücklicher in der Fabel als in der Wahrheit; denn ein Dichter ist nicht darum allein glücklich, weil ihm die Fabel besser gelingt, sondern auch weil sie mehr gefällt. Romane werden bloß darum gesucht, weil uns die Wahrheit zu alt und der Lauf der Dinge darin so neu ist, als wir ihn wünschen. Raphael soll Ideale von Menschen gemacht haben, die gefallen haben, indem er die Natur nicht mahlte, wie sie ist, sondern wie sie besser wäre. Aber es scheint uns unmöglich zu seyn, daß unsere sehr veränderliche Einbildungskraft das Urbild des Schönen und noch etwas Besseres enthalten sollte als die Natur. Die Einbildung kann nichts Schöneres hervorbringen als die Natur ist, aber was den Menschen betrift, so geht es doch an, weil er ein Geschöpf ist, das
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/der Bildung fähig ist und dessen ganze Vollkommenheit zwar in der Natur liegt, aber nur in ihrer Rohigkeit. Der Mensch hat sich selbst seine Vollkommenheit zu verdanken, obgleich die Anlagen dazu in der Natur liegen. Er ist das einzige Geschöpf, wo die Art von Geschlecht zu Geschlecht vollkommener wird. Hier gilt es eine eingeb_ldete Vollkommenheit, die noch nicht da ist, und ob diese zwar den Körper nicht mit angeht, so denkt sich der Mahler doch in einem Gesicht ausgedrückte Minen, die sich zur größern Ausbildung besser schicken würden, als die jetzigen; dies bringt er nun in seine Malerei; denn wir finden zwar, daß der Mensch sich nicht durch die Geburt verfeinern, aber doch, daß sich beim Wachsthume die Gesichtszüge nach Art der Erziehung ausbilden. Landleute bekommen nie eine feine Bildung des Gesichts, weil sie ihre Minen nicht so sehr unter die Höflichkeit zu accomodiren haben, sondern mit ihrem Gesinde gebieterisch oder vertraulich sprechen. Daher konnte eine Erdichtung eines so großen Mahlers besser gefallen als Wahrheit; denn diese wahrhafte Schönheit, die nicht in der Natur lag, schien doch mit den eingebildeten Ideen überein zu kommen; man sollte z. E. glauben, daß vollkommene Menschen einen mehr abgerundeten Bau haben u. s. w., doch ist hier die Erdichtung noch nicht so mangelhaft; denn ob sie gleich nicht durch die Natur entsteht, so ist sie doch nach Ideen eingerichtet, welche Wahrheit enthalten, wenn sie auf die Fortschritte der Natur zur Vollkommenheit sehen, wie in ihnen die Anlagen ausgebildet werden.
/Im Urtheile des Verstandes ist eine Erkenntniß erdichtet, wenn sie nicht wahr ist. Wenn wir einen lateinischen Schriftsteller, einen Livius, lesen, so finden wir Reden, welche die Feldherrn an der Spitze ihrer Armeen hielten, oder wann der Feind schon im Anmarsch war und die größte Fassung des Gemüths erfordert haben. Und selbst
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/die Weltgeschichte trägt man mehr so vor, wie man wohl wünschen möchte, daß sie sich ereignet hätte. Dieses hat den Alten theils der Mangel an Nachrichten erlaubt, theils erlaubte ihnen der Hang ihrer Nation, dem Geschmacke Artikel der Wahrheit aufzuopfern. Unsere Geschichtschreiber sind noch unwahrer als die alten; denn diese schrieben nicht die Unwahrheit aus Partheilichkeit, sondern aus Mangel an Geschichten und verdrehten auch nicht die Wahrheit. Daher findet man mehr Spuren der Wahrheit bei den Alten, als bei den Geschichtschreibern der jezigen Zeit, wo die Partheilichkeit mit darauf hinaus geht, der Wahrheit aus eigenem Vortheile Abbruch zu thun. Die Wahrheit ist demnach von den Producten unserer Erkenntniß nicht das Vollkommenste in Rücksicht der Neigung. Ist nun die Erdichtung auf Abrede veranstaltet, so daß man nur dadurch der Bewegung der Neigung Platz macht, so ist das kein Betrug; wird sie aber für Wahrheit ausgegeben, so thut sie der Absicht unsrer Erkenntniß großen Abbruch. Irrthum ist ein vermeintes Erkenntniß, das der Wahrheit entgegen gesetzt ist, Unwissenheit ein Mangel der Erkenntniß. Irrthum ist die Strafe eines übereilten Urtheils, wozu man nicht gehörige Kenntniß hat; Unwissenheit aber ein Mangel aus Gelegenheit oder Fleiß. Daher ist der Irrthum übler als Unwissenheit; denn ein Unwissender ist wie die tabula rasa des Aristoteles anzusehen, wo man gar keine Kenntnisse, aber doch Anlagen findet, dergleichen zu erlangen. Es ist hier kein Hinderniß, aber beim Irrthume ist eine doppelte Unbequemlichkeit. Erst muß ich gegen den Irrthum arbeiten, und den Menschen dadurch zur Unwissenheit bringen, und nachdem ich ihn so künstlich zur Unwissenheit gebracht habe, kann ich erst anfangen Wahrheit zu gründen. Demohngeachtet hat die allgemeine Vorsehung die menschliche Natur so eingerichtet, daß wir nur durch den Weg des Irrthums zur Wahr-_
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/heit gelangen können. Durch Hirngespinste, Verblendung und Irrthümer, durch Vorurtheile, und durch ein Tappen im Finstern, wo wir oft überredet werden, durch eingebildete Blendwerke, die sich hernach in Nichts verwandeln, kommen wir zur Wahrheit, und nie sogleich aus der Unwissenheit.
/Bei diesen Schwächen in Erkenntniß der Wahrheit kann man entweder schüchtern seyn, indem man sich fürchtet, an die Klippen der Irrthümer zu stoßen, oder wagehalsig. Die Franzosen loben Buffon, daß er so rasch im Urtheilen ist, und einen Muth beweiset, einen Satz zu wagen, über den ein spottender Criticus sich aufhalten könnte. Wer zeigt, daß er Kühnheit im Urtheilen hat, gefällt, weil er seinen eigenen Ruhm aufs Spiel setzt. Ein gewagtes, kühnes, dreustes Urtheil kann also seinen Nutzen haben; denn es gefällt, wenn sich ein Mensch durch alle Bedenklichkeiten durchbricht, und man über seine Dreustigkeit stutzt. Copernicus muß anfänglich vor seiner eigenen Hypothese zurückgebebt haben, doch hat er es kühnlich gewagt, ob sie nicht Stich halten würde, und hat sie hernach dadurch bestätigt gefunden.
/Es giebt aber auch eine Schüchternheit im Urtheilen, wobei man es gemeiniglich nicht weit bringt; diese rührt aus Mangel an Zutrauen zu sich selbst her, oder aus Furcht vor der Critik des gemeinen Wesens, wenn man zu sehr von der allgemeinen Weise abweicht. Ein Solcher wird es nie weit bringen, wenigstens die Menschen nicht vom alten Wahne befreien; denn mit dem alten Wahne geht es wie mit dem Verstande; er wird für erwiesene Wahrheit angenommen, und einmal übers andere in eine alte eingewurzelte Denkart zu wagen, und ihre Feindschaft und Angriffe sich nicht anfechten zu lassen, ist ihm unmöglich. Man sieht also, daß selbst in Ansehung der speculativen Erkenntniß Muth dazu gehört, durch al-_
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/le Bedenklichkeiten durchzubrechen, und den alten Wahn zu vertreiben.
/Paradox ist ein Urtheil, das mit Verstand gewagt ist. Es gab eine Zeit, wo Jemand genug gelallt zu haben glaubte, wenn man sagte, er denke paradox; denn man glaubte, zwischen paradox und heterodox sey nur ein kleiner Zwischenraum, und doch muß man gestehen, daß wir lieber ein paradoxes als ein alltägliches Werk lesen, wo nur die Stimme der Menge gelallt, und in andere Worte eingekleidet ist. Woher kommt dieses Gefallen am Paradoxen? Die Ursache ist, wir bekommen dadurch Hoffnung zu einer neuen Einsicht, und lernen die Sache von einer andern Seite kennen, als wir sie noch gekannt haben; wir erhalten Hoffnung, dadurch uns von einem alten Wahne zu befreien. Es giebt eine Affectation des Paradoxen, die wohl keinen Ruhm verdient, aber es giebt auch Köpfe, die in ihrem Urtheile immer etwas Paradoxes haben, das dem gemeinen Wahne widerstreitet. Dies ist unterhaltend, regt auf und berichtigt zugleich unsere Verstandeskräfte; denn es entsteht die Vermuthung, daß hinter dem Paradoxen Wahrheit seyn werde. Ein Bischof in England war sein ganzes Leben hindurch paradox und ein Mann von großem Scharfsinne, der nur die Wahrheit suchte, wo sie kein Anderer fand, und es ist sehr gut, sich auf allerhand Abentheuer auszuwagen, um doch zu sehen (so sollte es im Theologischen auch seyn), was sich auf der so sehr verworfenen Gegenseite antreffen lasse; denn wir hegen Erwartung, was uns das Urtheil bringen werde. - Einige Wahrheiten, die das Paradoxe nur verlieren, indem man sie als Wahrheiten ansieht, können uns doch noch immer frappiren, indem sie sich unserm alten einmal angenommenen Wahne widersetzen, z. B. daß es kein blaues Roth gebe, sondern daß alles Blaue, wenn ein rother und nicht ein weißer
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/Strahl darauf fällt, roth aussieht, scheinen wir mit Schwierigkeit anzunehmen, ohngeachtet es gewiß ist, und das muß uns auch gar nicht hindern, solche paradoxe Begriffe zu wissen. Hätten wir einen Probierstein, Wahrheit und Irrthum gehörig zu unterscheiden, so würde kein Mensch nach dem Irrthume greifen, es fehlt aber an einem so ganz sichern und leicht zu gebrauchenden Probiersteine der Wahrheit; daher bedienen wir uns allerhand Vortheile, um die Wahrheit zu erkennen.
/Das Urtheil Anderer, dieses Hülfsmittel, das wenig Zuverlässigkeit hat, nemlich den Beifall als ein Merkmal der Wahrheit anzusehen, ist bei einem großen Theile der Menschen dasjenige, was sie im Urtheilen bequem benutzen; denn, wenn wir vorgeben wollten, das was alle Menschen sagen, ist wahr, so dürfte man sich nur immer nach Anderer Beispiele richten. Demohngeachtet aber kann auch der Allereinsichtsvollste den Beifall Anderer nicht für überflüssig ansehen; denn so überzeugend auch sein Urtheil für ihn ist, so kann es ihm doch nicht gleichgültig seyn, was Andere davon sagen, und dieser Hang ist in den Verstand gelegt. Die Neigung seine Schriften herauszugeben ist demnach nicht eine bloße Wirkung der Eitelkeit, sondern ein Beruf der Natur; denn da der Mensch in seinem Privaturtheile sich sehr irren und in einer geträumten Glückseeligkeit von vieler Einsicht leben könnte, so hat die Natur zum wahren Richter unserer Gedanken das Publicum gesetzt, und die allgemeine Menschenvernunft muß bei dem besondern Gebrauche der Vernunft bei einem einzelnen Menschen den Richterspruch thun. Es kann seyn, daß Eitelkeit auch Einfluß dabei hat, aber die Natur hat sich solcher Einflüsse bedient, um ihre Absicht zu erreichen; denn es geht nicht anders an, daß Wahrheit ausgemacht werde, als daß ein Mensch darüber urtheilt, dieses sein Urtheil andern Menschen mit-_
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/theilt, wozu die Druckerpresse ihm bequeme Gelegenheit verschaft, und dadurch wird das Publicum erleuchtet.
/Man sagt, es sey nicht gut, daß heutzutage in theologischen Sachen einem jeden freistehe zu denken und zu schreiben. Das Bekanntmachen ist aber ein Trieb der Natur; denn wie soll Wahrheit ausgemacht werden, wenn wir die Meinung nur in uns selbst verschließen? Dieser Trieb der Natur hat also offenbar zur Absicht, das menschliche Geschlecht durch gemeinschaftliche Wahrheit zu bestimmen; ein Urtheil verbessert doch das andere und daher ist der Hang, unsere Urtheile an fremder Vernunft zu prüfen, ein Mittel, das der Weiseste nicht ausschlagen kann. Freilich macht der allgemeine Beifall nicht Wahrheit aus; denn er ist so, daß etwas durch solche Neuigkeit nur auf einen gewissen Zeitpunct allgemein ist, und in kurzem wird das oft für schlecht angesehen, was vor kurzem von allen gelobt wurde. Daher ist die Dauerhaftigkeit des allgemeinen Beifalls bei verschiedenen Nationen und Zeiten ein großer Probierstein der Wahrheit und der Schönheit einer Erkenntniß; denn durch die Zeit wird nach und nach das in Vergessenheit gebracht, was ehedem dem allgemeinen Geschmacke gemäß war, ob es gleich eine Menge von Irrthümern und Verblendungen enthielt. Freilich ist es kein Vorzug, wenn das Alterthum etwas erhalten hat, was nicht geprüft und untersucht werden dürfte; aber wenn etwas der Untersuchung aller gesitteten Nationen zu allen Zeiten freigegeben gewesen, und sich doch erhalten hat, so ist dies als ein großer Probierstein der Wahrheit anzusehen.
/Darf man Irrthümer dulden und unangetastet lassen? Cicero antwortet hierauf: utile nihil, quod non honestum. Irrthümer auszubreiten und damit dem gemeinen Wesen Vortheil zu verschaffen, hat Aehnlichkeit mit dem peccato philosophico der Jesuiten, worunter sie mein-_
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/ten, ein Sündchen könne man thun, wenn ein großer Vortheil daraus entspringe. Daß dies Unrecht sey, ist gewiß, der Vortheil aber, der daraus entstehen soll, ist ungewiß; wenn Tugend durch Vortheile überwogen werden kann, so weiß man nicht, wo man ihre Wahrheit festsetzen soll. - Wenn wir also den Vortheil des gemeinen Wesens durch Irrthum zu befördern streben, so sind wir entweder selbst betrogen, oder betrügen Andere, die selbst nichts thun wollen, was den Menschen Vortheil verschaffen kann. Wir sind auch verbunden, Andern Vortheile zu gewähren, die uns selbst schädlich wären, aber das ist unsere Schuldigkeit, wenn wir einmal sprechen, daß es Wahrheit sey; denn diese gehört zum Berufe des Menschen; die Wahrheit ist eine unnachlässige Schuldigkeit. Kein Nutzen kann dauerhaft seyn, außer dem, welcher durch die Wahrheit entsteht, und also kann und darf man aus der Ausbreitung eines Betruges keinen Vortheil ziehen. Man kann sich wohl die Art und Weiße der Handlung, aber nicht die Sache erlassen; denn wer mich mit seinem Vortrage zu seinem Vortheile betrügt, tritt zugleich meiner Ehre zu nahe; hierbei sehe ich doch, ob Wahrheit ist, oder nicht. Irrthümer mögen zufälliger Weiße wozu nutzen und Beförderungsmittel seyn, Anderer Thätigkeit zu reitzen, damit sie sich dagegen vertheidigen, aber deswegen kann man sie noch nicht für erlaubt halten. Es ist eitler Wahn, daß aus den Irrthümern Vortheil entspringt, ob man gleich schon in alten Zeiten so gedacht hat; man fürchtet sich vor der Beschwerlichkeit, Anderer Irrthümer anzugreifen, indem man die Feindschaft anderer Menschen dadurch sich zuzuziehen glaubt, und besorgt, der Sturz des ganzen menschlichen Geschlechts sey damit verbunden. Die Erfahrung aller Zeiten aber lehrt das Gegentheil; je mehr die Menschen unterrichtet werden, desto lenksamer werden sie. - Es
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/fragte Jemand, ob die Bauern, wenn sie verfeinert würden, wohl zu regieren seyn? O ja! Leute, die Vernunft haben, sind besser zu regieren, als die rohen, und daher, je klüger die Bauern sind, desto besser werden sie regiert werden können. Und reiche Unterthanen sind besser zu regieren, als arme; denn die Armen, weil sie nicht viel haben, wagen alles, die Reichen aber leben lieber gemächlich und in Bequemlichkeit; überhaupt macht die Aufheiterung des Verstandes die Menschen gut gesinnt. -_
/Den Eindruck, den eine Erkenntniß auf uns macht und den Beifall, den wir ihr geben, müssen wir unterscheiden. Der Beifall kann entweder von der Wahrheit der Sache, oder von dem Intresse herkommen, das wir an ihr nehmen. Eine Sache kann von keinem großen Gewichte seyn, wir sind aber einmal dafür eingenommen und ob sie gleich sehr leicht ist, so ist es doch beim Beifalle schwer zu unterscheiden, ob dieser durch den Verstand, oder durch das Zuthun unserer Neigung entstanden ist; es ist aber sehr nöthig, darauf acht zu geben. Oft ist es eine gewisse Anhänglichkeit an den Autor, oder eine vorgefaßte Meinung, aber auch das schon verdient untersucht zu werden, woher es kommt, daß wir einer Sache Beifall geben, bei der nur schwache Gründe sind; hier ist der Beifall indirecte, durch Beimischung unserer Neigung entstanden.
/Die Leichtigkeit in der Erkenntniß nimmt sehr ein, sie ist eine Ersparung unserer Kräfte und hat den Vortheil, daß sie uns Kräfte übrig läßt, dieselben anders anzuwenden; die Leichtigkeit zu verstehen gilt oft für Deutlichkeit. Manche Erkenntnisse sind jederzeit schwer zu verstehen, und sie bleiben nur eine Last, man mag sie wenden, wie man will. Wenn man die Kenntniß einer Wissenschaft dieser Art seicht vorträgt, so, daß sie leicht verstanden werden kann, so sagt man, sie sey deutlich, aber das ist
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/falsch; man muß unterscheiden, daß die Deutlichkeit für den Verstand, die Leichtigkeit aber fürs Gefühl ist. Was schwer ist, bleibt mir freilich undeutlich, wenn ich die Mühe es zu untersuchen scheue, sonst wird mir es bald deutlich werden; es ist daher falsch, alles das, was Leichtigkeit bei sich führt, Deutlichkeit zu nennen.
/Die Lebhaftigkeit kommt zu einer Erkenntniß hinzu und ist sehr hoch zu schätzen. Sie thut aber der klaren Verstandeseinsicht oft Abbruch; sie ist sinnlich und aus der Erfahrung; denn sie macht, daß unsere Einbildungskraft aufgereizt wird, sie bindet sich nicht an die Schranken des Verstandes. Die Ordnung gründet sich auf das Vermögen unsers Witzes, und unserer Einbildungskraft, Urtheile zu paaren. Mannigfaltigkeit ist das Nothwendigste, was wir in der Erkenntniß suchen können; denn es führt die größte Erleichterung des Gemüths mit sich. Die Ordnung ist schon peinlicher, aber wenn man sie recht eingesehen hat, so dünkt sie uns doch noch reizender, als die Mannigfaltigkeit; denn bei der Mannigfaltigkeit überlassen wir uns selbst dem Spiele verschiedener Gegenstände, aber Ordnung zwingt uns regelmäßig zu bleiben. Die Verknüpfung endlich macht das Wichtigste der Erkenntniß aus, aber sie ist auch zugleich das Schwerste, das Gegliederte in einer Erkenntniß einzusehen. Manche Comödien, wenn sie auch nicht viel enthalten, vergnügen uns bisweilen, aber im Ganzen gefallen sie uns hernach doch nicht. Lessing hat in allen seinen Schriften den Fehler, in den Theilen unterhaltend zu seyn, und im Ganzen weiß man doch nicht, was er haben will; man findet dies in Nathan dem Weisen, und alle seine Schauspiele mißfallen, und zwar, weil sie kein Ganzes ausmachen. Unsere Natur ist so eingerichtet, daß der Mensch eine Einheit des Ganzen haben will, und nicht zufrieden ist, als wenn er alles in einer besondern Verbindung zu einem Zwecke
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/sieht; daher müssen wir darauf merken, was Beifall oder Mißfallen bei uns erweckt, theils um den Grund unsers Tadels angeben zu können, theils um wirkliche Fehler aufzusuchen.
/ ≥ Von der Sinnlichkeit im Gegensatze mit dem Verstande. ≤
/Dieses ist ein wichtiger Punkt; denn einestheils sagen die Moralisten, daß die Sinnlichkeit die Vernunft ganz verwirre, und daß ein nicht beizulegender Zwist zwischen beiden sey, der unzähliche Unordnungen verursache; anderntheils klagen die Logiker sehr über die Sinnlichkeit, sie behaupten, die Ursache aller Blendwerke sey die Sinnlichkeit, sie unterbreche die Verstandeshandlungen und bringe den falschen Schein hervor, wodurch der Verstand leicht hintergangen werden könne. Aus diesen Anklagen der Sinnlichkeit sollte man schließen, als ob alles Gute aus dem Verstande komme, und die Sinne die Ursache alles Bösen seyn, als wenn es besser sey, daß wir gar keine Sinne hätten. Aber man muß bemerken, daß wir ohne Verstand gar nicht denken würden, und da wir ohne Sinne gar nicht anschauen könnten, so würde der Verstand ohne Sinne gar keinen Gegenstand finden. Die Sinne ohne Verstand würden wenigstens Anschauungen haben, der Stoff zu denken wäre da, wenn gleich nicht gedacht würde. Wäre aber der Verstand ohne Sinne, so würden wir die Form des Denkens haben, ohne denken zu können. Die Sinne geben den Stoff zum Denken, und sind die Grundlagen aller menschlichen Erkenntniß, der Verstand kann ihre Vorstellungen durch Denken bearbeiten, und daraus ein regelmäßiges Ganze machen; sie lassen sich also nicht
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/entbehren und man kann noch vieles zu ihrer Vertheidigung sagen. Wir wollen gar keine Lobrede, aber doch eine Apologie der Sinne entwerfen; die Sinne betrügen uns nicht, und wir können es den Sinnen nicht beimessen, wenn wir in unserm Urtheile irren; denn die Sinne urtheilen gar nicht, sie geben nur die Anschauung der Gegenstände, über welche der Verstand urtheilen soll. Da man aber gerne die Schuld auf Andere schiebt, und wir bei den Sinnen leidend sind, so mögen wir diesen gern die Schuld geben; den Verstand aber, der sein Geschäft nicht recht verwaltet hat, wollen wir frei sprechen; die Menschen sind überhaupt so gesinnt, daß sie die Schuld gern Andern beilegen. Da nun die Sinne dem Menschen die Sachen so vorstellen, wie er davon gerührt wird, so kann er hierbei nichts versehen haben; wenn aber der Verstand übereilt im Urtheilen war, so kann ihm das beigemessen werden; denn hier ist keine Leidenheit und Empfänglichkeit, sondern eine Thätigkeit, und dann suchen wir alle Vergehungen von ihm abzulehnen. Die Sinne betrügen also den Verstand niemals; der Verstand kann zwar über Anschauungen irrig urtheilen, aber das ist seine Schuld und ein Mangel der Aufmerksamkeit bei ihm.
/Die Sinne verwirren den Verstand niemals, und man hat ihnen das nie eigentlich beweisen können. Sie geben uns Stoff zu einer Menge von Vorstellungen, welche der Verstand hervorbringt. Die Deutlichkeit entsteht bloß durch die Bewirkung des Verstandes, also entspringt Verwirrung, wenn der Verstand seine Pflicht nicht thut; denn die Sinne geben keinen Gedanken, sondern nur Anschauungen. Nun kann es freilich schwer seyn, wenn die Sinne ihm viel Anschauungen geben, daraus Vorstellungen zu machen, aber desto reicher wird auch die Erkenntniß.
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/Wir können die Sinnlichkeit betrachten, wie sie dem Verstande entgegen wirkt und wie sie ihm vortheilhaft scheint. Die Sinnlichkeit ist dem Verstande, wie gesagt, unentbehrlich, weil wir ohne Sinne keine Anschauungen haben würden. Man sagt auch oft zum Lobe einer Erkenntniß, die Sache ist sehr sinnlich vorgestellt; daraus sehen wir schon, daß die Sinnlichkeit nicht Unfug anrichten müsse, sondern ein nothwendiges Werkzeug des Verstandes sey; das, was der Verstand vollkommen und in der Anschauung faßlich macht, geschieht durch Beispiele. Auf der andern Seite macht die Sinnlichkeit dem Verstande oft Schwierigkeiten, indem sie ihm zu viel darbietet, ehe er alles in der Geschwindigkeit bearbeiten kann. Unsere Sinne schweifen sehr aus, und dadurch wird der Verstand oft überhäuft, aber das ist noch kein wesentlicher Fehler; denn erstlich gewöhne deine Sinnlichkeit, daß sie dem Verstande nicht mehr darbiete, als er brauchen kann, und zweitens denke nicht daran, die Sinnlichkeit zu schwächen, denn dadurch nimmst du der Erkenntniß des Verstandes die Lebhaftigkeit, ohne welche sie gar keine Deutlichkeit haben kann; wenn ich kein Beispiel aus den Sinnen entlehnen kann, so sind meine Begriffe nicht verständlich. Hier ist also ein gemeinschaftlicher Vertrag zwischen beiden Kräften, und die Eine kann ohne die Andere nicht gebraucht werden. Man bemerkt in der Beredsamkeit die innigste Verbindung des Verstandes mit der Sinnlichkeit. Dies sieht man daraus, daß in der Wissenschaft, wo die Sinnlichkeit gar nicht gebraucht wird, z. E. in der abstracten Philosophie es die äußerste Schwierigkeit kostet, etwas zu erforschen. Die Sinnlichkeit ist also etwas, was dadurch, daß sie nicht disciplinirt ist, dem Verstande zufälliger Weise zuwider seyn kann. Ein Mensch ist sinnlicher als der andere.
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/Wir unterscheiden in uns die Thierheit und die Intelligenz; durch die Thierheit vereinigt sich der Mensch näher mit den Thieren, durch die Intelligenz betrachten wir den Menschen von Seiten des Verstandes. Der Verstand giebt Regeln und die Sinnlichkeit liefert den Stoff zu allen Regeln (wenn der Mensch die Regeln des guten Gebrauchs macht). Ein Mensch ist sinnlicher als der andere, heißt also: der Eine folgt mehr den Trieben der Sinne, der Andere mehr den Maximen des Verstandes. Das Talent des Einen ist mehr auf Sinnlichkeit, jenes des Andern mehr auf die Ausübung des Verstandes gerichtet. Der Eine geht mehr auf Vergnügungen und Spiel der Sinnlichkeit, der Andere mehr auf Begriffe aus. Es wäre gut, beide Vermögen miteinander gehörig zu verbinden, aber das geht nicht immer an. Wir können doch im Allgemeinen sagen, die Sinne müssen nicht geschwächt, sondern unter die Zucht und Leitung des Verstandes gebracht werden, damit sie aufhören, Hindernisse des Verstandes zu seyn.
/Die Sinnlichkeit ist zu unterscheiden nach der Verschiedenheit des Alters und des Geschlechts. Das zweite Geschlecht ist einem größern Einfluße der Sinnlichkeit unterworfen und hat weniger Kraft des Verstandes. In der Annehmlichkeit unsers Lebens kommt viel auf Sinnlichkeit an, aber das Nützliche im Leben, wodurch dasselbe Vergnügen Dauerhaftigkeit erhält, das Vorsehen kommt auf den Verstand an. Darum hat die Vorsehung gesorgt, daß das eine Geschlecht die Mittel in Ansehung der Annehmlichkeiten des Lebens, und den Vorzug in Hinsicht der Dinge des Geschmacks haben sollte; der andere Theil hingegen bekam mehr Talent in Ansehung der Dinge des Verstandes. In der Jugend ist mehr Sinnlichkeit als im hohen Alter, das tiefe Nachdenken aber, wo man sich lieber der Begriffe bedient, ist nicht im
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/Geschmacke der Jugend, sondern des Alters. Die orientalischen Völker und alle die Nationen, wo die Natur mit aller ihrer Milde ihre Mannigfaltigkeit ausgebreitet hat, haben mehr Talent der Sinnlichkeit, dagegen gründliche Beurtheilung des Verstandes ist mehr bei den Völkern, wo die Natur stiefmütterlich verfährt; bei allen nordischen Völkern, wo sie selbst fleißig zu ihrem Unterhalt seyn müssen, ist das Verhältniß des Verstandes zur Sinnlichkeit größer. Die Schriften der Orientalen beruhen mehr auf lebhafter Einbildungskraft, als auf gründlicher Einsicht des Verstandes. Wir finden bei ihnen nie philosophisch berichtigte Begriffe, sondern eine feurige Einbildungskraft. Alle ihre Ueberzeugungen geschehen zwar auch durch den Verstand, aber mehr durch die lebhafte Einbildungskraft.
/Wir können Virtuosen der Sinnlichkeit und Meister des Verstandes haben. Mahler und Dichter sind Virtuosen der Sinnlichkeit, wo nicht so wohl Wissenschaft, als eine große Geschicklichkeit erfordert wird, die in einer besondern Ordnung der Vollkommenheit angetroffen wird, die mehr auf Kunst beruht. Hingegen der Mathematiker und Philosoph sind Meister des Verstandes; sie vereinigen sich aber nur darin, daß Einer von dem Andern immer etwas borgt, der Dichter nimmt vom Philosophen Begriffe, um dadurch seiner Kunst mehr Stärke zu geben, der Philosoph hingegen kann seine abstrakten Begriffe durch poetische Ausdrücke beleben.
/Es ist sehr schwierig, von den Sinnen anzufangen und zum Verstande fort zu gehen. Man bilde deshalb bei der Erziehung die Sinnlichkeit wohl aus, lehre den Zögling etwas von dem Gegenstande kennen, und gebe ihm nicht alles durch Beschreibung zu erkennen, die mehr im Verstande sitzen, als durch die Einbildungskraft vergegenwärtigt werden können. Dies schärft den Gebrauch
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/seiner Sinnlichkeit, allein die Ausbildung des Verstandes muß immer neben der Ausbildung der Sinnlichkeit angetroffen werden, damit keine zügellose Einbildungskraft daraus entstehe.
/ ≥ Vom Positiven und Negativen unserer Erkenntniß. ≤
/Es ist in unserer Erkenntniß ein nicht sehr glänzender Theil, nemlich der negative Theil der Erkenntniß, der nichts thut, um die Erkenntniß zu vermehren, sondern um die Irrthümer abzuhalten.
/Diese Erkenntnisse haben darum nur einen negativen Werth; das baare Capital unserer Erkenntniß bekommt keinen Zusatz, aber wir sind sicher, daß es keinen Verlust leiden werde. Es schaft Irrtümer weg, welches vicariatliche Eigenthümer sind, von denen man glaubt, daß man darauf Ansprüche machen könne.
/In mancher Erkenntniß ist das Negative der vorzüglichste Gegenstand, wo uns Regeln gegeben werden, was wir in Ansehung des Objects zu beobachten und vor welchen Verblendungen wir uns zu hüten haben. Hier muß also die Unterweisung mehr negativ als positiv abgefaßt seyn, weil es nicht darauf hinaus geht, in der Wissenschaft ein ausgebreitetes Wissen hervorzubringen.
/Das Positive unserer Erkenntniß ist vorzüglicher als das Negative; denn alles was uns einschränkt, hat wenig Reitze, und da wir beim Positiven die Freiheit haben, uns mit unserm Wissen hinzuwenden, wohin wir wollen, so nimmt man lieber mit einem Scheinwissen vorlieb, welches, wenn es auch nur geträumt ist, doch immer belustigt; denn die Irrthümer führen doch immer einen Schein der Wahrheit und Ergötzlichkeit bei sich. Socra-_
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/tes sagte, er wisse nichts, d. i. er erkenne das Ganze der menschlichen Vernunft, das Erkennen der Wissenschaft und das vernünftige Wissen in Sachen der Speculation in seinem Unwerthe; daraus schließt er, daß alles, was nicht zur Besserung des Menschen beiträgt, unnütz sey; er unterscheidet sich also von den Speculationsschülern der Philosophie durch das Negative. Helvetius sagt, der Mensch wisse alles, außer nicht das, was Socrates wußte. J. J. Rousseaus Plan der Erziehung ist negativ; er sagt, der Keim des Guten sey in des Menschen Natur gelegt; der Erzieher habe also nicht nöthig, das Gute zu befördern, sondern nur zu verhüten, daß das Böse nicht einwurzle, und zu sorgen, daß die Verderbniß abgehalten werde. Dadurch wird der Zögling nicht in seiner Erkenntniß weiter gebracht, sondern die Verderbniß wird von ihm abgehalten, und dieser negative Theil der Erziehung ist freilich der wichtigste. Diogenes Glückseeligkeit war negativ; sie war ihm die Entfernung von allem Schmerze; er führte dem Menschen jeden Schmerz entgegen, um ihn abzuhärten. Eben so war der Grundsatz der Stoiker, sustine et abstine, negativ, nemlich daß man gänzlich wider den Schmerz gestählt werde, und das Vergnügen des Lebens entbehren könne.
/Viele Verbesserungen können in den Wissenschaften vorgehen, welche alle negativ sind. Ein Arzt, der lange seine Kunst getrieben hat und zugleich negative principia bei Patienten ausübt, ist der, welcher ihnen oftmals gar keine Arzenei giebt, und in gewisser Art dem Kranken seine Hülfe entbehrlich macht, damit er der Natur kein Hinderniß in den Weg lege, die in sich selbst die Quelle hat, sich zu helfen. Diese negative Methode, den Kranken zu behandeln, diese negative Arzeneiwissenschaft ist der höchste Gipfel der Medicin. Es gehört dazu nicht Wissenschaft, sondern Einsicht in die Oeconomie der Na-_
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/tur, und Selbstüberwindung des pedantischen Stolzes, wo ein jeder mehr seine Geschicklichkeit zu zeigen sucht, als dem Kranken zu helfen. Eine Verbesserung im Religionsvortrage ist, daß der Lehrer nicht seine Schulwissenschaft auskramt, sondern in seinem Vortrage das Nützliche erläutert; denn alle Verbesserungen laufen darauf hinaus, jede Wissenschaft entbehrlich zu machen. Unsere Rechtsgelehrsamkeit ist mit so vielen Einschränkungen und Subtilitäten überladen, daß von den vielen Menschen oft der, der die gerechteste Sache hat, des Rechts verlustig geht. Zum Vereinfachen und Wegschneiden vieler Gelehrsamkeit ist die negative Methode die Veranlassung.
/ ≥ Vom Leichten und Schweren. ≤
/Es ist ein Unterschied zwischen Schwer und Beschwerlich. Das Schwere bezieht sich auf das Vermögen; die Beschwerlichkeit auf die Lust. Eine Rechnung, wo man nur zu addiren hat, ist leicht, indem nicht viel Kunst und nicht viel Verstand dazu gehört. Aber es gehört viel Selbstüberwindung dazu, und der Mensch hat wenig Lust dazu, d. i. es ist ihm beschwerlich. Man verwechselt diesen Unterschied schwer und beschwerlich nicht nur im Sprechen, sondern auch in der Empfindung. Naturwissenschaften haben keinen Reitz bei sich; da nun das Gemüth nicht mit genugsamem Triebe darauf verfällt, so ist die Arbeit beschwerlich, und da der Mensch mit seiner Aufmerksamkeit immer wo anders ist, so giebt er es auch für schwer aus.
/Wir sind mit einer Menge von gesellschaftlichen Hudeleien überladen, und plagen uns alle aus lauter Höflichkeit; denn wir halten uns mit Ceremonien auf, wodurch
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/Menschen oft in Verlegenheit kommen, die sich nicht darauf verstehn. Es ist eine solche Ausübung von Ceremonien nichts schweres, daher können auch die, die sonst nichts können, solche Ceremonien machen und sie sind ihnen gar nicht schwer. Dies sind die gesellschaftlichen Müssiggänger, die ardeliones, die immer keuchen, und doch nichts thun; denn da sie mit dem Verstande nichts zu thun haben, und doch gerne etwas thun wollen, so verfallen sie auf so etwas. Wer aber nicht den geringsten Nutzen davon sieht, dergleichen zu thun, dem wird es beschwerlich. Es giebt solche Plackereien, die oft Staatsregierung und Religion angehen, Beschäftigungen, die weder dem Fürsten, noch den Unterthanen etwas nützen, Gebräuche, die uns aufgeladen sind, und die die Religion vielleicht noch hemmen und die gar keinen Nutzen haben, sondern uns allenthalben auf unnütze Dinge führen.
/Etwas Leichtes zu thun, bringt keinen Ruhm, aber Andern etwas leicht zu machen, ist ein Verdienst. Etwas Schweres auszurichten, giebt einen Beweiß des Vermögens, und so haben Viele dadurch Reichthum zu erwerben gesucht, daß sie etwas Schweres ausübten, z. B. Verse, die sich rück- und vorwärts lesen lassen, ohne dahin zu sehen, ob es etwas nützen möchte, aber es verdient doch noch einen Grad von Ehre; denn der Mensch zeigt dadurch immer, daß er ein gewisses Talent besitzt, die Sache geschehe auch durch welche Verstandeskraft sie immer will, aber er verdient auch Verachtung, wenn er sein Talent unnütz anwendet. Etwas schweres hingegen Andern leicht zu machen, bringt Verdienst; dahin gehören alle Maschinen. Es ist aber sonderbar, daß Monarchen oft Maschinen verbieten, weil die Sache dadurch gar zu leicht gemacht wird. So ist bei uns die Bänderwirkmaschine abgeschaft, weil ein Mensch dabei so viel thun kann, als zehn Andere, die dadurch außer Arbeit gesetzt
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/werden. Der Seidenhaspel macht viele Leute überflüssig und thut mehr als 30, 40. Personen. Eben deswegen sind auch in England keine Schneidemühlen erlaubt, weil dadurch nach ihrer Meinung das Holz gar zu leicht in Breter verwandelt wird.
/Sich etwas leicht vorstellen, was doch schwer ist, ist der Grundsatz der seichten Köpfe; der, dem alles leicht zu seyn scheint, giebt sich nicht viel Mühe, und es fehlt bei ihm die Beurtheilung dessen, was zur Sache erforderlich ist. Der Mensch, der sich von seinen Pflichten bloß einen geringen Begriff macht, wird sich zu allem anbieten, denn sein Begriff ist so eingeschränkt, daß er gar nicht sieht, was dazu gehört. Dergleichen Leute stellen sich die wahre Beschaffenheit der Sache nicht vor, und darum scheint ihnen alles leicht; sie sind Etourdis, die sich zu allen Stellen melden, weil sie nicht genug Einsicht von allen ihren Pflichten haben, oder gewissenlos genug sind, eine Sache zu übernehmen, von der sie wissen, daß sie dabei ihre Pflichten nicht erfüllen können. Daher ist es nöthig, einem Menschen etwas schwer zu machen, und ihm alle Beschwerlichkeiten vor Augen zu stellen, damit er sich ja nicht irre. Bei der Erziehung soll heutiges Tags dahin gesehen werden, daß es dem Lehrer schwer sey, dem Lehrlinge aber alles leicht gemacht werde; ehedem aber wars gewöhnlich, daß es sich der Lehrer bequem machte, und der Lehrling allein das Schwere zu verrichten hatte. Der Lehrer durfte den Schüler alles nur aufsagen lassen, jetzt aber soll der Lehrer nachdenken, wie er die schwachen Fähigkeiten des Schülers am besten entwickle, und ihm vorarbeite. Doch wird diese neue Methode sehr schwer allgemein werden; denn der geringe Lohn der Lehrers kann ihn nicht dazu bewegen, und es sind dazu schon cosmopolitische Begriffe nöthig. Derjenige, dem alles leicht läßt d. h. leicht anzukommen scheint,
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/hat eine große Vollkommenheit; denn ein Mensch, wenn er merkt, daß einem Andern etwas schwer wird, fühlt dies gleichsam selbst. Wenn wir einen Andern eine schwere Last heben sehen, so halten wir den Athem sympathetisch mit an. Wenn wir merken, daß es dem Prediger schwer wird, so wird es uns selbst peinlich. Wir können harte Worte in einer Schrift nicht leiden, weil wir die Beschaffenheit dessen zu empfinden glauben, der diese Worte aussprechen soll. Es läßt Manchem etwas leicht, ob es ihm gleich nicht leicht wird, und darin ist Voltaire ausgezeichnet; seine Schriften sehen sehr leicht aus, wenn man aber versucht sie nachzumachen, so wird man eher eine künstliche Schrift, als dieses Leichte der Schreibart zu Stande bringen. Auch dieses Leichte wurde Voltaire nicht leicht, denn er verwendete viele Nächte auf diese Arbeit, und brachte dabei die Hälfte derselben schlaflos zu, daß er auf Einfälle dachte, und dadurch brachte er es dahin, daß alles, was er schrieb, mit einer gewissen Nettigkeit gedacht war, so daß es jeder leicht erkennen konnte. Dies ist das Angenehme in der Schreibart, und das Gegentheil von dem, welchem alles schwer läßt, und schwer fällt, und steif wird.
/Den Umgang kann man als eine Sache der Erhohlung ansehen; denn es ist keine Arbeit und kein Geschäft; alles das heißt Arbeit, was an sich kein Vergnügen bei sich führt, sondern nur durch den Zweck vergnügt. Daher kann eine Arbeit beschwerlich seyn, aber durch den Zweck belohnt sie; es giebt Beschäftigungen in der Muße, die an sich angenehm sind, z. B. die Beschäftigung des Spiels. Diese Beschäftigungen vergnügen unmittelbar ohne weitere Zwecke. Wenn wir zur Tafel gebeten werden, so ist der Hauptzweck mit das Essen, aber beim Essen thun doch alle, als ob sie ans Essen nicht dächten und als ob das Gespräch vom Kriege u. s. w. die Haupt-_
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/absicht ihrer Zusammenkunft wäre. Folglich ist der Umgang ein wahres Spiel und hat keinen Zweck für sich, der uns die Mühe des Umgangs belohnen könnte. Daher muß aller Umgang leicht seyn; denn es ist lächerlich, da künstlich zu arbeiten, wo man keinen Zweck hat. Wird der Umgang peinlich, so habe ich beim Umgange einen Zweck, aber dann ist er keine Unterhaltung mehr, sondern eine Arbeit. Unser Umgang ist mit einer solchen Menge von Ceremonien überladen, daß er eine Arbeit ist. Mancher macht sich den Umgang recht sauer, und bereitet sich auf Materien der Unterhaltung vor. - Das Spiel wird in manchen Häusern zur Arbeit; es wird mit solcher Ernsthaftigkeit betrieben, als ob es ein wichtiges Stück Arbeit wäre, das man vor hätte; der Umgang nach allen seinen Artikeln muß leicht seyn, alles muß leicht lassen, und das Steife im Umgange, nachtheilige Ceremonien müssen wegfallen, damit es nicht so sey, wie bei den Chinesen, wo jeder seine Complimente auswendig weiß, wie den Catechismus, und der Andere immer auswendig kann, was er ihm darauf antworten soll. Alles, was leicht läßt, verschönert den Umgang und macht ihn zugleich anständiger.
/Zu dem, was schwer ist, gehört anhaltende Bemühung und große Arbeit; man nennt das Mühe, wozu eine Bemühung erfordert wird, die lange fort dauert; man nennt etwas schwer, wozu große Kraft auf kurze Zeit verlangt wird. Es giebt Nationen, die entweder die eine oder die andere Art von Arbeit lieben. Verschiedene Nationen sind in ihrer häuslichen Arbeit ämsig, und arbeiten mit geringer Mühe fortwährend. Die Preußen arbeiten hingegen schwerer, aber nur eine kurze Zeit. Man hat das Sprichwort: die faulen Leute arbeiten sich zu Tode, dies heißt nicht, sie arbeiten sich aus Fleiß zu Tode, sondern sie arbeiten, um hernach faullenzen zu können, sie strengen ihre Kräfte so sehr an,
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/daß sie sich fast zu Tode arbeiten, um nur bald ruhen zu können. Der fleißige Mann arbeitet hingegen langsam, aber beständig. Man muß sagen, alle Menschen haben einen Hang zur Faulheit, nämlich erst unbeschreiblich viel zu arbeiten, um desto länger alsdann faul zu seyn. Hier ist die Faulheit der Antrieb zur Arbeit, aber der wahrhaftige Fleißige vertheilet die Arbeit, und macht keine Zwischenräume von Unthätigkeit, wie der Faule, z. B. er trägt Lasten auf dem Rücken, die seine Gesundheit schwächen. Der Fuhrmann, der gemächlich eine Sache auf zweimal wegfahren könnte, fährt einmal, übertreibt die Pferde u. s. w., blos um desto länger ruhen zu können. Wenn die Arbeit an sich beschwerlich, oder doch leicht zu machen ist, so führt sie unmittelbar Vorzüge mit sich. Wenn man denn die Kraft vermindern will, so darf man nur die Zeit verlängern, um dasselbe Gewicht fortzubringen, das der Andere, der die Zeit verkürzen will, mit vergrößerter Kraft zu Stande bringt. Im gemeinen Leben ist es besser, eine kleine Kraft anzuwenden, und so das Gemüth beständig beschäftigt zu erhalten, die angestrengte Bemühung hingegen entzieht uns immer einen Theil des Lebens. Leicht arbeiten ist langweilig, kurze Zeit arbeiten, wenn alles aufs äusserste angestrengt ist, zeitkürzend, eben das, was die Menschen am meisten lieben; denn es ist ihnen zu langweilig, in beständiger Arbeit zu seyn.
/Cholerische Leute heißen geschäftig, und wählen mancherlei Geschäfte; der Cholerische ist ein Feind vom Nichtsthun, und ehe er ganz müssig ist, thut er lieber etwas Böses. Der Phlegmatische ist gut bei langwieriger Arbeit auf lange Zeit. Der Sanguineus ist zu leichten Arbeiten geneigt: phlegmatische Leute sind dazu erforderlich z. B. die Varianten aufzusuchen; denn dies ist eine Bemühung, die so viel Aemsigkeit erfordert, daß man dazu
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/ein Phlegma haben muß. Der Sanguineus haßt schwere Arbeiten, er verlangt solche, die kurze Zeit dauern. Die Aussicht zur Ruhe giebt ihm Kraft, sich kurze Zeit und lebhaft zu beschäftigen, aber es muß behende gehen, damit er geschwinde fertig wird, und nicht viel Kräfte braucht. Es sind verschiedene Wissenschaften und Künste, wovon Einige kurze Zeit dauernden Fleiß, Andere mehr anstrengende Arbeit und Bemühungen erfordern,
/ ≥ Von der Gewohnheit. ≤
/Die Wiederholung einer Arbeit erleichtert sie, und giebt uns Geschicklichkeit, sie leicht zu verrichten. Durch die Gewohnheit verschwindet die Beschwerlichkeit, und der Eindruck des Schweren verliert sich, wenn man etwas öfters wiederholet hat: so ist es mit jeder Empfindung, selbst mit der Kälte und Wärme; die Kälte vermindert sich, wenn man lange darinnen ist. Was man Gewohnheit nennt, das ist einer besondern Untersuchung würdig. Das Wort ist uns so geläufig, und oft können wir das nicht ausdrücken, was wir darunter verstehen.
/Man unterscheidet die Gewohnheit von der Angewohnheit; die Gewohnheit macht Handlungen leicht, die Angewohnheit nothwendig. Sich an Handlungen zu gewöhnen, kanne rlaubt seyn, sie aber zur Angewohnheit zu machen, taugt nichts; denn es hindert unser Gemüth zu Gegenständen auf gleiche Art geneigt zu seyn. Der Mensch macht dadurch sich Schwierigkeiten und hat sich an etwas gewöhnt, und dies bringt zuletzt die Ungemächlichkeit hervor, daß unser Gemüth nicht immer zu Handlungen geneigt ist, so daß in der Ungemächlichkeit, worin dasselbe ist, es ihm nicht immer so leicht wird, etwas zu thun, als es zu lassen. Angewohnheit taugt also nichts,
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/ja gute Handlungen verlieren ihren Werth, wenn sie als eine Ausübung der Angewohnheit angesehen werden; denn da geschehen sie nach einer mechanischen Nothwendigkeit.
/Aber wie wir unserer Empfindung durch die Gewohnheit Dinge, die schädlich sind, erträglich machen können, ist beinahe unbegreiflich und es läßt sich hiervon mehr ein physischer als ein psychologischer Grund angeben. Durch die Angewohnheit an starke Getränke bringen Leute es so weit, daß sie ohne Nachtheil viel davon trinken können; so ist es selbst mit dem Gifte, vielen unserer Nahrungsmittel und mit allen Dingen, die von uns zur Erregung eines Reitzes genommen werden, ohne auf den Schaden dabei zu sehen. Man sollte denken, sie sollten durch die Länge der Zeit noch schädlicher werden; sie werden aber mit der Zeit unschädlich. Dies ist der wohlthätigen Vorsorge unserer Natur zuzuschreiben, die so in allen Zufällen eine Selbsthülfe hat und durch gewisse Feuchtigkeiten, die sich in Menge absondern, werden die hitzigen Getränke unschädlich gemacht. Und so hat man das Gegenmittel gegen alle Uebel der Gewohnheit in sich selbst, und in der Gütigkeit der Natur, und in dem Vermögen, das sie hat, sich selbst zu helfen.
/ ≥ Von der Aufmerksamkeit (Attention) und Abziehung (Absonderung, Abstraction.) ≤
/Diese beiden Vermögen sind wie das Positive und Negative in der Erkenntniß unterschieden. Seine Aufmerksamkeit worauf richten, heißt attendiren, sie aber wovon abwenden, abstrahiren. Das letzte ist schwerer als das erste, und der Mangel an Aufmerksamkeit kommt immer daher, weil es jemandem schwer wird, von andern Gedanken zu abstrahiren, so daß die Attention ganz leicht ist, wenn
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/wir mit der Abstraction nimmer zu recht kommen können. Ich würde wohl auf den Andern aufmerken, wenn ich nur von dem, was in mir und in der Gesellschaft vorgeht, abstrahiren könnte; denn indem man mit Andern spricht, wird man oft auf sich selbst geführt, der Andere aber will meine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet wissen und so wird mein Gemüth unruhig und merkt nur halb auf. Ich muß also beim Aufmerken nicht nur dahinsehen, daß ich auf die Sache acht gebe, sondern auch, daß ich keinen andern Gedanken in mir aufkommen lasse, und muß diesem Hindernisse entgegen setzen.
/Gewisse Leute kann man empirische Leute nennen, und sie von speculativen Personen unterscheiden. Sie lenken ihr Gemüth blos auf Gegenstände der Sinne; es sind Leute von Geschäften, die auf das, was sie vorhaben, wohl aufmerken, aber sie können nicht abstrahiren, und können sich auch bei solchen Dingen des Verstandes nicht zeigen. Sie bedienen sich zwar ihres Verstandes bei Dingen, die ihnen die Sinne darstellen, allgemeine Dinge aber können sie nicht fassen; denn da müssen sie von aussen abstrahiren, und alles unter allgemeine Sätze bringen. Dagegen sind speculative Köpfe mehr bestimmt zu Dingen, die der Verstand erkennt, und sie können nicht gut etwas in concreto (in der Anschauung) darstellen.
/Alles unser Aufmerken und Absondern muß so beschaffen seyn, daß es in unserer Gewalt ist, und das ist überhaupt ein großer Vorzug des Menschen, immer alle Kräfte seiner Seele in seiner Gewalt zu haben, weil er sich dann selbst in seiner Gewalt hat. Es ist zwar sehr gut, viele Talente zu besitzen, aber eben so nothwendig ist es, daß man diese Talente nach seiner Absicht leiten kann. Alle hypochondrischen Leute haben eine unwillkürliche Aufmerksamkeit, wenn sie in einer Gesellschaft ehrbar seyn sollen. Sie können aber einen Gedanken, der ihnen ein-_
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/fällt, nicht los werden, und lachen auf eine unanständige Weiße, weil ihre Aufmerksamkeit zur unrechten Zeit auf einen Gegenstand gerichtet ist. Diese unwillkührliche Aufmerksamkeit macht dem Einen den Gedanken sehr lebhaft, und er schwebt ihm wider seine Willen in seinem Gemüthe. Ein Anderer aber legt die Gedanken davon weg, weil er sieht, daß in der Sache nichts mehr zu thun ist, und so handelt man auch seinem Zwecke am angemessensten. Die unwillkührliche Aufmerksamkeit beschäftigt das Gemüth immer fort, daher muß man schon in der Jugend darauf acht haben, den Gang seiner Gedanken in seiner Gewalt zu haben, daß man z. B., wenn uns etwas begegnet, leicht überlegen kann, ob dabei etwas zu thun ist. Sind nun Umstände da, von der Art, daß es nicht rathsam wäre, unbedächtig zu beschließen, so ist es nothwendig, den Gedanken los zu werden. Aber es gehöret viel dazu, es zu thun, und nicht jeder Mensch kann es.
/Der Mensch, der sorgenfrei in der Welt leben will, muß den Gang seiner Gedanken in seiner Gewalt haben; denn wenn eine Einbildung einen besondern Gang nimmt, und auf einen Punct sich heftet, wovon sie nicht abzubringen ist, so ist man ein Spiel eines träumenden Gemüths. Die unwillkührliche Abstraction solcher Menschen nennt man Zerstreuung; diese rührt oft aus Gedankenlosigkeit her, wenn wir nicht auf Dinge merken, die um uns vorgehen. Sie kann aber auch aus positiven Gründen entstehen, indem unsere Aufmerksamkeit anders wohin gerichtet ist. Die gedankenlose Zerstreuung ist bei den schwächsten Köpfen, die positive aber bei den Gelehrten etwas sehr Gewöhnliches.
/Jemand erzählt in einer Gesellschaft etwas, ich bin mit meinen Gedanken abwesend, abstrahire also von dem, was er spricht, und wende meine Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände. Gewöhnlich kommt dies daher, daß
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/wir mit unsern Phantasieen das ausmalen, was der Andere spricht und daß wir Ausflüge machen. Das Vermögen zu abstrahiren ist aber im Leben von großer Wichtigkeit, z. B. bei einer Heirath kann man eine Person von guten Glücksumständen und Gaben finden, aber man kann von einer schlechten Gesichtsfarbe nicht absehen, der Andere aber kann ohne Schaden davon abstrahiren, weil seine Aufmerksamkeit auf Verdienste geht, oder wenn ich mit jemandem spreche, dem ein Knopf an der Weste fehlt, so kann ich von dem Orte, wo er fehlt, nicht abstrahiren; meine Augen sind immer darauf gerichtet. Der Mensch ist immer für das Vollständige, und stößt stets auf Lücken, z. B. so kann man einen Menschen sehr in Verlegenheit setzen, wenn man immer auf seine Zahnlücken sieht.
/Unser Leben enthält so viele Gründe zur Zufriedenheit, daß wir wohl Ursache hätten, von manchen Ungemächlichkeiten abzusehen, die in die ganze Summe des Vergnügens keinen vortheilhaften Einfluß haben. Ein reicher Mann kann sich über einen zerbrochenen Pokal sehr ärgern, der gewiß in der Summe seines ganzen Vermögens keinen namhaften Einfluß haben kann. Es ist dahero nöthig, seine Gedanken immer auf etwas anders zu richten, denn dadurch wird die Reinigkeit und Gesundheit des Gemüths befördert. Oft muß man von allen übrigen Dingen absehen, um eine Sache nach der einen Seite zu betrachten. Es ist ausgemacht, daß der Kluge den Ausgang vieler Sachen noch nicht in der Einheit bei ihrer Ausfädelung zeigen kann; denn das Glück kommt dazu, aber doch kann ein Anderer nicht gut abstrahiren, und wir werden denjenigen mit weniger Achtung ansehen, der große Sachen unternahm, die ihm nicht glückten, als den, der nichts dabei that, aber Glück hatte. Wir können oft nicht von einem schlechten Kleide
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/bei einem Manne wegsehen, dessen Verdienste nicht bestritten werden können. Die Russen haben das Sprichwort: man empfängt den Gast nach seinem Kleide, und begleitet ihn nach seinem Verstande. Wir können den Eindruck der Kleidung nicht von dem übrigen abziehen, so daß man den Menschen nach seinem innern Werthe schätzte. - Vor seinem besten Bekannten hat man mehr Achtung, wenn er wohl gekleidet geht; hier ist wieder unser Fehler die Abstraction. Die Stoiker machten es zur Grundlage der Glückseligkeit, nichts von allem hochzuschätzen, was in der Welt ist, außer die Tugend, die allein einen Werth habe.
/Es giebt gewisse verdienstliche Dinge, von denen wir nicht abstrahiren können; von einem Karrengeräusche kann man wohl wegschleichen, aber von jemandem, welcher die Violine probiert, oder der monotonische Gedichte hersagt, können wir unsere Achtsamkeit gar nicht abkehren, unsere Gedanken werden dann auf einen großen Gegenstand hingezogen, vor dem wir uns immer gleichsam fürchten, er werde noch öfterer kommen.
/ ≥ Von Haupt- und Nebenvorstellungen. ≤
/Es scheint, daß wir allen unsern Vorstellungen mehr Nachdruck geben können, wenn wir sie nicht allein, sondern mit einem Gefolge von Nebenvorstellungen zu verbinden wissen. - Manche passen so zu der Hauptvorstellung wie ein goldener Rahmen zu einem Gemälde. Hier ist der Rahmen die Hauptsache; wenn er aber von Gold ist, so ist das Gemälde gemeiniglich nicht viel werth; freilich sollte das Gemälde allein so viel Eindruck machen, daß man dabei alle andere Reitze übersähe. Eine Person kann sehr schön seyn, sobald ihre Schönheit allen
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/Kleiderputz verdunkelt, aber so glänzen, umgekehrt, bei einer mittelmäßigen Schönheit die Kleider am meisten; daher das sorgfältige Putzen einen kleinen Geist verräth, weil er nicht bedenkt, daß er, so viel er an seinen Kleidern gewinnt, an seiner Person verliert. Die Kleidung gewinnt, aber der Mann im Kleide wird unsichtbar. Wenn daher jemand, der eine Rede halten will, sich mit aller Kunst geputzt hätte, so würde die Aufmerksamkeit mehr auf das Kleid als auf den Mann gerichtet seyn. Man muß daher sorgen, daß das Abstrahirende die Hauptsache nicht verdunkelt, sondern daß diese dadurch erleuchtet wird; man muß auch die Hauptsache von der Nebensache gut zu unterscheiden wissen, aber ohne beigefügte entbehrliche Zusätze kann man keine Sache vor die Augen der Menscheu bringen, so wie kein Mensch vor dem Andern nackt erscheinen kann, so daß man alles in Brühen auftragen muß, die gegewärtig sehr geliebt werden. Sich auf diese Saucen zu verstehen, so daß man das Moralische mit einer solchen Sauce abkocht, woran sich ein jeder ergötzt, ist eine Kunst. Mit einem scherzhaften Witze lassen sich ernsthafte Dinge gar sehr gut vereinigen. Wir haben also bei unsern Vorstellungen auf die Zurichtung des Beförderungsmittels unserer Rede zu sehen; noch grade ist die Neigung der Menschen so gerichtet, daß ihnen das vehiculum lieber wird als die Sache selbst.
/ ≥ Von der Ueberzeugung und Ueberredung. ≤
/Diese zwei Begriffe unterscheidet derjenige nicht von einander, der zwar seiner Sache gewiß zu seyn glaubt, aber dessen Fürwahrhalten nur einstweilig ist, und der nicht weiß, ob dies Morgen auch noch statt finden werde.
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/Bei der Ueberzeugung ist die Gewißheit unwandelbar. Es giebt Leute, die leicht von einer Sache zu überreden sind; es sind gewöhnlich solche, die mit Partheiligkeit für etwas eingenommen sind. Von Sätzen, Theorieen ist der eine Mensch leichter zu überreden als der Andere; der Eine verlangt nicht viel, um seinen Beifall zu geben, der Andere fordert dagegen mehr. Diejenigen, die nicht lange mit ihrem Beifalle warten, geben ihn aus schwachen Gründen, die Andern aber prüfen genau. Dem Einen ist es leicht zu antworten, den Andern aber ist es schwerer zu bereden, und ihn auf andere Gedanken zu bringen. Wenn Einer aus falschem Wahne sich vorstellt, daß der Andere üble Absicht gegen ihn hat, so kann er sich es gar nicht wieder ausreden; dies kommt daher, daß der Mensch lange auf einem Gedanken bleibt, und dadurch seine Meinung fest wurzeln läßt.
/Was bestimmt den Werth in Ansehung der Ueberzeugung und Ueberredung? Der Verstand ist der Richter; aber wir haben auch Advocaten unserer Sinne, wo wir zwei Partheien gemacht haben. Die zweckmäßige Beurtheilung einer Sache ist dem Verstande aufbehalten, wir haben aber auch Partheien unserer Neigungen, die uns bald auf die eine, bald auf die andre Seite ziehen, und unserm Verstande widersprechen und ihm Einwürfe machen. So geht es mit Systemen zu. (Ein System ist ein gegliedertes Ganze unserer Erkenntnisse.) Wenn ein Gelehrter ein System gemacht, oder von Andern angenommen hat, so bekommt er eine Vorliebe dafür und da scheint es ihm unmöglich zu seyn, etwas anzutreffen, das noch nicht in das Ganze unserer Erkenntniß verkettet ist. Wenn Einer über Sachen nachdenkt, so muß er deshalb im gemachten Systeme nicht sich selbst blos hören, sondern auch Andern überlassen, zu prüfen, weil der zu starke Anhang am Systeme macht, daß man sich durch
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/die stärksten Gründe nicht bewegen läßt, davon abzulassen. Systeme zu Stande zu bringen, dazu wird lange Zeit und ein Mann von Talent erfordert: was der Eine darin nicht leisten kann, das leistet der Andere, die Nachkommen mit eingeschlossen. Alle wichtigen Dinge, die sich in einem Systeme gepaart haben, bringen eine Festigkeit hervor, und im Gemüthe nehmen sie einen großen Platz ein.
/ ≥ Von den Eigenschaften der Sinne. ≤
/Ein Sinn ist das Vermögen sich Etwas vorzustellen, wie wir von den Dingen afficirt werden. Der Sinn wird vom Verstande unterschieden. Der Verstand ist das Vermögen zu denken, und stellt die Dinge nicht vor, wie wir von ihnen afficirt werden, sondern was die Dinge an sich selbst sind.
/Die Sinne werden eingetheilt in äußere Sinne, und in den innern Sinn. Wir stellen uns vor, wie wir von Dingen afficirt werden, oder wie unser Gemüth ohne Veränderung des Körpers davon afficirt wird. Das Vermögen, sich durch den Zustand des Gemüths etwas vorzustellen, ist der innere Sinn. Die äußern Sinne werden eingetheilt in die vitale, und in die organische Empfindung. Der Sinn der vitalen Empfindung ist ein Einziger; er ist da, wo wir unser ganzes Leben vom Vergnügen oder Schmerz afficirt finden. Alle diese vitalen Empfindungen sind unbeschreiblich; man fühlt sein ganzes Leben auf eine gewisse Weise afficirt, man braucht aber dazu keine eigentlichen Organe. - Wärme und Kälte gehören zu den Empfindungen des Vitalsinnes, wir fühlen dadurch keine Gegenstände, sondern wir fühlen uns selbst afficirt; unser ganzes Nervensystem wird durch die Wärme oder Kälte angegriffen,
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/so daß sich hierbei kein besonderes Organon im Körper unterscheidet, sondern alle Nerven ohne Unterschied sind derselben fähig; es zeigt sich vorzüglich darin, daß wir dadurch Vergnügen oder Schmerz empfinden.
/Vitale Empfindungen entspringen aus unsern Gedanken; z. B. das Gräuseln ist, wenn man lieset, wie Einer am Rande eines hohen Abgrundes geschlafen habe, eine Veränderung der vitalen Empfindung. Dergleichen Empfindungen und Gedanken erfordern wirklich Aufmerksamkeit, man nennt es Schauder, aber das ist das eigentliche Gräuseln, wo man eine Kälte fühlt, die sich über unser ganzes Nervensystem erstreckt. Man schaudert über unangenehme Dinge, die mit Schrecken und Furcht verbunden sind, aber das Gräuseln entsteht auch aus angenehmen Vorstellungen, z. B. bei einem rührenden Schauspiele, oder bei einem furchtbar erhabenen Gegenstande, davon ist also der Schauder unterschieden, welcher immer Gegenstände der Furcht betrift, aber ein Schauer überläuft den Menschen bei einer Vorstellung, die ihm unerwartet oft in die Gedanken kommt. So kann man einige Stellen in Hallers Gedichte von der Ewigkeit nicht ohne Schauer lesen. - Daher heißt auch ein Schauerregen ein solcher Regen, der unerwartet kommt, und geschwind vorüber ist. Die Empfindung beim Schauer fängt auf der Haut an, und durchdringt den ganzen Körper. Es ist kein Organ, das dazu ersehen wäre, sondern es geht auf den ganzen Nervenbau.
/Organische Empfindungen sind diejenigen, welche auf ein besonders Organ eingeschränkt sind, und da haben wir 5 Organe, deren jedem eine besondere Empfindung zukommt. Diese sind die Sinne des Sehens, Hörens, Fühlens, Riechens und Schmeckens. Von diesen Organempfindungen ist merkwürdig, daß Einige mehr subjectiv, Andere mehr objectiv sind, Andere aber sind mehr objectiv,
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/als subjectiv. Riechen, Schmecken sind mehr subjectiv als objectiv; denn durch diese merke ich nicht so wohl, was der Gegenstand ist, sondern ich fühle nur die Veränderungen in meinem Subjecte; diese Sinne lehren mich nichts, sondern afficiren mich nur. Andere Sinne sind mehr objectiv als subjectiv, wo ich mir mehr das Object vorstelle, als die Veränderungen in meinem Organe. Beides ist zwar immer beisammen, aber beide Vorstellungen sind nicht von gleicher Stärke. Beim Gesichte habe ich mehr Vorstellungen vom Objecte, als von der Veränderung in meinem Auge; wenn jemand aber im glänzenden Sonnenscheine etwas sehen soll, so fühlt er mehr, daß er geblendet wird, als das, was er sieht; da ist die Vorstellung mehr subjectiv als objectiv; aber so wie man gewöhnlich sieht, wird man mehr objectiv als subjectiv afficirt. Eben so, wenn jemand mäßig spricht, so merken wir mehr auf das, was er spricht, als daß wir in unsern Ohren die Stärke des Sprechens wahrnehmen sollen; aber wenn sehr stark geschrieen wird, so wird das Gehör mehr subjectiv afficirt. Die objectiven Sinne können wir in Fühlen, Hören und Sehen eintheilen, weil wir das Fühlen jetzt als eine Organempfindung betrachten. Nirgends ist Empfindung, als wo Nerven gehen. Wir können deshalb dem Körper die Stellen ausschneiden, wo kein Gefühl ist, weil kein Nerv da ist, und wenn man einen Nerven zerschneidet, so kann man dadurch das Gefühl abschneiden; denn, indem dadurch die Verbindung des untern Theils der Nerven mit dem Gehirne gehindert wird, fühlet man unterhalb nichts, (so wie die Muskeln und Fasern die Werkzeuge der wirklichen Bewegung sind). Die Nerven machen bei dem Menschen das Principium des ganzen Leibes aus, sie breiten sich wie ein Schleim unter unserer ganzen Haut aus, so daß man nirgends eine Nadelspitze hinsetzen kann. Wenn
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/wir also vom Fühlen (tactus) als einer Organempfindung reden, so verstehen wir den Sinn darunter, der in alle andere Sinne geht, weil die Nerven unter der ganzen Haut ausgebreitet sind. Der eigentliche tactus (das Tasten) aber ist in den Fingerspitzen, weil da die Nerven Wärzchen machen, wodurch ein ausgezeichnetes Fühlen hervorgebracht wird, d. i. der eigentliche tactus und Hauptsinn; denn das Sehen giebt mir nicht die Dinge zu erkennen nach ihrer körperlichen Beschaffenheit. Haben wir uns aber erst von Dingen durch Betasten unterrichtet, so können wir uns hernach einen bessern Begrif davon machen, indem es klar ist, daß unsere Augen uns alle Gegenstände auf einer Fläche vorstellen; die körperliche Gestalt läßt sich in der Camera obscura nicht wahrnehmen; denn wenn man sie wahrzunehmen glaubt, so kommt es daher, daß wir der mahlerischen Gestalten, die uns das Auge darstellt, schon gewohnt sind, so, daß wir unmittelbar zu sehen glauben, ein Körper sey rund, da sich doch in der That jede Kugel in unserm Auge als ein Cirkel und als eine Fläche darstellt. Daß dies gewiß sey, ist durch verschiedene Experimente bestätigt. S... hat einen Blindgebornen vom grauen Staare befreiet; dieser konnte Anfangs nur die Dinge unterscheiden, die er auch betasten konnte; den Hund und die Katze konnte er nicht eher unterscheiden, als bis er sie betastet hatte. Bei Gemälden schien ihn wieder umgekehrt sein Gesicht zu betrügen; denn er fühlte, daß das, was er als erhaben ansah, falsch war.
/Durch dieses Fühlen erhalten wir den Begriff von der Substanz. Nur das Gefühl kann ausmachen, ob etwas ein Phantom oder ein fester Körper sey; der Sinn des Gefühls, so niedrig er auch unter den andern gehalten wird, ist der nothwendigste, und der Fundamental-Sinn, durch welchen wir alles erkennen, was den Raum
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/erfüllt, durch welchen wir die körperlichen Gestalten unterscheiden können, und durch welchen wir von vielen Dingen zu Begriffen kommen, wenn wir sie nur mit ihm erreichen könnten; daher auch der Blindgeborne nicht begreifen konnte, wozu ihm das Sehen nützlich sey, da er ja alles erreichen konnte. Allein der Sinn des Gefühls hat keine große Sphäre, man kann nicht weit von dem abstehen, was man durch ihn erkennen soll, aber der Sinn des Gefühls kann seinen Begriff hinlänglich erklären. Der blindgeborne Professor Saunderson war doch ein großer Mathematiker, verstand die Optik, und konnte sogar klare Begriffe von Farben geben, so wie sich die Vernunft darüber erklären kann. Der Sinn des Gefühls also ist eine Unterweisung in Ansehung dessen, worüber wir uns vollkommen erklären können. Beim Sinne des Gesichts aber können wir nicht von allen Dingen vollständige Begriffe geben. Das Vergnügen ist durch den Sinn des Gefühls unmittelbar möglich. Beim Hören und Sehen nehmen wir die Sache durch ein Medium wahr, welches der Gegenstand in Bewegung bringt, durch den wir afficirt werden. Das Hören stellt uns nicht die Beschaffenheit des Gegenstandes vor, aber doch einen Gegenstand. Wir werden nicht vom Gegenstande afficirt, sondern wir sehen nur, daß ein Gegenstand da seyn muß, von dem wir gerührt werden. Wer das erstemal ein Posthorn hört, kann sich keinen Begriff davon machen, aber das weiß er, daß etwas ausser ihm ist, was den Laut hervorbringt. Kein einziger Sinn theilt die Zeit so fein und scharf ein, als der Sinn des Gehörs. Mit welcher Feinhet theilt die Musik den Tact und alle die verschiedenen Töne ein, die auf einander folgen! Ein jeder Theil ist eine Zeiteintheilung; ein Ton, der eine Octave höher ist, hat eine Schwingung in der Luft mehr. Man hat verschiedene Experimente darüber angestellt,
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/wie viel Bebungen der Luft in einer Secunde nöthig sind, damit der allerfeinste und allergröbste Ton, den man noch als einen Ton angeben kann, durchbeben kann, herausgebracht wird. Und da hat man gefunden, daß beim tiefsten Tone sich die Luft in einer Secunde 30mal schwingen muß, aber beim höchsten Tone sind 5000 Schwingungen in einer Secunde erforderlich. Hier macht die Bebung der Luft so unbeschreiblich kleine Zeiteintheilungen, daß man es kaum für möglich annehmen könnte, wenn es die Beobachtung nicht genau lehrte und die Berechnung davon nicht auf sichern Grundsätzen beruhete.
/Wir setzen alle Dinge in Zeit und Raum; beides sind Arten unserer Vorstellungen; *1 denn wenn wir die Materie bei Seite setzen, so ist die Form ihres Zusammenhanges zweifach. 1. der Raum ist die Form der äussern Anschauung und 2tens die Zeit die Form der innern Empfindung. Durchs Gesicht theilen wir den Raum ein, durchs Gehör die Zeit, zwar nicht willkürlich, aber unser Gehör hat doch das Vermögen dazu. Unser Vergnügen in der Musik kommt jederzeit aus der Mannigfaltigkeit der Zeiteintheilung her. Das Gehör ist ein Beförderungsmittel der Mittheilung unserer Gedanken; wir können wohl durch Minen und Geberden Andern unsere Gedanken mittheilen, aber das leichteste Mittel ist doch das Gehör. Die Zunge ist das Organ des Sprechens, aber das Organ der Empfänglichkeit des Sprechens ist das Gehör. Das Gehör ist stark mit dem Vitalsinne verbunden, daher kann auch kein Sinn so stark auf den Körper einwirken, als das Gehör. Die Musik wirkt sehr stark, und das Gehör hat wahrhaft Einfluß auf das Wohlbefinden der Menschen; denn alles,
/~ *1 Formen oder Arten und Weisen, wie wir uns etwas unmittelbar vorstellen. ~
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/was erschütternd ist, belebt das Nervensystem. Alles Kneifen und Brennen wirkt nicht so, als was den Körper in Erschütterung bringt; eben so wie über eine schwankende Brücke viele Leute gehen können, wenn sie untereinander gemischt sind; wenn sie aber alle ordentlich Tritt halten, so zertrümmern sie dieselbe; denn sie schwankt sodann so sehr, als wenn ein ganzer Artilleriepark darüber ginge. Die Ursache ist, beim ersten Tritte schwankt sie ein wenig und dies erstreckt sich auf jeden Tritt. Auf eben die Art ist ein Ton eine gleichzeitige Bewegung von Luftschwingungen, und dadurch geschieht es, daß der Takt in der Musik unser Nervensystem in Bewegung bringt, und einen wahrhaften Eindruck darin verursacht. Daher ist das Gehör der Sinn, der auf unsere Vitalempfindung den meisten Einfluß hat. Man spricht von einem Versuche, vor dem die Aerzte sich aber schämen, weil sie befürchten, ausgelacht zu werden, ob den Versuch gleich Grund hat. Man hat nemlich den Versuch angegeben, durch musikalische Instrumente die Spulwürmer zu vertreiben. Einen Menschen, der sehr mit Spulwürmern geplagt ward, hat man damit geheilt, daß man ihm erst eine gelinde Abführung und dann ein Brummeisen in den Mund gab, worauf er, wenn er auf die Commodität ging, spielte, dadurch gingen alle Spulwürmer weg. Man dürfte also nur jemandem, der davon geplagt wird, einen Baß an die Rippen setzen, und sie würden vertrieben werden. Die Ursache ist folgende: wir haben in uns einen Darmkanal, der mit den Saiten in der Musik Aehnlichkeit hat; vermittelst der Nerven erfährt derselbe Schwingungen, wenn das Nervensysten in Erschütterung geräth, so geht dies durch den ganzen Darmkanal durch; da werden denn die Würmer, die sehr zart sind, erschüttert, können sich nicht mehr anhalten, weil sie betäubt sind, und werden so durch die peristaltischen Gänge abgeführt.
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/Das Wohlgefallen und das Mißfallen an der Musik hat einen unmittelbaren Einfluß auf den Darmkanal, auf das Zwergfell, je nachdem die Erschütterungen der Gesundheit zuträglich oder unangenehm sind.
/Das Gesicht ist ein objectiver Sinn, d.i. ich stelle mir mehr den Gegenstand, als den Eindruck des Sinnes vor; aber bei einer Blendung merke ich mehr auf das Subject, aber dies ist dann auch angenehm, z.B. die goldnen Dächer am Sommerpalaste in St. Petersburg blenden und erregen Mißfallen. Wir finden beim Gesichte, als bei dem Sinne, der Gestalten der Dinge betrift, viel Aehnlichkeit mit dem Gefühle; denn ein Lichtstrahl, der vom Gegenstande in mein Auge fällt, ist gleich einem Stocke, der vom Gegenstande in grader Linie in mein Auge fällt, und durch den ich die Oberfläche des Gegenstandes berühre. Das Sehen geschieht also vermittelst eines Mittels, das in Bewegung gesetzt wird, nemlich des Lichtstrahls. Farben aber haben Aehnlichkeit mit dem Gehör. Man kann auf einer Monocorde zeigen, daß die 7. Haupttöne mit den 7. Hauptfarben des Regenbogens übereinstimmen. Die 7. Farbenstreifen des Regenbogens haben dasselbe Verhältniß, wie die 7. Haupttöne in einer Oktave. Dahero auch ein Blindgeborner, dem man die rothe Farbe beschrieb, sagte, sie müsse Aehnlichkeit mit dem Schalle einer Trompete haben. Man hat also Gründe für diese Behauptung, aber man kann sie doch nicht ganz erschöpfen. Man findet Menschen, die gar kein musikalisches Gehör haben, und die den Schall, aber nicht die Töne hören, ausser jenen, welche stärker oder schwächer sind. Eben so giebt es auch Menschen, die kein Auge für Farben haben. So giebt es ebenfalls eine Familie in England, welcher alle Dinge wie Kupferstiche aussehen, indem sie keinen Unterschied der Farben bemerken kann. Es zeigte sich, daß
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/das Helle und Dunkle bei ihr den Unterschied ohngefähr zwischen Licht und Schatten machte. Wenn aber der Mensch gar nichts von den Farben unterscheiden könnte, so würde er viel Annehmlichkeit verlieren; kann er aber die Töne in der Musik unterscheiden, so wird er sich viel angenehme Kenntnisse erwerben können.
/Die beiden Sinne, die mehr subjectiv als objectiv sind, sind der Geruch und der Geschmack. Sie scheinen eine gewisse Analogie untereinander zu haben; denn indem wir eßbare Sachen riechen, scheinen wir sie schon mit dem Geschmacke zu vor hergenießen. Wenn ich etwas rieche, so habe ich keinen Begriff von der Gestalt, so wie auch nicht von der Entfernung oder Nähe der Sache, sondern der Geruch sagt nur, wie mir zu Muthe ist. Diese zwei Sinne sind solche Sinne, durch welche der Gegenstaud genossen, und wodurch er in die Substanz des Körpers verwandelt wird. Alle Sinne afficiren uns entweder durch einen mechanischen oder chemischen Einfluß des Gegenstandes. Der mechanische geschieht durch Druck und Stoß, der chemische durch Auflösung. Beim Fühlen werden wir mechanisch afficirt, eben so beim Hören und Sehen; aber beim Riechen und Schmecken ist der Einfluß chemisch; denn da ziehen wir den Gegenstand ein, und vereinigen ihn mit der Substanz unsers Körpers. Was riecht, das zieht man in seine Lunge hinein, und vermischt es mit den Säften. Wenn ich etwas schmecken soll, so muß es in meinen Speichel aufgelößt seyn, also ist der Einfluß des Geschmacks chemisch; denn ich schmecke den Gegenstand nicht eher, als bis er anfängt in die Gefäße einzudringen, die diese Dinge auflösen. Daher ein Weinschenker, wenn er blos schmeckt, und den Wein wieder ausspeit, doch am Ende betrunken wird, weil sich doch etwas mit seinen Säften vereinigt.
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/Viel Organ- und wenig Vital-Sinn ist der glücklichste Zustand, in dem ein Mensch seyn kann. Das Vermögen, Gegenstände durch meine Sinne zu erkennen, ohne an meinem Wohlbefinden viel afficirt zu werden, ist der glücklichste Zustand zu Beobachtungen; denn je weniger das Leben eines Menschen bei einer Sache, die er beobachtet, afficirt wird, destomehr wird der Gegenstand wahr vorgestellt. Wer bei jeder Musik voll Affect und bei jedem Mißklange zartfühlend ist, der wird ein guter Beobachter seyn. Und je mehr Veränderungen man in seinem Leben fühlt, desto mehr wird es abgenutzt. Die Stärke des Nervensystems entsteht dadurch, daß ein Mensch viele Dinge aushalten kann, und nicht sogleich paradiesisch entzückt wird, welches schwache Nerven anzeigt. Wir finden bei den Amerikanern stumpfe Nerven, daher ist bei ihnen so wohl der Organ- als der Vital-Sinn schwach. Wenn sie unter dem Messer des Chirurgus waren, so schrieen sie nicht sehr. Die Zartheit der Nerven zeigt immer, daß der Vitalsinn stark ist. Dergleichen Leute werden leichter gereizt, leichter niedergeschlagen, und immer stärker afficirt.
/Das Leben muß also einen gewissen Grad haben, der nicht zu stark ist. Je weniger die Sinne lehren, desto mehr afficiren sie, und wenn sie viel lehren sollen, so müssen sie wenig afficiren. Geruch und Geschmack afficiren stärker, aber lehren wenig; denn ich kann durch sie die Eigenschaften der Dinge nicht erkennen. Sie afficiren aber stärker, weil sie mit dem Genusse verbunden sind. Wenn jemand stark zu mir spricht, so fühle ich mehr, daß mein Gehirn erschüttert wird, als das, was man zu mir leise spricht. Das Buntfarbige afficirt mehr, man wird aber dadurch zerstreuet, und aller Wahrheit und Betrachtung unfähig, indem man durch das Schreiende der Farben auf gewisse Puncte abgeleitet wird. Vor-_
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/züglich trift dies ein, wenn die vitale Empfindung stark im Spiele ist, und unser Wohlbefinden stark erschüttert wird, denn da ist man ein schlechter Beobachter.
/Delüc ist ein lehrreicher Schriftsteller, aber sein Gefühl ist immer bis zur Entzückung afficirt, so daß man doch sieht, daß er nicht die philosophische Kaltblütigkeit eines Beobachters hat; das bloße Afficiren bewegt viel und belehrt am allerwenigsten.
/Der Geruch scheint unter allen Sinnen der undankbarste und entbehrlichste zu seyn: er ist undankbar; denn wir haben wenig Gelegenheit, etwas Gutes zu riechen. Alle Ergötzlichkeit des Gemüths ist nicht lange anhaltend, aber durch einen eklen Geruch können wir sehr geplagt werden, welcher einen Einfluß auf unsere ganze Vitalempfindung hat, so daß man bisweilen darüber in Ohnmacht fällt. Es scheint der Geruch deswegen entbehrlich zu seyn, weil man, je schärfer der Geruch ist, desto übler daran ist. Ein paar Eheleute können gut beisammen wohnen, wovon das Eine einen stinkenden Athem, das Andre aber keinen Geruch hat. Doch hat die Natur, indem sie uns diesen Sinn gab, weislich wegen des Athems gesorgt, durch den wir immer genießen; denn da sich die Lungen von den faulen Dünsten oft nicht befreien können, durch die Lunge aber eben die phlogistischen Dünste aus dem Blut abgesondert werden müssen, so würden, wenn die Luft, die wir einathmen, sehr damit angefüllt ist, die Lunge das, was sie ausstößt, wieder einnehmen müssen, daher ist der Geruch nöthig, um zu unterscheiden, ob die Luft, die wir einathmen, voll phlogistischer Theile ist. Die Fäulniß eines Aaßes, wird jemanden weit davon abhalten, aber nichts ist auch schädlicher als ein solcher, vorzüglich hoher Grad der Fäulniß; denn die faulen Theile vereinigen sich gleich mit dem Blut, und bringen ein Faulfieber hervor.
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/Der Geruch ist ein Sinn des Wahns, er scheint mehr auf Gewohnheit zu beruhen, als auf einer Empfindung, so daß er sich bei demselben Menschen vermehrt, oder vermindert, je nachdem er sich ausbildet. Kinder und Wilde machen keinen Unterschied, ob es so oder so riechet; daher sie auch an Orten spielen, wo der größte Gestank herrscht. Eben so sind die Wilden gar nicht auf den Geruch aufmerksam. Die canadischen Wilden fanden keinen Geruch angenehmer, als den von eßbaren Dingen. Wie viel Wahn mit dem Geruche verbunden ist, kann man daraus sehen, z.B. vor einiger Zeit war der Modegeruch Bisam oder Muscus, hernach aber hat man davor einen Ekel gefunden. Im Morgenlande ist der Modegeruch ein Räucherwerk auf Kohlen.
/Der Geruch ist ein besonderer Sinn, indem man sich durch ihn in der ganzen Gesellschaft ausbreitet, daher muß ein Mensch in der Gesellschaft nach nichts riechen, und nichts Riechbares bei sich haben; denn wenn ich etwas, was für den Geschmack ist, auf dem Tische habe, so kann jeder essen, wenn es beliebt, aber wenn ich ein mit Bisam durchwürztes Schnupftuch habe, so tractire ich die ganze Gesellschaft, ohne daß ich weiß, ob es ihr gefällt. Daher ist es sehr zudringlich und anmaßend, nach etwas zu riechen. Wenn der Geruch zu stark wird, so bringt er unordentliche oder heftige Wirkungen hervor. Wenn der Mensch die Kunst zu hoch getrieben hat, wenigstens höher als die Natur sie gebracht haben würde, so verfeinern sich die Sinne, und wir bemerken Dinge, die ein ungebildeter Mensch nicht bemerkt haben würde. So können wir durch Blumen die Stärke des Geruchs so hoch treiben, daß dieselbe der Gesundheit schädlich wird. Violen, Tuberosen, und dergleichen, wenn sie eine Nacht im Zimmer stehen, wo ein Mensch schiäft,
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/können dazu beitragen, daß er des Todes wird und man findet es immer, daß sich Kopfweh einstellt. -_
/Das Räuchern im Morgenlande geschieht, wenn der Gast weg gehen will, dann werden ihm die Kleider, der Bart etc. durchräuchert, und alle riechbaren Sachen sind von Harze (dergleichen die Orientalen dazu gebrauchen), auf Kohlen geschüttet, und haben nicht das Benebelnde, was Blumen verursachen.
/Der Sinn des Geschmacks ist der, welcher sehr antreibend ist, am meisten kostet, und doch der Gesundheit sehr nachtheilig ist. Er führt den meisten Reiz bei sich und bringt die Gesundheit in Gefahr. Wir dürfen den Geschmack eigentlich nicht tadeln, sondern es kommt nur daher, daß man den Geschmack so angreift, weil er seine Freiheit verliert. Der Geschmack erinnert uns immer, wenn wir genug an Speisen haben, aber da kehren wir uns nicht daran, und genießen noch mehr. Dies sehen wir daraus, daß Kranke oft durch den Geschmack angelockt werden, ein Nahrungsmittel zu fordern, von dem der Arzt findet, daß es grade für ihn das beste ist. Die Ursache ist, die Geschmackswarzen hängen mit dem ganzen Speisecanale zusammen, so daß das Schmecken ein Anfang des Genusses ist, ein Versuch, wie sich die Speisen mit dem gesamten Speisecanale vereinigen; man kann daraus beurtheilen, daß etwas der Zunge gemäß ist, und man daher aufhören muß, wenn es jemandem nicht mehr schmeckt.
/Der Sinn des Geschmacks ist ein gesellschaftlicher Sinn. Menschen können nicht lange bei einander seyn, ohne etwas zu genießen, welcher Genuß unter die vornehmsten Ergötzlichkeiten des Lebens gehört, weil man das alle Tage wiederholen kann. Das Gehör ist auch ein gesellschaftlicher Sinn; denn ohne zu sprechen, kann man
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/sich einander die Gedanken nicht mittheilen, der Sinn des Gesichts ist es, aber auch der Geruch ist nur negativ.
/Welches ist der wichtigste und nothwendigste unter beiden Sinnen, dem Gehöre und dem Gesichte? Der Sinn des Gehörs, denn ohne das Gehör würde man keine Begriffe haben. Es fällt schwer, Taubgeborne sprechen zu lehren, und sie kommen nie zu solchen Begriffen, wie die, welche des Gehörs fähig sind, ob man gleich Unterrichtsanstalten für Taubstumme hat. Man findet dieses bei der Unterhaltung; denn alle Blinde, wenn sie alt sind, sind immer vergnügt und beredt; alte Leute aber, die taub sind, sind stets mißtrauisch und niedergeschlagen. Der taube Gelehrte aber, wenn er gleich auf die Conversation Verzicht thun muß, kann Theil an dem commercio literario nehmen. - Das Wort Geschmack ist vom Schmecken hergenommen, und zeigt eine gesellschaftliche Wahl des Gegenstandes an; der Mensch hat keinen Geschmack, der nicht so wählen kann, daß das, was ihm gefällt, auch Andern gefalle. Es kann sich vielleicht jemand ein Gericht machen, das ihm gut schmeckt, wenn er aber Gäste bekommt, so muß er es so machen lassen, daß es nicht nur ihm, sondern auch Andern schmeckt, daher gehört gesellschaftliche Wahl dazu.
/Die Sinne des Geschmacks und Geruchs sind der Sitz des Ekels. Es sind die zwei Sinne des Genusses, und ihr Einfluß ist chemisch; da sie uns die Nahrung zuführen, so können sie in dem Baue unserer Eingeweide mit dem Stillstande verbunden seyn, und das auszustoßen zu suchen, was nicht für sie zuträglich seyn würde. - Der größte Ekel wird durch den Geruch erregt; der Geruch muß ausgebildet werden, und wir lernen ihn von Andern; hernach ekelt uns wirklich vor den Sachen, vor denen es uns sonst nicht ekelte.
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/Hauptsächlich ist dieser Geruchsekel bei Dingen merklich, die sonst auch durch den Geschmack genossen werden. Man sieht, daß der Geruchsekel bei dem auffallend ist, der seinen Geschmack nicht ganz verfeinert hat. Ein in Fäulniß gerathenes Wildpret wird nicht das Gesinde, sondern der mehr gebildete Herr essen. Die Ursache ist: alle unsere Speisen müssen ins Verderben übergehen, ehe sie genossen werden, damit sie durch eine anfangende Fäulniß mürbe werden. Man weiß es aber auch durch saure Mittel zu vertreiben, und einen gemischten Geschmack zu erregen, damit der Geschmack, der sonst unangenehm ist, der Natur ähnlich werde.
/Der Schmuz ist ein Gegenstand des Gesichts; er kann aber dem Gesicht nicht unmittelbar Widerwillen erregen, sondern bringt unsere Einbildung auf den Geruch und Geschmack. Der Schmuz erregt Ekel, nicht aber durch unsere Phantasie. Man findet auch, daß Ekel vor dem Schmuze nur bei gebildeten Nationen ist; die Nation, die nicht gebildet ist, hat keine Bedenklichkeit beim Schmuze. Die Reinlichkeit beweiset die größte Bildung des Menschen, denn sie ist ihm am allerwenigsten natürlich, und verursacht ihm viel Mühe und Beschwerlichkeit. Daß die Otaheiter sich so viel baden, ist kein Wunder, weil sie in einem so warmen Clima wohnen, wo das Baden ein Vergnügen ist. Aber doch ist die Reinlichkeit eine so sehr zu empfehlende Sache, weil dadurch viel Nachtheil für die Gesundheit verhütet wird, und eine Zierlichkeit dadurch entsteht, die ins Moralische einfließt. -_
/Wir haben einen Geschmack, der erst seit 200 Jahren überhand genommen hat, nemlich an dem Tabacke. Der Rauchtaback afficirt beide Sinne den Geruch und den Geschmack. Man genießt ihn aber nicht in der Meinung, daß er ein Wohlgeschmack sei, sondern man will einen gemäßigten Reiz dadurch zu Stande bringen, der
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/genug Stärke hat, aber bald vorüber geht; beim Schnupftabacke will man keinen guten Geruch haben, sondern nur das Pikante und Aetzende. Dieser Appetit der Nase ist den Alten ganz unbekannt gewesen, aber dieser Reiz ist von der Art, daß, wenn wir ihn uns angewöhnt haben, wir ihn nicht wieder abschaffen können. Die Ursache liegt in der Ausleerung, die sowohl der Rauch- als der Schnupftaback hervorbringt. Diese Ausleerungen geben den Drüsen unaufhörlich Arbeit, so daß wenn der Taback fehlt, die Flüssigkeiten doch durchdringen, und der Mensch beschwert wird. Der Rauchtaback, der Schnupftaback, der Kautaback und das Blätterkauen bei den Indiern, sind Dinge, die der Mensch am allerwenigsten abschaffen kann.
/ ≥ Vom Umfange der Sinne. ≤
/Der Sinn des Gesichts hat die größte Sphäre; denn man hat bis jetzt noch nicht ausrechnen können, wie weit der äußerste Fixstern, den wir sehen, von uns entfernt seyn möchte. Man hat zwar gefunden, daß der nächste 4000 Millionenmal weiter ist, als die Sonne, aber das ist noch lange nicht die rechte Weite, worin wir ihn noch gewahr werden können, näher aber kann er nicht seyn. Was sollen wir nun von allen den Sternen sagen, die von uns gesehen werden können? Wenn man nur den Umfang nach Graden nimmt, und den Abstand mißt, so muß man erstaunen. So hat Lambert durch Beobachtungen und Rechnungen bestimmt, daß das Mondlicht 30 Millionenmal schwächer ist als das Sonnenlicht. Dahero scheint es viel zu seyn, daß der Mond in unsern Augen noch so helle scheint. Wenn man sich beim halben Mondscheine, wo die eine Hälfte dunkel ist, so stellt,
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/daß der halbe Theil, der hell ist, durch einen Schornstein bedeckt ist, so sieht man die dunkle Seite ein wenig erhellt, dies ist die Mondnacht, so wie sie von der Erde erleuchtet wird. Wenn man nun annimmt, daß die Erde dem Monde einen eben so großen Grad Licht giebt, als der Mond der Erde, (ob es gleich im Monde ein wenig heller seyn mag), weil die Erde größer ist als der Mond, so ist das Licht, was wir auf der Erde auf der dunklen Mondscheibe sehn, der 3000 millionste Theil vom Sonnenlichte, und unsere Augen können es doch sehen. Hier erstaunt man über den Grad der Feinheit des Gesichts, daß ein Lichtstrahl, der keinen Sonnenstaub bewegen kann, einen solchen Einfluß auf die Nerven des Gesichts haben kann. Der Sinn des Gesichts ist also dem Grade und Raume nach sehr groß.
/Auch der Sinn das Gehörs hat einen großen Grad. Es ist zu verwundern, was im griechischen Archipelagus geschieht, daß Leute von einer Insel sich auf die Andere zurufen, die doch eine teutsche Meile von einander entfernt sind, und sich doch wirklich verstehen, wie dies Büffon erzählet. Aber freilich nimmt der Schall sehr ab nach den Quadraten der Meilen. Das Sonderbarste bei dem Gehöre ist die Fähigkeit, die Zeitveränderungen der Luft so zu unterscheiden, wie viel mal eine Saite in einer Secunde einen feinern als einen gröbern Ton angiebt. Alle unsere Musik beruht auf dem Verhältnisse der Töne.
/Der Sinn des Gefühls kann sehr verfeinert werden, vorzüglich bei Blindgebornen, so daß sie sogar die Farben bei seidenen Zeugen fühlen können. Die Feinheit der Sinne des Geruchs und Geschmacks sind so groß nicht; doch hat der Umfang des Sinnes des Geruchs, nächst dem Sinne des Gehörs, den größten Umfang. Weil unser Geruch in Städten immer einen veränderten
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/Einfluß bekommt, und wir denselben beständig verderben, so verlieren wir zuletzt die Feinheit desselben. Der Amerikaner kann ein Feuer weiter riechen, als der Europäer es sehen kann. So sagt man von den Beduinen-Arabern, daß sie Wasser riechen können, weil sie ohne alle Anzeige anfangen, nach Wasser zu graben, und Wasser finden. Eben so wissen die Tungusen mit ein paar Spadenstichen Wasser zu finden. Die Ausdünstung des Wassers ist freilich da, aber welch ein feiner Geruch wird dazu erfordert! Eben so kommen die Canadischen Wilden, und bitten um Branntwein in den englischen Städten; wenn man ihnen denselben gleich abschlägt, so riechen sie doch, wo er ist. Der Geschmack hat keinen Umfang in der Weite, weil er alles beriechen muß, was geschmeckt werden soll.
/ ≥ Von der Ausbildung der Sinne. ≤
/Alle Sinne erlauben eine Ausbildung, d.i. können durch Uebung schärfer werden; aber der Sinn wird eigentlich nicht geschärft, sondern nur die Aufmerksamkeit wird in Ansehung der sinnlichen Empfindungen geschärft. Doch kann man nicht läugnen, daß alle Organe, je mehr sie den Zufluß des Nervensaftes zu den Organen befördern, womit man empfindet, desto mehr verstärkt werden; so wie ein Magnet, den man viel tragen läßt, sich verstärkt. Die Erfahrung lehrt die Wahrheit dieser Behauptung. Viele Leute klagen über schlechte Augen, weil sie ihre Augen nicht brauchen; denn wenn man das Sehen nicht übt, so wird der Sinn stumpf, wo man zwar gesunde Augen haben kann, aber nicht so fein empfindet. Man muß die Sinne brauchen lernen, weil man durch diese Uebung besser sehen lernt. Man lerne die Sinne gebrauchen bei jeder Sache, vorzüglich aber bei dem, was im künstlichen Gebrauche der Sinne statt findet.
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/Microscopische Beobachtungen kann Niemand anstellen, der nicht so gut geübte Augen hat. Daher haben auch Einige das nicht finden können, was Muschenbrock und Andere gefunden haben, weil sie nicht geübt waren, dergleichen zu sehen. So erfordern auch telescopische Beobachtungen einen geübten Beobachter. Der Sinn des Gesichts wird aber nicht vergrößert, sondern in der Ausbildung können feinere Beobachtungen gemacht werden. Die Feinheit des Geruchs und Geschmacks kann bis zu einem Grande zunehmen, der unbegreiflich ist. Von Wein oder Thee kann man den allerkleinsten Nebengeschmack heraus schmecken. Es ist aber bei unsern Sinnen viel Wahn, vorzüglich in dem, was zum Angenehmen und Unangenehmen gehört; daß z.B. ein jeder Mensch sich zum Austernessen gewöhnen müsse, so daß er zuletzt einen Leckerbissen herausschmeckt, dies beruht auf der Empfehlung. Und sie glauben, daß dies gut schmecke. Ueberhaupt ist eine Auster gesund; aber sie scheint im Anfange nicht gut zu schmecken, und der Wohlgeschmack findet sich erst nach langem Essen hinter her. - So bilden wir die Sinne aus, aber wir können auch die Sinne stumpf machen, wenn wir allmählig schärfere Sachen nehmen, und so den Grad unserer Sinne übersteigen. Die Branntweintrinker fangen beim leichten Branntweine an, und hören bei Essenzen auf, und wer schon zu Essenzen gelangt ist, der kann nicht länger als ein Jahr noch leben, weil sie so sehr brennend sind, und da wird der Geschmack so stumpf, daß er nicht anders als durch vergrößerte Stärke des Branntweins gestärkt werden kann. Dies ist aber schon eine Art von Leblosigkeit; denn jede Abnahme der Sinne ist auch eine Abnahme der Lebenskraft, die man durch schärfere Sachen steigern muß.
/Daher können die Wilden von Otaheite keinen Wein
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/trinken, weil er ihnen zu scharf ist, uns hat jedoch die Gewohnheit an solche Schärfen gewöhnt; aber die Amerikaner und dergleichen Leute haben einen noch weit zartern Gaumen. Menschen, die immer auf Belustigung ausgehen, werden zuletzt gegen das Gemäßigte so gefühllos, daß alle Dinge bei ihnen sehr hoch getrieben werden müssen, wenn sie in Bewegung gesetzt werden sollen.
/Der Mensch hat einen nur stumpfen Sinn, der im Trauerspiele einer Ermordung bedarf, um gerührt zu werden, und nicht immer durch das sanfte Tragische gerührt wird. Je feiner der Sinn ist, desto mehr wird wird er schon durch das sanfte und erhabene Tragische gerührt. Junge Leute, wenn sie sich theatralische Stücke wählen, sind immer mehr für das Tragische; aber alte mehr für das Komische. So führen z. B. Kinder an Geburtsfesten Tragödien auf; sollte hiervon allein die Ursache seyn, daß der Geschmack der Jünglinge mehr stumpf ist? Dies ist zweifelhaft; freilich ist ihr Vermögen stumpf, aber die Ursache ist folgende: bei der Jugend löschen alle Eindrücke leicht aus, bei den Alten aber nur nach und nach; bei der Jugend vergehen sie, und kehren in einem Moment wieder, und diese Art von Eindrücken, die bei den Alten zurück bleibt, vermindert bei ihnen das Vergnügen; daher wollen sie gern etwas haben, das ihre Lebenskräfte in Bewegung setzt, damit die Verdauung desto besser von statten gehe; hierzu dient das Lachen. Ein scharfer Sinn ist der, der gebraucht wird wofern man im Großen auf etwas acht hat; ein feiner der, der durch Kleinigkeiten gerührt wird. Ein feiner Sinn kann Vortheile haben; vorzüglich aber sollen die Menschen doch einen groben Sinn haben, weil sie damit weiter kommen; denn was fein ist, ist zart, und die Zartheit des Sinnes ist Schwäche. Leute von Genie haben einen sehr scharfen Geruch, sagt ein gewisser Schriftsteller, aber
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/diese Feinheit des Geruchs ist mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden, weil wir alsdann durch die Eindrücke zu sehr afficirt werden. Ueberhaupt scheint eine Unempfindlichkeit, aus Ueberlegung mit Nachdenken verbunden, einen glücklichen Zustand der Menschen auszumachen; denn wenn sich die Uebel zu uns drängen, so ist man am besten versorgt, und gegen Uebel verwahrt, sobald wir uns zu dem Vergnügen nicht reizbar gemacht haben, weil wir sonst das Uebel noch stärker empfinden und diese Reizbarkeit nur noch mehr Schmerz verursacht. Wer einen feinen Geruch hat, der wird weit mehr afficirt, als der, der nicht so weit riecht. Alle Verfeinerung erfüllt uns mit Widerwillen und Verdruß; denn die Vergnügungen des Lebens sind auch nicht so für unsern Geschmack ausgesucht, und unsere Zufriedenheit kann bei feiner Ausbildung nicht so bald befördert werden, als beim gemeinen Bauer, der sich nicht ausgebildet hat. Der Bauer bemerkt gewiß nie die Schönheiten der aufgehenden Sonne, bei einem Wohlgeruche wird er auch nicht so stark afficirt, da wo man in Städten stark afficirt wird. Das Alter macht alle Sinne stumpf, so wohl die äußern Sinne als den innern Sinn, so daß alte Frauen, wenn sie schon recht alt sind, und nicht mehr hören können, zuletzt beim Spinnen auch den Faden nicht fühlen können, aber auch der innere Sinn nimmt Theil daran. Ein Alter ist hartherzig, und wenn er einmal lang angenommene Grundsätze hat, so kann ihn nichts davon abbringen. Helvetius fragt: warum lieben die Eltern ihre Enkel mehr als ihre Kinder? Weil die Kinder mehr ihre Verdränger und Feinde sind, als die Enkel. In der That ist eine Art von Begriff da, daß der Sohn mehr auf das Absterben des Vaters wartet als der Enkel. Ueberhaupt haben alte Leute gern die Tändelwerke der Jugend lieb und vergnügen sich daran. So hört die
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/Schärfe der Sinne mit den zunehmenden Jahren auf, und tritt die Reife des Verstandes ein; allein indem die Sinne abnehmen, nimmt auch das Genie oder die Erfindungskraft ab, aber die Urtheilskraft, d. i. das Vermögen, sich seiner Erkenntnisse wohl zu bedienen, nimmt zu. Die Urtheilskraft ist jedoch von der größten Wichtigkeit, und immer das Beste.
/ ≥ Durch welchen Beitrag die Zunahme, oder die Abnahme der Empfindungen geschehe. ≤
/Es ist uns daran gelegen, die Empfindungen in ihren Graden kennen zu lernen; wenn wir einen Andern durch unsere Befehle discipliniren wollen, so muß sich der Eindruck von der Drohung und Strafe, die man jemandem macht, als auch von den Vergnügungen, die man ihm verspricht, allmählig vergrößern, damit er desto stärker wirkt und der Andere es desto stärker empfindet. Aber oft muß man das Mittel, die Empfindung rege zu machen, nicht versuchen, weil durch das öftere Empfinden der Eindruck schwächer, hingegen die Beurtheilung der Sache stärker wird. Man wird das Klappern der Mühle nach und nach so gewohnt, daß man dasselbe gar nicht mehr hört, aber wenn es aufhört, so kommt man wieder zu sich selbst; jede Monotonie bringt also eine Abstraktion hervor, z.B. wenn eine Nachmittagspredigt im heißen Sommer einförmig ist, so schlafen die meisten Zuhörer ein, und wachen dadurch auf, daß der Prediger aufhört und die Monotonie ein Ende nimmt. Eine solche Predigt ist einschläfernder als Opium, die Wiederholung der Empfindung schwächt sie, und darauf beruht
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/die große Wohlthat der Natur, alles gewohnt zu werden. So bald die Menschen Schmerz gefühlt haben, fangen sie an die Nützlichkeit desselben einzusehen, und gewöhnen sich daran; denn die Natur überzieht unsere Nerven gleichsam mit einer Hornhaut und macht sie unempfindlich gegen die Eindrücke, so wie die Fußsohlen von Natur mit einer hornartigen Schwüle bezogen sind. An der Geduld darf man nicht künsteln; wenn man nur erst Uebel ausgestanden hat, so wird man sie auch wohl gewohnt werden, falls man auch der Meinung wäre, daß man sie nicht würde ausgehalten haben. Ein geplagter Ehemann wird sein Uebel so gewohnt, daß ein Dritter sich nicht vorstellen kann, wie er dabei so roth und frisch aussieht, aber er gewöhnt sich so an das Keifen seiner Frau, wie an das Klappern in der Mühle.
/Jede Art von Neuigkeit erhöhet den Eindruck, wir können sogar behaupten, der Morgen ist uns angenehm, weil er eine Art von Jugend ist und weil der Begriff der Vernichtung durch den Schlaf am Morgen weggewischt ist. Es braucht dazu keine angenehme Gegend zu seyn; denn keiner, sobald er schon eine Viertelstunde früh Morgens aufgewesen ist, wird sich nach dem schönen Eindrucke des Morgens wieder zu Bette legen. Bei der Jugend sind alle Eindrücke neu, und man hat bemerkt, daß Kinder, die man für boshaft hält, weil sie so vieles zerbrechen, gerne alles probiren, um den Sachen neue Gestalten zu geben, und ihre Kräfte versuchen wollen; denn Kinder haben noch keinen Begriff von dem Schaden, den sie anrichten. - Den Sachen eine neue Gestalt zu geben, ist ein Kunststück, dadurch man sie angenehm macht. Daher sagt man, Geistliche müssen neue Sachen vorbringen, weil nützliche Sachen, wenn sie neu sind, mehr Eindruck machen. Dieses Verlangen der Menschen nach Neuigkeit dürfen die Theologen nicht in der Erbsünde
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/suchen, sondern in der Beschaffenheit der Menschen selbst, durch Neuigkeiten gerührt zu werden, und davon den Eindruck besser zu bemerken. Daher sind Ermahnungen so verderblich, wenn man ihnen keinen Nachdruck zu geben weiß. Der Mensch kann durch ein ewiges Einerlei nicht gerührt werden, weil es in der Natur der Sinne liegt, daß der Eindruck bei jeder Wiederholung nicht gleich stark seyn kann.
/Die Abstechung (der Contrast) macht etwas groß, und giebt unserer Empfindung große Stärke; man muß zwischen die Annehmlichkeiten etwas Beschwerliches zu mischen wissen, weil die Annehmlichkeit verliehrt, wenn sie ununterbrochen fortdauert. Darum wird der Held in den Romanen durch tausend Beschwerlichkeiten durchgeführt, weil er sonst keinen Reitz für den Leser haben würde; denn wenn man ihn durch so viele Gefahren durchgebracht hat, so fühlt man den Eindruck des Glücks, das man ihn erleben läßt, hernach desto stärker. Man findet Beschreibungen von Damask als von einem Paradiese; die Gegend ist auch schön, aber nicht zum Entzücken. Wenn man aber nachsieht, so findet man, daß die Reisenden durch große Sandwüsten reisen müssen, ehe sie hin kommen, und so wird der Eindruck hier nur durch die Abstechung erhöht; denn wenn jemand durch einen gränzenlosen Sand gekommen ist, so erregt der geringste grüne Platz sein Entzücken. Wir können kein Vergnügen mit Geschmack genießen, als wenn wir arbeiten; die Arbeit macht den Zwischenraum aus, in dem wir uns mit Beschwerden belustigen, welche immer eine Aussicht des Vergnügens enthalten, und machen, daß wir dasselbe hernach mit großer Freude genießen. Abstechungen können Vortheil und Nachtheil haben. Der Nachfolger eines Mannes von vielem Verdienste und Talente zu seyn, ist ein gefährlicher Schritt, weil die Ungleichheit hier sehr
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/groß ist, und man z.B. einen Prediger nicht mit andern Predigern überhaupt, sondern mit dem vorigen vergleicht. Eine Witwe zu heirathen, ist gefährlich, denn sie glaubt immer, daß ihr seeliger Mann besser gewesen sey. Diese Abstechungen verursachen also große Unzufriedenheit, weil man dabei so viel zu vermissen wähnt. Aber es ist gut, alles in sich zu steigern, sich in der Jugend nicht zu viel Vergnügen zu erlauben, sondern dieses auf das übrige Leben zu versparen, und sich nicht zu stellen, als ob der Genuß des Vergnügens verlohren wäre, daß man sie alle, so viel man kann, an sich reißt, und sich dadurch auf ein sieches und unzufriedenes Alter zubereitet. Die Vergnügungen des Weintrinkens und die Vergnügungen des andern Geschlechts kann man, wenn man sie sich in der Jugend in der Aussicht vorstellt, hernach immer steigern; wenn man sie aber zu sehr genießt, so hat man hernach nichts vor sich und im Alter auch nicht das Vermögen dazu. So muß man auch in der Kleidung nicht beim Aeußersten anfangen, sondern immer steigern können. Man muß in der Jugend nicht schon einen Pelz tragen, sonst muß man im Alter drei anziehen. Dieses Aufschieben erhält uns eine Aussicht der künftigen Vergnügungen des Lebens (vorzüglich im Alter). Mit dem Schmerze ist es eben so, und beim Verbieten wird zuletzt der Eindruck schwach, wenn man auf starke Drohungen hernach wieder schwächere folgen läßt. So geht es mit allen Dingen. In der Rede muß der stärkste Gedanke immer zuletzt bleiben, und wenn man mit einem starken Ausdrucke schließt, so bleibt derselbe sehr lange, nur muß nichts mattes hinterdrein komme@n@, denn sonst ist alles wieder weg. Der Schluß muß darum gut seyn, weil aufs Ende nichts mehr folgt; ist das Ende kräftig, so ist es auch das Ganze. Ist der letzte Ausdruck in einem Schauspiele gut, so vergiebt man gern alle übrigen schlechten.
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/Wir sind so geartet, daß die letzte Empfindung immer bei uns die stärkste seyn muß, so daß Einige auch sogar glauben, daß, wenn Einer auch sein ganzes Leben in Lastern zugebracht hat, und sich nur am Ende gut aufführt, er doch ein rechtschaffener Mensch gewesen sey. Dies ist aber falsch, denn so geschwinde kann uns keiner zu moralischen Menschen machen. Es ist auch ein Wahn der Menschen, daß wir nach dem letzten Eindrucke das Ganze beurtheilen, und daß wir über ein gutes Ende das Schlechte des ganzen Lebens vergessen. - Wir sind ferner auch so geartet, daß, wenn wir die Wahl hätten, wie wir die Vergnügungen des Lebens genießen wollten, ein jeder gewiß alles Unangenehme zuerst nehmen, und arbeiten würde, um späterhin faul zu seyn, und um die Faulheit in der Aussicht zu haben. Eben so ist es mit der Gesellschaft; wenn es so eingerichtet werden kann, daß kurz vor dem Auseinandergehen ein gut angebrachter Scherz gemacht wird so erhält sie noch immer einen Nachgeschmack, der auf die Beschaffenheit der letzten Empfindung beruht, und dessen Eindruck uns immer das Ganze angenehm macht. Es giebt ein Vergnügen des Nachgeschmacks bei genießbaren Sachen, aber auch bei Gegenständen des Geistes, z.B. bei witzigen Gedichten. Daher auch manche Menschen beim Weggehen mehr bewundert werden als beim ersten Eindrucke, weil man da an ihnen große Geistesgaben gewahr wird.
/ ≥ Vom Betruge der Sinne. ≤
/Der Schein, der beim Betruge der Sinne angetroffen wird, ist nicht auf Rechnung der Sinne zu schreiben, weil der Sinn nicht urtheilt, sondern uns bloß das Bild der Dinge giebt; der Verstand mag sich übrigens einen
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/Begriff machen, und da fehlt er oft. Die Sinne urtheilen gar nicht, sie geben uns nur die Empfindung, woraus der Verstand seinen Begriff macht (das Eigentliche davon gehört in die Psychologie). Bei den Irrthümern, die man auf Rechnung der Sinne schieben kann, muß man den Unterschied machen unter Illusion und Betrug der Sinne. In allen Sachen ist die Illusion lieber als der Betrug und die Illusion bleibt, wenn man gleich weiß, daß sie der Wahrheit nicht gemäß ist. Eine gute Kleidung veranlaßt die Illusion, daß ein Mensch hübsch aussieht, und daß man jemandem von weniger Bedeutung in guter Kleidung mehr Ehre erweiset, als in schlechter. Die Illusion bleibt, ob man gleich weiß, daß er darum noch nicht besser geworden ist, weil er in einem bessern Anzuge erscheint, und er flößt uns wirklich mehr Achtung ein.
/Ein Taschenspielerstreich hat darin etwas Unangenehmes und Verdrüßliches, weil man weiß, daß man betrogen wird, und daß, so bald man ihn vorzeigt, die Illusion aufhört; bei andern Dingen hört aber die Illusion nicht auf, wenn man gleich weiß, daß der Schein der Wahrheit nicht gemäß ist. Wenn man den Mond z. B. unten bei einem Dorf aufgehen sieht, so scheint er uns größer zu seyn, als wenn er oben am Himmel steht, ob man schon weiß, daß das Bild des Mondes niemals größer ist. So bleibt diese Illusion selbst beim größten Optiker, wenn er gleich weiß, daß die Sache nicht mit der Wahrheit übereinkommt. Eine Allee spitzt sich gegen das Ende in unsern Augen zu, ob man gleich weiß, daß sie hinten nicht spitzig ist. Die Illusion kann von der Art seyn, daß mit dem Bewußtseyn der Unwahrheit derselben doch diese Verführung der Sinne bleibt, und diese Illusion lieben wir sehr, z. B. wenn in einem Gemälde etwas hervorzuragen scheint; dies gefällt, weil wir wissen, daß wir betrogen werden, und diesen Irrthum auch sogleich
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/widerlegen können. Aller optische Betrug ist eine bloße Illusion; man weiß, die Sache ist nicht so, aber es ist doch angenehm, sie zu sehen. Bei dem feinen Kleide eines Frauenzimmers ist Illusion, aber die Schminke ist keine Illusion oder Betrug. In Frankreich sagt man, daß es Betrug sey, sich zur Avantage zu schminken, aber Damen von Geschmack kleben sich einen Fleck von Farbe auf, dies entstellt sie jedoch auch sehr. Die Illusionen, die den Meisten reizend sind, bestehen in der Nettigkeit der Kleidung, welche uns auf Personen, die sonst wenig Ansehen haben, aufmerksam macht. Leidenschaften bringen gewöhnlich Illusionen hervor, und ob man gleich das Gegentheil von etwas weiß, so kann man doch diese Täuschung nicht vermindern. So übertrieben es auch ist, so ist es dennoch wahr, daß sich Menschen von Leidenschaften die Illusion der Jugend von einer Person nicht aus ihrem Kopf bringen lassen, wenn sie einmal dafür eingenommen sind, und sie selbst der Augenschein nicht überzeugen kann. Da aber die Sinnlichkeit auch mit zur Neigung gehört, so fragt es sich, was wir anzufangen haben: können wir die Sinne durch den Verstand genugsam einschränken? Das hilft uns nichts; denn die Illusion bleibt doch, daher müssen wir die Sinne auch wieder betrügen, und eine andere Illusion hervorbringen, welche die Sinne schwächt; so ist es der Verstand, welcher den zu gefährlichen Einfluß der Sinne durch seine Herrschaft zu schwächen sucht. In allem unsern äußern Anstande ist Ehrbarkeit, welche immer eine Illusion bei sich führt; denn Menschen, die sich mit einem anständigen Betragen zeigen, flößen Achtung ein, wenn man gleich weiß, daß in Einem ihrer Gedanken selbst der Muthwille angetroffen wird, der bei Menschen von gewöhnlichem Schlage sich findet, und wir werden doch so sehr dadurch afficirt, als ob es Wirklichkeiten wären. Zwischen einem Klugen und
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/einem Narren ist weiter kein sonderlicher Unterschied, als daß der Narr dumm denkt, und der Kluge das denkt, was sich für die Sache schickt. Die Klugen wissen alle Thorheiten zu unterdrücken, und nur das zu urtheilen, was für die Umstände paßt. Der Narr dagegen, der keine Unterscheidungskraft hat, kann seine Gedanken nicht zergliedern, und seine Thorheit leuchtet jedermann in die Augen. Der Verstand ist also der äußere Schein, welcher Achtung einflößt: ist dies eine untadelhafte Illusion oder ein Betrug? Es ist eine untadelhafte Illusion und kein Betrug; denn die Menschen müssen den äußern Anstand beobachten, ob sie schon viel Laster an sich haben. Das ist nicht Verstellung, sondern der äußere Anstand ist ein Mittel, sie in tugendhaften Gesinnungen weiter zu bringen; denn wenn wir ein Beispiel der Achtung vor uns sehen, so erweckt dasselbe uns zur Nacheiferung. Wenn wir dagegen die Anständigkeit bei Seite setzen, und wie die Ungesittetsten, uns ohne Scheu allen Lastern überlassen wollten, so würde alles in große Mattigkeit verfallen, und kein Bestreben sich äußerlich gut zu betragen statt finden. In Gesellschaften geht alles sittsam zu, alles ist schön, die Begierde der Gesellschafter gegen einander ist da; beim Spiele brennt jemand vor Bosheit, daß er verlohren hat, und er ist doch so gelassen und gleichgültig, als ob ihn dies gar nicht rührte. Dies verräth doch eine Selbstbeherrschung, und ist der Anfang von der Selbstbezwingung. Sie ist ein Schritt zur Tugend, oder wenigstens ein Vermögen dazu; denn es geht doch alles nach Manieren der Tugend zu, und diese Illusion des Verstandes ist folglich kein Betrug, sondern eine angenehme Illusion, die wir gern haben, obgleich jedermann weiß, daß wir dadurch hintergangen werden. Selbst die Leidenschaft der Liebe wird dadurch sehr gemäßigt, wenn jemand die Annehmlichkeiten des Umganges mit den Schönen illudirt und die glühende Neigung verbirgt, die sonst schwer zu unterdrücken seyn
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/möchte; der gesittete Umgang und der artige Scherz besiegen die sonst schwer zu überwindende Neigung. Die Natur hat also in uns Anlagen gelegt, Illusionen zu machen, wodurch wir die unruhigen Triebfedern unserer Leidenschaften vereiteln können. Die Kunst des Umganges stiftet viel Gutes, verdeckt die schlechte Seite des Menschen und bringt wenigstens ein Analogon der Tugend zu wege. Die Menschen verfahren öffentlich wie in einem Schauspiele, ein jeder studiret nur auf den guten Schein, dergleichen Illusion ist sehr vortheilhaft, und aufmunternd, etwas Gutes zu unternehmen, weil Andere das Wahre von der Illusion auch nicht immer unterscheiden können. In unserm Leben ist stets die größte Begierde, zu scheinen, und sich bei Andern zu verstellen, daher muß man nicht das cynische Leben empfehlen, weil da jederzeit die Beispiele des Guten wegfallen würden.
/Wer den Schein des Guten liebt, der gewinnt zuletzt das Gute wirklich lieb. Man liebt einen Menschen, der immer gegen den Andern höflich ist, z. B. einen gutartigen Bürger, der um Gutes zu stiften lügt (wie wohl dieser eben nicht liebenswürdig ist). Ueberhaupt gewinnt Höflichkeit Menschen, und nicht alle Illusion ist tadelhaft; denn eine solche Verstellung giebt uns einen liebenswürdigen Schein in den Augen Anderer. Ohne Illusion zu seyn, nutzt dem menschlichen Geschlechte nichts; daher ist es nicht gut, alle Eindrücke zu erforschen. Der geistliche Stand beruhet auf vielem Blendwerke; das schöne Geschlecht übt viele Illusion aus. Ein jeder muß es anfänglich für tugendhaft halten, in den folgenden Jahren aber verlöscht diese Verblendung, und man kommt hinter die Schwächen dieses Geschlechts; aber doch ist hier die Illusion, welche die Natur ins männliche Geschlecht gelegt hat, sehr heilsam, so daß die, welche das Geschlecht in seineme Werth herabgesetzt, und seine Schwächen aufgedeckt,
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/sehr unrecht gethan haben; denn obgleich die Achtung gegen das schöne Geschlecht immer auf Illusionen beruhen mag, so ist sie doch stets angenehm und verbessernd; wenn ein Liebhaber seine Schöne für so achtungswerth, oder anbetungswürdig hält, so muß er sich gewiß bemühen, sich selbst Besserung in seiner Denkart zu erwerben. Dies beweiset, daß man die Irrthümer nicht so verfolgen sollte. Es ist ganz gewiß, daß bei näherer Untersuchung eines großen Mannes man immer Illusionen findet. Es ist also besser in der Form zu bleiben, dies wird uns mehr ergötzen, und es wird auch heilsam seyn; denn wenn wir nicht mehr glauben, daß irgend wo Tugend sey, so ists so gut, als ob man keinen Gott glaubt. Es ist gut, die Menschen bei dieser Art von Täuschung zu lassen. Wir können es uns zum Grundsatze machen, alle Menschentugend als Scheidemünze anzusehen, in welcher viel Kupfer und wenig Silber ist. Indessen ist es doch besser, Scheidemünze als nichts im Verkehrte, d. i. zu kaufen und zu verkaufen, zu haben. Wer gar zu viel hinter die Illusionen der Tugend forscht, der verliert alles Zutrauen, und alle Aufmunterung zur Tugend. Misanthropen entstehen durch das Nachforschen der Tugend, und wenn man zu sehr den Schein des schönen Geschlechts ausforscht, und was es von Tugend an sich hat, so verliehrt man alles Vergnügen im Umgange mit ihm. Irrthum ist hier immer besser, und das menschliche Geschlecht scheint von der Natur ganz dazu abgerichtet zu seyn, die innere Schwachheit zu verbergen und äußerlich einen guten Anstand zu zeigen.
/Die Rolle eines Menschen ist eine seltsame Rolle; er ist in seinem Betragen niemals Wahrheit, verbirgt die Thorheit, zeigt eine gute Seite und sucht immer das, was der Gesellschaft angenehm ist, und ihm Ehre bringen kann. Ob Menschen in der andern Welt es sich
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/zutrauen werden, sich so zu zeigen, wie sie sind, wissen wir nicht, hier aber müssen wir uns nie ganz so zeigen, wie wir sind, selbst unser bester Freund muß uns nicht durchschauen können. Menschen, die immer die Fehler der Menschen ausforschen, werden Misanthropen, welche Menschen scheuen (nicht aber Menschen hassen); denn nun glauben sie, daß an dem Menschen nichts liebenswürdig sey, weil sie ihm seine schöne Maske abgezogen haben, wo die Entdeckungen immer sehr traurig ausfallen. Dies ist darum gesagt, damit man nicht zum moralischen Puristen werde; denn die menschlichen Tugenden sind nicht von der Art, daß es ganz reine Tugenden gebe, so wie Gold von 24stem Karat fein nur eine Idee ist; man muß also die Menschen so nehmen, wie sie sind.
/Wir würden es dennoch besser haben, und unser Herz zu einem menschlichen Herzen machen, wenn wir alles annähmen, was dazu beitragen kann, uns einen guten Begriff von den Menschen zu machen. Wir werden die Höflichkeit so lange für Freundschaft halten, als wir noch nicht offenbar vom Gegentheile überzeugt sind. Wir werden Sittsamkeit für Keuschheit, Einfalt für Ehrlichkeit halten, ob dies zwar nicht immer beisammen ist; denn Leute von altem Schrot und Korn, wie man sagt, sind darum noch nicht ehrlich und können recht gut Schelme seyn. In der Gesellschaft hat man am meisten damit zu thun, daß man sich vergnügt; wer höflich ist, ist ein guter Gesellschafter, aber wer im Handel und Wandel ein Betrüger ist, der geht uns im Umgange nichts an, und bei dem gar zu großen Ausforschen der Ehrlichkeit entdeckt man eine Gleichgültigkeit in den menschlichen Gesinnungen bei denen, die man für Freunde hält, und man geräth dadurch zuletzt in den trostlosen Ausspruch des Aristoteles: Lieben Freunde! es giebt keinen Freund. Da es aber schrecklich ist, ohne Freund zu leben, so muß
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/man die Menschen nehmen, wie sie sind, ohne es zu wagen zu entdecken, durch welchen Schein man betrogen wird. Dabei muß man die Behutsamkeit und Mässigung des Zutrauens beobachten, so, daß sich ein jeder dem Andern reservirt, und ein jeder auf gewisse Weise zurück hält; dieser trügliche Schein gehört also nicht zur Vollkommenheit des menschlichen Geschlechts, und zu seinem Bestreben, sich zu vervollkommnen; zuletzt wird uns ein angenommener Schein doch Gewohnheit.
/Auf der andern Seite haben wir darauf zu sehen, diese Blendwerke in uns selbst auf alle Weise aufzusuchen, und den falschen Schein zu vertilgen zu suchen, um uns selbst nach unserm wahren Werthe schätzen zu können. So wie Menschen bisweilen so lange lügen, daß sie es zuletzt selbst glauben, eben so täuschen sich Einige mit Verdiensten, die sie zu besitzen glauben. Man kann gewissermaßen die innere Illusion, wo wir durch unsere eigenen Gedanken betrogen werden, in die übertriebene Schätzung unser selbst zu gerathen, Wahn nennen. Wahnsinnig ist der, der die Einbildungen in seinem Kopfe für Gegenstände außer sich hält; dies gehört zu den Verwirrungen, davon unten mehr. - Man nennt also auch Illusionen Wahn, wenn wir uns durch unsere eigenen Gedanken täuschen. Es giebt vielen Religionswahn. Die eigentliche Religion ist Gewissenhaftigkeit; alle Andachtsübungen sind neue Mittel dazu, folglich hat der Religionswahn, welcher diejenigen, die als Mittel dienen, für die Religion selbst hält. - Es giebt auch moralischen Wahn; gutherzige Leute haben die wohlwollendsten Gefühle; sie glauben, wenn sie nur viel hätten, so würden sie Allen geben, aber wenn sie auch viel hätten, so würden sie doch keinem etwas geben. Solche gutartige Leute schmelzen von lauter Empfindungen, und wenn es zu guten Handlungen kommen soll, so haben sie immer
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/Ausreden; sie selbst sind dann in Verlegenheit, oder müssen ihre Wohlthaten anders anwenden und dergleichen. Die Gutherzigkeit wohnt in einem Herzen, das sich immer mit Wünschen nährt, ohne Anstalten zu Handlungen zu treffen. Dies bringt einen weibischen Wahn hervor, der durch Romane und weinerliche Comödien noch mehr befördert wird, so daß alles Bestreben nur auf leeres Wünschen hinausläuft. Reue über begangene Verbrechen, so bald sie nicht mit dem Bestreben, das Verbrechen wieder gut zu machen, verbunden ist, ist ein leerer Wahn; denn damit ist keinem andern Menschen gedient, daß man sich mit einer Peinigung plagt, sondern man muß Anstalt treffen, daß Andern auch wieder geholfen werde. Diese Art von Leid, das jemand hinterher trägt, ist oft nichts anderes, als Furcht vor dem Schaden, der jemandem aus der bösen That erwächst, oder ein Verdruß, daß man sich so viel Strafe auf den Hals gezogen habe, ohne daß die Gesinnungen dadurch geändert sind, und ohne daß man Abscheu vor der Sünde hat; man darf ihn nur von den Ketten losmachen, so wird er das Böse wieder da anfangen, wo ers gelassen hat. Auch bei der Reue anderer lasterhafter Menschen ist Wahn; man verwechselt den Schmerz wegen der üblen Folgen mit dem Abscheue vor der That; diese müßte man verabscheuen, wenn der Abscheu moralisch seyn sollte; dergleichen Illusionen aufzudecken, ist eines moralischen Lehrers, z. B. eines Geistlichen, Pflicht. Alte Leute glauben alles gethan zu haben, vom Bösen zum Guten überzugehen, wenn sie nur die verübte Sünde bereuen. Wir können noch bemerken, daß Illusionen des innern Sinnes das hervorbringen, was zum Wahnsinne im weitläuftigen Verstande gehört. Das Denken in uns kann auch Empfindungen hervorbringen, die sonst durch fremde Gefühle in uns geweckt werden würden. Man sollte glauben, man könn-_
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/te das Denken bei sich von einer fremden Ursache unterscheiden, und doch finden wir, daß wir bei Dingen, von denen wir selbst Urheber sind, eben das fühlen, was bei Dingen, die von fremden Ursachen herrühren. Die Gedanken wirken auf die Organisation des Körpers, indem durch sie das Gehirn und das ganze Nervensystem erschüttert wird. Die Rückwirkung der Nerven bringt zuletzt diese Wirkung hervor, als ob sie durch eine fremde Ursache gekommen wäre; daher kommt die schwärmerische Liebe und das unreine Licht der Schwärmer; wenn sie ihre Gedanken lange auf etwas gerichtet haben, so entspringt eine Gegenwirkung der Nerven, die ihnen eine ganz fremde Ursache zu erregen scheint, ob sie gleich selbst Ursache davon sind. Die schwärmerische Empfindung, die heidnische Eingebung, und die Eingebung vom bösen Geiste, sind Wirkungen unsers Denkens; denn wenn diese zu hoch getrieben werden, so hält man sie für Eindrücke einer fremden Ursache, und dann glaubt sich der Mensch durch andere Kräfte gerührt. Aus solchem angestrengten Denken entspringen Krankheiten, und diese bringen wieder Schwärmerei hervor, ohne daß der Körper davon darf gereizt werden; der Mensch verfällt auf Luftgebilde. Solche Leute, die verbrannt sind, sind Anfangs nichts als Schwärmer gewesen, sie hatten nichts Böses zur Absicht, und ihre Gedanken mahlten ihnen himmlische Dinge vor. Man könnte solche Menschen eher durch Purganzen als durch Gründe heilen, so daß man den Gang der Pfortader öffnete; auf diese Art würde all ihr Scrupel wegfallen. Im Anfange möchte wohl die Anstrengung des Gemüths die Ursache dieser Krankheit seyn, hernach aber wird die in Unordnung gebrachte Organisation die Ursache der Verwirrung der Gedanken. Man kann nicht sagen, daß Mahomed ein Betrüger war, sondern es ist glaublich, daß er sich vieles so eingebildet,
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/als er es vorgetragen hat. So ist die Aufmerksamkeit auf sich selbst eine unheilbare Krankheit der Seele und des Körpers; sie zu verhüten muß man vielem falschen Wahne vorbeugen. Ein Egoist ist der, der seinen Werth so hoch anschlägt, daß er darüber allen andern Werth gering schätzt. - Dergleichen Leute giebt es im moralischen und auch im logischen Verstande. Ein logischer Egoist ist der, der, ohne sich darum zu bekümmern, was Andere von seinen Sätzen halten, sich allein für hinlänglich hält, sie zu beurtheilen.
/ ≥ Wie Vorstellungen ermatten, und wie sie erhoben werden können, daß sie nicht ermatten. ≤
/Unsere Vorstellungen scheinen zu verbleichen, wie Rosenfarbe, die sich auszieht, ohne daß man eine sichtbare Ursache bemerkt; sie verschwinden, und lassen sich bei derselben Gelegenheit nicht so stark wieder herstellen. Auf der andern Seite giebt es zufällige und gemachte Ursachen, die unsere Vorstellungen immer höher erheben. Alle Ursachen, unsern Vorstellungen Stärke zu geben, oder sie stärker zu erhalten kann man bloß dem Wechsel der Vorstellungen entweder der Art, oder dem Grade, oder der Zeit nach zuschreiben. Zu den Mitteln, unsere Vorstellung aufzufrischen durch einen Wechsel der Vorstellungen, so fern sie von verschiedener Art sind, gehört die Abstechung oder der Contrast. Mit dem Luxus und dem Reichthume contrastirt die Bettelarmuth, das Elend und die Krankheit. Der Contrast macht jede Vorstellung stärker; der Elende sieht noch elender aus, wenn ich ihm einen Ueppigen entgegenstelle. Wenn jemand zuerst seine Augen auf die Pracht eines Reichen gerichtet hat, so wird er noch
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/niedergeschlagener, sobald er einen Elenden sieht, so wie das Weiße noch weißer aussieht, wenn es gegen das Schwarze gestellt wird. Das Contrastiren ist ein Kunststück bei den Dichtern, Mahlern, ja selbst bei der Musik; denn die Dissonanzen erheben die Empfindungen der Wohllaute. Der Contrast und der Widerspruch müssen jedoch nicht mit einander verwechselt werden; denn wenn eine Sache und ihr Widerspiel zu einem und eben demselben Dinge gezählt werden, so ist das ein Widerspruch; allein eine Sache und ihr Widerspiel bei zwei Subjecten ist kein Widerspruch. Pracht und Schmutz bei einem Subjecte ist ein Widerspruch; vornehm und plump ist ein Widerspruch, so auch schön und dumm, und dies mißfällt im größten Grade. Die Schönheit ist der Fleiß, welchen die Natur an die Bildung unsers Gehäuses gewandt hat; daher vermuthet man bei einem schönen Menschen auch das Kostbare des Inwendigen der Uhr. Wenn man den englischen Luxus in London sieht, und dabei auf den Dörfern Wohlstand findet, dagegen den französischen Luxus in Paris und dabei die Armuth auf dem Lande bemerkt, *1) so ist das Erste kein Contrast, aber wohl das Letzte. Insofern kann der Contrast dazu dienen, daß ein Reicher in Paris, vorzüglich wenn er hartherzig ist, immer mehr fühlt, daß er etwas hat, sobald er sieht, daß Andere nichts haben. Da aber diese Unterthanen alle einen Oberherrn haben, so ist es ein Widerspruch, ein moralischer Widerspruch, eine Unleidlichkeit, die allem Vernünftigen zuwider ist. Contraste finden bei Dingen statt, die zugleich sind, sonst heißen sie Abwechslungen. So machen ein Pallast und eine niedrige Bauerhütten neben einander einen Contrast. Bei Dingen aber, die nicht ne-_
/~ *1 Dies hat sich jetzt sehr geändert von beiden Seiten. ~
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/ben einander gestellt werden, heißt dies eine Abwechslung. Die Engländer verlangen, daß ihr Geschmack in Gärten der beste sey und ohne Widerrede mit Recht; die Ursache davon liegt im Mannichfaltigen, daß alles Schöne nicht auf einmal ins Auge fällt, sondern den Beobachter unverhofft überrascht. Sie führen jemanden zuerst in ordentliche Gegenden, alsdann in unordentliche und wilde, hernach in Sandwüsten, und hierauf entdeckt man hinter einem Hügel die reitzendste Landschaft, wozu freilich eine große Strecke gehört, aber die Annehmlichkeit wird auch sehr dadurch erhöhet; Contraste aber müssen beim Contrastiren neben einander stehen.
/Wir finden eine Erholung und Belebung des Gemüths, wenn in unserer Vorstellung Abwechslung ist, so daß ein Zustand auf den andern folgt, der keine Wiederohlung von dem andern ist, sondern uns in Empfindungen neuer Art versetzt. Eine Abwechslung muß kein Absprung seyn, sondern eine Abwechslung nach dem Gesetze der Stätigkeit, und kein Sprung von einem entgegen gesetzten Zustande auf einen andern. Ein Roman würde uns nicht gefallen, in dem der Held auf einmal seine Wünsche erhält, sondern dieser muß sich immer mit täglicher Hoffnung seinem Glücke nähern.
/Der Absprung ist der Natur des Gemüthes nicht gemäß, wie man das schon in der Musik sieht: Abwechslung und Mannichfaltigkeit befördern unsere Geschäftigkeit sehr, denn Geschäftigkeit ist eine Quelle des Lebens. Das Leben beruht darauf, daß wir unsere Thätigkeit beweisen. Blieben wir in einerlei Zustande, so wäre es so gut, als ob wir nicht lebten; dahero Neuigkeit dazu dient, eine große Stärke der Vorstellungen zu bewirken. Wenn eine Sache auch nicht viel werth ist, so erregt sie doch dadurch, daß sie neu ist, Aufmerksamkeit. Wir legen zum baaren Kapitale unserer Kenntnisse doch immer etwas zu, so we-_
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/nig es auch ist; daher freuen sich Menschen darauf, daß sie eine Neuigkeit zuerst erzählen können. Bei jeder neuen Entdeckung der Handlungen der Natur, sie mögen von wichtiger oder von weniger Bedeutung seyn, ist Neuigkeit das, was bei Dingen seinen Werth in Seltenheiten zeigt, daß von der Sache nur wenig anderwärts angetroffen worden. Man hat gleichsam Hochachtung vor Dingen, die wenig oder gar nicht anderwärts gefunden werden; dies giebt Gegenständen einen Werth, die sonst keinen haben würden. Wenn also unsere Vorstellungen etwas enthalten, was ihnen den Werth der Seltenheit giebt, so bekommen sie dadurch große Stärke. Die Einförmigkeit oder ein immerwährendes Einerlei wird unerträglich, es ist gleichsam, als ob man sich daran gewöhnen sollte, immer in einerlei Stellung zu stehen oder zu liegen, ohne ein Glied zu bewegen, und so ist es auch mit unserm Gemüth, bewandt. Witzige Einfälle, wenn sie oft wiederholt werden, gewähren oft Vortheile in Ansehung dessen, was uns vorgebracht werden soll, oft aber auch Nachtheile. Es ist gut, jemanden auf den Werth einer Rede oder auf die Schönheit einer Person aufmerksam zu machen, auf der andern Seite aber ist dieser Vorgeschmack auch dem Eindrucke in der Folge nachtheilig; denn wenn ich einem Menschen zum voraus sage, ihr werdet einen Mann von vieler Laune finden, oder eine schöne Person sehen, so kann man dem Andern dadurch einen großen Nachtheil zufügen; denn unsere Imagination steigert alles bis zum Ideale, was man hernach doch nicht findet. Daher verringern Hochpreisungen den Werth eines Dinges immer mehr, und es sinkt dadurch stets tiefer, als es verdient. Daher sollte man lieber etwas zu wenig als zu viel sagen; denn wenn das Wenige übertroffen wird, so vergnügt dasselbe, aber wenn das Mehrere, das in unserer Idee war, fehlt, so erfüllt uns dies
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/mit Mißfallen, und wir halten die Sache für schlechter, als sie in der That ist.
/Die Eindrücke im menschlichen Gemüthe werden durch die Zeit schwächer; dies ist einerseits ein Uebel, indem jedes Vergnügen durch die Einerleiheit schaal wird, denn wir verlangen Wechsel, auf der andern ist es ein Vortheil, denn dadurch wird der Mensch gegen die Uebel abgehärtet; es entspringt daraus die Geduld, welche aber keine männliche, sondern eine weibliche Tugend ist. Sie ist eine Art von Unempfindlichkeit; wenn die Empfindung eines Uebels lange angehalten hat, so hört sie auf. Eine Wittwe darf man eben nicht sehr trösten, die einen Mann, vorzüglich der reich war, verlohren hat, denn die Zeit wird da wohl das meiste thun. Es ist sehr nöthig, daß, wenn man einen anhaltenden starken Eindruck bekommen will, man ihn steigern können muß; denn das Gemüth erhält Vorstellungen, die es einmal hat, nicht immer in einerlei Grade. Ein junger Mensch muß sich nicht verzärteln, damit er immer in Gemächlichkeit steigern kann, und in seinem Leben muß er es so machen, daß er stets etwas hinzusetzen kann, weil er sonst den Geschmack verliert. In einerlei Wohlbefinden kann sich der Mensch nicht erhalten, daher wird eine Sparsamkeit des Gemüths erfordert, damit wir uns immer etwas zumessen können. Einige Stände reitzen daher unsere Vorstellung sehr, weil man darin immer steigern kann.
/Daß man Vorstellungen durch gewisse Zwischenräume (Intervallen) der Unthätigkeit und Gedankenlosigkeit von einander trennt, erhebt die Vorstellungen. Durch die Zwischenräume der Reihe bekommen Vorstellungen ihre gehörige Stärke. Wer selten das Land sieht, der empfindet mehr Vergnügen als ein Anderer, der immer auf dem Lande lebt. Die Natur weiß stets Schmerz und Ver-_
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/gnügen mit einander zu vermischen, damit das Vergnügen seine gehörige Stärke bekomme. Der Redner muß immer dahin sehen, daß er die Maschine seiner Beredtsamkeit nicht sogleich anfängt spielen zu lassen; daher wird ein kalter Vortrag den Anfang machen. In der Folge wird er mehr Leben geben, und am Ende wird er alle seine Stärke anwenden. Durch Empfindungen betäubt, ausser sich a@b@er entzückt zu seyn, ist ein Zustand, wo ein Mensch in die Ohnmacht versetzt wird, über sich selbst zu gebieten, durch die Stärke der Empfindung hingerissen. Ein Mensch ist nicht bei sich selbst, wenn er auf den Zustand seiner Empfindungen keine Acht hat. Er ist seiner nicht mächtig, wenn ein Affect ihn so betäubt, daß er ausser Stand gesetzt wird, seinem Vortheile gemäß zu handeln.
/Man nennt einen Menschen perplex, der durch eine Art von Ueberraschung und plötzlichen Verdruß in den Zustand gesetzt wird, daß er nicht weiß, was er anfangen soll. Die Franzosen sagen: er hat die Tramontane verloren, die Teutschen: er ist verblüft. Der Ausdruck Tramontane schreibt sich von einem italiänischen Winde Tramontana her, so, daß es so viel sagen will, der Mensch ist so bestürzt, daß er nicht einmal vom üblen Nordwinde reden kann, da man doch den Stoff zu den Unterhaltungen vom Wetter nimmt.
/Alle diese Arten von Empfindungen sind eine Schwäche des Gemüths, durch Empfindungen ausser Fassung gebracht und entzückt, und durch Schmerzen niedergedrückt zu werden.
/Aber es ist die größte Vollkommenheit beim Menschen, wenn er sich immer in seiner Gewalt hat, so daß ihn kein Eindruck ausser Fassung bringt; denn durch Eindrücke, die alle andre vertilgen, verliert er den Geist des Lebens. Daher muß keine Gemüthsbewegung so stark
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/hervorstechen, daß sie den Einfluß der andern schwächt; allein dieses Gleichgewicht in seinem Gemüthe zu erhalten, ist schwer, aber von großem Nutzen.
/ ≥ Von dem Zustande, worinnen unsere Empfindungen allmälig schwächer werden. ≤
/Dies geschieht durch Nachlassung unserer Empfindungen auf die natürlichste Art, durch Trunk, hernach in einem widernatürlichen und kranken Zustande, d. i. durch Ohnmacht und endlich macht der Tod allen Empfindungen ein Ende. Es ist ein merkwürdiger Gegenstand, den Trunk anthropologisch zu betrachten, und zu sehen, was für Wirkungen er bei dem Menschen hervorbringt. Wir bemerken, daß der Trunk, geistiges Getränk, als ein Mittel der Geselligkeit angesehen werden, oder auch als ein Mittel gebraucht werden kann, uns ein falsches Gefühl von mehr Leben einzuflößen, und in uns die Empfindungen von einer chimärischen Phantasie von Glückseeligkeit zu erregen. Der Trunk als ein Mittel, die Glückseeligkeit zu befördern, ist nicht tadelhaft; freilich, wenn er zum Rausche wird, so stöhrt er das Vergnügen der Gesellschaft; aber ehe er zum Rausche steigt, heitert er die Gesellschaft auf, weil er das Gespräch und die Laune befördert, und die Zurückhaltung wegnimmt, die allen Menschen in Ansehung dessen beiwohnt, was schicklich ist. Die Achtsamkeit ist nothwendig, daher sich auch Menschen, die vergnügt seyn wollen, davon los zu machen suchen, um die Freimüthigkeit eines Menschen zu haben, der alles spricht, was er will, aber der Trunk darf nicht zum Rausche werden. So lange er die Geselligkeit befördert, ist er gut in der Gesellschaft, um Leben zu unterhalten. Wir sind erfreuet,
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/wenn wir den Zwang des Gezierten los werden können. Dahero Menschen, wenn sie mit ihren guten Freunden an der Tafel sind, am allervergnügtesten sind, weil sie wissen, daß, wenn ihnen auch ein unüberlegter Ausdruck entfahren sollte, er Niemanden beleidigen wird. In großen Gesellschaften ist der Mensch mit dem größten Theile seiner Gedanken allein, in einer kleinen Gesellschaft aber können wir mit unsern Gedanken ganz laut seyn, und brauchen keinen zurückzuhalten. Die Rolle des Menschen ist eine sehr künstliche Rolle. Der Trunk ist Ursache, daß alle diese Behutsamkeit wegfällt. Daher Leute, die sich berauschen, nicht leiden können, daß Andere unberauscht sind, weil sie glauben, Andere würden ein gar zu strenges Gericht über sie halten und sie critisiren.
/Einige haben auch gegen die jederzeit Nüchternen ein Mißtrauen in Ansehung ihres Characters; ein Nüchterner glaubt, daß dabei viel zu wagen seyn würde, wenn er ein Glas Wein zuviel trinke, als ob er sich dann verrathen könne. Frauenzimmer haben immer eine Schanze zu vertheidigen, daher müssen sie sich in Acht nehmen, daß sie ihre Schwäche nicht verrathen; deshalb betrinken sie sich auch nie; wenn eine Frau trinkt, so ist das der äusserste Exceß der Niederträchtigkeit; denn das weibliche Geschlecht muß sich weit mehr verbergen als das männliche. Die Vernunft ist die Schildwache; wenn der Mensch aber betrunken ist, so geht die Schildwache weg, und da kann man dann nicht immer auf seiner Huth seyn; daher betrinken sich auch behutsamme Leute nicht. Die Grichen rechneten das Vermögen viel zu trinken unter ihre Talente, aber das ist ein schelmisches Mittel, den Schwächern durch das Saufen zu betrügen. Unsere Zeiten sind mehr Zeiten der Nüchternheit; ob die aber eine Verbesserung unserer Moralität beweiset, ist eine
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/Frage. Freilich ist nichts Viehischer als eine zur Gewohnheit gewordene Trunkenheit, und ein solcher Mensch verunehrt die Gesellschaft, aber der Trunk, wo eine Gesellschaft anfängt lustig zu werden, bringt eine große Veränderung hervor, und man nimmt eine ganz andere Handlungsart des Menschen wahr; daher kann man den Menschen in der Trunkenheit nicht kennen lernen. Der Trunk bringt andere Wirkungen hervor, und die Menschen sind alsdenn anders gesinnt, als in der Nüchternheit. Das Naturel des Menschen kennt man beim Trunke nicht, er ist ein ganz anderer Mensch, er ist anders afficirt, und hat ein anders Temperament; daher Menschen, die sonst gut sind, beim Trunke mißtrauisch und zanksüchtig werden. Mancher wird herzlich freundlich, ein Anderer ist voll Mißtrauen und Verdacht, ein Dritter wird andächtig. Die Geselligkeit ist also das Einzige, weshalb man den Menschen den Trunk empfehlen kann. Der Branntewein ist ein ungeselliges Getränk, daher sich ein Mensch von Zartgefühl ihm nicht überläßt, und sich scheut, sich darauf zu verstehen. Er macht stumm, statt daß der Wein beredt macht, und thut auf einmal seine Wirkung. Er ist wie ein Gift, ein plötzliches Mittel das Gemüth aus seiner Fassung zu bringen und es in Gaukelbildern herum zu jagen. Während der Zeit des Trunkes fühlt man sein Uebel nicht, weil der Branntewein unempfindlich macht; daher ist eine Schändlichkeit im Gebrauche dieses Getränkes, weil es auch zugleich stumm macht. Auf seine eigene Hand sich zu betrinken, ist niederträchtig. Ein Mensch, der sich auf seinem Zimmer allein betrinkt, wird sich scheuen, daher beruht die Entschuldigung des Trunks allein auf der Geselligkeit. Tacitus sagt, die Teutschen faßten ihre Rathschlüsse beim Trunke, damit sie voll Nachdruck waren, und überlegten sie, wenn sie nüchtern waren, damit sie gut ausgeführt würden; und das war bei
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/einer solchen Nation, als die Teutschen damals waren, auch wohl nöthig.
/Wir können behaupten, daß der Fehler des Trunks alten Leuten mehr angemessen sey, als jungen; denn er ist beim Alter eine Arzenei, ein Mittel, die Bewegung des Bluts zu befördern, der Jugend aber ist er schädlich - Seneca sagt, wenn er vom Trunke spricht, ich wollte lieber sehen, daß der Trunk kein Laster sey, als daß Cato beim Trunke übel gethan habe. Sehr patriotisch gesprochen! Virtus ejus incaluit mero, setzt er hinzu. Temperamente, die viel Heftigkeit und Thätigkeit zeigen, z. B. Cholerische haben einen großen Hang zur Trunkenheit. Die asiatischen Völker findet man nüchtern, in Europa sind die Menschen im südlichen Himmelsstriche nüchterner als im nördlichen, und es scheint auch, daß der Trunk den letztern mehr angemessen sey, und mit ihrer Laune besser zusammenstimme. Wenn die Leute in Italien starke Getränke bekommen, so rasen sie, gerathen in Wuth und werden gefährlich. Es mag die Nüchternheit den südlichen Völkern also nicht zur Tugend an_gerechnet werden, so wie der Trunk den nördlichen nicht zum Laster. Die Verfeinerung der Sitten hebt dies Laster allmählig auf. Ein Mensch wird, im Militairdienste berauscht, nicht bestraft, weil er da die Strafe nicht genug fühlt, und er sich also mehrmals vergehen würde.
/So wie die Empfindungen verschwinden, stellt sich die Neigung zum Schlafe ein. Die Ursache des Schlafs ist wunderbar; denn alle Verrichtungen des Körpers thun nach wie vorher ihre Wirkungen, nur die Empfindung und die willkührliche Bewegung stellen ihre Thätigkeiten ein.
/Der Tod ist das Ende aller willkührlichen Bewegungen, aller Thätigkeit des menschlichen Gemüths und aller Empfindungen. Tissot in seinem Buche von den Nerven-_
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/krankheiten erzählt Dinge, die uns stutzig machen möchten; denn nach seinem Berichte scheint es, daß Personen, die in jedermanns Augen für todt gehalten werden, noch leben und empfinden; nur daß sie nicht die Kraft haben, es im geringsten zu äußern, daß sie leben und empfinden. Sie können in einem solchen Zustande begraben werden und sind doch nicht vermögend, es an den Tag zu legen. - Die eine Geschichte von dem, der die Lippen bewegte, und die andere von dem Frauenzimmer, das einen Laut von sich gab, sind sehr merkwürdig. So könnte ein Mensch unter dem Messer eines Anatomen seyn und alles fühlen. In Frankreich hat man schon verschiedene Schriften herausgegeben, ja alle Sorgfalt angewandt, daß man nicht Menschen verscharre, die noch das Leben in sich haben. *1)
/Was der Tod sey, kann keiner wissen. Der Mensch, der in tiefer Ohnmacht liegt, und den man für todt hält, kann noch nicht aus Erfahrung sprechen. Niemand kann vom Tode etwas wissen, und wer die Macht verloren hat, äußere Bewegungen hervorzubringen, der mag empfinden, was er will, so kann man ihm dies alles nicht ansehen.
/~ *1) Auf den Scheintod ist man in neuern Zeiten sehr aufmerksam gewesen. Diese Vorlesungen Kants scheinen also aus den frühern Zeiten seines academischen Lebens zu seyn.
/D. Herausgeber. ~
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/ ≥ Wie aus den Vorstellungen des Gemüths neue entspringen, oder von der Imagination. ≤
/Das Vermögen, Vorstellungen in uns hervorzubringen, von denen der Gegenstand nicht wirklich ist, ist die Imagination. Man sollte glauben, daß dies widersprechend sey, weil der Ursprung aller unserer Vorstellungen darin besteht, daß wir etwas anschauen, was uns gegeben ist. Indessen hat unser Gemüth das Vermögen, eine Vorstellung wieder hervorzubringen, die durch den Gegenstand ehedem gewirkt war, theils in Vorstellungen von künstlichen Dingen, wenn der Gegenstand nicht wirklich ist, dergleichen ist ein Bild, wo man nicht nur die Vorstellung vom Menschen hat, sondern wo diese Vorstellung vom Menschen Zerrbilder und Grotesken sind; theils können wir sie uns anschauend machen, und mahlen, ohngeachtet der Gegenstand nicht in der Natur ist.
/Dieses unser Vermögen ist von großer Weite, und unterscheidet sich in Ansehung der Form. Die ganze Natur muß vorher in der sinnlichen Vorstellung gewesen seyn. Etwas ganz Neues kann durch die Einbildung nicht hervorgebracht werden, allein wir können uns die Vorstellungen der Sinne in einem andern Zusammenhange vorstellen, woraus Bilder entstehen, die der Form nach verschieden sind: z. B. man kann sich keine neue Farbe einbilden; uns sind die 3. Hauptfarben des Regenbogens roth, gelb und blau gegeben. Wer aber nur diese 3. gesehen hätte, der würde sich durch keine Einbildungskraft grün vorstellen können. Keine Einbildung kann so weit gehen, daß sie uns Vorstellungen vorträgt, die wir nie durch die Sinne gehabt haben. Sie kann nicht schaffen, sondern umbilden, und wer glaubt, ganz neuer Vorstellungen und Erscheinungen theilhaftig ge-_
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/worden zu seyn, z. B. im Traumen, der hat die Beschaffenheit der Einbildung vergessen; ein solcher Mensch ist gestört, und schwärmt in dem Augenblicke; er ist sich seiner nicht bewußt, er fühlt zwar einen zurückgebliebenen Eindruck, kann sich aber nicht erinnern, was in ihm vorging. Da unsere Einbildung also nur den Stoff sinnlicher Vorstellungen umbilden kann, so können wir schon einsehen, was die Gesichter der Schwärmer enthalten können.
/Dieses Vermögen der Einbildungskraft ist zwiefach, ein productives und ein reproductives. Das ReproductionsVermögen ist das Vermögen, Bilder der Dinge, die ehemals gegenwärtig waren, wieder hervorzubringen. Dieses Vermögen liegt aller Nachahmung und allem Gedächtnisse zum Grunde, wo unsere Einbildung nur nachbildet. Das Productionsvermögen ist schöpferisch und bringt Dinge hervor, die vorher in unseren Sinnen nicht so waren. Ob nun zwar alle Bilder in unserer sinnlichen Vorstellung theils vorhin gewesen seyn müssen, und wir nur von andern Vorstellungen neue hinzu bringen können, so ist doch insofern ein neues Bild entstanden. Man hat Vorstellungen von der Art, wo Bilder nach einem andern Muster vorgestellt sind. Der Mahler mahlt wirklich Gemälde, und ob er z. B. die Gestalt vom Menschen nimmt, so ändert er doch sehr vieles daran, wenn er ein Zerrbild hervorbringen will. Gerard, ein Engländer, sagt, die größte Eigenschaft des Genies sey die productive Einbildungskraft; denn Genie ist ist vom Nachahmungsgeiste am meisten unterschieden, so daß man glaubt, der Nachahmungsgeist sey die größte Unfähigkeit, sich dem Genie zu nähern. Das Genie gründet sich also nicht auf die reproductive Einbildungskraft, sondern auf die productive und eine fruchtbare Einbildungskraft in Hervorbringung, der Vorstellungen giebt dem Genie vielen Stoff, darun-_
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/ter zu wählen. Dieses Productionsvermögen wird eingetheilt in die willkührliche und unwillkührliche Imagination. Die willkührliche besteht darin, daß der Mensch die Thätigkeiten seiner Imagination nach Belieben ausüben, sich Bilder darstellen und verschwinden lassen, sie nach seinem Belieben machen kann. Die unwillkührliche heißt die Phantasie, und ob zwar viele Schriftsteller beide verwechseln, so giebt doch schon der Redegebrauch Anlaß, sie zu unterscheiden. Wir spielen mit den Bildern unserer Einbildungskraft; in der unwillkührlichen Einbildungskraft aber spielt die unwillkührliche Einbildung mit uns. Die willkührliche Imagination ist schöpferisch, die Phantasie hingegen schwärmt, und bedeutet den unwillkührlichen Lauf unserer Einbildungen, wo sie nicht nach Wahl und Vorsatz auftreten, auch nicht nach Belieben geleitet und regiert werden können, sondern im Gemüthe bei einer zufälligen Gelegenheit entstehen, dann aber ihren Lauf nach Gesetzen in der Seele nehmen, so daß man sich ihn genau denken kann. Der Mensch ist ein Phantast, der im Laufe seiner Gedanken nicht nach Belieben Veränderungen mit ihnen vornehmen kann. Es ist merkwürdig, daß wir erst auf willkührliche Weise unsere Einbildungskraft auf einen Gegenstand lenken können, dann verfolgt dieselbe ihr Spiel von selbst, und wir folgen nicht mehr willkührlich, sondern eine innere Kraft der Seele leitet uns, die Bilder nehmen ihren Gang und wir selbst wissen nicht, wie wir darauf kommen; so ists mit vielen Empfindungen gegangen. Ich will über etwas nachdenken; ich wähle erst allerhand Nebenvorstellungen, die mit meiner Hauptvorstellung in Verbindung stehen. Z. B. wer auf eine Leichenrede studirt, der wird die Aussicht in eine fröhliche Zukunft, oder die fröhliche Ernte, oder den Tod als das Ende alles Elends in sich selbst im Kopfe haben. Nun nimmt er Einen von diesen Gegenständen, worauf
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/ihn die Imagination von diesem einem Puncte auf eine Menge anderer bringt; die Phantasie geht ihren Gang fort, kommt auf Bilder, die wohl ihren Zusammenhang haben, aber nach und nach auf Bilder führen, die weniger mit einander zusammenhängen, bis endlich der Verstand alles wieder ordnet. Dieses Gesetz, wornach der Verstand alles ordnet, heißt das Gesetz der Association (der Vergesellschaftung). Vorstellungen sind vergesellschaftet, wenn ein Grund einer Verbindung da ist, durch den die Vorstellungen verwandt, oder wenigstens benachbart sind, so daß man sie durch die Einheit des Orts und der Zeit verstehen kann. - Begriffe sind durch die Verwandtschaft verknüpft, wenn sie im Verstande mit einander verbunden sind; sie sind durch die Nachbarschaft verknüpft, wenn sie mit nichts anderm mit einander verknüpft sind, als durch die Einheit des Orts und der Zeit; der Zeit, wenn wir durch die Imagination der Zeit in Bewegung gebracht werden, und uns alles dessen, was in der Zeit beisammen war, erinnern, und eben so des Orts. Daher kann Niemand vor einem Hause vorbeigehen, in welches er in die Schule gegangen ist, ohne daß ihm die alten Eindrücke einfallen, die er in dem Hause hatte. In beiden Fällen ist es folgendermaßen beschaffen: die Vorstellungen mögen durch Aehnlichkeit, als Ursache und Wirkung mit einander verwandt oder benachbart seyn; so hat unser Gemüth die Eigenschaft, solche Vorstellungen zu vergesellschaften; eine Vorstellung lockt die andere herbei, und so kommen die Vorstellungen zusammen. Da alle Vorstellungen, so unähnlich sie sich auch seyn mögen, doch irgend eine Aehnlichkeit haben können, so kann auch unsere Imagination vom Tausendsten aufs Hundertste kommen. Denn unsere Phantasie ist so ausschweifend, daß selbst die geringste Aehnlichkeit Vorstellungen vergesellschaftet. Diesen unwillkührlichen Lauf der
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/Imagination bemerkt man in jedem gesellschaftlichen Gespräche; da ist eine erstaunliche Abweichung von der Materie, wo man von einem Gegenstande abkommt, und auf entfernte Dinge gelangt, und sich hernach nicht wieder zurückfinden kann. Daß dieses ein unregelmäßiges Herumschweifen der Einbildungskraft sey, findet man, wenn die Gesellschaft zu Ende ist; denn da fühlt man etwas Leeres, indem der Verstand beim Zurückerinnern keine Einheit hinein bringen kann. Aber eigentlich muß jede Materie so lange bearbeitet werden, bis sie erschöpft ist. Viele Leute verwickeln alle ihre Gespräche, indem sie ihrer Imagination nicht von Zeit zu Zeit durch den Verstand eine sichere Richtung geben, die Imagination ist unbändig, und man kann sie nicht so in seiner Gewalt haben, daß sie immer im Gleise des Verstandes bliebe, sie geht ihren Lauf nach Aehnlichkeiten immer fort. Dieses Gesetz der Vergesellschaftung, nach dem die Imagination fortläuft, ist ein Naturgesetz, welches durch die Vernunft zu Stande gebracht ist. Die Vernunft bringt ein Gesetz der Kunst hervor, das die bloße rohe Natur nicht würde zu Stande gebracht haben. Daher muß die Vernunft sich dieses Gesetzes der Vergesellschaftung so bedienen, daß die Regeln immer nach ihrem Gesetze zu Stande kommen, und auf einen Zweck der Vernunft gehen. Daher sieht man, daß ein vernünftiger Mann nie von seinem Thema abgeht, damit er sich nicht verwirrt, und der Andere leicht darüber einschläft. Dieses Gesetzes der Vergesellschaftung muß sich also der Verstand bedienen, um den Lauf der Phantasie unter seine Schranken zu bringen. Die Engländer sagen, man muß in dem Hause eines Gefangenen nicht vom Stricke sprechen, d. i. man muß nichts aufs Tapet bringen, wo andere Personen durch das Gesetz der Vergesellschaftung auf eine für sie traurige oder ekelhafte Idee fallen könnten. Bei ei-_
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/ner Mutter, die ihren einzigen Sohn verloren hat, muß man nicht von der Freude der Eltern sprechen, welche gut geartete Kinder haben, weil sie sich dann sogleich betrüben würde. Oft gehört dazu viel Klugheit, immer so zu sprechen, daß Andere nichts nach dem Gesetze der Vergesellschaftung auf unangenehme Gedanken bringen kann. denn nach diesem Gesetze ist die Imagination so zart und fein, daß wir Vorstellungen rege machen, ohne mit einem Worte derselben zu erwähnen, weil man nicht verhüten kann, daß Andere auf unangenehme Vorstellungen gerathen sollen.
/Es ist eine Täuschung der Phantasie, welche den Nordschottländern begegnet, die aber wohl eine kranke und gestörte Phantasie ist, indem sie die Bilder der Phantasie für wirkliche Gegenstände der Anschauung halten. Verschiedene englische Schriftsteller erzählen, daß die Bergschotten von einem sogenannten zweiten Gesichte sprächen, wo ein Mensch mit offenen Augen am hellen Tage ganz etwas anders bemerkt, als was da ist. Sie sehen z. B. Leichengefolge von Menschen, die bald hernach begraben werden. Der Glaube an solche Hirngespinste ist wohl der Widerlegung nicht werth, aber man kann doch glauben, daß dies wahr, und daß es eine Krankheit sey; denn auch die Samojeden und Ostiaken haben eine solche Nervenkrankheit, indem ihr Nervensystem durch das rauhe Clima so angegriffen ist, daß sie sich so hohe Bilder der Phantasie machen, als Andere sich nicht vorstellen können. Von den Ostiaken führt Pallas an, daß sie eine besondere Reizbarkeit der Nerven durch die Kälte haben, daß Einer sich dadurch, daß ihn ein Anderer nur anfaßt, so alterirt, daß er auch seinen besten Freund todtschlägt. Die Täuschung ist eine Krankheit der Phantasie, eingebildete Bilder immer für wirklich gegenwärtige zu halten. Ein Phantast ist der, der durch die Bilder
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/der Gegenstände so getäuscht wird, als wenn es wirkliche Gegenstände wären, aber auch den können wir für einen Phantasten erklären, dessen Phantasie nicht nach dem Verlangen der Vernunft fortläuft, sondern auf tausend andere Dinge fällt, die seiner Einbildungskraft beifallen, indem er sie nicht im Gleise erhalten kann.
/Woher mag es kommen, daß ein gewisser Lauf der Phantasie für uns sehr ergötzlich und wo das menschliche Gemüth in einer Art von angenehmer Bewegung ist, indem sich gewisse leichte Eindrücke, die mannichfaltig sind, einfinden, und ein unbedeutendes Spiel der Empfindungen in uns erregen? Ein Kaminfeuer macht keinen starken Eindruck auf uns, die Flamme ist unbedeutend, verändert sich auf hunderterlei Art, macht aber sonst keine große Veränderung; aber es sitzt jemand dabei und verliert sich in die tiefsten Gedanken. Vielleicht kommt d_es daher, daß die Flamme so vielerlei Gestalten annimmt, und unsere Imagination dann immer auf Gedanken fällt, die mit diesen Gestalten Aehnlichkeit haben, nur daß wir uns derselben nicht immer bewußt sind, und so mag sich das Gemüth dabei erholen. Eben so ist es bei einem Bache, der über Kiesel läuft, und dabei Blasen macht. Die Mannichfaltigkeit dieses unbedeutenden Gegenstandes, der uns nicht stark anzieht, führt uns auf tausenderlei Gedanken. Eben so kann man sich, ehe es recht helle wird, aus dem Vorhange und andern Sachen allerhand Gestalten und Menschen bilden, ohne eben dazu geneigt zu seyn; denn je mehr veränderte Gestalten uns ein Object darbietet, desto mehr Stoff hat die Imagination, uns Gegenstände dazustellen. Der Anblick eines vom Winde aufgethürmten Meeres erregt die Phantasie, und hält sie fest. Man kann sich daran nicht satt sehen, weil es unregelmäßige Gestalten sind, bei denen das Gemüth auf tausenderlei Gedanken kommen
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/kann. Der Taback giebt gleichfalls der Phantasie Anlaß, das Spiel der Gedanken zu unterhalten. Der Tabacksrauch ist ein Reitz, der eine unbedeutende Empfindung erregt, die weder angenehm noch unangenehm ist, und oft wiederholt werden kann, wo das Gemüth durch diese geringe Empfindung immer in Bewegung gesetzt wird. Aber auch der Rauch ist eine Hauptsache dabei; im Finstern glaubt man immer, die Pfeife sey ausgegangen; denn die mancherlei Figuren des Rauchs mahlen der Phantasie so etwas vor, und die kleine Bewegung unterhält den Lauf des Gemüths, immer seinen Gedanken nach zu gehen. Daher finden wir auch, daß dieses das vornehmste Selbstgespräch ist, und wenn ein Mensch den Taback vertragen kann, so ist dies das beste Mittel, womit er sich die Einsamkeit vertreiben kann.
/Eben darum ist auch eine weite Aussicht angenehm, aber eigentlich können wir, je weiter die Aussicht ist, desto weniger die Gegenstände erkennen. Es mag wohl wahr seyn, wie Einige meinen, daß die Ursache davon herrühre, weil unser Gemüth ein Vergnügen daran findet, und eine Stärke fühle, wenn es sich weit ausdehnen kann. Die eigentliche Ursache ist jedoch wohl folgende: wenn die Aussicht weit ist, so sind alle Gegenstände schwach, aber die Menge macht, daß unsere Phantasie, die immer über die Gegenstände dollmetscht, im Spiele erhalten wird. Viele Leute haben die Gewohnheit, immer mit den Fingern etwas zu thun zu haben, wenn sie etwas sprechen wollen. Die Ursache ist: diese einförmige Bewegung macht, daß sie auf keine andern Gegenstände kommen, die sie zerstreuen würden, aber dieser gewohnte Eindruck zerstreuet sie nicht.
/Der menschlichen Natur ist es etwas Beschwerliches, daß uns unsere Phantasie das Angenehme des vergangenen Zustandes übertrieben angenehm vorstellt, wodurch
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/die Zufriedenheit in Ansehung des gegenwärtigen vermindert wird. Wenn Menschen alt werden, so loben sie die vergangene Zeit, nicht weil sie alt worden, sondern weil sie gesehen zu haben glauben, daß die Leute ehemals besser waren, und jetzt wirklich schlechter worden sind. Von diesem Wahne kann sich der schlechteste Mensch nicht losreissen, und zu allen Zeiten haben die Menschen geglaubt, daß es in ihrer Jugend besser gewesen sey; wenn dies wahr wäre, so müßte itzt schon die Welt ganz im Trümmern liegen, obgleich alles immer gleich bleibt. Aber daran ist die täuschende Einbildungskraft schuld, die die erloschenen Bilder mit lebhaften Farben ausmahlt. Und obgleich die Jugendjahre sehr beschwerlich sind, wenn man sich nur z. B. an die Plagen der Schule erinnert, so sind doch die meisten Menschen so geartet, daß sie glauben, sie wären die glücklichsten Jahre. Ueberhaupt sind die Menschen in Ansehung des Vergangenen so geartet, daß ihre Phantasie ihnen in Ansehung des Vergangenen glücklichere Gegenstände vorstellt, als sie wirklich waren, und dadurch die jetzige Zufriedenheit schwächt, da man doch vielmehr dahin streben sollte, daß unser gegenwärtiger Zustand angenehm und glücklich sey. Man kann aus diesen Erscheinungen das erklären, warum die Schweitzer das Heimweh bekommen. Sie haben in den Gebirgen ihres Vaterlandes eine Musik, die sie den Kuhreigen nennen; dies ist eine schlechte Musik, nach welcher die dortigen Bauern tanzen. Es ist daher in der ganzen französischen Armee verboten, diesen Kuhreigen zu spielen, weil die Schweitzer sogleich das Heimweh bekommen, sich grämen, abnehmen, und nicht eher besser werden, als bis sie nach Hause kommen; aber bei ihrer Ankunft in der Schweitz glauben sie, daß alles verändert, und anders als in ihren Jugendjahren sey; da hat sie die Einbildungskraft sehr betrogen, indem sie sich ein Glück träumten, das sie genossen haben wollten, jedoch
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/dachten sie nicht an die Beschwerden, die sie in der Jugend ausgestanden hatten. Eben so machen es die Dichter, wenn sie das arkadische Schäferleben schildern; sie lassen alles Beschwerliche des Hirtenlebens weg, und beschreiben bloß Anmuth und Reitz. Wir finden, daß unsere Imagination sehr durch Partheilichkeit verstimmt wird. Die Liebe verschönert alles, so daß wir glauben, eine Person sey schön, weil sie andere Eigenschaften hat; der Haß hingegen verhäßlicht alles, und wir glauben, daß derjenige ein tückisches Gesicht habe, der uns ehemals ein Unrecht zugefügt hat. Von jedem Missethäter sagt man, er sehe tückisch aus, freilich sieht er in der Angst nicht freimüthig aus, aber ob er uns tückisch vorkommen würde, wenn er nicht gefangen säße, ist eine andere Frage. Daß man sich durch die Phantasie ein Bild mahlen könne, wovon uns die Vorstellung nichts lehrt, sieht man daraus, daß, wenn man sich eingebildet hat, dieser oder jener sey gestört, man solle ihm nichts übelnehmen, ob es gleich nicht wahr ist, den Andern alles, was dieser bei Laune thut, als zweideutig vorkommt. Sie glauben allerhand Lächerliches wahrzunehmen, was einen verrückten Menschen anzeigt. Ihre Phantasie mahlt ihnen allerhand Dinge vor, und sie wissen sich nicht zu fassen, wenn sie hernach hören, daß es eine Lüge gewesen ist. Jeder Mensch glaubt das zu fassen, wovon sein Kopf voll ist. Die Gewohnheit zu gewissen Bildern, womit man sich beschäftigt, hält das Gemüth bei denselben gegenwärtig und besticht das Urtheil, so daß man das zu sehen glaubt, was man zu sehen gewünscht hat. Schwärmer oder Leute, die einer gewissen Sekte ergeben sind, sind Leute, die alles in der Bibel finden, was sie wollen. Sie sehen etwas so deutlich ausgedrückt, und müssen über die Blindheit anderer Menschen erstaunen. Bei einem Lügner ist die Gewohnheit zu lügen oft unwillkühr-_
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/lich; man kann nicht sagen, daß gewisse Menschen eine Absicht beim Lügen haben, sie thun es nicht mit Absicht oder mit Interesse, Gutes zu stiften, sondern ihre Imagination ist so wild, daß sie mit ihnen davon läuft, und indem sie mehr sprechen, als worauf sie sich besonnen haben, verfehlen sie sich; eine Lüge veranlaßt die andere. Eben so wird bei Dichtern und Romanenschreibern eine hochfliegende Phantasie erfordert. So geht es aber nie in der Welt; denn es ist eine Convention zwischen ihnen, und den letzten, dies nicht für wahr zu halten.
/Die Imagination bringt aus dem, was jemand sieht, eine Nachahmung hervor: wenn ein Mensch im Affecte spricht, so macht der Andere alle die Minen nach, womit jener spricht, ohne es zu merken. Die Stärke der Einbildungskraft bringt eine Nachahmung hervor aus dem, was wir sehen. Man versichert, daß zwei Personen, die sich lieben, wenn ihre Gesichtsbildung nicht zu sehr verschieden ist, zuletzt fast einerlei Gesichtszüge und Minen bekommen. Zimmermann zeigt, daß die große Einprägung der Phantasie bei dem Anblicke gewisser Dinge, die unsere Einbildungskraft stark afficiren, zur Nachahmung bringt. So fühlt jemand, daß der Anblick krampfhafter Zufälle bei dem Zuschauer Verzuckungen, vorzüglich bei Kindern, und bei Personen erregt, deren Nerven sehr reizbar sind. Je mehr man dahin sieht, desto mehr wird unser Nervensystem davon gereitzt, und die Natur neigt sich zur Nachahmung. Boerhave erzählt, daß in einem Waisenhause durch ein Kind, das in Verzuckungen fiel, alle andern Kinder in Verzuckungen geriethen, und sie konnten nur durch die fürchterliche Drohung, mit glühendem Eisen gebrannt zu werden, dahin gebracht werden, sich von dem Gegenstande abzuwenden. Es ist also in einigen Bewegungen des Menschen etwas Sympathetisches, das zuletzt dieselbe Wirkung bei uns
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/als bei Andern äußert. Das Gähnen bringt vermittelst der Phantasie eine unwillkührliche Nachahmung zuwege, vorzüglich, wenn man in Gedanken ist. Es ist merkwürdig, daß es Fälle giebt, wo die Imagination stärker ist als die Gegenwart der Sache, indem die Leidenschaft dadurch mehr vergrößert wird, als durch die Sache selbst. Es giebt Verliebungen, wo die Gegenwart der Person zwar einen großen Eindruck auf den Verliebten macht, aber dieser Eindruck wird größer, wenn er in der Abwesenheit in sie verliebt ist; die Ursache ist, daß er in der Anwesenheit allerhand kleine Fehler sieht, die er in der Abwesenheit nicht bemerken kann. Ein solcher Verliebter ist nicht anders zu heilen, als durch die Ehe, welche das Ende aller Liebe ist, so daß man es auch in Frankreich für einen Widerspruch hält, in der Ehe zu seyn, und sich zu lieben.
/Ein Affekt, welcher auf Einbildung beruht, ist schwerer zu dämpfen, als der, welcher auf der Sache beruht; denn im letzten Falle läßt er sich widerlegen, aber die Einbildung ist fruchtbar, und wendet alle Kräfte an. Man hat Fälle, daß Leute wegen der Leidenschaft der Liebe in fremde Länder reiseten, aber auch dies fruchtete nichts, sie mußten sich durchs Heurathen helfen. Diese Leute waren durch den Reitz der Phantasie mehr eingenommen, als durch andere Gründe. Man sagt von der Einbildung, daß in der ersten Zeit der Mündigkeit sich die stärksten Eindrücke der Liebe finden, so daß die Person, die sich uns dann einprägt, die stärksten Eindrücke behauptet, wenn wir gleich hundert Fehler an ihr wahrnähmen.
/Wenn eine Phantasie fehlerhaft, aber doch nicht gestöhrt, also fehlerhaft durch Mangel der Bildung ist, so nennt man sie zügellos oder regellos. Die zügellose besteht in der unmäßigen Phantasie, im Verhältniß unserer
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/Willkühr, wo es nicht in unserer Gewalt steht, die Phantasie zu dämpfen, ihre Bilder zu verbannen, und ihrem Laufe eine andere Richtung zu geben. Ein solcher Mensch ist unglücklich. Die Phantasie zeigt sich vorzüglich bei Haß und Groll unter den Menschen; wenn der Eine bei sich das Gezänke, das der Andere in der Gesellschaft anfing, in seiner Phatasie fortsetzt, so bringt er in sich eine Neigung des Hasses zuwege, und verdirbt in sich die Freude seines Gemüths. Eben so läuft der Mensch bei traurigen Vorstellungen mit seiner Phantasie in die unglücklichen Folgen hinein, die sich ereignen, und da kann man mit Uebeln gemartert werden, die nie vorhanden sind. Die zügellose Phantasie bei einem Dichter überschreitet die Schranken und übertreibt alles. Es ist aber die größte Stärke der menschlichen Seele, wenn sie alle Talente in ihrer Gewalt hat, jede Kraft dazu anzuwenden, wozu sie will, die Bewegung des Gemüths zu erregen und zu hemmen, und überhaupt alle Betrachtungen über einen Gegenstand zu ordnen. Die Regellosigkeit ist noch reger als die Zügellosigkeit; sie besteht darin, daß die Phantasie dem Verstande nicht folgen will, sondern auf Ungereimtheiten läuft, und den Verstand verächtlich macht. Die Phantasie hintergeht den Verstand mit Aehnlichkeiten der Bilder, und so wird Mancher dadurch in regelloser Phantasie durch ähnliche Bilder getäuscht. Bei Hypochondristen ist eine regellose Phantasie. Ein zügelloser Phantast schwärmt, ein regelloser faselt. Die zügellose Phantasie zeigt noch Stärke an, obgleich der Verstand unwillkührlich dem Gemüthe folgt, aber die regellose macht den Menschen unfähig zum Gebrauche des Verstandes. Viele überflüssige Dinge, die man in der Religion und Philosophie als ein Spiel der Phantasie vorträgt, sind eine verkehrte Anwendung dieses Vermögens, wo der Verstand einen Plan machen muß, der die Phatasie mit ihren Bil-_
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/dern ausmahlt. Wenn wir das Talent der Völker im Abendlande mit dem Talente der Völker im Morgenlande vergleichen, so ist bei den Ersten viel Verstand und wenig Phantasie. Dies sieht man in allen ihren Werken der Kunst. Die Türken haben große Achtung vor Bildern, dies kommt nicht so wohl von ihrer Religion her, sondern von ihrer Phantasie, die weit anders von Bildern gerührt wird, als jene eines kaltblütigen Europäers.
/Wir finden, daß unsre Phantasie bei uns mehr des Abends, als des Morgens spielt. Des Morgens scheint die Herrschaft des Verstandes erneuert zu seyn, und des Abends fängt die Einbildungskraft an zu schwärmen. Wenn der Mensch des Abends anfängt, von dem Zustande nach dem Tode zu sprechen, so wird dies dem Phantasten sehr willkommen seyn; aber des Morgens ist dies ein schaales Gespräch. So lange der Mensch Herr seiner Phantasie ist, kann er arbeiten; wenn er aber diese schwärmen läßt, so thut dies ihm großen Schaden; dies geschieht meistens des Abends. Daher haben verschiedene Aerzte bemerkt, daß das zu lange Nachtaufbleiben dem Körper vielen Schaden zufügt. Sie haben aber nicht die rechte Ursache angegeben; sie sagen wohl, daß es dem Menschen zuträglich sey, vor Mitternacht zu schlafen, aber dies ist nichts. Die wahre Ursache ist folgende: des Abends ist unsere Phantasie sehr genigt herum zu schweifen, und sich an Hirngespinsten zu laben, die Sinne haben alsdann weniger Unterhaltung, und so springen wir auf Dinge über, die auf unsere Einbildungskraft wirken, und dies wirkt so sehr auf die Nerven, daß an innerm Leben dabei sehr genagt wird. Diese innere Schwächung der Nerven ist der Quelle des Lebens viel nachtheiliger, als vieles Andere. Man kann zu dieser Zeit auch
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/niemals Menschen antreffen, die ganz gelassen wären, sondern sie gehen mit lauter Luftschlössern um, und sind gar nicht ruhig. Und ob diese Afficirung gleich innerlich ist, so geht sie doch immer auf Unkosten unserer Lebenskraft; legt man sich aber bald nach dem Abendessen zum Schlafen nieder, so wird man am Morgen davor sicher seyn. Auf diese Art muß man den Lauf der Phantasie oder Schwärmerei zu heilen suchen. So lange man in der Gesellschaft ist, wird man sich noch immer im Gleiße halten. Daher muß man, sobald man von da weg geht, sogleich zu Bette gehen, und nicht spät aufsitzen.
/Einige Phantasie scheint einige Originalität zu haben; man findet dies bei witzigen Köpfen, und das nennt man das Genie derselben, wo sie ihren Bildern Regellosigkeit oder doch Neuigkeit geben, und der Beifall, den man ihnen als Producten des Genies zu zollen pflegt, ist allgemein. Die Phantasie mag wohl manchem Menschen das Feuer geben, das er ohne Phantasie nicht haben würde. Sie hat großen Einfluß auf uns, stellt uns die Dinge bald als nützlich, bald als unnütz vor. Die Geschlechtsneigung beruht mehr auf der Phantasie, als auf der Wirklichkeit; dahero muß man sich in der Einsamkeit mit dem Schwärmen der Phantasie über Geschlechtsneigung nicht einlassen; denn erstlich ist es uns unnütz, zweitens ist es ein Uebel und der Natur nicht gemäß. Die Indianer sind in diesem Stücke kaltblütig und gleichgültig; die wilden Völker sind nicht in dem Grade reizbar als wir. Die Phantasie gießt über alle Dinge einen Zauber aus, und regt die Triebfedern so an, daß dadurch Laster entstehen, die ihre Entstehung am meisten der Phantasie zu verdanken haben.
/Auf der Phantasie beruhen eine Menge von Krankheiten, und auch die Kuren vieler Krankheiten. Die Aerzte helfen mehrentheils durch die Zuversicht und Ruhe, die
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/ihre Gegenwart dem Patienten einflößt, wobei der Körper mehr an seiner Gesundheit arbeiten kann; aber der Arzt ist auch die Ursache vieler Krankheiten; denn jeder Mensch meint, der Arzt verstände am besten am Körper zu flicken, und so werden Viele eingebildet krank. - Wenn wir sehen wollen, was für ein großes Geschäft die Phantasie treibt, so dürfen wir nur unsere eigene Unterhaltung betrachten. Jeder Mensch ist in der Einsamkeit beschäftigt, macht Plane, findet darin seine wahre Unterhaltung, kann sich Romane so lebhaft schildern, und hat das Vergnügen, immer die Hauptperson dabei zu seyn. Die Einbildungskraft macht uns also den größten Theil unserer Zeit angenehm, indem wir uns Hochachtung von andern Menschen träumen, und in die idealische Welt kommen.
/Man hat ein Sprichwort, das auf den gemeinen Mann deutet, das sich aber auch klugen Regenten empfehlen ließe: mundus regitur opinionibus, denn die Meinung, welche die Phantasie sich macht, thut eben das, was Wahrheit verrichtet, und die Menschen werden glücklicher durch die Fabel als durch die Wahrheit. Wenn Könige so regieren könnten, daß die Unterthanen ihre Pflichten abtragen müßten, und doch glaubten, daß sie dabei frei wären, so wie es in Holland und England ist, so wäre das ein glücklicher Staat; denn die Meinung von Freiheit ist eben das, was Menschen glücklich macht, und wenn ihnen diese Meinung keiner kränken darf, so fühlen sie sich frei; aber dergleichen zu erreichen fordert bei Regenten viel Talent. Man kann sagen, daß die Ehen glücklich sind, wo der Mann sich einbildet, daß seine Frau große Gegenliebe gegen ihn habe, und diese Einbildung ist das, was das Glück ihres Lebens ausmacht. Daher ist die Frau schon gegen ihren Mann gefällig, die, wenn sie keine Liebe für ihn hat, doch alles das thut, was ei-_
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/ne Gegenliebe zu verrathen scheint; denn da hintergeht sie doch nur seine Einbildungskraft und er wird es immer glauben, denn die Phantasie ist bei den Menschen von eben dem Werthe als die Wirklichkeit.
/Wenn ein Geitziger Geld sammelt, ohne weiter eine Absicht dabei zu haben, so reizt ihn nichts als der Genuß dieser Reichthümer in der Phantasie. Wenn er seine Nachbarn Staat machen sieht, so stellt er sich vor, daß er dies alles auch haben könnte, und noch zu genießen hat; dann stellt er sich hinterher auch das Mißvergnügen vor, wenn jemand nach genossenem Vergnügen mit leerem Beutel zurück kommt. Dieser Zustand bei dem Geitzigen hat viele Vorzüge; er hat sein Geld in der Tasche, und sieht alles dies Vergnügen noch vor sich. Wir sehen also, daß diese Leidenschaft nicht ganz blind ist, denn sie nährt eine unerschöpfliche Quelle von Einbildungen. Die ganze Denkart beim Menschen beruht also auf seiner Darstellung der Phantasie.
/ ≥ Von dem Vermögen unserer Seele, Vergleichungen anzustellen. ≤
/Alle Vergleichungen gehen darauf aus, die Uebereinstimmung oder die Verschiedenheit der Dinge zu zeigen. Das Vermögen des Gemüths, die Uebereinstimmung der Dinge zu zeigen, ist der Witz; das Vermögen die Verschiedenheit zu bemerken, die Urtheilskraft (der Scharfsinn). Man nennt den Witz eine Gabe, die Aehnlichkeiten der Dinge einzusehen. Er ist ein positives Erkenntnißvermögen, eine weitere Ausdehnung unserer Erkenntnisse. Urtheilskraft ist ein negatives Vermögen, eine Einschränkung unserer Begriffe, indem wir zeigen, daß ein Begriff
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/nicht auf so viel Dinge geht, als man glaubt. Durch das Urtheilen verhüten wir Irrthümer. Die Urtheilskraft geht aufs Rectificiren (Berichtigen, Läutern), der Witz aufs Hervorbringen. Der Witz sucht aus verschiedenen Vorstellungen einen Begriff zu machen, und durch die Urtheilskraft unterscheiden wir die Arten, die unter der Gattung enthalten sind. Unsere Erkenntniß wächst mehr durch den Witz, indem wir sie dadurch allgemein machen können. Ein solcher Begriff ist von großem Umfange, und ich kann ihn auf viele Gegenstände anwenden. Wir machen aus ihm Gattungen, die die Aehnlichkeit vieler Dinge enthalten.
/Man hat anfänglich wenig Geschlechter, nach und nach findet die Urtheilskraft Verschiedenheiten, und also werden durch die Urtheilskraft die Arten vermehrt, durch den Witz hingegen wird alles auf Geschlechter gebracht. Man muß daher vorzüglich darauf merken, daß die Urtheilskraft hauptsächlich den negativen Nutzen hat, Irrthümer abzuhalten, weil der Witz sich unaufhörlich damit abgiebt, unsere Erkenntnisse dadurch zu erweitern, daß er die mannigfaltigen Vorstellungen unter Begriffe zu bringen sucht.
/Manche Menschen sind nicht im Stande, etwas Einstimmiges in Dingen zu finden, Andere finden alles ähnlich, welches ein Geschäft des Witzes anzeigt; die Urtheilskraft unterscheidet das Verschiedene, damit die vermeinte Aehnlichkeit nicht zu weit gehe, und man Dinge nicht für einerlei ansehe, die verschieden sind: z. B. die Menschen werden dem körperlichen Baue nach für einerlei gehalten, aber zuletzt findet man durch die Urtheilskraft, daß die Geistesanlagen bei beiden Geschlechtern verschieden sind. Die Illusionen des Witzes bereiten uns zu Irrthümern vor, wenn nicht eine reife Urtheilskraft dazu kommt, um den Unterschied darin zu bemerken. Durch den
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/Witz entspringt die Begierde, einen Begriff von allen Dingen geltend zu machen; die Urtheilskraft aber findet, daß unsere Begriffe oft gar nicht zureichen, alle diese Dinge zu erkennen. Wenn man das Verdienst dieser zwei Vermögen schätzen will, und wenn man auszumitteln sucht, welches von beiden den Vorzug hat, so ist offenbar, daß der Witz allezeit ein positives Erkenntnißvermögen ist, wir aber doch ohne ein kritisches Vermögen nichts als Blendwerke durch den Witz sammeln würden. Der Witz bringt einen Vorrath von Erkenntnissen zusammen, die Urtheilskraft aber wirft alles wieder weg, was mit einer festen Erkenntniß nicht zusammen hängt; sie berichtigt unsere Begriffe. Der Witz belebt das Gemüth und leitet uns aufs Mannigfaltige, die Urtheilskraft schränkt die Lebhaftigkeit des Gemüths ein, indem sie unsere Gedanken behutsam macht; der Witz ist darum beliebt, weil er aufgeweckt ist, die Urtheilskraft ist bedachtsam und darum hochgeachtet. Aber so hochgeachtet sie immer ist, so ist sie doch nicht so beliebt; jeder sucht den Witz mehr als die Urtheilskraft, und der Witz wird eher sein Glück machen; denn das wahrhafte Verdienst findet nicht allenthalben Liebhaber. Die Urtheilskraft erhält Bewunderer, und erwirbt sich Lob, aber man nähert sich ihr nicht immer. Aller Witz ist ein Spiel; er ist aber doch nützlich, denn jeder Einfall giebt eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen. Durch den Witz werden Regeln gegeben, und diese haben große Brauchbarkeit; denn eine jede Regel dient dazu, eine Menge von Fällen zu beurtheilen, und ist ein concentrirter Begriff, der eine Menge anderer enthält; die Urtheilskraft aber schränkt diese Erwerbung ein; denn so wie der Witz unser Denken dreist und waghaft macht, so macht die Urtheilskraft verlegen und behutsam; sie ist zwar rühmlich, aber glänzt nicht.
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/Der Witz ist vielleicht das Talent der Jugend, die Urtheilskraft das Talent des Alters. Daher sagt man: ein lebhafter Witz und eine reife Urtheilskraft. Die Urtheilskraft läßt sich nicht lehren; witzige Einfälle aber kann man wohl lernen. Jene wächst nur durch den Gebrauch, und ist der Verstand, von dem man sagt, daß er nicht vor den Jahren komme. Junge Leute glauben oft, sie seyn so klug als der älteste; sie können insoweit recht haben, daß in ihnen Geist genug seyn mag, aber man kann keine Urtheilskraft vor den Jahren haben; denn dies erfordert Versuche, Uebung und Erfahrung. Es ist ein negatives Vermögen, Urtheile zu berichtigen, nicht zu erweitern. Die Urtheilskraft ist also die Wirkung von einem durch Erfahrung geübten Gemüthe. Eine Erklärung, welche Verstand enthält, heißt, insofern sie zugleich Witz in sich faßt, sinnreich, sobald der Witz vorzüglich hervorsticht. Eine Erkenntniß, wo die Urtheilskraft hervorsticht, heißt scharfsinnig. Das Wort acumen (Scharfsinnigkeit) soll eine Aufmerksamkeit bedeuten, die auf das Kleine geht, und die schwächsten Eindrücke leicht bemerkt, so daß man die Erkenntniß leicht in ihre Urstoffe zertheilen kann. Auf diese Art könnte Scharfsinnigkeit auch für Witz gelten; denn es giebt subtilen Witz, wo man Aehnlichkeiten bemerkt, die ein gemeines Auge nicht merkt; es ist aber doch gebräuchlich, der Urtheilskraft Scharfsinn und dem Witz sinnreiche Stärke zuzuschreiben; dabei aber wird erfordert, daß der Witz nicht faßelt, und die Urtheilskraft nicht gegrübelt habe.
/Der Witz ist eine Quelle von Einfällen, die Urtheilskraft eine Quelle von Einsichten. Die französische Nation ist reich an Einfällen, die Einsichten kommen spät, aber darum dürfen wir die Einfälle nicht gering schätzen. Es giebt Leute, die reich an Einfällen sind, und die allerhand Plane entwerfen, zu denen
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/noch die Urtheilskraft kommen muß, um sie zu prüfen. Die Einfälle sind die vorläufigen Urtheile, die oft sehr glücklich sind, und das Wort Einfall hat schon die Bedeutung, daß es mehrentheils das ausdrückt, was uns ungesucht aufgefallen ist, die Einsicht hingegen das, was man mit Sorgfalt suchen muß. Ein Einfall ist eine Wirkung unserer Erkenntnißkraft, wovon wir die Ursache oft nicht wissen. Mancher Mensch ist reich an Einfällen, sein Witz ist so fruchtbar, daß er ihn auf tausenderlei Einfälle bringt; aber ein solcher Kopf ist gewöhnlich nicht reich an Einsichten. Seneca hatte einen bloßen Einfall, als er sagte, man wird dereinst die Kometen so berechnen können, wie jetzt den Lauf der Sonne und des Mondes. Es war dies keine Vorhersagung von seiner Seite, aber es ist eine Ungerechtigkeit unserer Zeit, daß man jemandem, der wirklich eine neue Einsicht erfunden hat, das Verdienst zu schmälern sucht, daß man solche Stellen in den Alten aufsucht, die bloß einen Einfall hatten, oder einen Wunsch von einer Einsicht, zu deren Erlangung sie nicht das Talent hatten.
/Ein Buch, das reich an Einfällen ist, hat etwas Anziehendes, nur müssen die Einfälle nicht zu sehr abwechseln, sondern einen Zusammenhang mit der Hauptsache haben. Aber Einfälle haben keine lange Dauer, weil man doch am Ende einsieht, daß sie nichts sind, und so verliert sich zuletzt die erste Ueberraschung, die uns erfreute. Einige Nationen haben einen Hang, Einfälle günstig aufzunehmen, daher kommt es, daß diese Einfälle in großen Haufen bei ihnen eindringen, und ihre Druckerpressen damit überschwemmt sind. In Teutschland sind sie Kontreband (verbotene Waare); wer da mit bloßen Einfällen kommt, und nicht eine Einsicht daraus zu machen sucht, dem geht es übel. Die Ursache ist, die Teutschen können ihren Einfällen nicht die Kleidung geben,
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/wodurch sie gefallen; aber die Nation, die ein solches Vergnügen an Einfällen hat, hat keinen Geschmack. Selbst von Montesquieu, dessen Verdienste bei den Franzosen so hoch angeschlagen werden, daß sie ihn sogar einen zweiten Solon nennen, wird man wohl unterhalten, aber man lernt doch nicht viel von ihm. Die Wissenschaften haben durch ihn nichts gewonnen. Es sind Blicke und Fingerzeige, die er giebt, damit man weiter nachdenken soll, und gegen die man noch mißtrauisch ist, ob sie Stich halten werden, die zwar Anfangs tauglich scheinen, aber im Zusammenhange doch unmöglich sind, und den Leser auf Hirngespinste führen.
/Der Witz geht auf die Brühe, die Urtheilskraft auf die Nahrung, und ist das, was die Nahrung für unsere Seele ist. Der Witz giebt allen Dingen die Brühe und Aehnlichkeit, und macht, daß das, was die Urtheilskraft als tüchtig ausgezogen hat, in weitläuftige Verbindung gesetzt wird. Er dient dazu, den Einsichten, die durch die Urtheilskraft bewährt sind, eine weitläuftige Anwendung zu geben.
/Bons Mots (Witzworte) sind Einfälle, die Neuigkeit haben müssen, wie die Moden, und wechseln ab. Wenn sie schon eine Beharrlichkeit bekommen haben, so sind sie Sentenzen (Denksprüche), die wegen ihres Inhalts gelten, prägnant sind, und viel Verstand enthalten. Beim gemeinen Manne heißen sie Sprichwörter. Aber die bons mots müssen plötzlich einfallen, bald vergehen können, und sich durch die Neuigkeit empfehlen. Die Jagd nach Witzworten ist sehr ekelhaft für den, der einen Schriftsteller lieset, der darnach jagt, und da kann der Verstand durch den Witz auf die Tortur gelegt werden. In Rabelais Schriften kann man nicht einen Bogen lesen, ohne sich ihn ganz zu verekeln, weil alles am Ende ein bloßes Spiel ist, das an sich selbst keinen Werth hat, und
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/wo es immer auf eine besondere Art ankommt, Begriffe zusammen zu stellen, von denen man sich keine Verwandschaft gedacht hat, aber da alles dies doch kein Erwerb für das menschliche Herz ist, und es doch immer die Absicht der Menschen ist, mit ihren Erkenntnissen etwas zu gewinnen, so ist es am Ende doch schaal; denn der Plan ist nicht so zugeschnitten, daß er einen Zweck hat; das Gemüth ist so geartet, daß, so sehr es auch nur auf Belustigung ausgeht, es doch nach Wirklichkeiten strebt, damit der Verstand etwas gewinnt; daher hat das bloße Spiel des Witzes nichts Beruhigendes, und findet nicht anders einen Werth, als durch die Neuigkeit. So sehr der Witz aber auch beliebt ist, so wird am Ende doch verlangt, daß er ein Product des Verstandes hervorbringen soll.
/Wer von Witz Profession macht, heißt ein Witzling, wer mit der Urtheilskraft paradiert, ein Klügling. Der Witzling wird ekelhaft, der Klügling verhaßt, weil er lehrreich scheint, und immer belehren will. Wir nehmen aber an, daß wir selbst so viel Urtheilskraft haben, um zu unterscheiden, wie weit Dinge gelten. Viele Menschen klagen, daß sie keine witzigen Einfälle haben, und entsagen der Ehre, Witz zu besitzen; aber es giebt keinen Einzigen, der einräumen sollte, keine Urtheilskraft zu haben; denn diese ist das Unentbehrlichste und gehört zum Nothwendigen unserer Talente. Wenn uns ein Klügling mit seinen Bemerkungen in den Weg kommt, so ist er uns verhaßt, der Witzling wird dagegen immer gering geschätzt, wenn seine Einfälle Kleinigkeiten betreffen. Wenn bei einem Volke eine Mode stets von der andern verjagt wird, so verräth dies, daß es einen Ueberfluß an Witz hat, der immer beschäftigt ist, etwas Neues hervorzubringen. Der Witz schafft Moden, und die Urtheilskraft bestimmt ihren Gebrauch. Eine Mode wird oft zum Gebrauche, und hört auf darum Mode zu seyn; denn der Gebrauch ist eine
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/dauerhafte Regel unserer Einrichtungen, und was in Gebrauch gekommen ist, ist allgemein. Die Mode besteht in der Neuigkeit, also kann man sagen, daß der Anfang eines Gebrauchs eine Mode gewesen ist. Es giebt Nationen, die viele Gebräuche haben, z. B. die Spanier; Andere sind mehr Liebhaber von Moden. Zur Mode können alle Albernheiten werden, aber der Gebrauch muß überlegt seyn. Eine Nation von Urtheilskraft, die in der Veränderung ihrer Entschließungen behutsam ist, hängt an ihren Gebräuchen, und keine Nation ist so ihren Gebräuchen ergeben als die spanische, und hierin besteht das Abstechende derselben von der französischen. Der Witzige ist frei und keck, der Urtheilsfähige (Judiciöse) unschlüssig und bedenklich. In französischen Kritiken wird mancher Autor erhoben, weil er viel Kühnheit hat; bei andern Völkern werden solche Keckheiten nicht gerühmt. Der Witz ist an sich selbst kühn, ja verwegen; denn da er mit Aehnlichkeiten spielt, so sucht er, so viel er kann, alles zusammen zu paaren; dagegen ist die Urtheilskraft Ursache, daß wir keine größern Schritte vorwärts thun können, indessen der Witz ein größeres Feld durchgeht. Dagegen ist auch keine Dauerhaftigkeit in einem Urtheile, das die Keckheit des Witzes hervorbringt. Büffons Schriften sind sehr lehrreich, aber es ist auch oft viel Kühnheit in seinen Urtheilen. In England und Italien findet man im Urtheilen mehr Behutsamkeit. Der Witz ist populair, und die Urtheilskraft scholastisch. Eine Nation, die sehr populair ist, beweiset dadurch, daß ihr Talent hauptsächlich auf den Witz gerichtet ist. In allen französischen Schriften herrscht der Geist der Unterhaltung (Conversation); denn da die Franzosen allem, was sie thun, den geselligen Geschmack zu geben suchen, so müssen sie alles mit Witz ausputzen. Die Urtheilskraft hat mehr Verdienst in Ansehung der Schule. Das Publikum bekümmert sich nicht
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/so sehr um die Richtigkeit, sondern überläßt das der Schule auszumitteln.
/Der seichte Witz enthält nichts für den Verstand; der Schulwitz enthält wohl etwas für den Verstand, aber nichts für die Welt, d. i. für den Gebrauch in der Unterhaltung, für den populären Verstand. Also sieht man, daß ein Witz in der Unterhaltung unterhaltend seyn, und im Lehrsaale fade klingen kann; denn da will man auch etwas für den Verstand haben, obschon dies gleich in den faden Reden der Unterhaltung nicht immer verlangt wird.
/Die Franzosen haben zwei Ausdrücke, sot und fou. Kästner in seiner Laune sagt: sot ist der Teutsche der nach Paris reiset, und fou der, der von daher zurückkommt d. i. als ein Laffe reiset er nach Paris, und als ein Geck kommt er zurück. Er war ein Narr ohne Stoff, als er zu Hause war, und in Paris sammelte er Stoff zur Narrheit.
/Der Witz soll originell seyn; denn nichts ist elender als nachahmender Witz; daher sollten die Teutschen nicht Profession davon machen, weil es der teutschen Nation nicht angemessen ist, Originalität zu besitzen; sie hat einen starken Hang zur Nachahmung.
/Witzige Personen sind zu einem Muthwillen des Geistes aufgelegt, und ausschweifend in ihren Einfällen, hingegen muß der Mensch, der keinen Ueberfluß an Witz hat, bescheiden seyn, und nicht dem Muthwillen freien Lauf lassen; denn Einfälle müssen mit Witz gewürzt seyn, wenn sie gefallen sollen. Der Witz ist etourdi, (d.i. ein Einfall, den man im Teutschen nicht benennen kann; denn wenn man sagte grob oder dummdreist, so wäre dieses zu hart, es ist ohngefehr ein zu nahe tretender Scherz, der aber mit einer angenehmen Manier gesagt wird, so daß er gefällt, worin sonderlich die Franzosen Meister sind), wenn man aber davon abgeht, so muß man bescheiden
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/seyn. Die Keckheit paßt nicht zu einem Talente, das keinen belebenden Witz hat.
/Die Gesellschaft wird durch den Witz beim Scherze belebt. Was enthält die Unterhaltung? - Folgende drei Stücke: Erzählen, Erörtern, (Raisonniren) und Scherz. Mit Erzählen fängt das Gespräch an; wenn dies geschehen ist, so kommt das Raisonnement darüber, und wenn das Raisonniren ernsthaft wird, und einen Streit nach sich ziehen will, so ist es ein Glück, wenn lustige Köpfe bei Tische sind, und dem Streite der Andern eine andere Wendung geben.
/Was kann von diesen drei Stücken am längsten anhalten? Mit dem Erzählen kann man lange Zeit hinbringen; denn man kann davon gleich wieder in einer andern Gesellschaft Gebrauch machen, weil jeder immer gern den Vorzug haben will, der erste Erzähler von Neuigkeiten zu seyn; aber die Erzählungen sind bald zu Ende. Wenn die Materie, worüber man raisonnirt, allgemein intressirt z. B. über die menschliche Natur, und nicht ins Trockene geht, so kann das auch eine Weile dauern; da aber dieses zuletzt zu ernsthaft wird, und man bei der Mahlzeit in der Gesellschaft die Absicht zu haben scheint, daß sie gut bekommen soll, so muß auch der Scherz da seyn, um eine Erschütterung durch Lachen hervorzubringen. Eine Mahlzeit aber mit lauter Scherz ist ganz unerträglich und fade; wenn man sieht, wie Leute sich peinigen, um Witz hervorzubringen, so ist das gleichsam, als ob man geträumt hätte; denn es ist gar kein Zusammenhang darin, und in dem Scherze muß man discret seyn, daß man die Unterhaltung damit nicht ausfülle, sondern ihr einen Zusammenhang gebe.
/Mancher Witz heißt launig; die Welt sieht einem jeden so aus, wie sie uns die besondere Geneigtheit des Witzes vormahlt, und unsere Urtheile über die Welt rüh-_
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/ren nicht so wohl von der Beschaffenheit der Dinge, als des Gemüths her, so wie einem Gelbsüchtigen alles gelb aussieht. Wenn nun der Eine die Dinge ganz anders anschauet, als der Andere, so ist in seinem Witze etwas ganz originelles, welches von der gewöhnlichen Vorstellung gänzlich abweicht. Ein solcher launiger Witz ist bei Swift anzutreffen. Kein Spötter hat eine solche Originalität in den Einfällen, und keinem fließt sie so leicht als ihm. Er war auch ein ganz origineller Mann; ein Misanthrop, der beständig mit der Regierung in Feindschaft lebte. Wenn man Butler's Hudibras lieset, so findet man eine Laune, die sehr reitzend ist. Es ist die witzigste Schrift, die irgend bei einer Nation zu finden ist, wo auch viel Gelehrsamkeit ist. Bei dem Witze ist oft etwas, was man durchtrieben nennen könnte, eine unschuldige verborgenliegende Schalkheit. Voltaire giebt häufig, indem er auf eine unschuldige Art etwas sagt, jemandem einen derben Stich. Es ist eine Art von Naivität, die nicht wie Spott aussieht, sondern die den Ton einer Rede hat, welche aus der Einfalt des Herzens gekommen ist. Einen leichten Witz findet man größtentheils bei Voltaire; man glaubt, man könne selbst so schreiben, es scheint bei ihm alles aus der Natur entsprungen zu seyn, aber es ist ihm dabei sehr sauer geworden.
/Die Engländer haben in ihrer Sprache etwas, das sie einen Bull nennen, wo sie immer aufpassen, wie der Andere spricht, damit er keinen Bull, d. i. keinen Fehler begeht; die Ursache, warum die Engländer aufpassen, ist wohl, damit ihre Sprache desto richtiger gesprochen werde. In England giebt man hauptsächlich den Irländern Schuld, daß sie viel dergleichen Bullen machen.
/Einiger Witz ist tief, dergleichen findet man in englischen Schriften, z. B. in Youngs Nachtgedanken ist viel Witz, aber er ist so tief, daß man sich sehr freuet, wenn
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/man ihn auffindet; er ist nicht lachend, sondern er macht uns stutzig, wie wir ihn einsehen wollen. Der Witz aber muß keiner Auflösung bedürfen, er muß wohl ein kleines Räthsel enthalten, das sich aber sogleich von selbst auflöset.
/Populairer Witz zeigt sich in Sprichwörtern. Ein Sprichwort ist zum Theil mit Urtheilskraft verbunden; ein Sprichwort kann man als das Eigenthümliche von Witz und Urtheilskraft bei einer Nation ansehen. Es wäre zu wünschen, daß sich jemand bemühen möchte, die Sprichwörter in der teutschen Sprache aufzusuchen und daß dies auch bei andern Nationen geschähe; denn daraus würde das Charakteristische jeder Nation erhellen. Das Sinnreiche in den Sprichwörtern charakterisirt eine Nation vorzüglich, und der gangbare Verstand derselben äußert sich darin am meisten. Sie dienen dem gemeinen Manne dazu, daß er statt aller Ueberzeugung sich immer auf Sprichwörter bezieht. Sprichwörter sind die Sprache des Pöbels, ein gebildeter Mensch wird sie nur zum Scherze anführen; aber ihren Ursprung aufzusuchen, würde nicht übel seyn. Die Sprichwörter im Don Quixotte machen das Beste und Lustigste im Buche aus. In der teutschen Uebersetzung hat man dies mit teutschen Sprichwörtern gegeben; es wäre aber besser gewesen, die spanischen zu übersetzen, um darin das Eigenthümliche der Denkart der spanischen Nation zu erkennen.
/Ob zwar Wissenschaften nicht auf Witz beruhen können, so giebt es doch viele Gelehrsamkeit, die auf Witz hinaus läuft. Die Ausleger heiliger Bücher spielen oft mit Witz, um allerlei Bedeutungen hervorzubringen, und dem Autor Begriffe anzudichten, die er nicht gehabt hat, und dies ist alles nichts als ein Muthwille, mit Witz zu spielen.
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/Der Witz betrachtet alles en gros, und die Urtheilskraft en detail, daher ist der Witz gut zu vorläufigen Erkenntnissen, aber die Urtheilskraft muß noch hinzu kommen, wenn etwas Zusammenhang haben soll; denn en gros läßt sich wohl ein Entwurf machen, sobald er aber ausgeführt werden soll, muß man aufs Detail gehen.
/Madame Geoffroy, eine Dame, von der die Franzosen sagten, daß sie ein Bureau d'esprit bei sich hätte, sagte in ihren Witzwörtern, man müsse einen Menschen nur en gros und nicht en detail betrachten und beurtheilen, damit nicht sein Lob durch die gar zu genaue Besichtigung ausgewischt werde. Dies ist aber falsch, man muß vielmehr alles en detail nehmen; denn en gros können die schalsten Köpfe urtheilen, z. B. dies ist schön etc. Kann mir aber jemand Sachen sagen, wodurch sich etwas auszeichnet, so geht es ins detail. So beurtheilen Menschen die Religion en gros.
/Der Witz ist mehr dazu, bloß etwas en gros einzusehen, weil er immer auf das geht, was, im Ganzen genommen, den Begriff einer Sache ausmachen kann. Der Witz muß darum nicht gesucht seyn, weil wirklich witzige Gedanken ein Spiel sind, dagegen ist die Urtheilskraft eine Arbeit. Ein Spiel muß nie Anstrengung verrathen, weil es dann aufhört ein Spiel zu seyn. Wenn ein Einfall ohne Bemühung zum Vorschein kommt, so gefällt er. Hingegen, was durch die Urtheilskraft geschieht, muß Arbeit gekostet haben, es sucht uns aber auch Wahrheit zu verschaffen. Bei der Urtheilskraft handelt man mit Micrologie d. i. subtil, und wenn die Subtilität nützlich ist, indem man auf das Kleine Sorgfalt wendet, als wenn es Wichtigkeit hätte, so nennt man die Urtheilskraft grüblerisch. Auf der andern Seite giebt es Wortspiele und Tändeleien des Witzes, Wortspiele, die bisweilen gefallen.
/Der Mangel alles Witzes verräth einen stumpfen
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/Kopf. Der Mensch ist ein stumpfer Kopf, der Sachen nur nach den Ausdrücken vortragen kann, ihnen aber keine Einkleidung zu geben weiß; derjenige, dem es an Urtheilskraft fehlt, ist ein Dummkopf. Die Dummheit bezieht sich lediglich auf den Mangel an Urtheilskraft; sonst nennt man den, der keine Urtheilskraft (judicium) hat, auch einen schwachen Menschen. Das Wort dumm zeigt einen Spott an, aber wegen Mangel an Talenten verdient der Mensch keinen Spott.
/Da dumme Leute gemeiniglich aufgeblasen sind, und Hochmuth erniedrigt zu werden verdient, so muß das Wort Dummheit auf einen aufgeblasenen Einfältigen, und nicht auf einen guten ehrlichen Einfältigen, sondern auf einen eingebildeten Narren angewandt werden. Man sagt, daß die Dummheit allein jemanden in der Welt fortbringe, und daß liegt wirklich in der Natur der Dinge; vorausgesetzt, daß noch einige Talente da sind, ist Dummheit zuträglich; denn weil der Mensch die Wichtigkeit der Dinge, die er übernimmt, nicht einsieht, so trauet er sich selbst alles zu, und macht Andere nicht auf sich eifersüchtig. Selbst bei großen Herrn kommt man mit seiner Dummheit weiter, als Andere mit ihrem großen Geiste. Ein Solcher hat wenig Widerstand zu bekämpfen und da man ihn im Anfange nicht für gefährlich hält, so steigt er höher; denn weil er sich selbst alles zutrauet, so übernimmt er alles, und da er keinen auf sich eifersüchtig macht, so kann er es in der Welt weit bringen. Die Zuversicht zu allen Unternehmungen kommt bloß daher, daß man nicht genug Einbildungkraft hat, um die ganze Forderung einzusehen, die gemacht werden kann. Der größte Theil der Menschen macht sich keine rechte Vorstellung von ihren Geschäften, sondern hält sich nur an die mechanische Ausführung derselben.
/Einen Menschen kann man nicht dumm nennen, wenn er unwissend ist; denn der Mangel an Kenntnissen ist nicht
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/Dummheit, sondern kann mit großer Klugheit bestehen. Colbert war ein unwissender Minister, aber ein Mensch, der die Wissenschaften aufmunterte, und alle die, welche die Wissenschaften empor gebracht haben, sind gemeiniglich Pfuscher gewesen, sie suchten alles auf den Gesichtskreis zu beziehen, den sie hatten. Ein Mann, wenn er keine oder wenig hervorragende Talente, aber wohl Geschmack hat, überläßt sich den Gelehrten, welche die Talente dazu haben, weil er sieht, daß sie doch Vieles nicht wagen werden. Minister und Fürsten, die Wissenschaften besaßen, haben zu ihrer Beförderung wenig beigetragen; dies haben unwissende gethan, die einigen Geschmack hatten.
/Der Betrüger scheint klüger zu seyn, als der Betrogene, und man hält den Betrogenen für dumm, aber dies ist falsch; denn der Kluge wird oft vom Dummen betrogen. Der Kluge hat Zutrauen zu dem Andern, und der Andere macht ihm Blendwerk vor, und da er bloß aus Rechtschaffenheit in Andere kein Mißtrauen setzt, so kann der Klügste hintergangen werden. Sonst giebt es auch eine Menge von Narren, die keine böse Absichten haben, die aber ohne Talente und hochmüthig sind; diese werden sehr leicht betrogen, weil sie in ihrer Denkungsart nur wenig reife Urtheilskraft zeigen; sie können also sogar von jemandem betrogen werden, der wenig Verstand hat. Das Sprichwort ist nicht viel werth: "der Mensch ist dumm, aber ehrlich." Ueberhaupt taugt Ehrlichkeit, wenn sie vom Temperamente herkommt, nichts; denn da kann sie durch jede Verführung gestürzt werden. Sie muß auf den Character, und auf Grundsätze gestützt seyn, und sich auf den Verstand und die Rechtschaffenheit gründen.
/Der Dumme weiß sich in die krummen Wege des Betruges nur nicht zu finden; aber darum hat er noch nicht den Grundsatz der Ehrlichkeit; denn sobald ihm ein Betrug
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/vorgemacht wird, wird er von seiner Regel der Ehrlichkeit abgehen. Ein Mensch, der nach Grundsätzen handelt, muß Verstand haben, und der ist ein verständiger Mensch, der eine gesunde Urtheilskraft hat; man muß keine guten Eigenschaften in der Welt dadurch in Abgang bringen, daß man sie mit verächtlichen Namen belegt; er ist dumm, aber ehrlich, gleichsam, als ob es nicht möglich sey ehrlich, ohne dabei dumm zu seyn. Wem es an Urtheilskraft fehlt, der ist dumm; wenn es Einem an Verstande gebricht, so heißt er einfältig. Der Verstand ist das Vermögen der allgemeinen Urtheile; ein Mensch muß nach und nach alle seine Begriffe unter Regeln bringen, und sich von seinem Thun und Lassen Regeln sammeln, denn ohne solche Regeln hat man keinen Leitfaden; aber derjenige, der sich in alle Umstände zu fügen weiß, hat Verstand.
/Das Land der Caraiben wird sehr von der See überschwemmt, aber anstatt an der Stelle, wo die See austritt, Dämme zu machen, nehmen sie dann ihre Zuflucht auf die Bäume. Es ist freilich viel verlangt, daß der Mensch sich Regeln machen soll, aber wenn ihm Regeln gegeben sind, und er braucht sie doch nicht, so ist er dumm, und hat keine Urtheilskraft. Ein dummer Mensch ist durch alle Regeln, die man ihm giebt, nicht gebessert und man kann sich derselben ohngeachtet nicht auf ihn verlassen. Man giebt den Russen schuld, daß sie dumm seyn, theils mag es natürliche Einschränkung ihrer Urtheilskraft seyn, oder, weil sie sich allzupünktlich an die erhaltenen Befehle halten; dies zeigt schon eine Unfähigkeit im höchsten Grade an. Die Einwohner von Otaheite sind eben nicht dumm, waren aber noch nicht so weit gekommen, daß sie Wasser kochen konnten, ohngeachtet sie das Feuer kannten und ihr Essen zu braten vermochten; dies verräth eine große Unfähigkeit, durch keine Versuche darauf gekom-_
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/men zu seyn. Es war ihnen gar nicht eingefallen, und sie hatten gar keinen Begriff davon. Man kann von Völkern sagen, sie verrathen Mangel an Verstand, weil sie nicht zählen können, aber dies zeigt den Mangel einer Regel an, worunter sie eine Menge bringen könnten; denn die Zahlen sind Regeln, worunter die Menge als unter einen Begriff zu fassen ist. Der Mangel an Urtheilskraft kann mit Witz verbunden seyn, und dann heißt der Mensch albern. Die Albernheit bedeutet nicht bloß den Mangel an Urtheilskraft, sondern verräth auch, daß dieser mit Witz versetzt ist. Ein Mensch, der einen Gran von Witz hat, ist sehr abgeschmackt, wenn er keine Urtheilskraft hat.
/Ein Mensch ist gescheut, wenn er praktische Urtheilskraft hat. Man sagt, der Mensch ist gescheut, wenn er einen vorzüglichen Grad von Urtheilskraft hat, der mit Verstand vermischt ist.
/Die Cultur der Urtheilskraft in der Erfahrung macht gescheut, wenn aber die Urtheilskraft den Verstand ausbildet, so ist das Klugheit. Zum Lobe eines Menschen kann man nichts minderes sagen, als er ist gescheut. Der Mensch ist nicht gescheut, heißt also, er hat keine praktische Urtheilskraft, und weiß nicht, was sich schickt. - Gewitziget ist ein Mensch, der durch Schaden klug, und oft betrogen worden ist. Ein solcher Mensch glaubt nicht alles, und nimmt nicht alle Großsprechereien für baare Münze an.
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/ ≥ Von dem Gedächtnisse. ≤
/Das Gedächtniß ist von der Imagination nur um einen Grad verschieden, indem noch zur Imagination ein Actus hinzukommt. Die Einbildungskraft ist reproductiv und productiv, sie bringt entweder gewesene Vorstellungen wieder hervor, oder schafft neue. Das Gedächtniß ist aber das Vermögen, sich mit Bewußtseyn gehabte Vorstellungen zurückzurufen, und ist eine Wiedererkennung unserer Vorstellungen, und unserer vormahligen Erkenntnisse. Bei dem Gedächtnisse ist es von großer Wichtigkeit, daß unsere Willkühr ein Vermögen über die Imagination hat, und daß wir unsere Imagination willkürlich bestimmen können, um Vorstellungen der vergangenen Zeit wieder hervorzubringen. Die Imagination läuft auf eine Menge von Vorstellungen hinaus, ohne daß der Mensch willkürlich folgt, und wenn sie bei einem Menschen unbezähmbar ist, so zeigt das von Hypochondrie und Tollheit. Aber bei jedem Menschen läuft die Phantasie so fort, wir können ihr wohl bisweilen unserer Absicht gemäß eine neue Richtung geben, aber in dieser Richtung läuft sie denn sogleich wieder fort. Insofern aber unsere Imagination in unserer Willkühr steht, so daß wir sie aufbieten können, uns Ideen aus dem vorigen Zustande klar darzustellen, ist dies das Gedächtniß. Wir finden uns in der Gegenwart bestimmt, sehen ins Vergangene hinein, und sehen hinaus in das Zukünftige. Wenn der Musikus phantasiert, so sieht er nicht bloß in die gegenwärtigen, sondern auch auf die vorigen, und folgenden zukünftigen Töne, damit er nicht so weit zurückgehe, und die entferntesten Vorstellungen reproduciren kann.
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/Wenn wir die Kräfte der Natur genau untersuchen, so finden wir, daß sich alles ins Unbegreifliche auflöset, aber unter allen menschlichen Kräften der Seele ist das Gedächtniß das wundersamste. Die Alten sagten: tantum scimus, quantum memoria valemus; denn im Gedächtniße besteht das eigentliche Wissen, daß der Mensch so unbegreiflich viel im Gedächtniß hat, wo er sich jedes Stücks nur bei Gelegenheit erinnert, und wenn diese Gelegenheit sich nicht ereignet, so glaubt man, er sey ganz leer. Man läßt es sich nicht einfallen, daß dieser Vorrath von Kenntnissen so reichhaltig seyn kann, daß ganze Bibliotheken in einem Kopfe seyn können, ohne daß jemand ein Wunder von einem Menschen zu seyn braucht; dergleichen ist ein jeder Philologe. Daß man von diesen Kenntnissen nur gelegentlich Gebrauch machen, und sie in großer Anzahl auffinden kann, ist etwas, worüber wir selbst erstaunen, wenn wir es erwägen.
/Man kann wohl sagen, daß bei dem Gedächtnisse eines Menschen gar nichts von allem dem verlöscht, was manjemals gedacht hat. Man glaubt, es sey erloschen, wenn man kein Mittel hat, es ins Gedächtniß zurück zu rufen. Wenn sich aber bei Gelegenheit eine Vorstellung ereignet, die mit jenem verbunden war, so finden wir doch, daß sie bei uns afubehalten, und nicht erloschen war. Aber die Imagination wollte sie nicht eher darstellen, weil es an einem Mittel, nemlich an der Vergesellschaftung fehlte.
/Das Gedächtniß unterscheidet sich darin, 1) daß wir etwas ins Gedächtniß fassen, 2) daß wir es lange behalten, 3) daß wir uns sogleich desselben wieder erinnern. Wer Eines von diesen Talenten hat, der pflegt das Andre nicht zu besitzen. Sanguinische fassen etwas leicht, können es aber nicht lange behalten. Phlegmatische können schwer etwas fassen, aber behalten es lange,
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/und Einige, die etwas lange behalten können, müssen sich lange auf etwas besinnen, und den Vorrath ihrer Kenntnisse in der Imagination lange durchstreichen, bis sie sich dessen wieder erinnern; daher kann man ein vierfaches Gedächtniß haben. Memoria capax, ist ein Gedächtniß von großem Umfange; memoria tenax, das lange etwas behält; ein behendes Gedächtniß, das sich leicht an etwas erinnert, und ein treues Gedächtniß, (wenn man das Gedächtniß von der logischen Seite betrachtet) welches sich wahrhaft erinnert. Sich etwas im Gedächtnisse einprägen, kann memoriren genannt werden, aber dies ist nur das mechanische Memoriren, wenn man sich etwas ins Gedächtniß eindrückt. Wir können uns aber auch etwas ins Gedächtniß drücken, durch einen bloßen Vorsatz, wenn wir etwas in einen Zusammenhang von Nebenvorstellungen verbinden, die das Zeichen sind, uns etwas nicht entwischen zu lassen. - Das Eindrücken geschieht demnach auf eine mechanische, ingeniöse, und judiciöse Art. Auf mechanische Art lernen die Kinder das Einmal Eins; aber bei diesem Lernen müssen sie immer, wenn sie gefragt werden, die Reihe von vorne anfangen, und können sich nicht unmittelbar besinnen. Aber doch ist das mechanische Memoriren in der Jugend sehr nützlich in Ansehung dessen, was man im Leben lange behalten soll. Die Methode, die Provinzen im Kreise nach der Reihe zu lernen, macht doch, daß sie nach Principien etwas lernt. Ein solches Memoriren ist von großem Vortheile, auf die Lebenszeit, denn da sind wir doch mit einem Faden versehen, den wir nur anfassen dürfen, und der von selbst den ganzen Knäuel herab läuft. Nur Dinge des Verstandes sollte man nicht mechanisch memoriren, wie leider! mit dem Catechismus geschieht, wo nur die Anfangssylben dürfen gesagt werden; da geht es dann wie in einem Strome.
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/Das mechanische Memoriren aber; hindert das Mitwirken des Verstandes, der Verstand ist dabei ganz leidend, allein bei Dingen des Verstandes und der Vernunft muß der Verstand thätig seyn, es darf ganz und gar kein mechanisches Wesen statt finden, damit der Verstand nicht unthätig sey, sondern selbst wirke, und selbst Begriffe zu machen suche. Die Geographie, die Historie u. s. w. zu memoriren, ist sehr zu empfehlen, nur muß man die Kinder nicht damit überhäufen; denn da verdrängt sonst Eines das Andere; man lasse sie die Hauptsache durch Denkverse (versus memoriales) lernen, denn wenn wir älter werden, wollen wir den Verstand gern beschäftigen; ist dann das Gedächtniß nicht gut ausgestattet, so ist der Verstand arm, und hat keinen Stoff, den ihm das Gedächtniß reproducire oder die Sinne geben müssen. So lange jemand noch nicht 40 Jahre alt ist, geht das mechanische Memoriren recht gut.
/Das ingeniöse Memoriren besteht darin, daß man vermittelst verschiedener ähnlicher Vergleichungen etwas seinem Gedächtnisse einzuprägen sucht. Von dieser Art des Memorirens hat man keine guten und glücklichen Regeln gegeben; das meiste läuft auf Albernheiten hinaus, und dient dem Verstande mehr zum Nachtheile, als zum Vortheile; es bringt ihn auf Hirngespinste, und es kann in dem Kopfe des Wahnsinnigen nicht schlimmer aussehen, als in dem Kopfe eines ingeniös Memorirenden. So hat man die Pandecten nach Bildern memoriren lassen, welches höchst albern herauskommt, z. B. beim Titel de haeredibus suis et legitimis; zu den haeredibus machte man einen Geldkasten, mit einem Vorhängeschloße, zu suis ein Schwein, und zu legitimis die beiden Tafeln Mosis. Ein Mensch hat mehr Mühe, solche ungleichartige Dinge im Kopfe zu verknüpfen, als wenn er Dinge mechanisch lernen soll, auch ist es für den Verstand höchst nachtheilig.
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/Aber doch hat ein jeder Mensch eine solche Methode; denn wenn man besorgt, einen Namen zu vergessen, so nimmt man einen andern, der im Klange Aehnlichkeit mit diesem hat, und sucht so dem Gedächtnisse zu Hülfe zu kommen.
/Das judiciöse Gedächtniß ist das vortreflichste, aber dieses tritt erst bei zunehmenden Jahren ein, und dient dazu, daß neue Vorstellungen an alte geknüpft werden. Nach vierzig Jahren kann ein Mensch ganz etwas Neues nicht mehr lernen; das, was er weiß, kann er zwar erweitern, aber ganz etwas Neues wird er schwerlich noch lernen; an das Vorige kann er wohl neue Vorstellungen anknüpfen. Man behält etwas sehr leicht, durch die Gelegenheit, die man hat, es Andern mitzutheilen, und dies ist das leichteste Mittel, etwas sehr tief dem Gedächtnisse einzudrücken.
/Man sagt, daß Menschen, welche keine sehr große Urtheilskraft haben, sich sehr durch die Eigenschaft des Gedächtnisses auszeichnen. Die Engländer sagen: "ein Mann von gutem Gedächtnisse wirkt auf die Urtheilskraft." Menschen, die in Ansehung des Gedächtnisses von ganz außerordentlichen Eigenschaften sind, können sich in Ansehung der Urtheilskraft nicht so sehr beschäftigen; denn die Seelenkräfte können doch nicht auf allen Seiten gleich stark seyn, und jeder macht am liebsten von dem Gebrauch, womit er am stärksten versehen ist; er findet es am leichtesten, mit seinem Gedächtnisse zu arbeiten, wenn er wenig Urtheilskraft hat.
/Ein großes Talent des Gedächtnisses kann jemanden zu einem Wunder von Gelehrsamkeit machen; er kann alle Wissenschaften inne haben, und alles das wissen, was Andere gewußt haben, so daß er aus aller Gelehrsamkeit eine Gedächtnißsache macht. So kann er sogar die Philosophie zur Gedächtnißsache machen, wenn gleich
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/zur Philosophie bloßer Vernunftgebrauch nöthig ist, und Philosophie nicht wohl Gelehrsamkeit heißen kann. Es giebt solche Menschen, die sich bloß dem Gedächtnißstutio überlassen und die Urtheilskraft darüber versäumt haben. Unter diese Wunder des Gedächtnisses sind einige Italiäner zu zählen. Picus_von_Mirandola konnte 2000 Wörter nach einander rückwärts und vorwärts hersagen, ohne Eines auszulassen, oder aus der Mitte anfangen, wo er wollte. Magliabecchi lebte im Anfange des 18ten Jahrhunderts, und war Bibliothekar zu Florenz, dieser ist bloß durch die Kraft des Gedächtnisses zu dem höchsten Grade der Gelehrsamkeit gekommen; ein Philosoph war er nicht; er war Gärtnerbursche, und las gern gedruckte Sachen. Ein Buchhändler, der dieses gehört hatte, bat den Gärtner, ihm denselben zu überlassen. Als er ihn zu sich genommen hatte, und ihn lesen lehren ließ, las er den ganzen Buchladen durch, und das Gelesenes behielt er zugleich auswendig. Sein Herr, der da merkte, daß sein Gedächtniß erstaunlich stark sey, machte eine Probe, indem er eine gewisse Schrift dem Magliabecchi durchzulesen gab, die noch im Manuscripte war, und erst abgedruckt werden sollte; er stellte sich darauf so verlegen, als ob er nicht wisse, wo das Manuscript hingekommen sey, aber Magliabecchi sagte es ihm vom Anfange bis zum Ende auswendig her. - Ohne Universitäten und Unterricht ging er alle Bücher durch, und besaß eine so ungeheuere Gelehrsamkeit, daß, wenn Gelehrte worüber schreiben wollten, sie an ihn sich wandten, und ihn fragten, ob er nicht Schriftsteller wüßte, in denen über diesen Punct nachzulesen wäre, und da wußte er die unbekanntesten Autoren, die daran mit einer Zeile gedacht hatten, vorzuschlagen. Solche Leute sind zwar gut, Andern an die Hand zu gehen, aber die Urtheilskraft wird unter einer
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/so ungeheuern Last erdrückt. Der große Vorrath von Kenntnissen unterdrückte bei Saunderson alles Urtheil, so daß er sich vornahm, um immer scharf nachzudenken, eine Cubikwurzel mit 12 Zahlen in Gedanken auszuziehen. Es ist ein sehr großes Glück, ein ausgebreitetes Gedächtniß zu haben, noch nöthiger ists aber, daß Urtheilskraft dabei sey, denn sonst verliert dasselbe allen Werth.
/Man sagt, die Bücher haben das Gedächtniß zu Grunde gerichtet, und man muß gestehen, daß, wenn die Menschen etwas aufzufinden wissen, sobald sie wollen, sie sich nicht angelegen seyn lassen, es zu behalten, sie verlassen sich auf ihre Bücher und Register, wo sie etwas auffinden können, ohne es im Gedächtniß zu haben. Man kann auch sogar sagen, daß die Kunst des Schreibens das Gedächtniß vermindert habe; denn wenn ich weiß, daß ich wieder etwas auffinden kann, sobald ich meine Hefte nach sehe, so gebe ich mir keine Mühe es zu behalten, und man bemerkt, daß gemeine Leute, die nicht schreiben können, eine wunderbare Gabe des Gedächtnisses haben. Wenn man Bücher lieset, in der Absicht, sie zu behalten, so hat man die Regel zu beobachten, daß, weil man doch nicht alles behalten kann, man mit Auswahl lesen, und sich schon beim Lesen vornehmen muß, Einiges zu behalten, Anderes nicht. Wenn man sich etwas recht ausdrücklich hervorsucht, und seine Aufmerksamkeit darauf vorzüglich richtet, so kann man das Ausgesuchte hernach besser behalten. - Der Vorsatz, etwas zu behalten, ist sehr lästig und schwer, wenn man in Gefahr kommen kann, es zu vergessen, z. B. einen Auftrag, ein Datum u. s. w., da ist es immer am besten, weil das Gemüth sogleich unruhig wird, und immer dem einen Gedanken nachhängt, weil man es nicht aufgeschrie-_
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/ben hat, daß man sich, um dem Kopf nicht zu sehr anzugreifen, etwas aufschreibt.
/Vergeßlichkeit ist Eines der größten Uebel, die dem Menschen begegnen können, und entspringt mehrentheils aus dem Alter. Aber gewisse Ursachen kommen dazu; z. B. sie rührt von dem Lesen der Romanen her; diese werden gelesen, ohne Absicht sie zu behalten, und veranlassen dadurch, daß wir unsere Gedanken nicht beisammen haben, sondern damit herumschweifen; denn einen Roman zu behalten, wäre die unvernünftigste Belästigung des Gedächtnisses; wer wird die Träume eines Andern behalten? Unser Gedächtniß wird daher dadurch geschwächt, und so ging es Boileau. Romane sind theils durch die leeren Wünsche von Glückseeligkeit, womit sie das menschliche Herz aufblähen, theils durch die Affecten und Nervenkrankheiten, die sie erregen, schädlich. Die Aufmerksamkeit und das Gedächtniß werden durch sie schwächer, weil sie das Gemüth in eine angenehme Zerstreuung ziehen; sie sind demnach die nachtheiligste Lectüre.
/Ein ungetreues Gedächtniß ist, wenn man nicht gewiß weiß, ob das, dessen man sich errinnert, das ist, dessen man sich zu errinnern glaubt. Die Zeugnisse der gemeinen Leute können aufrichtig gemeint seyn, aber sie sind doch oft nicht zuverlässig; denn weil sie sich nicht daran gewöhnt haben, ihre Aufmerksamkeit lange auf etwas zu richten, so verwechseln sie das, was sie selbst denken, mit dem, was sie hören, und daher ist ihnen nicht zu glauben, ob sie gleich schwören. So hat Pontoppidan Viele seiner Nachrichten, z. B. vom Seewurme, vom Kracken, von Meermenschen mit der Aussage einiger Landleute und Lootsen bestätigt; die sie beschworen haben. Aber diese Leute sind von der Art, daß, wenn sie jemanden etwas erzählen gehört haben, sie sich so vertieft haben, daß sie nicht wissen, ob sie selbst der Sache beige-_
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/wohnt, odr ob sie es von einem Andern gehört haben, oder sie berufen sich darauf, daß es jene gesehen haben, und diese Leute lügen, wegen ihres untreuen Gedächtnisses. Phlegmatische haben ein langsames, aber treues Gedächtniß. Cholerische Personen können ein fähiges, aber schwerlich ein ausgebreitetes Gedächtniß haben. Dieses letzte ist mehr den Melancholischen eigen, die mit einer langen Aufmerksamkeit einer Sache nachhängen, daher sie ein ausgebreitetes Gedächtniß haben.
/ ≥ Von dem Dichtungsvermögen. ≤
/Wir haben eine Gemüthskraft, die nicht das ehedem erkannte Vergangene wieder hervorbringt, sondern neue Vorstellungen aus dem Vorrathe derer erzeugt, die dem Gemüthe gegeben sind. Dieses schöpferische Vermögen wird auch mit dem Namen der productiven Einbildungskraft oder des Dichtungsvermögens belegt. Aber dichten ist eigentlich die absichtliche Schöpfung neuer Vorstellungen, es ist also die Handlung, wo ich mit Vorsatz durch gegebene Materialien mir neue mache. Es befindet sich jedoch in uns eine ins Unwillkührliche gehende Neigung, eine Thätigkeit, wo beständig gedacht wird, und neue Vorstellungen hervorgebracht werden, die in unserm Zustande vorher nicht waren; dies sind die Geschöpfe der Imagination; denn der Mensch dichtet unaufhörlich in der Stille, wenn er der Einsamkeit überlassen ist, und bringt neue Bilder aus den alten hervor, schaft sich immer neue Gedanken und Begebenheiten, und schwimmt in einem Romane, den er sich selbst ersinnt, und seine Einbildungskraft bildet, und der in der Welt gar keine Anwendung hat; dies geschieht sowohl im Traume als im Wachen. Dieses Dichtungsvermögen ist die Grundlage
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/aller Erfindungen, wir bringen immer auf gutes Glück neue Vorstellungen hervor; darnach muß sie der Verstand prüfen, und so umbilden, daß sie mit den Ideen der Vernunft zusammenhängen. Das Dichtungsvermögen ist die Ursache alles unsers Wohlbefindens; denn wir sind eben so vergnügt in Gedanken, als in der Sinnenwelt. Gedanken von unmöglichem Glücke, von dem wir selbst in unserer Imagination Urheber sind, unterhalten uns am meisten, so, daß die Fähigkeit des Gemüths, mit der Schöpfung idealer Welten beschäftigt zu seyn, der Quell aller Glückseeligkeit ist, wie auch aller Uebel; denn die meisten Uebel sind Erzeugnisse der Einbildung, wenn man sich die Uebel in der Aussicht zu groß vorstellt. Wir bemerken folgende Ausdrücke:
/Etwas entdecken, d. i. etwas antreffen, das schon gegeben war. Etwas erfinden, d. i. etwas zuerst zum Vorscheine bringen, das sein Daseyn uns zu verdanken hat, z. B. Amerika hat keiner erfunden, sondern entdeckt, aber das Schießpulver hat jemand erfunden; denn wenn man nur die Kenntniß einer Sache einem Menschen zu verdanken hat, so sagt man, er hat sie entdeckt; aber wenn ein Mensch einem Dinge die Existenz gegeben hat, so sagt man, er hat sie erfunden. Etwas ausfindig machen, setzt ein Suchen voraus, von einer Sache, die schon da war, die aber versteckt ist; z. B. man macht den Verfasser von einem Buche ausfindig. Etwas aussinnen bedeutet einen Handgriff finden, wodurch etwas zu Stande gebracht werden kann, z. B. die Handwerker haben von Zeit zu Zeit Werkzeuge ausgesonnen, um etwas zu Stande zu bringen. Man kann nicht sagen, sie haben sie erfunden; denn sie fanden doch nur Instrumente, die jedem bekannt waren, aber sie haben doch erst darauf fallen müssen, welches Instrument unter allen das schicklichste wäre. - Ersinnen heißt das, wenn man sagt, er
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/ist Urheber: beim Erdenken ist man Urheber von Erkenntnissen, die blos in unsern Gedanken vorhanden waren. Ein Gedicht erdenkt man, weil dieses blos in Gedanken existirt. Etwas dichten, d. i. seine Sinne willkührlich auf die Hervorbringung aus Vorstellungen richten, denn das Dichten ist nicht, ein wirkliches Object auszufinden, sondern man will nur Vorstellungen so zusammenpaaren, daß die Verbindungen originell und angenehm sind. Das Dichten hat keine entfernte Absicht, sondern ist nur ein Erzeugniß, daß die Handlung unmittelbar angenehm seyn soll.
/Je neuer eine Vorstellung ist, je mehr diese neuen Vorstellungen mannigfaltig und harmonisch verknüpft sind, desto besser ist das Gedicht. Das Dichten hat also weiter keine Absicht, als blos die Hervorbringung neuer Vorstellungen, die unsere Imagination in ein gewisses harmonisches Spiel versetzen.
/Was kann unser Gemüth für Vergnügen finden an der Ausdenkung (Ausheckung) neuer Bilder, die schon verbunden sind, und unserer Imagination ein gewisses Geschäft geben? Die Ursache ist: alles, was unsere Lebenskraft in Thätigkeit setzt, uns belustigt, und unser Gemüth in ein leichtes und freies Spiel versetzt, läßt uns unsere ganze Kraft fühlen; daher ist das Dichten unmittelbar angenehm. Das Erdichten hat die Absicht zu lügen, aber bei dem Dichten fragt man nur nach der angenehmen Zusammensetzung der Ideen.
/Wie sind Dichtkunst und Beredsamkeit mit einander verwandt, und wie unterscheiden sie sich von einander? - Bei dem Dichten hat man immer zum Hauptpuncte die Unterhaltung der Sinnlichkeit d. i. unserer Imagination und unserer Affecten; dies ist die Hauptabsicht, aber der Verstand kommt doch auch mit dazu. Die Belebung unserer Imagination ist die Hauptabsicht, und der Ver-_
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/stand ist bei der Dichtkunst ein Nebenzweck, denn er soll dem Spiele der Einbildungskraft nur Einheit geben. Das Spiel der Imagination ist der Hauptzweck, und wenn Dinge nur mit einander zusammen stimmen, ob sie gleich Unrichtigkeiten enthalten, so sind sie doch immer angenehm; die Dinge müssen sich nur nicht untereinander widersprechen, allein ob sie der Wahrheit widersprechen, darnach wird nicht gefragt.
/Die Beredsamkeit ist die Kunst, die Begriffe des Verstandes durch die Sinnlichkeit zu beleben; denn die Sinnlichkeit hat den meisten Stoff zur Belebung. Die Dichtkunst bringt Einheit in die Begriffe des Verstandes, und die Beredsamkeit sucht die Ideen des Verstandes durch Sinnlichkeit zu beleben, welche Bilder der Einbildungskraft sind, und desto lebhafter wird unsere Vorstellung; die Beredsamkeit hat also zur Absicht den Verstand zu überreden, und zu überzeugen, und die Dichtkunst strebt dahin, die Ideen des Verstandes zu beleben. Bei der Dichtkunst ist das Spiel der Sinnlichkeit die Endabsicht.
/Die schönen Künste sind Künste, welche dazu dienen, unsere Gemüthskräfte harmonisch zu beleben. Sie sind nicht blos unmittelbare Unterhaltungen, um die Langeweile zu vertreiben, sondern sie bilden das menschliche Gemüth aus, indem sie den Witz in Thätigkeit setzen, der nicht ohne Verstand Einheit haben kann. So geben sie dem Verstand genug zu schaffen, und unterhalten das menschliche Gemüth in der übereinstimmendsten Action.
/Die poetische Sprache ist bei allen Völkern vor der guten Prosa vorhergegangen. Bei den Griechen sind die besten Gedichte eher gewesen, als die schlechteste Prosa, so daß alle ihre Historie nicht anders als in Versen geschrieben ist, und als man anfing Geschichte in Prosa zu schreiben, war das schon ein großer Schritt. Daher war auch alle alte Philosophie im Versen. Pherecydes, He-_
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/raclitus und Andere, drückten zuerst philosophische Sätze in Prosa aus; denn zum philosophischen Vortrage wurden abstracte Ideen erfordert, die später gedacht wurden. So sind z. B. die Worte certitudo, impossibilitas im ganzen Cicero nicht. Die Poesie war ein sehr großer Schwung des menschlichen Genies, so fern alle Begriffe unter Bildern vorgebracht werden. Nun sollte angefangen werden, die Begriffe des Verstandes mit angemessenen Ausdrücken zu bezeichnen, da fehlte es aber an Worten, so, daß das, was Heraclitus geschrieben hatte, von Socrates nicht verstanden werden konnte, indem die Sprache sehr arm an abstracten Ideen war; daher ist zu begreifen, wie bei allen Völkern eine Art von Poesie den Anfang machte, und die Beredsamkeit später kam.
/Wir müssen Beredheit, Wohlredenheit und Beredsamkeit unterscheiden. Beredheit ist eine Lebhaftigkeit, leicht von Dingen zu sprechen, man findet sie vorzüglich bei dem Frauenzimmer; ist sie mit einer Neigung viel zu reden verbunden, so ist es die Redseeligkeit; diese ist ein Fehler, wie wohl sie in einer stummen Gesellschaft manchmal zu statten kommt. Beredsamkeit müssen wir nicht suchen, sondern Wohlredenheit; denn die Beredsamkeit gehört für die Sophisten, die eine schlechte Sache haben, und etwas durch Worte verderben wollen; ihnen kommt es nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die Menge ihrer Beweise an. An wenigsten schickt sich die Beredsamkeit für die Kanzel, denn da soll man nicht über beredet werden, sondern Gewißheit erlangen. Beredsamkeit ist die Kunst zu bereden und zu überreden, und schickt sich daher nicht für die Würde der Philosophie, und der Religion. Aber die Wohlredenheit, oder die elegante Sprachrichtigkeit ist etwas sehr schönes; die Wohlredenheit ist mehr auf den Verstand als auf die Sinnlichkeit gerichtet, und geht auf die Auszierung unserer Begriffe durch Bilder.
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/In Teutschland ist man einmal auf den Einfall gekommen, die orientalische Beredsamkeit in Gang zu bringen; aber wir können dem Himmel danken, daß wir sie los sind; denn die morgenländischen Völker hatten immer einen Bombast von Ideen, die über die Grenzen des Verstandes hinaus gingen.
/Wir Europäer sind zu einer Art von Reinigkeit im Denken gewöhnt; das zu sehr Ausgeschmückte und Aufgeputzte ist dem Character aufgeklärter europäischer Völker nicht angemessen, und die ganze Manier der abendländischen Völker ist von der Art, daß sie mehr für den Verstand, als für die Sinnlichkeit haben wollen.
/Die Sinnlichkeit muß nur in dem Grade herrschen, um den Begriffen des Verstandes Leben zu geben, aber nicht, um den Verstand zu verdunkeln, und ihn von seinem Gegenstande abzuführen.
/Musik ist ein bloßes Spiel der Empfindungen und bringt keine Begriffe hervor, sondern das dadurch bewegte Gemüth wird zu Phantasien gelockt, und die Empfindungen werden dadurch rege gemacht. Zu jeder Musik läßt sich ein Text machen, man glaubt eine Musik sey recht dazu gesetzt, aber es ist bloße Einbildung, denn geradezu bezeichnet die Musik keinen Gedanken; sie ist blos ein gewisses harmonisches Spiel von Empfindungen und das Wohlgefallen an der Verbindung der Töne beruht darauf, daß das Nervensystem dadurch harmonisch bewegt und belebt wird. Von der Seite des Geistes vergnügt also die Musik das Gemüth blos durch die Harmonie der Empfindungen. Die Mahlerei ist kein vorübergehendes Spiel der Empfindungen; denn hier werden wirklich Gegenstände vorgestellt. Die Poesie hat mehr Uebereinstimmendes mit der Musik, weil dadurch nicht so wohl der Verstand, als die Sinnlichkeit beschäftigt, und das Spiel der Empfindungen rege gemacht wird, indem die Thätigkeit des
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/Gemüths dadurch mehr in Bewegung gesetzt wird, so daß es nicht überspannt wird, aber auch nicht zu sehr erschlaft, in welchem Falle wir mehr das Leben unsers Geistes fühlen. In der Poesie ist also das Hauptwerk die Sinnlichkeit, aber indem der Dichter blos das Spiel der Empfindungen zu beleben scheint, beschäftigt er auch den Verstand; denn sonst gefällt das Gedicht nicht, der Verstand muß daher insgeheim und unvermerkt belehrt werden. Man muß zwar scheinen, blos belustigen zu wollen, aber dabei doch belehren. Eben so muß der Redner blos den Verstand zu beschäftigen scheinen, und dabei doch reitzen, rühren, und belustigen; denn wenn der Redner nur blos die Sinne zu unterhalten scheint, so entdeckt sich ein Betrug, und das, was für Beredsamkeit angesehen werden soll, wird für sophistische Kunst der Beredsamkeit, und für Blendwerk erkannt. Es muß also beim Redner nichts Geziertes, nichts Blumenreiches hervorleuchten, sonst verliert sich der Zweck der Beredsamkeit, den Verstand auf seine Seite zu ziehen. Eben so muß bei dem Dichter nicht eine kaltblütige Ausputzung der Vernunft hervor springen, sondern er muß blos die Sinnlichkeit unterhalten zu haben scheinen. Sinnlichkeit und Verstand wollen beide ausgebildet und gestärkt seyn, und wir können nichts leiden, worin nicht Verstand ist, wenn es unsere Sinne auch noch so sehr unterhält; denn, wo wir den Verstand vermissen, da ist es uns fade und unschmackhaft; wir wollen immer eine gewisse Beziehung auf unsere Zwecke haben, z. B. ein Kleid mag noch so schön gemacht seyn, wenn es nicht paßt, so sind wir doch bei der größten Nettigkeit nicht zufrieden gestellt. Auf gleiche Weise will der Verstand immer befriedigt seyn, wenn gleich die Sinnlichkeit bei der Poesie am meisten unterhalten seyn muß; sie unterhält unsere Thierheit; und der Gebrauch der obern Kräfte sagt uns, daß die
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/Thierheit in ihrer ganzen Lebhaftigkeit unterhalten werde. - Wenn der Redner den Verstand beschäftigt, so darf er nicht unterhalten; denn sonst verliehrt der Zuhörer alle Aufmerksamkeit auf die Dinge des Verstandes; durch den Verstand denken wir, und durch die Sinne schauen wir an und empfinden. Anschauen ohne Gedanken giebt keine Erkenntniß, aber Gedanken ohne Anschauung sind Betrachtungen ohne Stoff, daher muß beides vereinigt werden. Bei der Beredsamkeit suche ich den Verstand zu beschäftigen und in Arbeit zu setzen; denn alle Verstandshandlungen gehören zu den Bearbeitungen, die keine Vergnügungen bei sich führen, aber durch ihren Zweck nützlich werden, wenn gleich die Beschäftigung selbst nicht reitzt. Aber die Poesie, ob sie gleich keinen Zweck hat, ist schon selbst an sich unterhaltend. Man muß es aber bei der Beredsamkeit nicht als die Hauptabsicht hervorleuchten lassen, daß man die Sinnlichkeit nicht unterhalten will. Wenn jemand es so einrichtet, daß man nicht weiß, ob er den Verstand oder die Sinnlichkeit hat unterhalten wollen, so verdirbt er es; so wie Leute, die in der Religion weder kalt noch warm sind, und es mit keiner Parthei verderben wollen, es gemeiniglich mit allen beiden verderben. Eines von beiden muß hervorleuchten; beide können verbunden seyn, nur muß in Eines die Hauptsache gesetzt seyn. Französische Schriftsteller, vorzüglich in neueren Zeiten, sind darauf gefallen, allem einen solchen Anstrich zu geben, daß man zuletzt nicht weiß, ob sie die Einbildungskraft beschäftigen, oder die Welt belehren wollen. Ihre Prunkreden und Abschweifungen, womit sie die Einbildungskraft erhitzen, sind mehr, um einzunehmen, als um Kenntnisse beizubringen. Aber wenn man alles so untereinander mischt, daß kein Mensch weiß, was die Hauptabsicht ist, so gefällt das niemals. Wenn der Dichter eine ganze Reihe von Ge-_
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/danken mit Bildern ausschmückt, so muß das Schöne sogleich hervorleuchten, der Verstand muß aber erst hinterher kommen und der Gedanke nicht sogleich, sondern erst im Nachgeschmacke hervorscheinen. Bei der Beredsamkeit muß der Verstand ganz belehrt werden, aber die Schönheit so beigemischt seyn, daß man sie im Nachgeschmacke hat, und sieht, daß man nicht trocken belehrt sey. Der Unterschied zwischen Cicero und Demosthenes war folgender: wenn Cicero geredet hatte, so bewunderte man seine schönen Ausdrücke, und hernach ging wieder alles wie vorher; aber wenn Demosthenes geredet hatte, so sagten die Athenienser: wir müssen uns zum Kriege rüsten; sie konnten hier die Reitze nicht erkennen, die Demosthenes sorgfältig eingemischt hatte, sondern sie fühlten bloß die Ueberzeugung ihres Verstandes. Die Beredsamkeit ist eine Wirkung der rhetorischen Kunst; die Beredheit eine Art von Leichtigkeit, viel von einer Sache zu reden, die arm an Inhalt ist; dies scheint wohl bisweilen, um das Tödliche der Langeweile zu vertreiben, gut zu seyn; es ist vorzüglich dem schönen Geschlecht eigen, solche Sachen mit Annehmlichkeit vorzutragen. Wohlredenheit ist das Beste von allem, und damit können wir uns begnügen. Sie ist der Wortstyl, die Reinigkeit des Styls, die Angemessenheit, daß nicht ein sträflicher Ueberfluß von Witz und Ausdrücken herrsche, die Geschicklichkeit der Eleganz. Diese Wohlredenheit entspringt aus dem Reichthume der Ideen, und dadurch, daß man das Rauhe und Ueberflüssige vorher in seiner Sprache abschleift, sich cultivirt, und sich nach den Personen bildet, die mehr gefällige Manieren an sich haben. Die größten Wohlredner waren immer Männer von der größten Welt, und die Wohlredenheit findet sich nie bei Leuten von gemeinen Ständen; das männliche Einnehmende, und nicht ins Kindische Fallende findet man bei Männern der großen Welt. Shaftesbury und
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/Hume haben eine Schreibart wie Cicero, und eine wohl noch vortreflichere, und man vergnügt sich, wenn man sie lieset. Cicero, Demosthenes bekleideten die obersten Sellen im Staate; Beredsamkeit fordert Kenntnisse der Welt, denn sonst hat man nicht genug ausgebreitete Kenntnisse, um zu wissen, wie man die Gedanken ordnen soll, und ob sie so der menschlichen Natur gemäß sind. Gewöhnlich kommt man nur in einen kleinen Kreis von Menschen, deren Ton nicht für alle Menschen gestimmt ist. Die Manier, sich annehmlich auszudrücken, paßt nicht recht für die menschliche Natur, und sie betrift nur einen sehr kleinen Theil des menschlichen Geschlechts.
/Die Beredsamkeit oder Rhetorik ist von Wohlredenheit unterschieden. Cicero war ein Rhetor, d. i. ein Redner aus Kunst; aus allem, was er schreibt, sieht man, daß er die Leute einnehmen, und durch ihren eigenen Verstand betrügen will. Bei Demosthenes findet man dies nicht; da ist mehr Kraft und Einfalt, aber dennoch besitzt auch er eine so mächtige Kunst, die Leidenschaften zu bewegen. Man kann daher sagen, daß die große Kunst der Wohlredenheit darinn besteht, die Leidenschaften ins Spiel zu versetzen. Es ist merkwürdig, daß wir zu allen Zeiten finden, daß, wenn die Beredsamkeit am meisten blühete, der Staat im Verfall war; denn die Beredsamkeit gilt nur dann, wenn der große Haufe entschlossen ist, und man weiß, daß man durch das Volk alles ausrichten kann; da legt man es darauf an, Leute durch Blendwerke und sophistische Kunst zu hintergehen, und daß ist dann der Beweiß, daß die ächten Triebfedern im Staate zu wirken aufgehört haben, wenn Menschen schon anfangen, sich durch die Unterhaltung ihres Geschmacks hinreißen zu lassen. Zur Zeit des Cicero war der Staat schon im Verfalln. Zur Zeit des Demosthenes liefen viele Leute hin, um solche Redner zu hören, da war alles darauf angelegt, das Volk
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/zu gewinnen, und da mußte man freilich die Kunst so hoch treiben, um nach dem Geschmacke des großen Haufens zu sprechen.
/In England allein ist Beredsamkeit noch übrig, sonst ist sie nirgends mehr, und man sieht daraus, daß sie der Mensch nicht bedarf. - Advocatenkunst bedarf der Beredsamkeit; daher die Griechen in ihrem Staate an einem unheilbaren Uebel litten, daß die Sophisten aufkamen, welche Dinge behaupteten, die der innern Ueberzeugung ganz zuwider waren. Im Religionsvortrage ist die Beredsamkeit der Würde des Gegenstandes ganz zuwider, weil man da trocken und klar überzeugt seyn muß, und dann spricht schon der Gegenstand so sehr durch sich selbst, daß man da nicht Beredsamkeit anbringen darf, sonst wird der Canzelvortrag zuletzt zur leeren Unterhaltung, und man geht nur in die Kirche, weil man da seine Zeit gut zu bringen will, wenn man nichts anderes zu thun hat.
/Unsere Sprachen sind zuerst lauter Bildersprachen gewesen, und weit später hat man abstracte Begriffe erfunden. Pythagoras, Thales u. s. w. konnten ihre Ideen nicht wohl ausdrücken, weil sie nicht Wörter dafür hatten; die Schreibekunst war damals noch nicht bekannt, daher wußte man es nicht besser zu machen, als daß man alles in Verse einkleidete, weil diese besser zu behalten sind, z. B. die Bardengesänge der alten Teutschen, so, daß Gesang und Dichtkunst die ältesten Arten sind, seine Gedanken aufzubehalten. Die Mexikaner behalten ihre Geschichte durch Gemälde auf, aber Gedanken lassen sich am besten durch Denkverse behalten; denn wenn etwas in Prosa gesagt ist, so kann man leicht an die Stelle des einen Worts ein anderes setzen, allein dies geht nicht in Versen, weil da ein Wort durch das andere gefesselt ist, und sich da auch der Zusammenhang der Gedanken nicht so leicht verliert.
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/Wie kommt es, daß poetische Kunst, wenn sie grade in ihrer Vollkommenheit ist, angenehmer ist als rednerische Kunst? Die Ursache ist: alle wahrhafte Annehmlichkeit beruht auf der Sinnlichkeit. Der Verstand liefert wohl einen Gegenstand, den wir billigen, aber er vergnügt uns nicht; die poetische Kunst dagegen vergnügt die Sinnlichkeit und geht also in Ansehung der Annehmlichkeit unstreitig der Beredsamkeit vor, indem die trockene Unterhaltung des Verstandes dabei nur Nebensache ist.
/Warum müssen wir dichten, um uns durch Ideen zu belustigen? Es scheint in unserer Natur etwas zu seyn, warum uns unser Zustand nicht ganz gefällt, wir müssen daher unsere Zuflucht zur Fabel nehmen. Daher dichten wir in einsamen Stunden beständig, weil die wahren Gegenstände nicht genug Annehmlichkeiten für uns bei sich führen. Aber nicht nur dem Inhalte, sondern auch der poetischen Einkleidung nach, ist uns das Gedichtete angenehmer; die Ursache ist die Belebung unserer Einbildungskraft; daß sie einen hohen Schwung nehmen, und sich weit verbreiten kann, ist etwas, das unser Gemüth sehr stärkt, und alle Erfindungen setzen eine fruchtbare Einbildungskraft voraus; ohne diese kann auch unsere ganze Verstandesgabe nichts erfinden.
/Alles Genie hat zum Talente eine schöpferische Imagination; diese giebt uns allerlei Verbindungen von Ideen, worunter der Verstand wählen kann; dadurch also, daß wir der Imagination einen stärkern Schwung geben, finden wir, daß der Grund der Seele in Thätigkeit gesetzt und belebt wird.
/Es ist merkwürdig, daß es der Poesie besser in der Fabel gelingt, als in der Wahrheit; denn wenn die Poesie blos Natur mahlt, so will sie nicht gefallen. Brokes irdisches Vergnügen in Gott zeigt eine gute Absicht des Verfassers, und auch wohl eine reiche Imagination an,
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/aber seine ganze Versart ist schwerfällig. Haller hat bei der Beschreibung der Alpen schon mehr geleistet, doch sagen selbst die größten Bewunderer dieses Mannes, daß seine Beschreibungen nicht poetisch sind, aber die Sache ist klar und leicht zu begreifen; denn bei Beschreibungen bleibt die Poesie weit hinter der Natur zurück; wenn sie sich aber der Imagination überläßt, so steht die Natur weit hinter der Poesie in Ansehung der Erfindung zurück.
/Die Dichter müssen sich daher gar nicht damit abgeben, Dinge der Natur zu mahlen. In Lehrgedichten, z. B. vom Ursprunge des Uebels sieht man, wie doch immer poetische Ideen hinein gebracht sind. Will man aber wie Brokes eine Blume mahlen, so ist dies Kinderspiel und bleibt hinter der Natur. In der Welt der Geister giebt die Poesie vielen Stoff, so daß Milton in seinem verlorenen Paradiese Eines der herrlichsten Gedichte geliefert hat, weil man von solchen Sachen nichts weiß. Wenn man sich einen erhabenen Geist denkt, und einen andern mit einer feindseeligen Gesinnung gegen den Regierer der Welt, und gegen den obersten Beherrscher, was können da für Ideen hervorgebracht werden! Aber wenn man Dinge so schildern will, wie sie sind, da kommt die Vergleichung der Sache niemals und genugsam bei.
/Wahrheit und Verstandeserkenntniß heben sich sehr durch poetische Ausdrücke. Wahrheit in Sentenzen, in Versen hervorgebracht, übertrift bei weitem den prosaischen Ausdruck, und ein jeder bekommt Lust das auswendig zu lernen. Ein Vers hat also etwas an sich, wobei ein Gedanke gleichsam als durch ein vehiculum uns ganz durchdringt. Lukan ist herrlich in Sentenzen. Zu jeder Poesie werden zwei Stücke erfordert: Sylbenmaas und Reim. Die alten Völker hatten den Reim gar nicht, und er ist erst nachher von den nordischen Völkern als ein nothwen-_
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/diges Erforderniß angesehen worden; das Sylbenmaaß unterscheidet die Poesie von der poetischen Prosa; das Sylbenmaaß dient zum Gesange, wozu die Poesie anfänglich gedient hat. Wir können uns bei der bloßen Trommel eine Idee von der Musik machen, denn es ist doch ein Takt, wo die Zeit nach einem gewissen Schalle eingetheilt wird, und Zeit bringt bei uns eine Ordnung und ein Gleichmaaß hervor. Die Poesie durch das Sylbenmaaß ahmt die Musik nach, denn ohne Sylbenmaaß kann etwas nicht zum Gesange gebraucht werden; aber ohne Reim könnte es wohl statt finden, welcher von den nordischen Nationen herkommt; lateinische Verse aber mit Reimen sind nicht auszustehen. Die Ursache ist: die Quantität der Sylben oder die Prosodie war in den alten Sprachen bestimmter, als in den neuern; denn in den neuern können wir ein Wort kurz oder lang brauchen, wie man will; weil also hier weniger Wörter sind, deren Prosodie durch die Mundart bestimmt ist, so muß man bei uns der Prosodie auf eine andere Art zu Hülfe kommen, da durch den Sprachgebrauch bei uns die Länge oder Kürze der Sylben nicht genau bestimmt ist. Da in unserer Sprache die Poesie in wenig Worten und daher der Gesang durch das Sylbenmaaß nicht genug bestimmt ist, so muß ein anderer Schluß, nemlich der Reim, hinzukommen, so daß die Endsylbe des vorigen Worts auch die Endsylbe des folgenden wird. Der Reim, ist am besten, wenn er so beschaffen ist, daß man sich selbst wundert, wie man so natürlich ein Wort habe finden können, daß ein jeder glaubt, man könne kein besseres Wort, oder keinen andern Gedanken an die Stelle desselben setzen. Aber die Sache beruht auf einem Kunststücke; der Dichter macht nicht den letzten Reim zuletzt, sondern zuerst, und dann erfindet er in den vorhergehenden Sylben ein Wort, das sich aufs folgende reimen soll, und hat also den folgenden
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/Reim immer zuerst im Kopfe; daher kommt es, daß ein Endreim so etwas Auffallendes enthält, denn der vorige wurde darum gemacht, daß ein solcher passender Ausdruck angebracht werden konnte.
/Woher haben die Dichter licentiam poeticam in der Sprache? Es kommen oft Ausdrücke in den Gedichten vor, die in der Grammatik einer Sprache nicht erlaubt sind; die Ursache ist: da der Dichter sich einem solchen Zwange mit Sylbenmaaß und Reim unterwirft, so hat er auf der andern Seite die Vergünstigung, die Sprache in einigen Fällen wegen der Form der Versart abzuändern und man sieht ihm die Uebertretung einer oder der andern Regel nach.
/Warum ist ein mittelmäßiges Gedicht nicht auszustehen, da doch eine mittelmäßige Prosa noch wohl zu lesen ist? Die Ursache ist: wenn etwas Poesie seyn soll, und ist mittelmäßig, so sieht man nicht, wozu man Verse nöthig hat, die der Imagination nicht mehr zu schaffen geben, als die einfältigste Prosa. Ein Hochzeit-, ein Leichengedicht etc. kann man nicht ohne Ekel zu Ende lesen, und der unnatürliche Gang, den ich beim Gedichte nehme, soll durch Annehmlichkeiten vergolten werden, und wenn dieß nicht geschieht, so ist alles Unnatürliche mißfällig. Wir können es daher dem Andern nicht vergeben, der uns eine Poesie von Worten, und nicht der Wahrheit nach giebt. Man nennt solche Leute Reimschmide.
/Wie kommt es, daß die poetische Ader so undankbar ist, daß das poetische Feuer mit dem Alter aufhört, dagegen ein guter prosaischer Styl noch immer fort dauert? Es ist schwer hinter die erste Quelle der Poesie und hinter die Quelle des Veraltens in dieser zu kommen. Man kann behaupten, das Talent habe seine Laune. Alle Virtuosen haben ihre Launen; sie können ihre Geschicklichkeit nicht
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/zeigen, wenn sie wollen, sondern sie muß ihnen selbst anwandeln. Ein rechter Virtuose ist oft zum Spielen nicht zu bringen; denn er will nicht anders spielen, als wo er sich selbst gefällt; die Sängerin Garganetti ist darin erschrecklich launisch und Brydone bemerkt, daß die Feinheit der Empfindungen einer solchen Person die Ursache davon seyn müsse. So muß auch beim Poeten die Stärke des poetischen Feuers bald groß seyn, bald wieder erkalten. In allen andern Wissenschaften kann man es durch Fleiß und Anstrengen weit bringen, Poesie aber, die eine freie Bewegung des Geistes seyn soll, muß aus einem eben so bewegten Geiste entspringen.
/Woher kommt es, daß Dichter immer arm sind? Man errichtet ihnen nach dem Tode marmorne Ehrensäulen, wenn man ihnen bei ihrem Leben kein Brod gab. So setzte man Butler, dem Verfasser des Hudibras, einen Marmor 20 Jahre nach seinem Tode, da er vor Hunger im eigentlichen Verstande gestorben war. Es giebt vorübergehende Unterhaltungen des Gemüths, die gut bezahlt werden. Die Musik ist eine vorübergehende Reitzung, bei der viel genossen wird. Bei der Poesie ist dieß vorzüglich, und ein solches Product des Geistes kann einer Menge von Menschen gezeigt werden, aber die Welt will das nicht für etwas wichtiges oder der Belohnung werthes halten, nur hinterher sieht man das Verdienst des Gedichtes ein. Poesie bekommt also nie ihre rechte Belohnung. Plato sagt von seiner eingebildeten Republik, Musik müsse darin seyn, aber die Poesie verbannt er; denn er behauptet, die Harmonie veredle das menschliche Gemüth, aber die Poesie sey schädlich; denn wenn der Poet Tugend und Laster so beschreibe, schmeichle er immer den Sinnen und zeige nie die wahre Beschaffenheit der Sache, sondern nur ihren Schein, daher setze er nur den Schein für die Sache, so daß man Vergnügen an dem
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/Scheine zu finden anfange. Alle Leute also, die sich eine Leidenschaft und eine Empfindung machen, und sich deren bedienen wollen, um dadurch zum Scheine zu werden, müssen aus dem Lande gejagt werden.
/Solche erhabene Ideen haben unsere Regenten wohl nicht immer, und es liegt bei der Armuth des Dichters etwas anderes zum Grunde, was man wohl sagen kann. Man hat auch Beispiele von reichen Dichtern, z. B. Voltaire, der wohl mehr Philosoph als eigentlicher Dichter war. Bayle führt Exempel von armen Dichtern an, und das gewöhnliche Symbolum der Poeten ist laudatur et alget.
/ ≥ Von dem Traume. ≤
/Das Dichtungsvermögen wird willkürlich, aber auch unwillkürlich ausgeübt; wenn die Dichtung unwillkürlich fortgeht, so ist dieß das natürliche Spiel des Gemüths, das Spiel der Einbildung. Man bedient sich des Worts Dichten nur dann, wenn das Spiel der Einbildungen willkürlich erregt, und unsere Imagination auf Gegenstände gerichtet wird. Man dichtet unwillkürlich, und nach einem natürlichen Gesetze, wenn wir in Gedanken sind, und uns Hirngespinste bilden, die wir nicht hervorbringen, aber auch eben nicht wegweisen. Es giebt auch unwillkürliche Producte der Imagination, die man gern aus dem Gemüthe vertreiben möchte, worüber man nicht Herr ist.
/Der Schlaf ist ein Zustand des Menschen, wovon die physischen Ursachen noch verborgen sind; alle Lebenskräfte und Lebensbewegungen, das Athemhohlen etc. dauern fort, aber die willkürlichen Bewegungen und sinnlichen Empfindungen hören gänzlich auf. Bei der Schläfrigkeit
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/nimmt die Klarheit der Empfindungen allmählig ab, und wenn der Mensch schläft, so hört sie gemeiniglich auf.
/Haben Menschen wohl jemals einen ganz festen Schlaf, wo sie gar nicht träumen, oder kann kein Schlaf ohne Träume statt finden? -_
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/Der Traum ist eine Reihe von Hirngespinsten, die Gegenständen der Erfahrung ähnlich sind. Ist dieses Spiel der Imagination im Schlafe beständig, oder nennen wir das nur einen Traum, dessen wir uns im Wachen bewußt sind? Wenn wir sagen, wir haben geträumt, so ist dieß nur eine Reihe von Hirngespinsten, die mit dem, was wir im Wachen denken, nicht den geringsten Zusammenhang haben. Man kann annehmen, daß ein fester Schlaf nicht durch Gedankenlosigkeit, sondern durch den Tumult unserer Gedanken entsteht. Ein fester Schlaf ist eine Reihe sich einander verdrängender Vorstellungen, welches so geschwind geschieht, daß man beim Erwachen keinen Eindruck davon hat. Wir sagen jedoch fälschlich, wenn wir uns dieser vorübergehenden Eindrücke im Schlafe nicht erinnern können, wir haben nicht geträumt. Bei jedem Erwachen kann man, wenn man darauf acht hat, die Hirngespinste erhaschen, die man gehabt hat; denn der Mensch wird unaufhörlich in die lebhafteste Thätigkeit durch die Imagination gesetzt, und da dies jederzeit so ist, und zu unserer Natur gehört, so muß dasselbe zweckmäßig seyn. Es muß ohne Zweifel folgenden Zweck haben: beim Menschen ruhen zur Zeit des Schlafes alle Organe der willkürlichen Bewegungen; sie sind abgespannt; die Organe der Lebensbewegung verrichten zwar ihr Geschäft, aber langsam. Es muß also etwas da seyn, was die Materie des Körpers bewegt, und hier hat die Vorsehung weislich dafür gesorgt, daß unsere Einbildungskraft die Eigenschaft hat, daß sie im Schlafe weit geschäftiger
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/ist als im Wachen, daß sie sich dann in einem Gehen, Herumlaufen, Arbeiten, und in Gefahren befindet, welches dazu dienen muß, immer Eindrücke auf das Gemüth zu unterhalten, und das Nervensystem zu afficiren; denn wir finden, daß wir stets solche Träume haben, als uns zu der Zeit nöthig sind. Jungen Leuten träumt, daß sie der Alp (incubus) drücke. Dieß ist ein Druck des Bluts, das nicht durch die Lunge kommen kann; bei jedem Athemzuge dringt eine Quantität Blut durch die Lunge, und wenn dieß nicht mehr durchdringen kann, weil dessen zu viel ist, so empfinden wir ein solches Drücken.
/Man wacht in der Jugend oft bei dem Einschlafen sogleich wider auf, und glaubt, man sey ins Wasser gefallen. Die Ursache ist: der Athemzug hat ganz aufgehört, weil er beim Einschlafen immer sehr beschäftigt wird; denn kommt man in einen ängstlichen Traum, und bekommt ein Streben zu schreien, so weckt man sich selbst auf. Das Träumen muß also in uns nothwendiger Weise Ursachen haben, und Menschen träumen jederzeit, nur daß sie sich dessen nicht immer erinnern können, weil der Zusammenhang der Vorstellungen zu schleunig aufeinander folgte. Die Träume haben die Absicht, den Körper zur Zeit des Schlafs innigst zu bewegen, um die Eindrücke, die er sonst von außen beim Erwachen hat, zu ersetzen. Die bewegende Kraft der Imagination ist weit inniger, als jede mechanische Kraft. Ein Mensch, der recht frölich in der Gesellschaft gemacht ist, wird mit weit mehr Appetit essen, als der, der zwei Stunden auf einem Pferde gesessen hat. Daher lustige Bücher, worüber man herzlich lachen kann, zur Gesundheit des Körpers mehr beitragen, als alle Bewegungen des Körpers. So hat auch die Natur dafür gesorgt, uns mit allerlei mühsamen Vorstel-_
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/lungen im Schlafe zu unterhalten, die den Menschen innigst bewegen, und ohne welche er todt seyn müßte. *1
/ ≥ Von den schönen Künsten, die aus dem Dichtungsvermögen ihren Ursprung haben. ≤
Die schönen Künste sind Erzeugnisse der Einbildungskraft, so fern diese sich selbst Gegenstände nach ihrem Wohlgefallen schaft. Wir wollen sie so verknüpfen, wie sie wirklich zusammen verbunden sind. Die Poesie und Beredsamkeit beschäftigen sich mit dem Spiele von Ideen; beide bemühen sich die Begriffe und Ideen des Verstandes und das Spiel der Sinnlichkeit, so nebeneinander zu stellen, daß so wohl der Verstand als die Sinnlichkeit dabei zu thun hat. -_
/Gesang und Tanz gehören zusammen; die Musik gefällt nur, insofern sie in unserer Imagination Beziehung auf den Gesang hat, daher finden wir alle Stücke schön, die singbar sind; wir haben also gleichsam einen Hang zum Singen wie die Vögel; denn der Vogel hat nicht einen anerschaffenen Gesang, sondern er lernt ihn. Kein Thier lernt von den Eltern als der Vogel. Die junge Biene bauet ihre Zelle so gut als die alte, nur der Vogel lernt von den Eltern Singen, so daß, wenn man einen Vogel jung aus dem Neste nimmt, er nicht singen kann; er hat nur einen kleinen Organlaut; und hat er einmal einen Gesang gelernt, so lernt er keinen andern; wo aber der erste Vogel die Idee vom Singen mag her bekommen haben, läßt sich nicht sagen. Zum Schöpfer muß
/~ *1 Man sehe über das Träumen weiter hin, S. 173. δHg. ~
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/man nicht sogleich seine Zuflucht nehmen, denn das heißt aller Untersuchung den Faden abschneiden. Auf diese Art würde man auch bald mit der Entscheidung der Frage fertig seyn, wie der erste Mensch sprechen gelernt hat? Der Mensch hat den Trieb zur Musik; wie aber das Singen eine solche Wirkung auf ihn haben kann, daß er dadurch angenehm afficirt wird, kann man schwerlich mit Gewißheit sagen; am Ende läuft doch alles auf die Erhaltung der Gesundheit des Thieres hinaus; denn wenn ein Subject seine ganze Lebenskraft und sich selbst mit allen Trieben der Thätigkeit fühlt, so befindet es sich wohl. Und das Singen scheint selbst bei den Vögeln keine andere Absicht zu haben, als daß diese Thiere eine Erschütterung aller ihrer innern Organe nöthig haben, um gesund zu seyn. Die Luftgänge gehen bei ihnen bis in die Knochen, und ihre Luftröhre treibt die Luft sogar durch die Höhle des Bauchs, so daß die Luft bis ins Innerste ihrer Knochen dringt, der Gesang also ihren ganzen Bau erschüttert. - Gesang und Musik sind eine harmonische Belebung aller Organe, und dieser motus tremulus (bebende Bewegung) setzt hernach unser ganzes Nervensystem in eine ähnliche zitternde Bewegung, oder weil er harmonisch zusammenstimmt, den Menschen belebt, und gesund erhält. Die Ursache des Wohlgefallens an der Musik wird daher wohl seyn, daß wir gleichsam immer in Gedanken singen; wir sehen ja schon, daß, sobald der Wein jemand belebt, er an zu singen fängt, welches für ihn sehr gesund ist. Ein solches lermendes Vergnügen ist freilich nicht artig und bescheiden genug, aber dem, der es genißt, ist es zuträglich. Alles in der Welt, ja selbst die Kinder auf der Straße haben einen Trieb, sich hören zu lassen, allein was das sey, was da macht, daß die Menschen ihr Daseyn so gerne ausposaunen, welches sie sicherlich nicht thun würden, wenn sie
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/allein wären, lassen wir dahin gestellt seyn. In Frankreich ist das Singen in den größten Gesellschaften gewöhnlich, und das kann für die Menschen sehr gesund seyn, ob es gleich die vernünftige Unterhaltung nicht befördert. Der Gesang ist den Menschen sehr natürlich; auf den neu entdeckten Inseln, z. B. auf Neuseeland etc. fand man sie immer singend, denn der Gesang ist die natürliche Art, die Sinnlichkeit zu unterhalten, und die Musik, die sich darauf bezieht, ist eine Wirkung des Dichtungsvermögens, indem durch die Töne Empfindungen und durch diese Affekten erregt werden. Ideen aber kann die Musik nicht erwecken, und wenn man die Musik auf einen andern Text setzt, so findet man eben dasselbe, darinnen, einige wenige Töne ausgenommen, wo die Musik Affekten bezeichnet, die sonst bei den Menschen mit den Tönen verbunden zu seyn pflegen, welches aber nicht viel beträgt; denn in der Musik wird bloß das Spiel der Empfindungen bezeichnet, aber in was für einem Affect der Mensch ist, kann man an seinen Tönen selbst im Finstern errathen, z. B. ob er trotzt, bittet, zweifelt u. s. w. und das würde einen Pendant zur Pantomime abgeben können. Durch Pantomime sprechen Menschen, die sich bloß durch Mienen verständlich machen. Aber wenn der Ton der Sprache die Handlung ausmachen soll, so muß man die Handelnden in einer unbekannten Sprache im Affecte reden lassen; da sieht man, ob der Andere bittet, droht etc. Alle Empfindungen, wenn sie ihren höchsten Grad erreichen, haben einen Laut bei sich, den die Musik nicht annehmen kann, sie ist also nur ein Vermögen der schaffenden Imagination. Der Tanz ist das Spiel der Gedanken. Das Spiel ist die Veränderung der Gegenstände, wie sie aufeinander folgen. Die Gestalt enthält die Veränderung des Mannig- faltigen im Raume, aber die Veränderung des Mannigfaltigem in der Zeit ist das Spiel. - Das Spiel kann nach Regeln
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/seyn, z. B. bei Musik, daher nennt man auch die Virtuosen Spielleute, weil sie mit den Tönen spielen. Ein Schall und ein Ton sind darin unterschieden, daß der Ton ein Schall ist, wo die Zeit noch in gleicher Zahl von Erschütterungen unterschieden wird, ob ein Ton schon keinen Begriff giebt; denn der Ton betrift bloß das Spiel der Empfindungen, und jeder ist uns ganz gleichgültig, weil man bei keinem etwas denkt. Die Gestalten beim Tanze bestehen in Mienen und Gestikulationen, in Stellungen des Körpers und im Gange; wenn da alles nach gewissen Regeln taktmäßig geschieht, so bringt dies ein Spiel der Einbildungskraft hervor. Das Tanzen ist den Menschen sehr eigen. Die Grönländer und Samojeden tanzen gar nicht, aber dies verbietet ihnen ihr rauhes Clima, wo sie in armseeligen Hütten herumkriechen; es fehlt ihnen ein günstiger Himmel und große Tanzsäle.
/Das Tanzen findet man bei allen Völkern, wo eine Art von Wohlleben, Gemächlichkeit, oder ein gemäßigtes Clima ist. Die Neger tanzen, wenn sie noch so sclavisch gearbeitet haben, so heftig, als ob sie in der größten Arbeit wären, und zwar so künstlich, daß die Spanier unter ihnen viele Negermoden angenommen haben. Ihre Gestikulationen sind aber lauter Verzerrungen; denn nächst den Affen giebt es keine Thierart, die ihren Körper so verzerren kann, als die Neger. Das Spiel der Ideen befördert man also durch die Poesie und Beredsamkeit, das Spiel der Empfindungen aber durch Musik und den Tanz.
/Wir können uns Gegenstände vorstellen im Scheine, (in der Apparenz) und in der Realität; in der Apparenz, wie sie in den Sinnen erscheinen, in der Realität, wie die Gegenstände in sich selbst. Es giebt zwei schöne Künste, wo unsere schöpferische Imagination Dinge in der
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/Apparenz vorstellt, Mahlerei und Bildhauerkunst. Die Mahlerei stellt körperliche Dinge auf einer Fläche vor, welches besonders den Blindgebornen sehr wunderbar vorkommt. Es ist dieß die größte Illusion, die der Mensch machen kann, wenn seine Kunst groß genug ist, den Schein so weit zu treiben, daß man nicht allein den Schein von einem Gegenstande hervorbringen, sondern daß auch das, was auf seiner Fläche ist, körperliche Ausdehnung zu haben scheint. Bei der Bildhauerkunst wird durch körperliche Gestalten ein körperlicher Gegenstand vorgestellt. Die Bildhauerkunst setzt die Mahlerei voraus; man muß vorher zeichnen können, und die Griechen, welche so große Erzeugnisse der Bildhauerkunst hinterlassen haben, müssen auch gewiß groß in der Zeichenkunst gewesen seyn. Daher sagt Apelles: nulla dies sine linea. Einige erklären dieß so: kein Tag ohne einen Strich, welches wahrhaftig wenig genug ist, Andere sagen, er habe so subtile Linien ziehen können, daß er in der einen feinsten Linien noch eine andere habe ziehen können; aber sie bedachten nicht, daß wenn er schon die feinste gezogen hatte, er für eine noch feinere kein Auge haben konnte. Nein, Linea, bedeutet den Umriß, den Contour, wo man mit einer Linie einen ganzen Umriß macht. Apelles verlangt also, ein guter Mahler müsse an jedem Tage einen solchen Umriß machen; die alten Griechen sind also gewiß gute Zeichner gewesen, doch scheinen sie nicht Perspective gehabt zu haben, aber in der Bildhauerkunst können wir ihnen nicht gleich kommen. Die Bildhauerkunst hat Vorzüge vor der Mahlerei, daß sie schöner ist, und jeder Fehler bei ihr leichter hervorragt als bei der Mahlerei, und eine weit auffallendere Aehnlichkeit des Scheins mit der körperlichen Gestalt bei ihr ist. Sie hat aber das weniger Vortheilhafte, daß die Mahlerei eine Gegend in einem großen Um-_
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/fange darstellen kann und ein so großes Feld, als unser Auge zu übersehen vermag.
/Es ist merkwürdig, daß da die Wachsbildnerkunst die Gestalt des Menschen so ähnlich macht als es nur seyn kann, so daß sie schwerlich durch die treflichsten Versuche in der Bildhauerkunst übertroffen werden kann, sie selten oder doch weit weniger gefällt; es fällt hier das weg, daß wir einen bloßen Schein haben, hier ist nicht mehr der Schein, sondern die Sache selbst scheint da zu seyn. Eben so ist es, wenn man eine steinerne Bildsäule mit Farben anstreichen wollte; man würde darüber erschrecken, weil es zu sehr die Sache selbst ist, und wir da die Kunst, den Schein hervorzubringen, nicht genug von der Wirklichkeit unterscheiden können. Eine alte häßliche Person kann uns in der Mahlerei immer ein Vergnügen machen, wenn wir sie gleich sonst nicht ausstehen können; da uns die Nachahmung nur den Schein zeigt, so verliert sich das Vergnügen, wenn man den Schein nicht mehr bemerken kann. Daher ist es falsch, wenn Einige geglaubt haben, die marmornen Bildsäulen dadurch sehr zu verbessern, daß man auch die Pupille in den Augen sehen ließ; die Alten haben dieß nie gethan, und es würde ekelhaft seyn, der Schein muß bleiben; denn auch in der Mahlerei hält das der Mensch für recht schöne Gestalten, die nicht mit dem menschlichen Verhältnisse übereinstimmen, und sie gefallen eben darum. Den Apollo im Vatican hält man für die schönste Figur, und doch sind die Beine bei ihm weit länger als die Proportion des Menschen ist, aber eben diese Disproportion ist es, die ihn so sehr hervorragen macht, daß er eben darum ein Gott zu seyn scheint, welches die Erfindungskraft des Griechen anzeigt, der das rechte Verhältniße wohl kannte, aber es überschritt.
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/Die dichtende Kraft geht auf Hervorbringung der Dinge in der Wirklichkeit, in der Baukunst, in der Farbenkunst, d.i. in der Anordnung eines Gartens, insofern er bloß den Andern Vergnügen macht; vom Nutzen der Gärten wird hier gänzlich abgesehen. Die Gartenkunst ist nur in den neuern Zeiten durch die Engländer für eine schöne Kunst angesehn worden, welche die Kunst der Natur ähnlich zu machen gesucht haben, wo man erst durch öde Gegenden wie in den Wüsten Arabiens kommt, und dann auf einmal eine schöne Gegend sieht; dazu gehört Genie und Erfindungskraft. Es wird dazu ein ganzes Landgut von 3. englischen Meilen erfordert, daher ist es kindisch, dieß im Kleinen nachzumachen. Bei uns ist noch nicht an den guten Geschmack im Gartenwesen gedacht worden; denn nichts ist ängstlicher als zwischen zwei platt geschornen Hecken eingemauert zu seyn, weil man da keine Aussicht hat. Bei uns muß also die Sache noch bearbeitet werden.
/Wie geht es wohl zu, daß die Poesie das besondere Schicksal hat, daß sie zwar gelobt, aber nicht leicht bezahlt wird? Die Poesie kann zwar denen, die trefliche Talente haben, Lob erwerben, aber sie bringt ihnen wenig ein; wenigstens ist dieß etwas Seltenes; aber die Musik wird gut bezahlt. Was Mahlerei und Bildhauerkunst betrift, so haben diese ihren Meistern bei ihren Lebzeiten nicht immer viel eingetragen, aber nach ihrem Tode sind ihre Werke theuer genug bezahlt worden. Correggio hätte das Geld haben sollen, was nach seinem Tode für seine Werke bezahlt worden ist, und er wäre ungeheuer reich geworden. Es ist aber einmal so, daß Dinge des Geschmacks immer erst nach dem Tode des Meisters gepriesen werden. Bei der Poesie ist dieß das Unglück, daß, da sie mehr für jedermann ist, und gradezu auf die Sinne trift, das Spiel der Ideen in ihr eigentlich auf Ko-_
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/sten des Verstandes geht; denn der Dichter stellt alles so zum Vortheiln der Sinnlichkeit vor, daß der Verstand dabei wenig zu schaffen hat. Dichter dürfen nie eine Sache abhandeln, ohne sie zu übertreiben, denn sonst würden sie nicht genug auffallen, und eben darum überschreitet der Dichter immer die Wahrheit auf Kosten des Verstandes. Dies scheint die Ursache zu seyn, warum man die Poesie nie für große Wahrheit gehalten hat. Kein vernünftiger Mann wird seinen Zöglingen, die er unter Aufsicht hat, anrathen, sich die Geschicklichkeit eines Poeten zu erwerben; denn es ist immer zu glauben, daß derselbe mehr auf Hirngespinste, als auf nützliche Betrachtungen gerathen würde.
/Wir wollen noch etwas von dem Zustande der dichtenden Seele im Schlafe, oder von den Träumen reden. Es ist ein Gegenstand, der der Nachforschung wohl werth ist. - Der Mensch träumt im Schlafe beständig, und wenn jemand sagt, er habe nicht geträumt, so kommt es daher, daß die Reihe seiner Vorstellungen so in einander fließt, daß er keinen Zusammenhang hineinbringen kann; es ist bloß ein gewisser Tumult, der in unsern Gedanken vorgeht.
/Es scheint uns bisweilen im Traume, als läsen wir Verse, die uns schön vorkommen, da wir sie doch vermuthlich selbst machen, und unsere Gedanken mögen uns wohl im Traume Dinge vorstellen, so gut, als wir sie im Wachen schwerlich erdenken können. Die Ursache davon ist: im Schlafe stört uns nichts, die alten Eindrücke richtig zu widerhohlen. So wäre es möglich, sich im Traume auf einen Vers in einem Gedichte zu besinnen, auf den man sich im Wachen niemals hätte besinnen können. Wir werden also in jedem Schlafe unaufhörlich mit Träumen beschäftigt seyn, und dieß ist ein Grund zu vermuthen, daß die weise Vorsehung dies in unsere Natur gelegt
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/hat, um unsere Organe des Lebens, und alle Lebensverrichtungen in Thätigkeit zu erhalten und die peristaltischen Bewegungen der Eingeweide zu bewegen; denn daß Ideen dazu etwas beitragen, können wir an jeder Mahlzeit sehen: eine einsame Mahlzeit bekommt uns schwerlich, aber durch eine Mahlzeit mit Gesprächen, wo man in Thätigkeit ist, wird die Verdauung ungemein befördert: ohne diese Träume möchte der Mensch also in Leblosigkeit fallen.
/Kann man aus den Träumen eines Menschen schließen, daß er im Wachen eben so würde gedacht haben? In Rom hatte jemandem geträumt, daß er dem Kaiser den Kopf abgeschlagen hätte; der Kaiser ließ ihm, so bald er seinen Traum erfuhr, den Kopf abschlagen; denn sagte er, träumest du etwas, so muß du im Wachen auch solche Gedanken haben. Aber das ist ganz falsch; denn es kommen uns im Schlafe Dinge vor, wovon unsere Denkart himmelweit entfernt ist. Ob aber ein Mensch nicht versteckt eine Denkart hat, die er nicht entwickelt hat, wozu er aber doch die Anlage hat, die er vielleicht entwickelt haben würde, wenn er eine andere Erziehung gehabt hätte, kann man nicht wissen. Mancher Mensch mag also den Bösewicht im Rückhalte haben, den er selbst an sich nicht bemerkt. Die Träume mögen daher dazu da seyn, um uns die verborgenen Anlagen des Menschen zu entdecken.
/Die Launen, die der Mensch im Wachen hat, können größtentheils von den Träumen herrühren, ohne daß er Kenntniß davon hat. Der Traum hat Empfindungen, und diese hinterlassen im Gemüthe einen Hang zu ähnlichen Empfindungen, so daß der Mensch oft selbst nicht weiß, wie er zu dieser üblen Laune kommt.
/Aristoteles sagt, im Wachen haben wir eine gemeinschaftliche Welt, im Traume hat jeder seine eigene. Von ei-_
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/nem Wachenden sagt man oft, daß er träume. Dies kommt daher, daß sehr vernünftige Leute oft die Welt anders ansehen als andere Leute; denn ihre Denkkraft ist so gestellt, daß sie die Dinge ganz anders ansehen als Andere. Der Abt von St_Pierre ist wegen seiner erdichteten allgemeinen Republik berühmt, wenn er sich dachte, wie alle Völker einen eigenen Staat ausmachen. Man nennt ihn aber einen Träumer. Ein solcher Träumer war auch z. B. Rousseau, allein er denkt richtig, und sieht weiter als andere Leute. Sein Emil ist ein Entwurf, um zu erkennen, was in der menschlichen Natur für Keime liegen, um diese von dem zu unterscheiden, was dem Menschen durch die Kunst angewöhnt ist. Man hält ihn aber für einen Träumer, an den sich kein Mensch kehren muß. - So werden weise Männer, weil sie die Sache nicht mit dem großen Haufen beurtheilen, für Träumer ausgegeben.
/ ≥ Vom Phantasten. ≤
/Phantasten sind Enthusiasten oder Schwärmer. Ein Phantast nach Grundsätzen heißt ein Enthusiast; ein Phantast nach Neigungen ist ein Schwärmer. Der Enthusiasmus bedeutet einen Phantasten in der Vorstellung, wo man Ideen verwirklicht, so fern sie Grundsätze betreffen. So giebt es einen Enthusiasmus der Vaterlandsliebe, wo man aus Liebe zum Vaterland alle andere Vortheile verläugnet; sie ist gut, wenn sie nur nach Gesetzen geordnet ist, und nicht auf dem Wahne eines jeden einzelnen Bürgers beruhet. Dann kann man es ihm wohl zugeben, daß das Vaterland seinen eigenen Vortheilen vorgezogen werden kann. Aber wenn man auch diese Bedin-_
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/gung überschreitet, so kann man doch durch die Wichtigkeit dieses Grundsatzes so gerührt seyn, daß man ihn zur Wirklichkeit zu bringen sucht. Der Begriff eines Enthusiasten ist schwer zu bestimmen, aber wir dürfen uns bloß so viel davon behalten, als wir Ideen nöthig haben, welche aber bloß zum Muster dienen. Der Weise der Stoiker war eine Idee; aber wir müssen uns ein solches Muster denken, nach dem wir uns richten können. Das Muster muß ohne Fehler seyn, wenn gleich der, welcher es nachahmt, Fehler begehen wird. Wenn jedoch das Muster selbst Fehler hätte, so würde man Fehler nachmachen. Ein Mensch kann lebhafte Phantasien haben, wenn er aber ihnen als Wirklichkeiten nachläuft, so wird er ein Phantast. Eine wechselseitige Neigung in sehr hohem Grade des Vertrauens hat es wohl nie gegeben, aber die Idee davon muß man doch haben; wer aber einer solchen Freundschaft als Wirklichkeit nachhängt, so daß er seiner Familie Glück darüber aufopfert, der wird ein Phantast, aber ein edler Phantast, weil er durch die Idee des Guten so eingenommen ist, daß er nicht umhin kann, ihr Wirklichkeit zu geben. Wenn der Abt von St_Pierre seiner Idee von einer einzigen Republik aus allen Staaten in Europa mit ganzem Eifer nachgejagt hätte, so würde er ein Phantast gewesen seyn, welcher zwar viele Vernunft zum Grunde legt, nur fehlt die Vernunft in Ansehung der Ausführung. Viele Hindernisse der Ausführung aber rühren bloß daher, daß man einmal angenommen hat, dieß ließe sich nicht ausführen, ob jemand gleich zeigt, auf welche Art es ausgeführt werden kann. - Die größten Köpfe, die am Wohle der Menschen haben arbeiten wollen, sind Enthusiasten gewesen. Sie haben niemals die Schwierigkeiten erwogen, die die Menschen der Ausführung ihrer Ideen entgegen setzen würden, sind aber doch durch das sinnliche Bild ihrer Idee
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/so eingenommen gewesen, daß sie, durch daß Bild des Daseyns ihres Gegenstandes hingerissen, dasselbe zu verwirklichen suchten. Es giebt Enthusiasten der Freundschaft, des Patriotisnus, der natürlichen und der geoffenbarten Religion, u. s. w.
/In Frankreich giebt es nicht viel Enthusiasten, weil der Enthusiast keinem Hindernisse leichter weicht, als dem Gespötte. Gewalt hilft nichts gegen ihn, denn darein setzt er eben sein Verdienst, alles durchzusetzen. Frankreich ist das Land des Spottes, den er nicht lange aushalten kann. Aber in England giebt es viele Enthusiasten; da zeigen oft die größten Seelen eine Art von Waghalsigkeit, weiter zu gehen, als der Mensch, der unter den Schranken der Vernunft ist, gehen kann, ungeachtet es ihnen an dem Talente der Einsicht nicht fehlt. Die Schwärmer haben mit den Enthusiasten einige Verwandschaft. Die Schwärmerei ist die Art von Verkehrtheit und Verwechslung der Gegenstände der Einbildung, daß man das, was ein Gegenstand des Glaubens ist, für einen Gegenstand der Anschauung annimmt. Die Schwärmer glauben mit Gott in einer solchen Verbindung zu stehen, daß sie sich mit ihm unterhalten können, da doch Gott nur ein Gegenstand des Glaubens ist. Sie bilden sich ein, Gott wirklich anzuschauen. Die Fanatiker fallen auch auf den Einfluß des bösen Geistes, so daß sie mit sinnlichen Eingebungen, und mit teuflischen Versuchungen zu thun haben. Der Schwärmer kommt dem Wahnwitzigen, der Enthusiast dem Wahnsinnigen sehr nahe. Der Wahnwitz ist eine Verkehrtheit der Vernunft, und im Wahnsinne täuscht die Imagination die Sinne; man glaubt das zu sehen, was man doch niemals als einen Gegenstand der Erfahrung ansehen kann. -_
/Gemüthskrankheiten kann man in Grillenkrankheit und in Wahnsinn eintheilen. Die Grillenkrankheit ist die
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/Hypochondrie, so fern man nicht blos körperlich leidet, sondern auch Gemüthskrankheit hat. Sie unterscheidet sich von Wahnsinne dadurch, daß der Hypochondrist weiß, daß er in seinen Gedanken unrichtig ist, und wenigstens versucht, sich gewisser unangenehmen Ideen zu entschlagen. Der Wahnsinnige aber weiß es nicht, daß er so verkehrte Gedanken hat; sonst kommen beide in Ansehung des wirklichen Phantasirens gar sehr mit einander überein.
/Es ist ein Unglück, daß, wie sich alle schädlichen Säfte nach einem geschwächten Theile hinziehen, der Mensch, der einmal an der Hypochondrie leidet, alles auf seine eigene Grillen bezieht, und eine Lebensart wählt, die alle diese Grillen unterhalten kann. Der Misanthrop flieht die Gesellschaft, ob sie gleich das einzige Arzeneimittel wider sein Uebel ist; aber er weiß doch, daß sein Gemüth nicht in gehöriger Ordnung ist. Der Wahnsinnige aber beredet sich im ganzen Ernste, daß er die Dinge zu empfinden glaubt; er ist ein Träumer im Wachen, der sich während seines Traumes nicht überzeugen kann, daß er träumt und daß sein Traum keine Wahrheit enthält.
/Man sagt oft, der Mensch habe raptus (Anfälle von Wahnsinn); darunter versteht man eine vorübergehende Illusion des Wahnsinns, hinter welcher der Mensch inne wird, daß seine Ideen Grillen waren. Grillus bedeutet ein Heimchen; ein solcher Mensch hat also gleichsam schwirrende Heimchen im Kopfe. Ein Mensch hat raptus, wenn er ohne die geringste Veranlassung glaubt, etwas wahrzunehmen, und bald darauf einsieht, daß es eine bloße Grille war.
/Die Grenzscheidung zwischen der Grillenkrankheit und der Amentia d. i. dem gestörtern Gemüthe ist schwer zu bestimmen. Viele Leute scheinen närrisch, aber da sie
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/keinem zu nahe kommen, und dabei allerhand Kluges schwatzen können, so läßt man sie gehen. Es ist schwer einen Gerichtshof für das Delirium (Wahnsinn, Irrsinn) aufzufinden, wo man beweisen könnte, daß ein Mensch wirklich gestört sey. Die Ursache ist folgende: wenn jemand eine Gemüthskrankheit hat, so kann er sich selbst nicht beobachten, und ein Anderer kann es auch nicht wissen, wie es mit ihm steht. Ob das Delirium eine wechselnde Fieberkrankheit, oder ob es ununterbrochener Wahnsinn sey, kann man nicht unterscheiden. So viel scheint gewiß zu seyn, daß eine oder die andere Art der Verrückung ihren Sitz im Gehirne hat; die Grillenkrankheit aber scheint ihren Sitz in den Organen zu haben, die aber freilich mit dem Gehirne in Verbindung stehen, und im Körper liegen die Ursachen von beiden Uebeln.
/Man spricht von Leuten, die sich überstudirt haben sollen. Ein Kaufmann überhandelt sich bisweilen wohl, so daß er nichts hat und jeder Mensch kann es bei einer Art von Geschäften übertreiben; so kann jemand sich wohl den Verstand überspannen. Aber die große Zärtlichkeit der Eltern in Ansehung des Lernens gegen die Kinder taugt nichts; denn noch kein Mensch hat sich bis jetzt, so weit unsere Erfahrung und Nachforschung reicht, überstudirt. In der Säften des Menschen liegt die Eigenschaft, daß unter andern Uebeln auch der Wahnsinn erblich ist, so daß Familien viele Generationen hindurch wahnsinnig sind. Man findet jedoch durchgängig, daß das Studiren keinen Antheil daran hat. Es ist aber merkwürdig, daß man kein wahnsinniges Kind sieht, sondern zu der Zeit, wenn die Organe sich völlig entwickelt haben, zeigt sich diejenige Tollheit, die nun zu wirken anfängt, und den Kopf dahin bringt, daß er beständig studirt; so findet man Schriftsteller, die nur über Geheimnisse im Daniel speculiren, und allenthalben Geheimnisse unter-_
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/suchen. Der Mensch, bei dem diese Tollheit aufkeimt, fällt auf einen Gegenstand, welcher der falschen Richtung seines Kopfs angemessen ist; und wenn er aufs Studiren fällt, so sagt man, daß er sich toll studire, da er doch schon toll war, ehe er aufs Studiren verfiel; denn es ist wohl unmöglich, daß jemand mehr Kräfte zum Denken anwenden sollte, als er ertragen kann; denn da hört das Denken von selbst auf, aber einen verkehrten Grundsatz des Denkens kann er wohl haben.
/Man sagte ehedem vom einem Teutschen, der aus Ostindien zurück kam, er sey verrückt, und zwar deshalb, weil er die Linie passirt, und die Sonne ihm das Gehirn verbrannt habe, ob man das gleich nicht von den Holändern, Engländern u.s.w. sagt. Die Ursache ist folgende: wer den Einfall hat, nach Ostindien zu reisen, der hat schon den Keim der Narrheit in sich; daher kann er nicht klüger zurückkommen. Blödsinnigkeit, Unfähigkeit, kann wohl im Verstande liegen, aber zu einer Imagination, die alle Bilder in der Seele des Menschen hervorbringt, gehört eine besondere Art von Organeinrichtung, die jemand durch Ausschweifung und Studiren oder durch die Passirung der Linie schwerlich bekommen wird.
/Was mag das Mechanische und Körperliche seyn, das mit an dem Ursache ist, was man Störung des Gemüths nennt? Z.B. Rousseau und Swift waren vorzügliche Köpfe, und beide zeichnen sich durch Paradoxien aus. Rousseau war ein Mann von großer Laune, hatte aber auch wunderliche Grillen, und einen großen Hang zum Argwohne; er glaubte immer Ränke zu bemerken, so daß seine Phantasie sehr nahe an Wahnsinn gränzte. Swift hatte so vielen und originellen Witz, als je ein Mensch gehabt hat, und dabei sehr viel Geschmack im Ausdrucke. Als sie anatomirt wurden, fand man bei beiden Wasser im Kopfe. Rousseau'n wurden 6. Unzen abgezapft, und
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/dies war die Ursache ihres Genies, und muß die besondere Geisteshandlung hervorgebracht haben. - Swift merkte schon in seinen gesunden Tagen, daß er einen Hang zur Phantasie habe; bald darauf verlor er seinen Verstand, wurde aber nicht ein lebhafter Wahnsinniger, sondern ein blödsinniger und stummer Narr, dergleichen die Cretinen im Walliserlande sind. Merkwürdig ist, daß, so lange Swift den Verstand hatte, er mager war, aber so bald er ihn verloren hatte, er fett wurde; also könnte das Anstrengen des Kopfs dem Körper Abbruch thun. - Rousseau hatte eine eingebildete Grille, da er glaubte, alle Menschen verschwören sich gegen ihn, allein Menschen, die sagen, daß sie viele Feinde haben, sind schon Träumer; denn ein gescheiter Mann bekümmert sich nicht viel um Feindschaft, eben so wenig als um Freundschaft; indessen Privatfeinde kann man wohl haben.
/Diese Erfahrungen zeigen, daß im Gehirne die Ursache der Tollheit liegt, und körperliche Mittel sind das einzige, was man dagegen brauchen kann, aber doch weiß man noch kein Beispiel, daß ein Wahnsinniger wieder hergestellt worden sey. *1
/Die Hypochondrie kann allerdings wieder gehoben werden; sie hat ihren Sitz in den Eingeweiden, welche freilich auch mit dem Gehirne in Verbindung stehen. Wenn das Hinderniß aus den Eingeweiden weggeschaft ist, so kann das Uebel vernichtet werden. Die Unterscheidungszeichen davon sind sehr zweifelhaft, ob ein Mensch ein Hypochondrist oder Gestörter sey. Beide scheinen sich in einigen Stücken zu nähern, es ist aber doch ein wesentlicher Unter-_
/~ *1 Wie Kant diese Behauptung wagen mag, liegt wahrscheinlich in seinem Begriffe vom Wahnsinne; denn die Erfahrung spricht laut gegen ihn. D. Herausgeber. ~
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/schied unter ihnen. Bei Krankheiten, z.B. beim Fieber liegt dem Menschen schon viel daran, und er hat da schon vom Pulsschlage Kennzeichen genug, eine Krankheit von der andern zu unterscheiden. Die Krankheit der Verrückung zeigt sich bei allen Menschen auf eine oder die andere Weise, aber nicht als eine anhaltende Verkehrtheit des Denkens, und darum nennt man sie nicht verrückt. Es ist überhaupt nicht gut, die Gebrechen der Menschen nach den Graden einzutheilen: in der Moral zeigen wir, daß Laster und Tugenden nicht dem Grade nach, sondern der Art nach, von einander unterschieden sind, und sie kommen aus verschiedenen Grundsätzen her. Das teutsche Wort Verrückung zeigt an, daß die Seele aus ihrer gehörigen Stellung gerückt ist. Das ganze System der Nerven hängt im Gehirne zusammen, und da denkt man sich das, was die Aerzte wohl nur in der Idee haben, nemlich das sensorium commune, corpus callosum, die Hirnschwiele im streifigten Theile des Gehirns, wo der Sitz der Seele seyn soll. Es ist dieß der Theil des Gehirns, von dem alle Nervenstämme ausgehen. Die Verrückung, (wir nennen hier Verrückung nicht ein delirium, wenn der Mensch in der Krankheit faßelt, sondern wenn dieß ein habitueller Wahnsinn ist,) ist vielleicht eine Krankheit im sensorio communi. Bei der Hypochondrie oder Grillenkrankheit ist der Fehler in den Nerven; wenn dieß ist, so ist der Mensch nicht im Stande, die Grillen, die durch das sensorium commune entstehen, zu vertreiben. Der Hypochondrist fühlt wohl, daß sein Zustand widernatürlich ist, und sieht das Fehlerhafte darin ein, aber seine Nerven sind so afficirt, daß er sich der Gedanken daran nur mit Mühe entschlagen kann; sie kehren immer wieder. Da jedoch sein Verstand dieß einsieht, so hat er noch Freiheit und Vernunft, allein wenn die Krankheit im sensorio communi ist, so hört dieß auf; denn da ist die Quelle
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/seines eigenen Gemüthszustandes verdorben. Aber wir wollen den Menschen nicht weiter von der Seite des Körpers, sondern von jener der Seele betrachten, und sehen, ob da nicht ein Zustand ist, wodurch der Zustand eines Wahnsinnigen von der Phantasie unterschieden ist, ob also der Mensch nur seiner Denkkraft nach krank ist. Der gemeine Verstand wird von jedermann für einen bon sens oder gesunden Menschenverstand gehalten. Der Mensch, der sensum communem besitzt, hat zwar einen eingeschränkten, aber doch gesunden Verstand. Das Wort communis nimmt man in zwiefacher Bedeutung, einmal wird darunter der sensus vulgaris verstanden, der allerwärts angetroffen wird, und dann ist er dem sensorio entgegen gesetzt. Vor Alters muß der Ausdruck gewiß in einem andern Sinne genommen, er muß dem sensui proprio entgegengesetzt worden seyn. Da soll es also so viel heißen, als ein gemeinschaftlicher Verstand, der vom eigentlichen Verstand unterschieden ist. Viele Menschen sind so geartet, daß sie alle Dinge nicht aus dem Gesichtspuncte unsers eigenen Verstandes und Geschmacks beurtheilen, sondern wir setzen uns nur auf den Standpunct eines gemeinschaftlichen Verstandes und Geschmacks, und darnach beurtheilen wir die Dinge. Wenn wir etwas sagen, so muß diese Wahrheit nicht allein für uns gelten, sondern auch mit Anderer Urtheile einstimmend seyn. Jeder Mensch setzt in seine eigene Beobachtungen Zweifel und Mißtrauen, wenn er sieht, daß Anderer Beobachtungen mit den seinigen nicht übereinstimmen; denn es mischen sich oft in die Erfahrungen Phantasien ein, so daß man sie nicht reine Wahrheit nennen kann. Um zu erfahren, ob in der Wahrnehmung sich vielleicht Schein verberge, muß man die Einstimmung Anderer brauchen. Wir haben die Augen Anderer nöthig, um die unsrigen zu berichtigen. Da wir in der Erfahrung nicht mit dem sen-_
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/sus proprius zufrieden sind, sondern einen sensus communis nöthig haben, so werden wir darauf geführt, was der Zustand eines Verrückten sey, der nicht nach dem sensu communi, sondern proprio verfährt, und alles blos mit dem Standpuncte seines sensus proprii beurtheilt und so immer bunte Hirngespinste findet. Selbst das Urtheil unserer Sinne müssen wir durch das Urtheil der Sinne Anderer bewähren, hauptsächlich bedarf unser Verstandsurtheil immer eine Bewährung durch das Urtheil Anderer; denn Wahrheit ist die Uebereinstimmung mit dem allgemeinen Menschenverstande. Unser Urtheil kann viel Schein haben, doch können wir nicht immer wissen, ob unsere Gedanken mit den Gegenständen übereinstimmen; wir müssen daher den äußern Probierstein, das Urtheil Anderer, nehmen, das wir zwar in Sachen, die wir täglich gewohnt sind, nicht immer gebrauchen, aber in Sachen, die nur einigermaaßen zweifelhaft sind, nehmen wir zu dem gemeinschaftlichen Verstande unsere Zuflucht, und da haben wir immer einen großen Verdacht in unser Urtheil, wenn dasselbe mit dem gemeinschaftlichen Urtheile nicht zusammenstimmt. Daher wünschen wir gerne Leute zu haben, die unsere Meinung annehmen; denn man fühlt ein Mißtrauen gegen sich, wenn unsere Meinung mit dem Urtheile Anderer nicht zusammenstimmt, die dasselbe annehmen. Dieser innere Beruf, jedes Urtheil aus dem Gesichtspuncte der Denkart Anderer zu bestimmen, ist bei Menschen der gesunde Verstand; folglich können wir sagen: der sensus communis ist der bon sens, nemlich die Uebereinstimmung der Denkart vieler Menschen mit einander. Der sensus communis wird vom sensu proprio unterschieden, wo man sich um kein Urtheil Anderer bekümmert; der gestörte Mensch beurtheilt alles nach dem sensu proprio und kann nichts aus dem Standpuncte des sensus communis erwägen; er zieht bei andern Gegen-_
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/ständen immer nur seinen Privatsinn zu Rathe. Er sieht Dinge, die mit den Sinnen Anderer nicht übereinstimmen, worauf ein vernünftiger Mensch sogleich acht haben würde; aber er läßt sich dadurch nicht stören, und macht sich nichts daraus, wenn seine Sinne mit jenen Anderer nicht übereinstimmen; und viele sind bei ihrem Wahnsinne noch wahnwitzig. Vielleicht wäre dieß ein Merkmal zwischen Verrückung und Phantasiren, diesem bloßen Spiele der Einbildung und Grillen, die jemandem oft sogar böse Absichten und Gedanken in den Kopf bringen, z.B. den Andern zu ermorden. Zum Glück hat noch Niemand gesehen, daß Hypochondristen dies wirklich gemacht hätten. Ein solcher Mensch hat eine Furcht vor seiner vorigen Phantasie, er weiß, daß sie unrichtig ist, aber die Bilder, die in ihm unwillkürlich entspringen, sind nicht in seiner Gewalt, und er muß mehr seinen Ausdrücken, als seiner Denkart nachgeben.
/Ein Mensch, der mit sich selbst spricht, kommt in den Verdacht, nicht recht gescheit zu seyn, wie es viele heftige Menschen thun. Wenn man mit sich selbst spricht, so betrachtet man sich aus einem gewissen Gesichtspuncte, und weiß sich nicht in den Standpunct eines Dritten zu versetzen, wie man da erscheinen würde. Bei Menschen, die für sich Geberden machen, kann man sehen, was in ihrem Gemüthe vorgeht. Auch diejenigen scheinen abgeschmackte Menschen zu seyn, die für sich allein Kinderspiele spielen; aber dieß erregt doch nur eine Art von Verdacht der Verrückung; denn ein solcher Mensch betrachtet sich doch in Ansehung seiner eigenen Aufführung in den Augen Anderer; wer dieß aber nicht kann, der ist gestört.
/Unter allen Menschen scheinen diejenigen die größte Aehnlichkeit mit den Gestörten zu haben, welche von sich
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/selbst sprechen, und sich wohl gar selbst in Gesellschaften rühmen. Liebe und Hochmuth sind zwei Dinge, wo dergleichen Irrsinnige sich hervorthun wollen: man nennt dieß das delirium circa objecta das mit dem wirklichen delirio Aehnlichkeit hat.
/Ein Geck ist der, welcher in sich selbst verliebt ist, und sich also auch in den Augen Anderer für liebenswürdig hält; ein Narr der, welcher sich brüstet, und sich selbst für achtungswürdig hält, der also seinen Werth allzuhoch anschlägt. Der Geck wird ausgelacht, der Narr gehaßt und ausgelacht; denn da dieser sich über Andere erhebt, so ist das bei ihm etwas anderes als beim Gecke, der zuthunlich und schmeichelhaft ist, bei Frauenzimmern Liebesanträge macht, und von ihnen verspottet wird; allein er kann nicht gehaßt werden, denn er sucht allen Menschen gefällig zu werden. Das Wort Narr ist der Ausdruck eines Spottes, und ein solcher Mensch heißt ein Narr, weil er sich nie aus dem gemeinschaftlichen Standpuncte der Menschen betrachtet; man sieht, wie wenig es nutzt, sich die Hochachtung Anderer zu erpochen, und ohne Werth geschätzt zu werden verlangen; denn die Andern widersetzen sich einem solchen, und er hat daher Aehnlichkeit mit einem Verrückten.
/Man hat auch ein Paar Worte als gelindere Ausdrücke an der Stelle des Worts Narr, nemlich Thor und Laffe. So wie der Narr seinen eigenen Werth zu hoch anschlägt, so schätzt der Thor den Werth von Kleinigkeiten zu hoch. Von Thorheit sind alle Menschen vollgepfropft, selbst die Weisesten; denn die meisten Ergötzlichkeiten und Erzählungen laufen auf Kindereien hinaus, die ohne Werth sind. Die Menschen schlagen insgesammt den Werth von Kleinigkeiten zu hoch an und vergnügen sich dabei. Hinterher werden sie weise, wenn ihr Leben zu Ende ist, worüber schon ein alter Philosoph klagt. In der Narrheit ist
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/eine Art von Beleidigung, die man gegen Andere begeht, indem man sich brüstet, und Anderer Werth unter den seinen herunter setzt. Der Narr wird ausgelacht und verspottet, und man sieht es gern, wenn er zum Spotte wird. Sonst wird die Schadenfreude eine schlechte Gemüthsbewegung; aber die Freude über die Beschämung eines Narren findet selbst bei Menschen, die nach Grundsätzen handeln, statt, weil dieß das einzige Mittel, ihn zu bessern, und ihm etwas wieder zu vergelten, zu seyn scheint.
/Der Laffe ist der, welcher ohne Erfahrung in die Welt tritt, aber ohne Erfahrung muß man nicht auf den Schauplatz der Welt treten. Welt ist der Umgang mit Menschen, wozu Klugheit erfordert wird, allein wenn man sich erst durch Erziehung dazu vorbereiten läßt, so kann man diese Unerfahrenheit nicht mit einem so verächtlichen Namen belegen.
/Die Hypochondrie oder Grillenkrankheit hat das Unangenehme, daß sie von allen denjenigen ausgelacht wird, die nicht damit geplagt sind; bei einem solchen Menschen kann der Körper wirklich Schaden leiden, aber das fühlt er nicht so sehr, sondern sein größtes Uebel besteht in der Phantasie. Einem Andern scheint es unverzeihlich zu seyn, sich seiner Phantasie so zu überlassen, denn er weiß nicht, wie unwillkürlich bei jemandem die Einbildungen entstehen. Diese Krankheit ist Eines der martervollsten Uebel, und solche Leute haben einen großen Eigensinn. Grillen wollen sie sich gar nicht ausreden lassen, und indem sie immer am meisten an ihre Grillen denken, können sie dieselben dadurch am allerwenigsten los werden. Aerzte mögen nicht gern mit ihnen zu thun haben; denn wenn ein Hypochondrist krank wird, so verändert das Uebel alle Augenblicke seine Stelle; er giebt so genau auf sich acht, daß er durch die Achtsamkeit jede Krankheit, von welcher
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/er in einem Buche lieset, an sich findet, so daß man ihm alle medicinische Bücher und Fälle von Curen wegnehmen sollte. Seine Krankheit entsteht aus dem Gemüthe, und man kann den Körper nicht besser heilen, als dadurch, daß das Gemüth zu Hülfe kommt, und es zerstreuet wird.
/Wer mit vielen Arzeneimitteln zu einem Hypochondristen kommt, der macht das Uebel noch ärger; denn er greift die Nerven an, ob schon die ganze Krankheit nur durch die angegriffenen Nerven entstanden ist. Was aber den Wahnsinn anbetrift, dieser wird durch die Gesellschaft noch vergrößert, denn der Wahnsinnige findet da alles wider sich, er kann sich nicht nach dem Standpuncte der allgemeinen Vernunft richten, und nach dem gesellschaftlichen Urtheile das seine verbessern; er wird also durch das Urtheil Anderer beleidigt, und auf das seine nur noch mehr erpicht.
/ ≥ Von der Vorempfindung und Ahnung (Präsagition.) ≤
/Wir haben ein Vermögen des Gemüths, das in Ansehung der Zeit bestimmt ist; 1) die Sinne in Hinsicht der Dinge der gegenwärtigen Zeit, 2) das Gedächtniß in Ansehung der vergangenen Zeit, und 3) die Präsagition, die sich auf Gegenstände der zukünftigen Zeit bezieht. Die Gegenwart ist vorüberfließend, das Vergangene kann kein Interesse bei sich führen, also ist es die Zukunft, die unser ganzes Interesse enthält. Man sagt unrichtig, der Mensch vergnüge sich an der Gegenwart, ob schon etwas noch in der Zukunft ist. Einer vergnügt sich am heutigen Tage, aber an dem, was er vom heutigen Tage noch in der Zukunft hat. - Alles setzt sein Vergnügen in die entferntesten Zukunft; wir haben für die ganze Thätigkeit
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/unserer Seele keine andern Triebfedern, als die, welche Hoffnung hervorbringt. Alles Gegenwärtige interessirt nur, weil es mit dem Keime vom Künftigen geschwängert ist. Daher ist es kein Wunder, daß wir allen Thorheiten nachhängen, die uns eine Aussicht in unsern künftigen Zustand versprechen. Je mehr uns in Ansehung der Zukunft unbekannt ist, desto mehr fallen wir mit Begierde auf den geringsten Schein von zukünftigen Dingen, und überlassen uns jeder Thorheit, um nur mit einiger Scheinbarkeit Aussichten in die Zukunft zu gewinnen. Daher haben wir acht auf die Anwandelungen, die in uns entspringen, und die die Imagination in unserer Empfindung erweckt. Diese Art der Eindrücke, die von dunklen Vorstellungen der Imagination in uns erregt werden, und worin wir den Anfang des Zukünftigen zu empfinden glauben, nennt man Ahndungen. Diese sind bei einer großen Menge von Menschen ein starker Grund, etwas zu vermuthen, das ihnen bevorsteht. Sie sind dunkle Bewegungen des Gemüths, die entweder mit Bangigkeit oder mit Munterkeit begleitet sind. Weil gewöhnlich das, was uns sehr angenehm ist, wenn wir es vorher vermuthen, uns ungemein erfreuet, so bald dasselbe eintrift, so behält man dasselbe, allein wenn es nicht eintrift, so ärgert man sich, und vergißt es; daher der Glaube an Ahndungen.
/Wir befragen sogar die Träume, um aus ihnen etwas Künftiges zu erfahren. Es ist auffallend, daß hier die Vernunft der Unvernunft zueilt, daß das Auge des Menschen in die Zukunft hinüber blickt, und dieses thut, wenn er sich der Vernunft nicht bedienen kann. Wir räumen zwar der Vernunft einen großen Hang zum Leiten und Regieren ein, aber wir glauben doch, daß wir in Ansehung des Verborgenen nicht so weit sehen können, als unsere Imagination; daher scheinen uns die Träume, eben weil sie so unsinnig sind, viel Weisheit zu enthalten. -_
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/Artemidorus reiste in Griechenland bei allen alten Weibern herum, um sie wegen der Träume und deren Erfüllung zu befragen. Aber es ist wohl nichts Leereres, als Träume unter Regel bringen zu wollen. Die Ursache, warum man auf Träume hält, muß wohl darin liegen, daß die Träume, so lange sie dauern, etwas Täuschendes haben, so daß man nicht weiß, ob sie wahr sind.
/Alle Traumauslegungen deuten immer auf das Gegentheil von den Träumen; wer träumt, daß er gefangen sey, der soll, sagt man, zu großen Ehren gelangen, aber das ist unbegreiflich und ungereimt; es steckt aber im Traume etwas, das den Philosophen wohl beschäftigen kann, nicht Bedeutungen, sondern mehrere Erscheinungen daraus zu erklären, und auf diese Art können Träume manchmal wohl etwas bedeuten. Die Träume scheinen zur Absicht zu haben, alle Organe zur Zeit des Schlafs in Thätigkeit zu erhalten, und der Vitalempfindung zu Hülfe zu kommen. Zur Nachtzeit wird die Galle vorzüglich abgesondert; wenn nun bisweilen etwas davon ins Blut kommt, so enthält der Traum Aergerniß und Zorn, welche der Reitz der Galle erregt; wenn der Mensch aufsteht, so sitzt ihm der Kopf nicht recht, die Stimmung des Körpers hat hier der Traum gemacht, und macht auch die Folge des Traumes. In andern Fällen aber kann man aus den Träumen keinen Zusammenhang mit dem herausbringen, was geschieht, und wir müssen keinen anderen Grundsatz der Erklärung annehmen, als den, bei welchem man nach allgemeinen Gesetzen verfahren kann.
/Wir gehen weiter und befragen die Sterne. - Die Astrologia judiciaria (Sterndeuterei) war vor Alters eine Kunst, die mit Wahrsagungen zu thun hatte. Diese Astrologi sind im römischen Gesetze unter dem Namen der Mathematiker zu verstehen. In spätern Zeiten haben sich viele Astrologen damit beschäftigt, aus dem Stande der
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/Sterne bei der Geburt eines Menschen seinen Charakter und seine Schicksale zu bestimmen; dieß nannte man das Nativitätstellen. 9 mal 7. waren im Oriente heilige Zahlen, weil diese mit den Sternen etwas zu thun haben, und weil 7 und 9. bei der Berechnung der Sterne gebraucht wird. In Persien werden die Astrologen so hoch geschätzt, daß man fast nichts mehr ohne einen Sterndeuter vornimmt; denn er muß sagen, ob eine gute Stunde sey. Wenn der Kranke einen Arzt kommen läßt, so hat dieser auch einen Astrologen bei sich. Und wenn nun der Kranke stirbt, so schiebt der Arzt die Schuld davo auf den Andern. Diese Astrologen sind dort die Spionen des Hofs, weil sie zu den Geheimnissen aller Leute zu gelassen werden.
/Eben so wenig ist von den Wahrsagungen über die Schicksale der Menschen aus den Zügen des Gesichts und der Hand zu halten, und doch wollte man ehedem das Lebensalter und das Loos der Menschen daraus erklären. Ziegeuner und Wahrsager, die Dümmsten und Unverschämtesten unter allen Menschen, geben sich damit ab. Bei den Griechen und Römern war das Fressen der heiligen Hühner, der Flug der Vögel, und die Eingeweide der Opferthiere, ein Grund der Vorausbestimmung des Künftigen, und man muß sich wundern, daß nur Wenige von den einsichtsvollen Römern davon frei waren. Selbst Tacitus redet vom Augurio, da er von Jugend auf in solcher Meinung gelehrt, und an sie gewöhnt war.
/Man unterscheidet wahrsagen, und weissagen. Wahrsagen geht auf Personen und Lebensumstände; weissagen auf Begebenheiten ganzer Völker. - Wahrsagung heißt auch mantica, Weissagung, praesagium, und hat in Ansehung ganzer Völker Wirkung gethan.
/Zu den Weissagungen rechneten die Alten den Zustand der Dichter; daher nannte man sie Vates, und sie glaub-_
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/ten, es gehöre ein furor poeticus dazu, um in die Zukunft hinüber zu schauen; denn da der Dichter von Zeit zu Zeit durch seine Laune zum Dichten bewegt wird, dazu aber ein Anderer nicht kommen kann, so entstand der Glaube, daß ihn ein Dämon bewege; daher hat man in der Poesie der alten Dichter Prophezeihungen gesucht, gleichsam als ob ein Enthusiasmus Weissagung wäre; daher wurden ihre Dichter vom Gott Apollo begeistert, und die Pythia, die vornehmste Vates, saß über einer Höle, von da, wie man glaubte, der Dampf der Begeisterung aufstiege. Aber zur Zeit des Demosthenes glaubte man dieß nicht mehr so fest, denn man sagte: die Pythia philippisire, i. e. rede dem Philippus, König von Macedonien, zum Vortheile.
/Die Türken halten alle tollen Leute für Heilige. Sie sagen, die Seelen solcher Leute wären längst bei Gott, und ihr Körper sey nur noch da, so daß Menschen, die sonst für wahnsinnig gehalten werden, bei den Türken gut fortkommen. Zu den Zeiten der Alten gab es Leute, die man prophetas nannte; diese weissagten nicht selbst, sondern legten die unsinnigen Reden der $mantis$, $phatis$, aus, welche einen verwirrten Kopf hatten, und unsinniges Zeug sprachen. Diejenigen hießen also Propheten, welche die Bedeutung dieser Reden auslegten, und daraus etwas von der Zukunft vorherzusagen wußten.
/Was ist die Absicht der Natur mit dem in uns gelegten Vermögen, etwas aus der Zukunft vorherzusagen? Aus dem Zusammenhange der Ursachen mit den Folgen folgt, daß wir etwas von der Zukunft einige Zeit vorhersagen können. In der Astronomie ist dies Vermögen das größte, aber auch in den Naturwissenschaften reicht es schon weit; selbst bei einem Staate kann man sehen, was für Folgen ein veränderter Grundsatz der Regierung nach sich ziehen wird. Von Rom konnte man ohne Wahrsagergeist
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/sagen, daß, wenn sich das Volk über den Gehorsam gegen die Patrizier wegsetzen werde, ein bürgerlicher Krieg entstehe. Dieses Wahrsagungsvermögens bedient sich der Mensch, lieber, als anderer Vermögen, um desto eher, je mehr die Schranken seiner Einsicht begrenzt sind. Der gemeine Mann fragt bei jeder Erscheinung: was mag das wohl bedeuten? Er will immer die Folgen in der Zukunft daraus wissen. Der Gelehrte fragt: was mag wohl die Ursache davon seyn? Die Absicht der Natur mit diesem Wahrsagungsvermögen ist ohne Zweifel, daß wir es in Ansehung des Künftigen brauchen sollen, dessen natürliche Veränderung in unserer Gewalt ist. Die Natur hat uns kein Vermögen ohne Absicht gegeben, sondern jedes hat einen zweckmäßigen Gebrauch; das Uebrige, was man dazu thut, ist bloß eine Verwahrlosung eines solchen Vermögens. Wir haben Voraussicht nöthig, um uns vor Uebeln zu hüten. - Aber in Ansehung der Dinge, die nicht in unserer Gewalt sind, hat uns die Natur kein Vermögen gegeben; da wir den Tod nicht vermeiden können, so ist von der Natur nicht vorher bestimmt, daß wir ihn wissen können. Bei den freien Handlungen der Menschen ist es auch nicht gut, sie vorher zu wissen, weil viele sonst nicht geschehen würden. Diese Vorhersagungskunst gehört bloß zum practischen und nützlichen Gebrauche aller Vermögen.
/Wir haben zwei Wörter, welche die Voraussehung in die Zukunft entbehrlich machen: Glück und Schicksal sollen den Menschen in Ansehung der Zukunft ganz sorglos machen. Indessen will man gern dieses Schicksal vorhersehen, ob die Astrologie nicht vielleicht wissen könnte, ob unser Schicksal im Sternenbuche aufgezeichnet sey. Aber was hilft es, das Schicksal vorher zu wissen, welchem man nicht mehr entgehen kann? Indessen ist man doch immer erpicht darauf. Glück nennt man
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/das, wenn man sich eine Begebenheit vorstellt, wie sie sich nicht nach einer Bestimmung von Regeln, sondern nach einem bloßen Zufalle ereignet.
/Wenn man das Glück verpersönlicht, als ob es ein besonderer Grund des Weltlaufs sey, so geschieht dies vorzüglich bei Geschäften, die vom Glücke abhängen. Fischer, Jäger und Andere haben den Aberglauben, daß eine geheime Macht die Ereignisse der Dinge leite, und finden allenthalben unbekannte Ursachen. Spieler sind sehr abergläubisch; denn da bei dem Spiele nicht alles auf ihre Geschicklichkeit ankommt, so fallen sie in Aberglauben von glücklichen Tagen, fatalen Menschen u.s.w. Die Wahrsagung der Zukunft aber ist uns nur gegeben, um unsere Klugheit zu gebrauchen, und uns der Kenntniß des Zukünftigen zu unserm Vortheile zu bedienen. Hierauf gründet sich die moralische Regel, daß man nicht sorglos seyn, und daß man für die Zukunft sorgen soll. Die Vorsorge ist die Achtsamkeit, indem ich für das Künftige sorge, was in meiner Gewalt steht. Das Sorgen hingegen ist der Kummer über Dinge, die nicht in meiner Gewalt sind. Sorgenfrei ist der, der sich nicht mit unnöthigem Kummer über die Dinge plagt, die nicht in seiner Gewalt sind. Sorglos ist der, welcher keine Achtsamkeit auf das wendet, was allerdings in seiner Gewalt steht. Die Sorglosigkeit ist das Glück der rohen Menschen, und sie mögen es wirklich besser haben, als die, welche auf die Zukunft Vorbereitungen treffen, die noch ungewiß ist, und sich also das Leben sauer machen, weil sie künftige Plagen in den gegenwärtigen Genuß mischen. Daher ist es eine Hauptmaxime: man muß im Leben nichts Großes erwarten weder in Ansehung des Glücks noch des Unglücks. An beide gewöhnt sich der Mensch so, daß ihm mit der Zeit das Uebel gewohnt, und das Glück unschmackhaft wird.
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/Es ist daher ein Beruf der Natur, sich von der Todesfurcht in der Zukunft frei zu machen, und auch von der Leidenschaft, in die Zukunft zu hoffen; denn die Sehnsucht dehnt das Herz mit vergeblichen Wünschen aus, und schwächt den Menschen. Man kann sowohl der Furcht, als der Hoffnung entsagen. Der Arzt dient dazu, den Patienten zum Poltron zu machen: wilde und gemeine Leute sterben gelassen, indem sich ihre Lebenskräfte allmählig vermindern, aber Personen, denen der Arzt erst Hoffnung macht, und wenn dann die Hoffnung umschlägt, gerathen in Kummer, weil sie sich plötzlich an eine andere Denkart gewöhnen sollen; wenn der Mensch schon hoffte, er werde mit dem Leben davon kommen, und ihm hernach gesagt wird, daß er nicht gesund werden kann, so kann er schwerlich Muth fassen.
/Indessen müssen wir die Vorsorge der Natur sehr bewundern, welche die Täuschung verursacht hat, daß wir uns so leicht mit der Hoffnung eines entfernten Todes beruhigen. Der Tod scheint den Alten so entfernt zu seyn als den Jungen. Durch dieses Mittel wird der Tod, vor welchem der Mensch so viel Furcht hat, erleichtert. Dies würde nicht so seyn, wenn wir den Tag des Todes vorher wüßten; nun aber suchen wir in unserer Phantasie den Termin zu verlängern.
/ ≥ Von den Zeichen. ≤
/Wir bedienen uns der Imagination und ihres Gesetzes der Vergesellschaftung auf dreifache Weise: durch Erinnern, durch Vorhersagen, und durch Bezeichnen. Von dem Gedächtnisse und der Vorhersagung haben wir
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/schon gesprochen, wir kommen nun auf das Bezeichnen, indem wir von dem charakteristischen Vermögen des Gebrauchs der Zeichen handeln. Wir sehen unsere Imagination verknüpft mit Vorstellungen, so daß unsere Vorstellungen sich untereinander vergesellschaften, und indem wir sie vielfach verknüpft haben, dient die Eine zur Hervorbringung der Andern. Hierzu dienen die Zeichen, welche das Daseyn der Dinge zu bezeichnen da sind, entweder demonstratio, wenn sie Zeichen des wirklichen Daseyns der Dinge in der gegenwärtigen Zeit sind, rememoratio, *1 wenn sie das Daseyn der Dinge in der vergangenen Zeit anzeigen, oder prognostica, welches Zeichen der Dinge in der zukünftigen Zeit sind. Es giebt aber auch Zeichen, die Begriffe bezeichnen. Diese Zeichen sind stellvertretende, characteres vicarii, dergleichen die Zahlenzeichen sind. Die Ziffern vertreten bei mir die Stelle des Begriffs, so daß ich mit ihnen verfahre, als ob ich den Begriff von der Größe hätte. Während ich mit den Zeichen verfahre, denke ich mir nicht so viel, als beim blosen Begriffe, aber der Erfolg giebt mir den ganzen Gedanken oder das begleitende Zeichen; dies sind unsere Wörter, die ich nicht an die Stelle des Begriffs setzen kann. Auf diese Art begleiten die Wörter die Begriffe, so, daß ich, wenn ich ein Wort davon habe, ich auch den Begriff davon erhalte. Wen man etwas in einer unbekannten Sprache lieset, so wird man es eher in eine bekannte als in eine fremde übersetzen können. Man kann ein Buch in fremder Sprache bald verstehen, und sagen, was es in unserer Muttersprache heißt. Aber wir werden nicht so leicht aus unserer Muttersprache etwas in eine fremde übersetzen können; denn weil das
/~ *1 heißt eigentlich die Wiedererzählung. δHg. ~
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/Wort an sich nichts bedeutet, sondern nur ein willkürlicher Schall ist, so kann es nicht mit etwas anderm verknüpft werden, als mit dem Begriffe der Sache. Da ich aber, wenn ich die Sache habe, mich nicht so leicht auf ein fremdes Wort besinnen kann, weil mit einer Sache 100 Wörter hätten verbunden werden können, so kann ich zwar in meiner Muttersprache die Wörter zu den Sachen leicht finden, aber nicht so leicht in eine fremde Sprache übersetzen; denn da soll ich sogleich von der Sache auf ein anderes Wort kommen, und dies ist schwer. Das fremde Wort, das ein gewisses willkürliches Zeichen ist, ist mit dem Begriffe der Sache nicht so genau verbunden, als die Sache mit dem Worte, woran ich mich in meiner Muttersprache gewöhnt habe; der Schall des Worts hat mit dem Begriffe einen schweren Zusammenhang, und darum kann ich in einer fremden Sprache nicht so leicht ein Wort dafür finden. Wörter sind bloß begleitende Zeichen, und vertreten nicht die Stelle eines Begriffs, welches letztere algebraische Zeichen und Figuren in der Mathematik thun. Man bedient sich bisweilen besonderer Zeichen, die mit der Sache gar keine Aehnlichkeit haben, z.B. wenn man in der Mechanik das Gesetz des Falls der Schwere der Körper beweisen will, so bezeichnet man die Zeit durch eine Linie, und die Geschwindigkeit des Falls durch eine andere, und dann macht man den Triangel vollständig, welches der Raum seyn soll, den ein Körper im Fallen beschreibt, ob schon ein Körper mit dem Raum, den ein Triangel beschreibt, nicht die geringste Aehnlichkeit hat. Aber dennoch ist er hier ein neues gleichfalls stellvertretendes Zeichen, und die Algebra ist überhaupt darin vortreflich; die begleitenden Zeichen sind gemeiniglich ganz willkürlich, sie sind signa illustrantia, wenn sie ein Mittel seyn sollen, die Sache besser zu verstehen, und müssen jederzeit mit der Sache in einer Aehnlichkeit stehen. Ehedem
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/wurden sie symbola genannt, dergleichen man bei den Aegyptern fand. Die wahre Ursache derselben scheint der uranfängliche Mangel der Sprache zu seyn; sie hatten keine Sprachzeichen, daher fehlte es ihnen auch an abstrakten Begriffen, und sie mußten andere Dinge, die ihnen durch entfernte Aehnlichkeiten zu Begriffen verhelfen konnten, dazu gebrauchen. So war z.B. der Gott Anubis mit dem Hundskopfe eine Abbildung der Wachsamkeit; eine in sich ringelnde Schlange ein Bild des Jahres. Die Schrift der Chinesen bestand anfänglich in bloßen Symbolen, wie dies aus vielen ihrer Charaktere erhellt. Die Sprachzeichen sind überhaupt etwas Merkwürdiges, und es ist eine wichtige Frage, wie wohl die erste Buchstabenschrift erfunden seyn mag? Die chinesische Schrift ist, wie Einige behaupten, eine Sachenschrift, weil sie die Sachen immer unmittelbar bezeichnet. Daher wird auch ihre Schrift von ihren Nachbarn gebraucht, die kein Wort chinesisch verstehen. - Aber die Chinesen haben auch so ungeheuer viele Zeichen, daß das allerwenigste, was der Mensch zum Handel und Wandel braucht, 8000 Zeichen sind, und die, welche Gelehrte werden, welche lesen und schreiben lernen wollen, studiren sich wegen aller Zeichen oft ganz schwachköpfig. Dies sind ächte litterati nach der eigentlichen Bedeutung des Worts. Ihre Schrift ist keine Buchstabenschrift, sondern besteht aus vielen Charakteren, aber der, welcher zuerst die Erfindung machte, Wörter zu schreiben, war gewiß ein sinnreicher Kopf.
/Die Beobachtung, die er zuerst gemacht haben muß, daß die ganze Sprache in wenige Töne sich auflößen läßt, ist gewiß eine sehr feine und scharfsinnige Bemerkung. Und wie machte er es nun, um die Töne zu bezeichnen? - Eine Sprache, die nur 24 Buchstaben hat, ist in der That arm. Die Franzosen haben viel Nasen-_
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/töne, die wir nicht haben, z.B. comment: ferner giebt es Gutturaltöne; und es wäre etwas anmuthiges, alle Buchstaben, soviel man in allen Sprachen antrifft, zu sammeln, um dadurch ein vollständiges Alphabet zu machen. Man findet bei sehr vielen Völkern, daß die Buchstabenschrift sehr spät erfunden seyn muß. Der Mann, der sich z.B. das B dachte, und es sich &¿& schrieb, hatte, wenn er 24. Buchstaben hatte gar nichts, wodurch er den Einen von dem Andern der Bedeutung nach unterschied. Er mußte sich wohl so helfen: er dachte sich &¿& und mahlte sich also ein Haus oder eine Hütte, die bei den Phöniziern die Gestalt &¿& hatte. &¿& bedeutet einen Ochsenkopf; denn die Phönizier nannten bei ihren Buchstaben immer das Vornehmste, und der Rindskopf war das Zeichen der obersten Gewalt. &¿& (Ain) bedeutet ein Auge und wenn man die Figur liegend betrachtet &¿&, so ist es, als sähe man den Winkel des Auges. Ihre Buchstaben bedeuteten daher anfänglich eine Abbildung eines Gegenstandes. Wer also zuerst eine Sprache erfand, der half sich damit, daß er seine Charaktere von Gemälden hernahm, und so sind durch ein Alphabet durch zufällige Abänderungen mit der Zeit mehrere Alphabete entstanden.
/Alle diese Zeichen können eingetheilt werden in natürliche und künstliche. Natürliche Zeichen sind die, wozu uns unsere Natur auffordert. Jeder Laut, der einen Affect ausdrückt, jede starke Empfindung hat ihre besonderen Zeichen. Röthe und Blässe bedeuten Beschämung oder Zorn. Geberden sind natürliche Zeichen, und wohl unserer Willkühr unterworfen, aber die Natur hat doch ausdrückliche Geberden bestimmt, die mit einer Empfindung zusammenhängen; durch Geberden können sich fremde Völker verständlich machen, und so auch durch den
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/Laut ihrer Töne, wiewohl in einem unvollkommnern Grad als durch Wörter.
/Die Zeichen, die das Daseyn der Dinge in der Zeit bezeichnen, sind demonstrativ, rememorativ und prognostisch. Ein demonstratives Zeichen ist bei dem Arzte der Pulsschlag, und ein Zeichen der Gegenwart der Sache. Er urtheilt nach demselben, ob das Fieber da ist oder nicht. So beurtheilt man aus der Kleidung Rang und Stand eines Menschen, aus den Orden das Verdienst eines Menschen.
/Rememorative Zeichen sind solche, die das Daseyn einer Sache in der vergangenen Zeit bezeichnen, dergleichen sind alle Aufschriften. Ueberhaupt haben alle Menschen gern ihr Andenken auf die zukünftige Zeiten fortpflanzen wollen; allein dergleichen Denkmäler verlieren mit der Zeit ihre Bedeutung, weil man die Sprache, in welcher sie abgefaßt sind, oft nicht kennt oder von dem Manne nichts weiß, von dem sie handeln. Auch die Natur hat uns rememorative Zeichen hinterlassen. Die Erdschichten enthalten Zeichen des ehemaligen Zustandes der Erde in sich. Wir finden Muschelschichten in großen Kalkgebirgen; im Harzgebirge Gerippe von dem Rhinoceros und dem Hippotamos: dies zeigt von dem alten Zustande der Welt; denn diese Thiere müssen sich dort ehemals aufgehalten haben, oder sie müssen hingeschwemmt worden seyn. Das Studium das Alterthumes oder der Archäologie gründet sich blos darauf; es geht darauf hinaus, aus der Kunst der Alten in Sculpturen und aus ihren Münzen die Geschichte und Geschicklichkeit der Alten und selbst ihre Religion kennen zu lernen. Es ist dies eine Art von neuer Unterweisung, die, seitdem Winkelmann in Rom war, in Schwung gekommen ist. Man untersucht darin unter andern, was die Gemmen der Alten wohl bedeuten mögen. Menschen wollen immer
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/gern ihr Andenken auf die künftige Zeit erhalten, dazu dienen sogar die Grabeshügel. In Teutschland giebt es in den Wäldern Steinhaufen, welche Oerter sind, wo man Menschen ermordet hat, und wo ein jeder immer einen Stein hinzu wirft, welches sich von den Zeiten des Kolben- und Faustrechts herschreiben muß.
/Prognostische Zeichen sind viele Naturdinge, allein wir suchen auch viele da auf, wo uns die Natur keine hat geben wollen. So wollen wir z.B. aus den gegenwärtigen Aspecten des Mondes die künftige Witterung errathen, weil dies dem Seefahrer nützlich ist. Jedoch hat dies bis jetzt Niemandem in diesem Stücke gelingen wollen; denn wir haben kein anderes Gesetz als aus der Veränderung der Luft zu schließen; aber dabei wirken noch so viele andere Ursachen zusammen, daß wir unmöglich auf alle Rücksicht nehmen können. Daß sich die Witterung nicht nach dem Monde richtet, ist ausgemacht. Die Aerzte bedürfen viele prognostische Zeichen, und deshalb giebt es eine besondre Wissenschaft davon. Die facies Hypocratica, ein Gesicht, worin Zeichen des Todes sind, bei denen der Patient sagt, daß er sich sehr wohl befinde, ist ein Zeichen des nahen Todes. Es giebt Zeichen, die man Symbola nennt; diese sollen Eigenschaften der Dinge bedeuten. Mit diesen Symbolen ist in der Welt immer viel Unfug getrieben worden, und die Menschen haben sich dadurch vielen Verirrungen ausgesetzt. Die Vielgötterei ist hauptsächlich ein Mißverständniß der Symbole; denn manche Symbole sind so unbedeutend, daß es nicht zu begreifen ist, wie sie von so wichtigen Dingen haben Abbildung seyn können, z. B. magna mater Deorum war ein schwarzer Stein. Eben so muß es bei den Arabern mit ihrem schwarzen Steine in der Kaba gewesen seyn; denn der menschliche Verstand verirrt sich leicht und macht das Symbolum zur Sache. Eine
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/Sache, die anfänglich zum Symbole dient, ist hernach für die Sache selbst angenommen worden. Heilig ist doch am Ende nichts anders, als der gereinigte Wille, alles andere ist im Grunde ein Symbol, das dazu dienen soll, den Willen der Menschen zu heiligen.
/Wir finden, daß unter den rohesten Wilden ein Gebrauch der Symbole ist, welche nicht anders als Abbildungen des höchsten Wesens seyn sollen. Das Manitu der Wilden ist eine abgezogene Haut von einer Wiesel, oder von einem Vogel. Dies hat bei ihnen eine große Heiligkeit. Man will damit sagen, es sey dies ein Geist, der den Einfluß der Gottheit andeute, und dies dient ihnen zum Talisman und Amulet. Diese beiden Stücke sind abergläubische Zeichen vieler Völker, die einen unmittelbaren Einfluß der Gottheit auf die Menschen beweisen sollen. Jeder hat seine besondere Zeichen umgehangen, die ihnen zu Mitteln dienen sollen, den Einfluß der Gottheit auf sich zu ziehen. Das Amulet ist gemeiniglich ein Mittel wider Gift und Krankheiten, der Talisman ein Mittel zum Glücke; die Talismane des Arabers sind Verse aus dem Korane, wo man sich dergleichen Verse kauft und in den Turban steckt. Wenn wir die Gebräuche der Völker durchgehen, so finden wir, daß es anfänglich gute symbola waren, wovon aber der Mensch die sittlich guten Begriffe fahren ließ, und auf Hirngespinste verfiel. Es giebt Mittel, durch die Stelle blos etwas zu bezeichnen d. h. memoria localis. Dies Mittel ist vorzüglich in Büchern gut zu gebrauchen; allein den synchronismus in der Geschichte zu befördern, hat man bis jetzt keine Mittel finden können, um jedem Dinge seine Stelle in der Zeit anzuweisen. Ein solcher synchronistischer Character, wornach man eine Begebenheit in der Zeit bestimmen könnte, wäre sehr zu wünschen. Man braucht dazu gewisse Hauptepochen der Dinge, aber da die Natur
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/den Weltlauf nicht nach den Zahlen eingerichtet hat, so kann da nichts regelmäßiges herauskommen.
/Das, was zuerst ein Zeichen der Sache war, wird zuletzt für die Sache selbst genommen. Die Bezeichnung hängt bei den Menschen so mit der Sache zusammen, daß sie die Sache von den Zeichen nicht mehr trennen können. Daß wir Dutzend und Schocke haben, sind Zahlabschnitte, die das Zählen erleichtern. Die Zahl 144. nennt der Engländer ein Gros, d.i. 12. Dutzend. Dutzend ist die Bezeichnung einer Menge, die dadurch leichter unter eine Einheit gebracht werden kann. Diese Begriffe von Dutzenden aber können uns so verwirren, daß eine Sache, die kein Dutzend ist, uns weniger Werth zu haben scheint. Wer z.B. 11. Paar Tassen kauft, der wird immer glauben, ihm fehle etwas, da er doch für 11. Gäste nicht mehr braucht. Es interessirt jemanden mehr, wenn man eine Sache nach Dutzenden zählen kann, ob dieß schon eine bloße Gewohnheit ist, die Menge nach einem Maastabe zu schätzen: dies geht so weit, daß wenn man z.B. einem Arzte 11. Ducaten schickt, er glaubte der Bediente habe einen behalten. - Es heißt in China, daß der chinesische Kaiser 9999 Schiffe habe, und da fragt man gleich, warum hat er nicht eines mehr? Wir können uns gar nicht befriedigen, daß das Eine noch fehlt, da es doch nicht nöthig ist, da er nicht mehr braucht.
/Das menschliche Gemüth hängt einer Gewohnheit nach, daß das, was anfänglich ein willkürliches Zeichen war, zuletzt mit der Sache so verwebt wird, daß man glaubt, die Sache könne ohne dies nicht vollständig seyn. Sonst gab man nicht leicht zu, daß dreizehn Gäste am Tische waren, weil, wie man sagte, Einer von den Gästen in diesem Jahre sterben müsse, ob wohl dies in sehr läppischer Einfall war. Warum die Zahl 12. allenthalben so
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/gebraucht werde, davon ist kein Grund. Vielleicht kommt es von den zwölf himmlischen Zeichen her. Die alten Gothen hatten immer die Zahl 12., sie hatten zwölf Richter. Bei Stonehenge in England giebt es zwölf große Steine, die diese zwölf Richter bedeutet haben mögen. Die für heilig gehaltene Zahl 7. ist durch ihre Art von Gelehrsamkeit unter den syrischen Völkern eingeführt worden. 9. ist in Hindostan die heilige Zahl, und die nordischen Völker hatten ehemals die Zahl 9. allerwärts, denn sie opferten immer 9. Thiere und s.f. Beide Zahlen 7 und 9. sind astronomisch. - In 7. können unter allen Zahlen die Tage des Monaths am besten getheilt werden. 9. hat ihren Nutzen zur Berechnung von gewissen Zeitepochen und cyclis zu bestimmen, wenn ihre Aspecten wiederkommen würden. 7 mal 9. 63. macht das berühmte Stufenjahr, worüber Scaliger ein dickes Buch geschrieben hat. Es ist wunderbar, daß unter den Califen bei den Mohamedanern die meisten im 63 Jahre gestorben sind. Jede Zahl, die man voll nimmt, dient dazu, die Summe besser zu behalten. Mancher Mensch setzt Ehre und Redlichkeit aufs Spiel, um nur seine Zahl voll zu machen. Mancher wagt das Aeußerste, um nur die volle Zahl zu haben. Die Ursache davon liegt in dem natürlichen Gesetze der Vergesellschaftung der Vorstellung; die Gewohnheit, solchen Mitteln des Behaltens nachzuhängen, macht, daß sie sich nicht mehr vom Gegenstande trennen lassen, und daß wir glauben, in der Sache selbst liege ein Grund, ob gleich in der Gemächlichkeit des Gedächtnisses der Grund liegt, sich einer solchen Zahl zu bedienen.
/Unter den prognostischen Zeichen kommt auch der Traum vor, der zu allen Zeiten von den Menschen für etwas wichtiges gehalten worden ist. Vormals hat es sogar besondere Traumdeuter gegeben. Das Seltsamste
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/bei den Träumen ist, daß der Mensch, wenn er gar keinen vernünftigen Gedanken fassen kann, für Eingebungen offen zu seyn glaubt, etwas von der künftigen Zeit auf ausserordentliche Weise zu entdecken.
/Aber die Träume sollen nicht die wahre Beschaffenheit der Sache, sondern alles durch Symbole vorstellen. Ein Hund soll Zank bedeuten, so daß man aus den symbolischen Vorstellungen der Träume macht, was man will. Die Nordamerikanischen Völker machen aus den Träumen so viel, daß ein Krieg angefangen wird, weil Einer unter ihnen von einer andern Nation etwas geträumt hat. Sie haben ordentliche Traumfeste, so daß die Träume oft bei ihnen von gefährlichen Folgen sind; denn wenn ein Mensch geträumt hat, er habe einen Andern getödtet, so thut er dieß wirklich. Wenn Einer geträumt hat, er habe die Biberhaut eines Andern, so nimmt er sie ihm wirklich. Aber der Andere pflegt dann gemeiniglich zu sagen, daß er eben das geträumt habe, so daß jetzt bei ihnen die Anhänglichkeit selbst an die Träume aufzuhören anfängt.
/ ≥ Von dem Verstande, der Urtheilskraft und der Vernunft überhaupt. ≤
/Wir haben jetzt das Feld der Sinnlichkeit durchlaufen, welches von dieser anfing, worauf alle Handlungen der Imagination beruhen, und so sind wir das Feld der Anschauung durchgangen.
/Aber wir haben auch ein anderes Vermögen, das Vermögen der Begriffe, welches Verstand heißt. Von der Sinnlichkeit zum Verstande ist ein wichtiger Schritt. Bei uns laufen freilich die Handlungen in einander so, daß
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/der Verstand und die Imagination bei einem Gedanken Antheil haben; allein ob wir gleich gewohnt sind, beide Kräfte vereinigt auszuüben, so laufen beide doch so nahe zusammen, daß uns die Thiere in Ansehung der Sinnlichkeit beinahe übertreffen. Bei der Anschauung ist die Vorstellung eines Dinges immer einzeln; die Anschauung kann also auch ein Thier haben, aber der allgemeinen Begriffe ist das Thier nicht fähig, welche das Vermögen zu denken ausmachen. Die Thiere haben sogar das Vermögen der Vorherverkündigung, aber dennoch sagt man mit Recht, daß, da die Thiere keiner Begriffe, sondern nur einzelner Anschauungen fähig sind, ihnen das vornehmste fehlt. Das, was man bei den Thieren ein analogon rationis nennt, ist die facultas praesagiendi, das Künftige durch eine Spürkraft voraus zu sehen, wo man nur einen Umstand in Ansehung der Gegenwart des Zukünftigen entdeckt, welches ein Vermögen zu schließen anzeigt; gemeiniglich kommen wir auf das Zukünftige durch eine Art von Schluß, weshalb wir den Thieren ein Analogon des Verstandes beimessen. Aber ihr Vermögen der Präsagition ist bloß sinnlich, das Gesetz der Phantasie ist bei ihnen weit regelmäßiger als bei uns, wo es verdorben wird; bei den Thieren aber geht es immer am Faden der Natur fort, und stellt ihnen alles so vor, wie es nach dem vorigen Laufe mit der Natur zusammenhing. Sie schließen also nicht, sondern in ihrer Imagination folgen die Bilder so nach einander, wie das vorigemal. Der Schritt von dem Thiere zum Menschen, von der Sinnlichkeit zum Verstande, ist also unendlich und es findet hier gar keine Annäherung statt, und ob wir gleich in Ansehung des Körperbaues mit den Thieren in Verwandschaft stehen, indem das Skelet eines Menschen von dem eines Affen nicht zu sehr unterschieden ist, so ist die Kluft zwischen beiden doch unendlich.
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/Der Verstand ist das Vermögen der Regeln in abstracto, und die Sprache dient dazu, Begriffe des Allgemeinen zu bezeichnen, was viele Dinge gemein haben. Wenn wir fragen, was ist die Grundlage des Verstandes, so sehen wir, daß das, was den dümmsten Menschen vor dem feinsten Thiere auszeichnet, die apperception oder das Bewustseyn seiner selbst ist. Wenn ein Thier ich sagen könnte, so wäre es mein Camerad. Das Ich giebt einem jeden den Vorzug, sich zum Mittelpunct der Welt zu machen. Daher auch bei den Thieren so vieles wegfällt, z.B. daß sie weder des Glücks noch des Elends fähig sind; denn dazu ist ein Nachdenken über den Zustand nöthig; da aber die Thiere über ihren üblen Zustand keine Betrachtungen anstellen können, so dauert ihr Schmerz nur einzeln fort, ohne daß sie das Ganze desselben fühlen, was man eigentlich Elend nennt. Wenn man Thiere im Verhältniß mit Menschen setzt, wegen der ähnlichen Handlungen, die die Menschen mit ihnen zugleich verrichten, wenn man z.B. treue Hunde bis an den Tod füttert, so thun wir sehr wohl daran, aber nicht um des Thieres willen; denn dieses hat keinen Begriff vom kurzen oder langen Leben, sondern um in uns selbst die sanften Empfindungen zu erhalten, und auszubilden; denn da das Thier mit dem Menschen große Aehnlichkeit hat, so wird der, welcher die Empfindungen gegen Thiere unterdrückt, sich mit der Zeit hartherzig gegen Menschen machen. Man muß diese Zartheit der menschlichen Natur nicht durch eine Hornhaut verhärten lassen, weil das menschliche Geschlecht die Wirkung davon empfinden würde. Durch die Jagd, und durch das Schlächterhandwerk haben Manche es so weit gebracht, daß sie die Menschheit abgelegt haben; allein bei uns ist es eine Illusion der Imagination, wenn wir bei den Thieren eben die Gedanken von Undankbar-_
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/keit vermuthen, als bei Menschen. Versorgungen der Thiere sind eine sehr gute Sache; denn sie unterhalten bei uns sympathetische Empfindungen. Ein Mensch, der das Bret, womit er sich im Schiffbruche das Leben rettete, sogleich zerhacken und verbrennen kann, muß ein schlechter Mensch seyn. Durch ein entgegengesetztes Betragen bildet der Mensch seine tugendhafte Gesinnungen gegen Menschen aus. Im mosaischen Gesetze findet man viele Dinge, die darauf einschlagen, z.B., daß man, wenn man die Jungen aus einem Neste nimmt, die Alten fliegen lassen soll. Ob wir gleich gegen die Thiere keine Pflichten haben, so haben wir doch die Pflicht, die Gefühle in uns ungekränkt zu unterhalten.
/Es ist gewöhnlich, daß man die Sinnlichkeit das untere, und den Verstand das obere Erkenntnißvermögen nennt. So wie das, was regieret, das Obere genannt wird, weil es erhaben und vornehmer ist, so bedient sich auch der Verstand der Sinnlichkeit, unterwirft sie seinen Regeln, und braucht sie zum Denken. Die Sinne sind entbehrlicher als der Verstand, aber auch mit bloßem Verstande ohne alle Anschauungen können wir keinen Schritt weiter thun; denn an sich selbst hat der Verstand kein Vermögen zu denken, sondern die Reflexion; so wie wir auch sehen, daß Thiere ohne Verstand recht gut zu recht kommen. Der Mensch wird nicht durch Instinct wie die Thiere gelenkt, sondern ist seinem eigenen Vermögen zu denken ganz überlassen, folglich ist der Verstand das vorzüglichste Vermögen. Nichts gefällt uns, wenn es nicht am Ende eine Unterhaltung für den Verstand ist, so, daß der Verstand eine Regel herausbringt. Selbst die Gegenstände der Sinne, die bloß den Augen gefallen, suchen wir doch immer unter die Gesetze des Verstandes zu bringen.
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/Zur obern Erkenntnißkraft rechnen wir drei Vermögen: den Verstand, die Urtheilskraft, und die Vernunft. Diese drei zeigen sich in den drei Sätzen des Vernunftschlusses. Verstand ist das Vermögen der Regel, major propositio; Urtheilskraft das Vermögen der subsumptio unter die Regel, minor propositio; Vernunft der Schluß, wo ich das auf den gegebenen Fall anwende, was die Regel im allgemeinen sagt.
/Diese drei Vermögen sind sehr von einander unterschieden. Jemanden, dem ich ein Geschäft auftrage, kann ich die Regel aufgeben, weil er nicht weiß, welcher Regel er folgen soll, aber er muß auch Urtheilskraft haben, um zu wissen, ob dies der Fall der Regel sey oder nicht. Wenn der Richter keine Urtheilskraft hat, so sind die Gesetze umsonst gegeben. Die Urtheilskraft hat das Besondere, daß sie sich nicht erlernen läßt. -_
/Man kann seinen Verstand wohl ausbilden, indem man Regeln in abstracto erkennt, aber wenn man Gebrauch davon machen soll, so heißt es: aqua haeret. Wenn man auf der Universität das treibt, was man Praxin nennt, indem man sich frühzeitig gewöhnt, einen Gebrauch von der Regel zu machen, so ist das das Einzige, was man in Ansehung der Urtheilskraft thun kann. Wir können den Menschen nicht durch Vorschriften unterrichten, wenn er seine Urtheilskraft gebrauchen soll; denn da werden sie wieder neue Regeln, ohne daß gezeigt werden kann, wie wir von der Regel Gebrauch machen können. Die Urtheilskraft ist oft seltener als der Verstand; aber ihre Bildung ist etwas so wichtiges, daß es nicht genug ist, sich mit Regeln zu versorgen. Die Schule kann den Mangel des Mutterwitzes ersetzen, wenn der Fehler im Verstande steckt; allein den Mangel an Urtheilskraft kann nichts ersetzen; diese kann nicht gelernt werden, denn sie wird durch die Natur gegeben.
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/Wir bilden unseren Verstand durch Kenntnisse, indem wir unsere Begriffe erweitern; im Leben lernen wir Gebrauch von diesen Kenntnissen machen, d.i. wir bilden die Urtheilskraft, und weiter hin bei reiferm Alter, wenn wir den mannigfaltigen Gebrauch unserer Kenntnisse übersehen, auch die Vernunft. Um etwas zu lernen, brauchen wir Verstand; um es anzuwenden, Urtheilskraft und um selbst zu denken Vernunft. Wer einen Plan entwirft, der braucht Vernunft, wer ihn ausführt, Urtheilskraft, und wer ihn faßt, Verstand. Zum Verstande des Menschen gehört Geschicklichkeit d.i. Wissen und Können; zur Urtheilskraft, Klugheit d.i. die Art seine Geschicklichkeit wohl anzuwenden; denn ein Mensch kann viel Geschicklichkeit haben, weiß sie aber nicht an den Mann zu bringen, weil ihm Klugheit fehlt. Weisheit ist die Fähigkeit, über die Endabsicht aller seiner Geschicklichkeiten urtheilen zu können. Dazu gelangen aber die Menschen selten, daß sie, wenn sie alle ihre Absichten klüglich ausgeführt haben, einsehen, ob sie dadurch etwas zu ihrem wahren Zwecke beitragen. -_
/Zu einem solchen Nachdenken kommen die Menschen selten; denn es ist gewöhnlich von der Art, daß es viel von dem vermeintlichen Interesse der Menschen wegschaft, und besteht also mehr im Entbehren, als im Erwerben. Verstand gehört daher zur Geschicklichkeit, Urtheilskraft zur Klugheit, und Vernunft zur Weisheit. Lerne das Gelernte brauchen, und selbst denken; dies macht den Unterschied zwischen dem Verstande, der Urtheilskraft und der Vernunft aus. Zur Vernunft wird selbst denken erfordert; wer die Gedanken eines Andern nachsagt, der zeigt Verstand, aber keine Vernunft. So kann man ohne Vernunft Philosophie lernen; denn man braucht nur Verstand zu haben, um ein anderes System auswendig zu lernen, aber ein solches selbst beurtheilen lernen, dazu gehört
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Vernunft. Die Menschen werden ganz irre geleitet, wenn sie glauben, durch Unterricht Philosophie zu lernen; denn diese besteht nicht in dem Mannigfaltigen, das man lernt, sie kann daher nicht gelernt werden, sondern man muß philosophiren lernen. Wo findet man eine Philosophie? Es finden sich viele solche Bücher, aber es ist streitig, ob irgend ein Philosoph sey. Daher hat man kein anderes Werkzeug, Philosoph zu werden, als die Methode zu philosophiren. Jemand mag die Cartesianische oder Wolfische Philosophie gelernt haben, er ist darum noch kein Philosoph; denn er hat nicht selbst denken gelernt, um die Erzeugnisse eines fremden Verstandes zu beurtheilen. Daher ist der Sitz der Philosophie bei Manchem nicht in der Vernunft, sondern im Verstande; er hat einmal etwas auswendig gelernt, ohne den Werth desselben zu untersuchen. Polyhistore, Philologen, haben alles, ja auch Philosophie gelernt, aber über den Werth desselben, was sie gelernt haben, können sie kein Urtheil fällen. Sie haben Gedanken gelernt, ohne selbst denken zu können. Dieser Unterschied ist so wesentlich, daß die Jugend durch dergleichen verkehrte Anleitungen verdorben werden kann; denn wenn man eine Philosophie mit großer Mühe gelernt hat, und an einen anderen Ort kommt, wo diese nicht gilt, so weiß man nicht, was man für eine Richtschnur hat.
/Vernunft im theoretischen Gebrauche beruht auf Grundsätzen, im praktischen auf Maximen. Man kann bisweilen irren, wenn man aber nur nach richtigen Grundsätzen verfährt, um Wahrheit zu suchen, so schadet es nichts, sie auch einmal verfehlt zu haben; denn wenn mein Grundsatz nur gut ist, so werde ich den Irrthum wohl gewahr werden. Aber wenn mein Grundsatz falsch ist, so ist der Schade wesentlich, und das, was ich beweise, trift nur durch einen Zufall ein. Eben so kommt es im
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/Praktischen nicht darauf an, daß man eine gute Handlung einmal ausübt, sondern auf die Maxime. Man kann viel vernünfteln über allerlei, z. B. über Ahndungen, Sympathie, Gespenster etc., und auf eine scheinbare Art dergleichen Dinge verwerfen oder bestätigen. Aber wenn ich dies auch bei Seite setze und mir vorstelle, daß ich die Möglichkeit der Gespenster durch die Vernunft nicht darthun kann und wenn ich weiß, daß ich nichts annehmen muß, so bald mich weder ein Beispiel in der Erfahrung, noch die Vernunft die Möglichkeit lehren, so kann ich die Gespenster nicht annehmen, weil ich sonst in meinem Urtheile keinen sicheren Leitfaden haben würde. Es giebt dergleichen Dinge viele, z. B. die Einbildungskraft schwangerer Weiber, wo man wunderbare Aehnlichkeiten findet, welche aber nur hinterher erzählt werden; denn wenn einmal ein solcher Fall eintritt, so besinnt sich die Mutter auf einen Zufall in den 9. Monathen ihrer Schwangerschaft, der damit eine Aehnlichkeit hat, woran es nicht fehlen wird. Es mag nun davon vorgegeben werden, was man will, so folgt offenbar, daß, wenn man einräumt, die Imagination sey schöpferisch, nicht nur in Ansehung der Begriffe, sondern sie könne sogar ihre Gegenstände hervorbringen, z. B. wenn der Mutter eine Erdbeere aufgefallen sey oder sie sey von einer Kohle gebrannt worden, und sie sich an der Stelle angefaßt habe, bei dem Kinde daher die Feuer- und Muttermähler entstehen, so müßte das menschliche Geschlecht schon längst von seinem Originale abgewichen seyn; und doch gehen die Zeugungen immer nach einem Gesetze fort, und in der ganzen Natur ist nichts unwandelbareres als das Urbild des Menschen.
/Viele Menschen zeigen viel Vernunft im Einzelnen, aber nicht im Ganzen, es fehlt ihnen an richtigen Grundsätzen; daher können sie sich alles erklären, was ihnen
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/mit einigem Scheine vorgebracht wird. Solchen Dingen, die ihre Vernunft umkehren können, gehen sie nach, und suchen sie mit vielem Fleiße möglich zu machen, so daß sie in einzelnen Fällen viele Gaben zu vernünfteln verrathen, aber die rechte Vernunft, die nach Grundsätzen gebraucht wird, haben sie nicht. - Es giebt eine Vernunft, welche die gesetzgebende, legislatoria, heißt, und eine andere, die anwendende, administrans, ist. Die Menschen haben Vernunft, aber es kommt darauf an, wie sie sich derselben bedienen. Es wird oft von jungen Leuten gesagt, der Mensch hat keine Vernunft, sobald er seine Güter verschwenderisch durchbringt. O ja, er hat so viel Vernunft als ihr, wenn es aufs Vernünfteln ankommt, aber in Ansehung dessen, daß er sein ganzes Verfahren nach seinem Endzwecke, überlegen sollte, ist er zu flüchtig. Wir widerstreiten uns oft in Beurtheilung Anderer. Der Eine sagt, der Mensch hat viel Vernunft, d.i. er ist scharfsinnig im Denken. Ein Anderer sagt, der Mensch zeigt keine Vernunft, nemlich sobald er sich der Geschicklichkeit bedienen soll. Wir brauchen also eine Vernunft, die auf der Anwendung beruht. Diese bekommen wir aber gemeiniglich erst, wenn wir alt werden, und schon viel vom Leben verdorben ist, die Lebhaftigkeit abgenommen hat, und die geläuterte Einsicht gewachsen ist. - Daher haben die Leidenschaften nicht mehr die Gewalt, sich gegen die Vernunft zu empören. - Diese Gesetzgebung der Vernunft ist etwas Wesentliches, das Hauptgeschäft, und die ganze Würde der Vernunft. - Durch den Verstand gewinnt das menschliche Geschlecht Kenntnisse, die Urtheilskraft bestimmt die Anwendung derselben, und durch die Vernunft erweitern wir unsere Begriffe. Man sagt von manchem Menschen, er ist bornirt, d.i. beschränkt. Der beschränkte Begriff steht dem erweiterten entgegen. Durch Wissenschaften können wir
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/zwar unsere Begriffe vermehren, aber wir werden sie doch nicht erweitern. Die Erweiterung des Begriffs kommt auf Grundsätze an, wornach wir alle unsere Erkenntnisse brauchen. Ein Mensch ist beschränkt, wenn er an dem, was er gelernt hat, steif und fest hängt, sich nicht davon losmachen, und also das Gelernte nicht einer höhern Prüfung unterwerfen kann. Der erweiterte Begriff kommt nicht vom Lernen her, sondern beruht auf dem Talente der Vernunft, über das Gelernte urtheilen zu können; muß also aus dem Menschen selbst genommen seyn, ohne daß man seine Erkenntnisse nach einem erweiterten Begriffe bildet. - Man kann mit einigen Menschen gar nichts anfangen, weil sie mit zu eingeschränktem Begriffe von dem denken, was sie gelernt haben. Sie nehmen keine Idee an, die nicht in ihre eingesogenen Begriffe paßt, und können sie nicht fassen. Die größte Gelegenheit zur Erweiterung der Begriffe ist eine Art von Scepsis, alles Angenommene zu schütteln und zu rütteln, um darüber Zweifel zu erregen, damit man aus höhern Grundsätzen als aus der Schulwissenschaft urtheilen kann. Man sagt, der Mensch hat einen erweiterten Begriff, wenn er in Ansehung der Gegenstände nicht in einen zu engen Horizont eingeschlossen ist; dazu dient Geographie und Historie, damit man nicht glaubt, der Ort, wo man urtheilt, sey ein abgesonderter Planet, sondern man muß wissen, wie auch Andere urtheilen. Auf diese Art giebt die Kenntniß von der Verfassung der ganzen Welt Anlaß zur Erleichterung der Begriffe, wenn der Mensch nur irgend Talent dazu hat. - Ein Mensch kann bis an den Hals gelehrt seyn und sehr viel Schulkenntniß haben, aber er ist doch beschränkt. In Schulen kann man sehr viel verderben, und den Menschen beschränkt machen, indem man ihn auf die Autorität verweisset, und ihn nicht selbst urtheilen läßt.
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/Man erweitert seine Begriffe, wenn man ihm erlaubt, selbst zu urtheilen. Man erweitert seine Gesinnung, wenn man auch an das Weltbeste denkt. Der Patriotismus ist nur ein enger Begriff, und kein erweiterter; daher haben Einige, vorzüglich Schweitzer, mit Unrecht dagegen declamirt, daß man die cosmopolitische Gesinnung annimmt, und immer auf das Weltbeste, und nicht so sehr auf das Beste des Landes, worin man lebt, sieht; sie haben den Patriotismus, wenn er auch mit dem Untergange anderer Menschen und Staaten verbunden wäre, sehr hoch gepriesen; allein der Antheil, den der Mensch am Weltbesten nimmt ist seinem eigenen und auch dem Landesbesten vorzuziehen; denn durch das allgemeine Weltbeste wird das Privatbeste jedes Staats am sichersten bestimmt. Religion nach erweiterten Begriffen ist die beste, und alle Religionsfeindschaften kommen von den eingeschränkten Begriffen her, daß man nicht einsieht, daß das, was Satzungen eines Landes sind, nicht für die ganze Welt gelten kann; dazu kommt noch das enge Herz, wenn man nicht an dem Wohle Anderer Antheil nimmt. Man findet Menschen, die überaus großen Scharfsinn zeigen, und über Gegenstände mit großem Scharfsinn urtheilen, aber sie können demohngeachtet ihre Begriffe nicht erweitern, und einsehen, wie ihre Begriffe mit dem ganzen Systeme ihrer Erkenntnisse zusammenhängen. Wir werden gewiß nicht recht Geographie erlernen, wenn wir von den Städten anfangen; wir müssen vielmehr von den Grenzen anfangen, und das Ganze in Land und Meer theilen; dann zerlegen wir die größern Theile; bis wir endlich an die Städte kommen. So handelt auch der Mensch, der nach erweiterten Begriffen verfährt; er macht sich erst ein System der Erkenntnisse, und dann sieht er immer, wie etwas mit den übrigen Erkenntnissen
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/zusammenhängt, und was er dazu beiträgt. Der Zusammenhang solcher Erkenntnisse kommt immer daher, daß sich unser denkendes Subject als einfach vorstellt, so daß alles zergliedert ist, und jemand immer sehen kann, wie etwas mit dem Systeme zusammenhängt. Wir müssen also nicht von den Theilen zum Ganzen, sondern von dem Ganzen zu den Theilen fortgehen.
/Das Vernünfteln ist das Urtheil der Vernunft, bei dem der Mensch im Ganzen kein Urtheil fällen kann. Man sagt im Militairstande, der Soldat dürfe nicht raisonniren, d. h. er solle nicht über die Theile urtheilen, weil er keinen Begriff vom Ganzen hat. Weil das Urtheil über die Theile von der Richtigkeit des Grundsatzes abhängt, so darf der, der den Grundsatz nicht kennt, nicht darüber raisonniren; denn er kann den ersten Grund, warum so verfahren wird, nicht einsehen, folglich ist es seiner Einsicht nicht gemäß, darüber zu urtheilen. Das Publikum soll nicht über die Gesetze raisonniren, in der Religion soll es auch nicht raisonniren, sondern blos lernen; aber der, der raisonniren soll, raisonnirt unglücklicher Weise selbst nicht, und da Andere es nicht sollen, so weiß ich selbst nicht, ob der blinde Zufall uns Aufklärung in der Religion, Politik und Gesetzgebung verschaffen soll. Daher muß man raisonniren, und jedermann ist dazu verbunden; denn wenn Einer auch falsch vernünftelt (raisonnirt), so schadet dies doch der obern Gewalt im Staate nichts. Die Unvernunft bildet kein Vernünfteln der Vernunft, und wenn der Mensch nicht raisonniren sollte, so müßte alle Naturfähigkeit aus Mangel des Gebrauchs stumpf werden. Daher ist dem menschlichen Geschlechte nicht anders zu helfen, als daß es über alles urtheilt, und so seine Ideen verbessert; es muß ja doch thun, wozu es gezwungen wird.
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/Autorität und Zwang verengen die Begriffe, Freiheit erweitert sie. Kein Volk hat, bis auf die geringsten Menschen herab, so viel Verstand als das englische; dies rührt von der großen Freiheit her, weil jeder alle seine Talente nach seinem Kopfe und Gefallen ausbreiten kann. Frankreich ist das einzige Land, wo alles bis auf den geringsten Mann conduisirt ist.
/Philosophie ist die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft; der Philosoph muß daher vom Vernunftkünstler unterschieden werden, der seine Vernunft in Ansehung seiner besondern Zwecke des Gebrauchs ausbildet, der also Erzeugnisse der Vernunft hervorbringen kann. Dergleichen sind die Mathematiker, die Physiker und Andere. Der Philosoph aber zeigt, wozu das alles zu gebrauchen ist; daher können nur vom Philosophen die Vorschriften vom Gebrauche aller unserer Erkenntnisse hergenommen werden; da ist die Vernunft also wirklich gesetzgebend. In der Mathematik ist es eine besondere Art der Geschicklichkeit unserer Vernunft, Probleme aufzulösen. In der Physik ist es eine Geschicklichkeit, Erscheinungen in der Natur zu erklären. In der Logik ist es eine Geschicklichkeit, alle Verstandeshandlungen in ihre Elemente aufzulösen. Aber die Philosophie zeigt, was wir bei diesem allem für einen letzten Zweck haben; sie giebt also die obersten Grundsätze und Maximen an, und dadurch erhält die Philosophie ihre wahre Würde; das Uebrige, was man in Systemen vorträgt, geht dahin, unter der Bearbeitung und der Anleitung der Vernunft zur Einsicht besonderer Gegenstände zu gelangen. Aber das Organon der Philosophie, das die obersten Principien und Grenzen unseres Vernunftgebrauchs enthalten soll, ist die oberste Stufe der Vernunft.
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/Man drückt die verschiedenen Stufen der Vernunft so aus: der Mensch ist gescheit, d.i. er hat Urtheilskraft. Man nennt einen Menschen verschlagen oder verschmitzt, wenn er in Ansehung gewisser Mittel viel Vernunft verräth, ohne daß der Zweck in Anschlag kommt, um durch diese Mittel Anderer Absichten rückgängig zu machen, oder seine eigene Absicht durchzusetzen. -_
/Mann nennt einen Menschen, der durch Schaden angeführt ist, gewitzigt, der also durch Schaden klug worden ist. Man nennt einen Menschen einfältig, der wenig Verstand hat; dumm nennt man den, welcher gar keine Urtheilskraft hat. Einfalt bedeutet den Mangel an Verstande; Blödsinnigkeit einen geringen Grad von Verstande. Mancher nennt den Andern einfältig, weil sich derselbe um gewisse Kenntnisse gar nicht bekümmert. Blödsinnigkeit ist aber das wahrhafte Unvermögen. Unwissenheit muß man nicht für Dummheit ausgeben. Blöde ist ein höflicher Ausdruck für einen Menschen, der ganz unfähig, und ohne Verstandeskräfte ist. Albern wird nur bei dem Witze gebraucht, wenn jemand einen sträflichen Ueberfluß an Witz und und dabei keine Urtheilskraft hat; dies giebt viel zu lachen, da alles immer so übel angebracht ist. Man hat noch ein paar Worte: Wahnwitz und Wahnsinn. Ein Mensch ist wahnsinnig in Ansehung der Einbildungen, wenn er etwas im Sinne zu haben glaubt, was er nur in der Imagination hat. Wahnwitz ist, wenn jemand die Vernunft nach falschen Grundsätzen braucht, und die Vernunft sich falsche Grundsätze macht. Der Mensch klügelt, wenn er falsche Grundsätze hat, was ihm falsche Folgen zuzieht. Wie Wahnwitz und Aberwitz von einander unterschieden sind, ist schwer anzugeben. Es kommt dabei auf den Grad des Wahns an.
/Um einen Menschen als einfältig zu bezeichnen, sagt man: er ist kein Hexenmeister, er hat das Schießpulver
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/nicht erfunden, er wird das Vaterland nicht verrathen. - Das sind lauter böse Dinge, die man einem solchen Menschen nicht zutrauet; wir glauben also bei einem dummen Menschen vor Schaden sicherer zu sein, als bei dem klugen, (so wie der Großsultan seine Weiber nur den Unvermögenden anvertrauet) aber dieser Grundsatz ist sehr falsch; denn es gehört nicht viel Klugheit dazu, um zu schaden; der Dumme kann mehr schaden; denn ein Mensch von Ueberlegung weiß, was für ein Schaden auf ihn selbst zurückfallen würde. Die Natur hat gewiß gute Eigenschaften vereinbart und nicht Klugheit mit Arglist verbunden. Eine Uhr, die ein schlechtes Gehäuse hat, taugt gewiß nichts, und wo ich wahrhafte Redlichkeit antreffe, da ist auch Verstand. Die Natur hätte sich die Mühe gegeben, die Rechtschaffenheit der Seele zu bilden, und sollte den Menschen dumm gemacht haben? Zwar ist nicht jedermann von einer großen Behendigkeit der Begriffe, und gewöhnlich zeigt sich, daß die Menschen von behenden Begriffen wenig Einsicht haben. Von einem Andern, der langsam von Begriffen ist, sagt man, er hat wenig Verstand; aber laßt ihm nur Zeit, die Begriffe zu untersuchen, so wird er sein Talent wohl zeigen; folglich kann man nicht sagen, daß man bei der Dummheit sicher sey; denn die Geschicklichkeit Andere zu betrügen, erfordert nicht viel Verstand; es ist mehr Ehre betrogen zu werden; denn dies zeigt, daß man Zutrauen in die Rechtschaffenheit Anderer setzt, und daß man lieber etwas leiden, als ein misanthropisches Mißtrauen hegen will. Man wird daher den Verstand aus der Geschicklichkeit, zu betrügen, nicht beurtheilen können.
/Wir bedienen uns des Witzes zum Zeitvertreibe und der Vernunft aus Pflicht. Daher ist alle Ausübung der Vernunft für uns ein Geschäft; aber die Menschen rufen gern die Vernunft von ihrem Posten weg, und überlassen
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/sich lieber der sorgenlosen und angenehmen Thorheit, und allen Spielen ihrer Launen. Die Vernunft ist die Eigenschaft des Menschen, die er zwar am meisten hochachtet, aber doch nicht liebt und sich daher ihrem Zwange zu entziehen sucht. Daher sucht man berauschende Getränke, Zerstreuungen, und faselt in Erhohlungen herum. Die Vernunft ist den Menschen zu ernsthaft, und schränkt sie zu sehr ein. In Gesellschaft mit seiner Vernunft prangen zu wollen, macht nicht beliebt, sondern Thorheit, mit etwas Vernunft vermischt, giebt Andern in Ansehung ihrer einen Werth; denn nun glauben sie sich auch einige Fehler nachsehen zu können. Der Verstand geht mehr auf das Gegenwärtige, so fern es auf dem Vergangenen beruht; die Vernunft gern auf das Zukünftige, weil dieses geschlossen werden muß.
/ ≥ Von der Zerstreuung. ≤
/Man sagt sich dissipiren, und distrahirt seyn. Die Zerstreuung (Dissipation) geschieht willkürlich, wenn man seine Aufmerksamkeit von allem ablenkt, weil es die Seelenkräfte vermindert, und die Gemüthsfähigkeiten einschränkt, sobald die Aufmerksamkeit lange auf einen Gegenstand geheftet ist. Um das Gemüth von einer Sache abzubringen, ist es nöthig, dasselbe auf andere Gegenstände zu lenken; dieß geschieht hauptsächlich, wenn man viele kurze Beschäftigungen hintereinander treibt. Das Gespräch gewährt immer etwas Nützliches, und zerstreuet besser als irgend etwas. Man gehe auf Wiesen, um sich zu zerstreuen.
/Das Distrahiren (Zerstreuen) ist das, was unser Ge-_
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/müth unwillkürlich beschäftigt. Die Zerstreuung macht, daß man von dem Gegenstande abgezogen wird, worauf man seine Aufmerksamkeit richten will. Dies ist ein großes Uebel, und zeigt eine große Schwäche an, wenn man nicht einmal weiß, die Fähigkeiten zu gebrauchen und seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten. Man muß daher alles sorgfältig vermeiden, was uns in Zerstreuungen verflechten kann; dahin gehört das Romanenlesen; denn da man nicht nöthig hat, einen Roman zu behalten, so schweift man mit seinen Gedanken herum, heckt in demselben einen neuen Roman aus, und dadurch bekommt unsere Imagination einen Hang, sich von Gegenständen abzuziehen. Ein von einer Krankheit Genesender ist eine Zeitlang nicht fähig, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, und in der Hypochondrie ist die Zerstreuung das größte Uebel. - Es ist da ein Druck auf unser Nervensystem, wodurch unsere Vernunft auf hunderte von Gegenständen gezogen wird, und gewisse Dinge kann sich der Hypochondrist gar nicht aus dem Sinne schlagen. Es giebt Leute, welche gewöhnlich gestört, und immer gewohnt sind, mit ihren Gedanken herumzustreifen; in Gesellschaften und im Gespräche glaubt man, daß solche Menschen nicht recht bei Verstande seyn. Man vergiebt dies Personen, die sonst mit Nachdenken beschäftigt sind, und sieht ihnen solche Thorheiten nach; allein man muß eine solche Schwäche doch nicht einwurzeln lassen.
/Es ist eine besondere Handlung, seine Gedanken zu sammeln, und man sammelt diese aus einer lebhaften, und aus einer gedankenlosen Zerstreuung. Seine Gedanken aus einer lebhaften Zerstreuung zu sammeln ist sehr leicht, und heilsam; wer in einer muntern Gesellschaft in einer lebhaften Zerstreuung war, der wird seine Gedanken leicht sammeln, und wird dann weit aufgeräumter seyn; aber aus einer gedankenlosen Zerstreuung ist sehr schwer sich
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/zu sammeln; man sinkt immer wieder hinein; denn da Menschen unwillkührlich abgezogen werden, so werden sie wider ihren Willen fortgeführt; es ist daher schlimm in einem solchen Zustande zu seyn, weil man sich schwerlich aus einem solchen Zustande sammeln kann. Man kann aus seinem Schlummer nicht zurückkommen, und solche Leute sind gewöhnlich wachende Träumer. Man kann sich wohl eine Gedankenlosigkeit erlauben, aber nur wenn man lange vorher nachgedacht hat, denn dadurch erholt sich das Gemüth. Doch ist es zur Erholung des Gemüths besser, daß man es im Spiele beschäftigt, d.i. dem Gemüthe so viel zu thun giebt, als es für sich bequem findet; denn unser Gemüth hat das Eigene, sich durch das Abwechselnde besser zu erholen, als durch Nichtsthun. Das Gemüth ist immer in Thätigkeit, und da ist es also besser, dem Gemüthe an der Stelle eines leichen Geschäftes ein schwereres aufzutragen. Viele Kenntnisse gehen uns durch die Zerstreuung verloren. Auf Reisen vergißt man durch sie die Schönheiten der Gegenden, von der Erzählung vergißt man das Angenehme und Reizende. Frauenzimmer sind den Zerstreuungen selten unterworfen, und sie schicken sich auch nicht für sie. Es kann dies wohl manchmal begegnen, aber gewöhnlich ist es nicht ihr Fehler. Der gemeine Mann, wenn er zerstreuet ist, hat immer Schelmenstücke im Kopfe; entweder hat er etwas Böses gethan, worüber ihn das Gewissen plagt, oder er hat eine Absicht, die er noch ausführen will; allein bei Leuten, die viel zu denken haben, ist das ein gewöhnlicher Zustand.
/Man nimmt an, daß gewisse Leute sich ihres Verstandes nicht allein zu bedienen befugt sind, sondern nur mit Hülfe eines fremden Verstandes urtheilen können, und solche nennt man Unmündige. Einige sind unmündig den Jahren nach; sie können sich nicht nach ihrem eigenen Ver-_
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/stande, und ihrer Vernunft richten, sondern müssen unter der Leitung eines Anderen stehen. So giebt es auch eine Minorennität dem Geschlechte nach; gewisse Einsichten und Geschäfte sind ganz außer der Sphäre der Frauenzimmer. Sie dürfen sich da nicht ihrer eigenen Vernunft bedienen, sondern müssen sich dem Ausspruche einer fremden Vernunft unterwerfen; sobald etwas ins Publikum läuft, müssen sie sich auf fremde Vernunft verlassen. Bei Kindern ist die Unmündigkeit natürlich; den Vormund eines Frauenzimmers nennt man Curator.
/Wenn man dies in Hinsicht des menschlichen Geschlechtes überlegt, so findet man, daß wir alle unmündig sind, den Jahren nach, und unser Verhalten immer von einer fremden Vernunft vorgeschrieben werden muß.
/Im Staate bleibt das Publicum unmündig; die oberste Gemalt giebt Gesetze, und das Publicum muß sie befolgen. Von einem fremden Staate kann man sagen, er sey zur Mündigkeit gekommen, und in Religionssachen ist ein Stand, der alle Andere unmündig erhält. So wird ein großer Theil der Menschen in der Unmündigkeit erhalten, so sehr man sich auch verbesseren würde, wenn man sich dieser Unmündigkeit entzöge.
/Gewisse Leute sind in einer Art von Unmündigkeit, z. B. Gelehrte in bürgerlichen Sachen, weil sie sich nicht damit beschäftigen können. Wenn ein Mensch recht bequem leben wollte, so müßte er sich jemanden halten, der für ihn Gedächtniß, einen Andern, der für ihn Verstand, einen Dritten, der für ihn Urtheilskraft hätte. Am Ende kommt es aber doch darauf an, daß jeder Mensch suchen muß, mündig zu werden, und sich selbst von allen seinen Pflichten zu unterrichten, damit er nicht nöthig hat, sich auf die Aussage einer fremden Vernunft zu verlassen. Nimmt man an, daß man die Menschen in der Unmündigkeit erhalten muß, so faßt man dabei boshafte Grund-_
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/sätze. Bei Gelegenheit einer Preißfrage: ob es rathsam sey, Leute im Irrthume zu erhalten, gab es so gar Geistliche, die diese Meinung mit Ja beantworteten, und behaupteten, das gemeine Volk müsse sich das gefallen lassen, was man ihm als wahr vormahle. Aber das ist ein Grundsatz des Betrugs, und daß die Meinung, das Volk zu bessern Einsichten zu führen, von keinem Nutzen sey, ist irrig; denn der Irrthum kann wohl eine Weile, aber nicht lange dauern. -_
/Kein Mensch ist dazu berechtigt, durch Vorwand und eitle Hoffnungen Andere zu Irrthümern zu verführen. Die Menschen haben ein vorzügliches Recht, die Wahrheit zu erforschen, und es ist falsch, daß ein dummes Volk besser zu regieren sey als ein aufgeklärtes; denn die Dummheit der Menschen hat häufigere Empörung veranlaßt, als die Aufgeklärtheit; die Aufgeklärten sehen bald ein, daß es besser sey Lasten zu tragen, als sich blindlings in Gesetzlosigkeit zu stürzen. Der Despotismus hat die meisten Empörungen verursacht: denn wenn zuletzt ein Volk, das man in der Unmündigkeit erhält, sieht, daß sein Recht ganz verletzt wird, so verliert es alle Geduld, und ein Mensch, der Vernunft hat, kann nicht besser regiert werden, als durch Vernunft. Ueberhaupt sind das sehr schlechte Grundsätze, und aller vermeintliche Schaden, der aus der Aufklärung entstehen könnte, sind Grillen. So hat man ehedem eben so sehr wider die Kirchenverbesserung geschrien, und hat in der Folge doch gefunden, daß sie den Schaden bei weitem nicht hervorgebracht hat, den die Unwissenheit verursacht. Man glaubte, daß durch die Abschaffung der Ceremonien die Leute die Anhänglichkeit an die Religion verlieren würden, die Erfahrung aber hat bewiesen, daß die Menschen grade desto eher auf der andern Seite ausgeschweift haben, und desto größere Schwärmer worden sind. Es kann also nichts Schlechteres gedacht werden, als
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/wenn Menschen solche Grundsätze haben, Andere im Irrthume zu erhalten suchen, und sich hüten, jemanden im Schlafe der Unwissenheit zu stören, oder sich angelegen seyn lassen, ihn wohl gar in neue Irrthümer zu stürzen, wenn er sich aus der Unwissenheit, sich selbst überlassen, wohl würde herausgewunden haben, dazu berechtigt keinen Menschen ein Vorsatz von der vermeintlichen Erwerbung eines Nutzens; denn dies kann fehlschlagen, und es ist eine Herabwürdigung der Menschheit, wenn ich ein freies Geschöpf so behandeln will, daß es einer fremden Vernunft folgen soll. In Ansehung der Begriffe müssen die Menschen frei seyn, ohngeachtet sie in der bürgerlichen Gesellschaft nichts unternehmen dürfen, da sich doch keiner widersetzen kann. Selbst die Regierung gewinnt bei der allgemeinen Aufklärung; der Regent kann selbst im Wahne stecken, und sich Vortheile einbilden, die nichts taugen.
/Wenn wir die Quelle der Verbesserungen verstopfen, so ist alle Hoffnung verschwunden. Es sind dies unverzeihliche Sünden; sie vernichten den ganzen Plan der Vorsehung mit dem Menschengeschlechte, so daß keiner zur Vollkommenheit fortschreiten kann.
/ ≥ Welches würde die Maxime der gesunden Vernunft seyn? ≤
/Einige sind trotzig auf ihre gesunde Vernunft, und spotten über die Wissenschaften, gerade als ob die Wissenschaften dadurch entbehrlich würden, wie wohl das wahr ist, daß die gesunde Vernunft den Gebrauch aller Wissenschaften bestimmt. Sie sind aber trotzig auf ihre gesunde Vernunft, so daß sie alles Schulwissen für unnütz halten. So giebt mancher Fuchs die Traube für unreif aus, weil
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/er sie nicht erreichen kann. - Eben weil der gesunde Verstand ein Alltagsverstand ist, ist er desto brauchbarer; alle Wissenschaften haben gewisse Zwecke, und brauchen dazu gesunden Verstand. Wir müssen aber einen Grundsatz haben, damit der gesunde Verstand immer gesund bleibt und immer gute Diät hält, damit er nicht Krankheiten einreißen lasse; denn der gesunde Verstand ist sehr leicht zu verführen; er ist wie die Unschuld eines guten liebenswürdigen Mädchens, das auch leicht zu verführen ist; man muß also wissen, es vor Verführung zu sichern. Eben so ist es mit dem gesunden Verstande, wenn er nicht gute Grundsätze hat. Er bemerkt ohne dieselben nicht die Veränderungen, die mit seinem Zustande vorgehen, und fällt so ein Urtheil nach dem andern. So sagt Mancher, er sey gar nicht abergläubisch, und doch ist sein Kopf voll vom Aberglauben, weil ihm die Maxime der gesunden Vernunft fehlt. Dieser Grundsatz ist die Selbsterhaltung der gesunden Vernunft, nicht des Menschen sondern der Vernunft, d.i. ich muß nichts annehmen, was den freien Gebrauch der Vernunft unnütz machen würde. Die Vernunft muß sich es zum Hauptgrundsatz machen, daß, wenn sie Dinge nicht sogleich für unnütz erklären kann, sie dieselben doch auch nicht sogleich annimmt, z. B. erzählt mir jemand von Gespenstern, wovon mich doch die Erfahrung nichts Bestimmtes lehrt, so liegt hierbei die Maxime in der Vernunft zum Grunde: wenn man dies einräumt, so fällt der Gebrauch der Vernunft über den Haufen. Wird ein Kind geboren, das einem Andern ähnlich sieht, welcher stark in dem Hause verkehrt, so sagt man, die Imagination habe dies veranlaßt; wenn dies wäre, so würde meine Vernunft allein in Ansehung solcher Erscheinungen ganz überflüssig seyn, und ich weiß alsdann nicht mehr, wo ich die Ursache aufsuchen soll. Wenn ich die Gespenster nicht erwischen kann,
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/so kann ich in der Erfahrung keinen Erklärungsgrund solcher Erscheinungen finden.
/Die Maxime der Vernunft erfordert also, daß ich nichts einräume, was mich meiner Vernunft berauben würde, sobald ich es annähme. Wenn daher dergleichen Dinge vorgegeben werden, so sage ich: ich kann es nicht annehmen, weil ich dadurch in Verlegenheit gesetzt würde, hundert alten Weibern zu glauben. Von allen vorgegebenen wunderbaren Dingen, kann ich also sagen: haec omnia incredulus odi; denn da ist meine Vernunft gestört, und ich kann nicht sicher seyn, ob nicht solche Vorfälle sich ereignen können. Zu dieser Maxime gehört keine speculative Vernunft, ich darf nur immee nachdenken und mich fragen: kannst du dich hier deiner Vernunft regelmäßig bedienen oder nicht? Es geschieht am Ende doch, daß sehr hoch getriebene Bestrebungen der Vernunft, uns auf einen freien Punct zu bringen, eine Misologie der speculative Vernunft bewirken. Dieser Haß gegen die speculativen Vernunft ist ein Zustand, der viele Gelehrte betroffen hat, wenn sie ihre Untersuchungen so hoch getrieben hatten, bis zu den Quellen der Dinge zu kommen, und sich hernach in ihrer Erwartung getäuscht fanden. Wir haben Sätze als Fragen für unsere Vernunft, mit denen wir aber nicht recht fortkommen können, z. B. den Begriff von der Natur und der Bestimmung unserer, Seele, von einem Weltregierer; dies alles sind Dinge, über welche uns, wenn wir uns darein vertiefen, nicht gehörige Antwort von der Vernunft wird, sobald wir nicht die erforderlichen Schranken beobachten. - Wenn Menschen in solchen Sachen von ihrer Vernunft sehr viel vermuthen oder verlangen, und hernach ihre Erwartung nicht erfüllt sehen, so fassen sie einen Haß gegen die Vernunft, werden allen Nachforschungen abtrünnig und sagen, es ist umsonst, seine Vernunft in Ansehung dessen zu gebrau-_
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/chen, was den höchsten Zweck betrift. Daher findet man viele Bücher de vanitate scientiarum. So viel ist gewiß, im Hasse der Vernunft liegt die größe Verzweiflung, in die sich ein Mensch stürzen kann; denn was bleibt ihm als Mensch für ein Werth übrig? Aber ein Haß gegen die speculative Vernunft ist nicht so übel, denn man darf sich nur ans Practische halten, wenn man die speculative Vernunft aufgeben will. Die speculative Vernunft allzuhoch spannen, taugt nichts; denn dadurch entspringt eine Misanthropie, die die edelsten Seelen anwandelt, wenn sie sehen, wie wenig Verträglichkeit und wie viel Feindschaften unter den Menschen sind und dann habe man wohl Ursache, schlechte Gesinnungen gegen die Menschen zu fassen. Wenn man aber auf der anderen Seite sieht, daß dergleichen Sachen gemeiniglich aus Noth geschehen, weil der Eine in das Herz des Andern nicht sehen kann, und sich also auch vorstellen muß, daß diese Schwäche mit der Zeit abgewöhnt werden muß, so findet er zuletzt, daß das menschliche Geschlecht doch nicht so vernachlässigt ist, als es Anfangs schien. So ist es auch mit dem Widerwillen gegen Wissenschaften, wo man das haßt, was man liebenswürdig zu machen trachten sollte. Ein solcher Ueberdruß hängt mit der guten Laune gar nicht zusammen.
/ ≥ Von dem Kopfe. ≤
/Kopf bedeutet den Inbegriff aller Talente, welche zur Erklärungskraft gehören. Herz hingegen besteht in dem Inbegriff aller Triebfedern, die den Willen bewegen, und die der Grund alles Thun und Lassens sind. Das Wort Ingeniös kann man nicht Genie nennen, weil dieses noch eine nähere Bedeutung hat. Es giebt eine große Verschie-_
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/denheit von Köpfen, obgleich die Zuthaten, woraus sie zusammengesetzt sind, dieselben sind. Die große Verschiedenheit der Köpfe rührt von der Verschiedenheit des Verhältnisses in den Talenten her. Das Verhältniß (die Proportion) unter einzelnen Talenten, ohne daß Talente zu groß oder klein seyn dürfen, ist schon hinreichend, ein erstaunliches Mißverhältniß unter den Köpfen hervorzubringen; denn die Talente sind so mannigfaltig, daß die verschiedene Lage derselben eine große Mannigfaltigkeit von Erzeugnissen bewirken kann. So wie die verschiedenen Muskeln im Gesichte des Menschen so viele tausend Physiognomien zuwege bringen, so ist es auch innerlich mit dem Verhältnisse der Talente. Bei der Erziehung der Kinder sollte man vorzüglich darauf sehen, daß man nie ein Talent für sich allein bearbeitete, sondern daß man alle insgesammt ausbildete, damit man sie verhältnismäßig entwickelte und vervollkommnete. Mancher Mensch ist ein Narr, nicht weil er keine Urtheilskraft hat, sondern weil er für das Verhältniß seines faden Witzes und seiner zügellosen Einbildungskraft keine zureichende Urtheilskraft hat, um diese ausschweifende Gabe von Witz zu mäßigen. Es fehlt ihm nicht an Urtheilskraft, nur im Verhältniß der Fruchtbarkeit seines Witzes sollte er mehr Urtheilskraft haben. Wenn wir also ein Talent der Gemüthskräfte bilden, so können wir dabei nach einem solchen Mißverhältniße verfahren, daß jemand doch ein Narr wird; denn wenn wir etwan das Gedächtniß zu reichlich versorgen und den Verstand dabei verabsäumen, so kann nichts Unerträglicheres seyn. Der Kopf ist voll von Kenntnissen; die nach keinem Gesetze zusammenhängen, er gleicht einer alten Rüstkammer, in welcher alles untereinander liegt. Verstand und Vernunft nicht auszubilden, giebt aufgeblasene und gelehrte Thoren, die ihr Wissen über alles hochschäzen. Dergleichen sind die Philologen und Literati, jene großen Bücherkenner, die sich historisch durch
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/alle Wissenschaften durchgearbeitet haben, ohne daß die Vernunft ihnen gesagt hätte, wozu dies alles gebraucht werden soll. Sie sind voll erstaunlichen Eigendünkels, halten sich für die Eingeweiheten der Weisheit, und sind doch mit ihrem Wissen der Welt sehr wenig nützlich. Allein das Verhältnis der Ausbildung der Talente genau zu wissen, ist sehr schwer, und wir müssen dabei fast alles auf den Zufall ankommen lassen; denn die Menschen können das, wozu sie aufgelegt sind nicht errathen. Sie wählen so, wie ihnen etwas angeboten wird, oder so, wie sie der Zwang führt. Unter dem Wenigen, was sie kennen, wählen sie nach ihrem vermeinten Geschmacke, aber sie haben noch keine Kenntnisse; daher auch keine rechte Wahl. So kommen Menschen oft zu einem Berufe, der ihnen gar nicht angemessen ist. Gemeiniglich aber hat der Mensch außer seinem Berufe noch ein anderes Steckenpferd, das seinem Geschmacke mehr angemessen ist. Er nimmt für sich Dinge vor, worauf sein Talent gestimmt ist, indem er sich mit seinen Amtspflichten beschäftigt. Da nun kein Mensch so hat wählen können, wie es der Bildung seiner Gemüthskräfte angemessen ist, so ist alle Wahl der Jugend zweifelhaft, und man hat keinen sichern Probirstein, wie man die Talente ausbilden, und welchen Zwecken man ihre Bildung angemessen machen muß. Nach diesem Verhältnisse der Talente, das den Kopf charakterisirt, nennt man die Menschen witzig, judiciös, scharfsinnig, verständig, vernünftig u.s.w., von denen man glaubt, daß Eines von diesen Talenten vorzüglich in ihnen herrsche. Man benennt auch Köpfe nach den Künsten, wozu sie am meisten aufgelegt sind. So hat man dichterische, historische Köpfe. Ein empirischer Kopf ist der, welcher vorzüglich geschickt ist, Beobachtungen zu machen, die sehr fein und scharfsinnig sind. Ein solches Talent ist nicht so etwas Ge-_
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/meines. Man hat freie, vorsichtige, philosophische, mathematische Köpfe. Zwischen diesen verschiedenen Köpfen giebt es sehr namhafte Unterschiede. Wenn gleich Mathematik und Philosophie vorzüglich zur Erreichung der Zwecke der Vernunft geeignet sind, so sind sie doch so heterogen, daß Eines durch das Andere nicht vollendet werden kann. Der Philosoph erkennt alles nach Begriffen, der Mathematiker durch die Darstellung der Begriffe in der Anschauung. Dieser kann die Sache nicht wie jener aus Begriffen beweisen, sondern er muß den Begriff in der Anschauung darlegen. Der Philosoph kann seine Begriffe nicht in der Anschauung darstellen; und da ihm dieses Mittel fehlt, so kann der Mathematiker, wenn er zu philosophiren anfängt, nicht von der Stelle kommen, und der scharfsinnigste Mathematiker macht beim Philosophiren Fehlschlüsse, die man ihm in der Mathematik nicht verzeihen würde. Der Gängelwager der Figuren hilft dem Mathematiker, und so unterscheidet er sich vom Philosophen, wenn sie gleich übrigens darin übereinkommen, daß beide eine Vernunftbeschäftigung betreiben. Der Philosoph bedarf mehr Witz und Aufmerksamkeit, wenn er ins Speculative kommt; der Mathematiker kann seine Begriffe neben sich hinstellen, aber der Philosoph muß seine Begriffe vor sich schwebend erhalten, und dadurch werden alle seine Betrachtungen viel tiefer und ermüdender. Wenn man also meint, daß, wenn man einen Mathematiker bereden könnte, sich der Philosophie zu ergeben, er große Aufklärungen geben würde, so schließt man falsch.
/Der große Newton schrieb, als er alt war, einen Commentar über die Offenbarung Johannis, welches von einem philosophischen Kopfe sehr heterogen ist. Gemeiniglich probiren sich die Köpfe selbst, und dadurch geschieht es, daß ihre Beschäftigungen so werden, wie die Anlage der Natur war.
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/Ein allgemeiner Kopf hat gemeiniglich kein ausgezeichnetes Verdienst in Ansehung des einen oder des andern Gegenstandes. Dies trift die allergrößten Köpfe. Leibnitz steht darum Newton weit nach, weil er seine Gelehrsamkeit allzu ungeheurer ausdehnte, und alles erlernen wollte. Mit dieser Art von Polyhistorie oder dieser Begierde, das ganze Feld der großen menschlichen Erkenntnisse allein umfassen zu wollen, sind große Talente, aber auch viel Eitelkeit verbunden, und ein solcher nutzt dem gemeinen Wesen nicht viel. Die Geschichte erwähnt dergleichen Männer, die in allem Meister waren, z.B. den Schottländer Crichton zur Zeit Jacobs_I., der sich in allen Dingen ausgezeichnet haben soll. Leonardo da Vinci war ein berühmter Mahler, ein Anhänger einer besondern Schule von Mahlern, und wird als das vollkommenste Product der Natur vorgestellt. Er war schön von Gestalt, hatte ein rechtschaffenes Herz, war ein großer Zeichner und Mahler, und in allen Wissenschaften ganz vollkommen, so daß kein Fehler an ihm war. Die Geschichtschreiber erschöpfen sich, wenn sie das Vorzügliche und Allgemeine dieses Mannes bewundern. Solche allgemeine Köpfe hinterlassen keine Werke, die sich in einem Stück vorzüglich auszeichnen. *1
/~ *1 Doch hat Leonardo da Vinci in der Mahlerei Meisterstücke hinterlassen, besonders sein Abendmahl. ~
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/ ≥ Vom Genie. ≤
/Dieses Wort wird sehr gemißbraucht, und hat Veranlassung zu Untersuchungen gegeben, die sehr vergeblich sind, und durch die man es ganz genau zu entziffern gesucht hat, was man damit meint. Gerard, ein Engländer, hat vom Genie geschrieben, und darüber die besten Betrachtungen angestellt, obgleich die Sache sonst auch bei andern Schriftstellern vorkommt. Genie ist die Originalität des Talentes, und kommt von Genius her, welcher einen eigenthümlichen Geist bedeutet, der den Menschen immer begleitet, der ihm schon von der Geburt an beigesellt ist, und ihn regiert. Man kann das Genie also einen eigenthümlichen Geist nennen, nur daß man unter Geist kein Gespenst versteht, sondern daß der Geist im Menschen etwas Eigenthümliches hat, was er nicht mit anderen Dingen gemein hat. Die Franzosen können das Wort Geist nicht gebrauchen, weil bei ihnen Esprit so viel als Witz bedeutet; der Witz aber ist beim Genie nicht das Vorzüglichste. Daher haben sie den Ausdruck aus dem Lateinischen genommen. - Wir können die Talente, die dem Grade nach vorzüglich sind, noch nicht zu Genies machen, sondern es muß eine ursprüngliche Originalität da seyn. - Original heißt 1) negativ das, was nicht nachgeahmt, 2) positiv, wenn etwas nachahmungswürdig ist, weil es keine Nachbildung ist, sondern ein Original genannt werden kann, was nachgeahmt zu werden verdient. Man kann so wohl originale Narren als originale kluge Leute haben, wenn es gleich viel ist, wie etwas beschaffen ist; denn man darf nur etwas nach einem außerordentlichen Plane anlegen, so ist darin Originalität. Daß der Nachahmungsgeist das Gegentheil alles Genies ist, sieht man schon
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/aus der Bedeutung des Worts; denn Genie kommt von gignere her, es müssen uns also die Erzeugnisse schon angeboren, und unsere Natur gleichsam eigenthümlich seyn. Wenn man sagt, der Mensch hat Genie, so heißt es, solche Erzeugnisse würde Niemand durch Erlernung hervorgebracht haben. Erlernung ist Nachahmung, es darf also dazu weiter nicht erfordert werden, und setzt keine Vorzüge in Ansehung der Geburt, sondern nur Fleiß voraus. Durch Fleiß muß man den Mangel ersetzen, wenn die Natur uns stiefmütterlich versorgt hat. Das Genie muß von Natur da seyn, und aus dem Menschen entspringen: z. B. witzig zu seyn kann, kein Mensch erlernen. Das Nachsprechen nimmt dem Witze seine Schönheit, ja sogar den Namen des Witzes. Zu dieser Originalität und Unabhängigkeit von allen Mustern wird Freiheit vom Zwange der Regeln erfordert; der Nachahmungsgeist aber beruht darauf, daß man ohne Regel keinen Schritt thun kann, sondern immer Vorschriften unterworfen ist, von denen man einen ängstlichen Gebrauch macht.
/Shakespeare ist ein Kopf von der Art, die man Genies nennt; er hat seine theatralischen Stücke so abgefaßt, daß sie allen Regeln Trotz bieten. Er hat weder die Einheit des Orts, nach der Personen beobachtet, nicht aus Unwissenheit, sondern weil seine Einbildungskraft einen weiten Spielraum haben mußte, und sich nicht einkerkern ließ. Ob es aber rühmlich, ihn nachzuahmen, oder ob dies ein Fehler sey, ist eine andere Frage; denn man kann nicht behaupten, daß die Regellosigkeit hier eine gute Seite des Genies sey, nein, es war ein Fehler; aber die Fruchtbarkeit des Genies ersetzt ihn wieder. So viel ist gewiß, daß der Zwang der Regeln bei vorzüglichen Erzeugnissen des Genies aufhört; denn das Genie ist der Meister der Regeln, und nicht ihr Sclave. Wenn die
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/Regeln bloß conventionell sind, so kann man am ersten davon abweichen; so hat jedes französische Theater conventionelle Regeln. - Wenn das Genie auch Nachsicht verdient, daß es sich bisweilen den Regeln nicht unterwirft, so kann man doch nicht sagen, daß es ein eximirter (befreiter) Kopf sey, und sich über alle Regeln wegsetzen könne. So ist das nur eine Nachsicht, die man ihm gestattet, und hat Aehnlichkeit mit der licentia poetica. Wegen des Zwanges, dem der Dichter unterworfen ist, wird es ihm nachgesehen, wenn er sich manchmal die Freiheit nimmt, etwas von den Regeln der Sprache abzuweichen, aber deshalb ist er noch nicht von allen Regeln frei gesprochen.
/Dem Genie ist nichts mehr zuwider, als ein Mechanismus in der Erziehung. Dieser findet sich vorzüglich bei den Teutschen; denn bei keinem Volk in Europa ist weniger Originalität als bei ihm, indem schon der Schlag der Nation dazu geneigt ist, nachzuahmen. Die Engländer werden gar nicht nach solchem Zwange erzogen, und da sie weniger eingekerkert sind, so wachsen sie auch freier auf. Man kann in unseren Schulen nichts Abgeschmackteres sehen, als ein Schulgenie. Der junge Mann sucht Phrasen auf, plündert viele Schriftsteller und stoppelt etwas zusammen, was einem geflickten Mantel ähnlich sieht; dann freuet er sich herzlich, wenn das so hoch klingt. Eine imitatio Ciceroniana unterdrückt den Kopf ganz erstaunlich; denn nachäffen kann man Cicero wohl, aber ihn nachahmen, und es ihm gleich thun, das kann man von keinem Kinde begehren. Dieser Mechanismus der Köpfe verdirbt diese gar sehr. Gewisse Stände erfordern den Mechanismus; im Militairstande ist er sehr nützlich und eben darin besteht der Vorzug der europäischen Nationen. Die orientalischen Völker können in einem Gefechte nicht gewinnen, weil dieses ge-_
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/gliedert geliefert wird; denn wenn der Mensch die völlige Abgemessenheit der Mechanik hat, so ist er unwiderstehlich. Wenn Leute in Corps handeln, so kann ihnen nichts widerstehen, und sie werfen die einzelnen Mächte leicht über den Haufen. Im Civilstande aber taugt der Mechanismus nichts. Auch selbst im Militair hat er einigen Nachtheil; denn wenn er da gar zu hoch steigt, so gehen die wirklichen Genies aus dem Dienste. Im Civilwesen kann man auch eine Art von Mechanismus nachsehen, nemlich die Ordnung; allein wenn diese so weit geht, daß alles so eingerichtet wird, um gleichsam nach einer Tabelle zu verfahren, so ist kein Mensch mehr, der denkt. Das Mechanische in der Führung der Geschäfte ist die Grundlage in der großen Verbindung mit Menschen und macht die Ausführungen vieler Sachen nützlich.
/Ein Genie, das vom mechanischen Kopf himmelweit verschieden ist, ist der, welcher im Laufe der Dinge Epoche macht, nur zu gewissen Zeiten erscheint und Verbesserungen bewirkt. Daher sind die Genies gemeiniglich unwillkommen, und werden nicht sehr geachtet, weil sie Unruhen erregen und Staaten in Unordnung bringen. Bei dem Genie kommt es nicht sowohl auf die Größe des Talents, als für die besondere Stellung desselben an. Swift und Lichtenberg sind ganz Originale in der Satyre, so daß man gleich sieht, daß kein Mensch so denken würde; daher erregen ihre Schriften so sehr das Lachen. Das Genie ist auf das Mißverhältniß gegründet, wie eine Mißgeburt, bei welcher einige Glieder übel gebauet sind welche aber im übrigen gesunde Glieder hat. Es ist sonderbar, daß Aristoteles, Socrates, Pope, welches vorzüglich große Genies waren, buckelig waren; alle Genies sind von kleiner Statur.
/Es giebt jedoch in Ansehung der Originalität des Genies Affen. In keinem Lande sind so viele Leute, die
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/sich durch Abweichungen von der Regel Originalität zu verschaffen suchen, als in Teutschland. In Frankreich und England hat man nie so von einer kauderwelschen Sprache gehört, als vor kurzem in Teuschland, da man der Sprache eine besondere Form geben wollte, bloß um ein Genie zu scheinen. Das ist sehr leicht; denn wenn das Genie nichts anders wäre, als das Fratzenhafte, so wäre es sehr leicht, ein Genie zu werden.
/Das Positive beim Genie ist das Schöpferische oder die Production aus eigenthümlichen Talenten. Die Originalität muß in der Fruchtbarkeit der Talente bestehen. Man findet bei einigen Leuten Anlagen von Genie, bei denen hier und da durch ihre Imagination unvollendete Ideen hervorgebracht werden, die uns eine Aussicht zu neuen Bildern geben. Schwärmer scheinen Leute zu seyn, die man verfehlte Genies nennen könnte; die Natur ist nicht fertig geworden, sie zu Genies zu machen. Der Philosoph freuet sich stets, wenn er solche Leute findet, indem er von ihnen viel Charakteristisches entlehnen kann; dergleichen war Swedenborg; seine Originalität gränzte an Wahnsinn. Daher sagt man auch, Genie und Raserei seyn nicht weit von einander entfernt. Der Schwärmer und der Enthusiast geben den Stoff, das Eigenthümliche des Genies abzuzeichnen. Einige Leute können in das Schwärmerische der Imagination Verstand hineinbringen.
/Zum Genie wird erfordert Empfindung, Urtheilskraft, Geist und Geschmack.
/1) Empfindung d.i. die ganze Sinnlichkeit und die Imagination. Die Letzte macht die Empfindung aus der Wahrnehmung der Sinne wieder rege. Zum Genie wird Stärke, Klarheit, Mannigfaltigkeit, und ein großer Umfang der Anschauung erfordert. Diese Eigenschaften müssen hauptsächlich Dichter und Mahler besitzen. Bei Milton und Shakespeare sind die vorzüglich anzutreffen.
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/2) Unter Urtheilskraft verstehen wir alles das, was die Erzeugnisse der Imagination der Wahrheit angemessen machen kann; denn bei aller ihrer Fruchtbarkeit weicht die Imagination oft von der Natur ab; Urtheilskraft ist also der Censor des Genies, welcher es der Zucht unterwirft. Genies sind anzusehen als Schooskinder der Natur, die sie mit vorzüglich guten Talenten beschenkt hat, die aber wie alle Schooskinder verzogen sind.
/3) Geist. Im Teutschen kommt das Wort Geist mit Genie überein. - Man sagt nicht, der Mensch hat den Geist, sondern er hat Geist; es wird also hier als ein Prädicat gebraucht. Man sagt, die Gesellschaft hat Geist, i.e. etwas, was sie belebt; denn das, was alle unsere Talente beseelt, ist der Geist. Es giebt Personen, die durch ihre Gespräche eine ganze Gesellschaft aufmuntern können. Geist herrscht in der Mahlerei; von dem Holländer sagt man, er mahle ohne Geist. Geist ist die Idee, worin alle andere Vorstellungen ihre Vollendung bekommen, und die durch ein Erzeugniß durchscheint; daß eine solche Idee einem Werke zum Grunde gelegen hat, muß aus demselben selbst erhellen. Wenn Geist in der Gesellschaft war, so kommt man unterhalten und belehrt heraus. Das Vermögen, diese Ideen zu unterwerfen, zeigt große Vorzüge des Talents an.
/4) Der Geschmack macht das Erzeugniß des Genies so, daß es mit jeder Empfindung zusammenstimmt. Es muß nicht bloß mit Privatempfindungen übereinstimmen, sondern allgemein und gesellschaftlich werden können. - Daher ist es Kindisch, zu sagen, jeder habe seinen eigenen Geschmack; denn ein solcher hat gar keinen Geschmack, weil der Geschmack darin besteht, daß eine Sache auch für Andere gilt. Der Geschmack ist eine Eigenschaft in uns, die bloß für die Geselligkeit hinausläuft, so daß wir nicht bloß auf unseren, sondern auf Anderer
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/Geschmack Rücksicht nehmen. Kein Mensch hat Geschmack, der nicht eine gesellige Neigung hat. Der Geschmack bedeutet eine Uebereinstimmung in den Empfindungen. Wir finden, daß in den Gefühlen der Menschen etwas Allgemeines ist, und ein Mensch hat Geschmack, wenn er einer solchen Art zu empfinden fähig ist, daß sie mit vielen andern Empfindungen übereinstimmt.
/Das Wesentliche des Genies ist Geist, oder das schöpferische Vermögen, das eine Reihe von Vorstellungen hervorbringt und Urtheilskraft oder das critische Vermögen. Urtheilskraft ohne Geist, und Geist ohne Urtheilskraft macht kein Genie aus, das minderwichtige, zum Genie Gehörige, ist Empfindung und Geschmack.
/Man sagt von einem Menschen, er hat Genie, oder er ist ein Genie. Das Letzte bedeutet die Originalität des Kopfs. Der Mann hat Genie, will so viel sagen: er hat eine Anlage und eine Vereinbarung aller Talente, die vorzüglich zu einer oder der anderen Art der Ausübung bestimmt sind. Aber worauf die Vereinbarung aller Talente gegründet sey, ist gemeiniglich schwer zu entdecken, ob es schon bei der Wahl der Lebensart sehr nützlich wäre, zu wissen, welches wohl das Geschäft seyn möchte, das man nach ihrer Anlage am besten betreiben könnte. Dies vermögen die Menschen gemeiniglich erst spät, wenn sie ihre Lebensart schon lange getrieben haben. Wenn der Mensch seine Naturbestimmung erfüllt, so kann man nicht sagen, er hat Genie, weil er dabei nichts Vorzügliches leistet. Man pflegt nur bey denen Genie zu suchen, die vorzügliche Talente bei Dingen zeigen, die nicht durch Fleiß ersetzt werden können, z. B. wenn ein Mahler nicht bloß ein Nachzeichner der Natur, sondern Schöpfer in den Gemälden ist. Es giebt gute Mahler in Ansehung dessen, was das Nachahmen betrifft, aber sie können keine neue Composition entwerfen; Genie ist also das, wo der Fleiß
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/den Mangel der Talente nicht ersetzen kann, dergleichen sind alle Erzeugnisse der Imagination. Einen guten Mathematiker nennt man nicht Genie, hingegen sucht man bei dem Dichter Genie: bisweilen sehen wir Genie bei der Erfindung einer mechanischen Kunst, wo die Natur alles allein gethan hat.
/Autodidacten, welche Dinge ausfindig machen, die sonst schon bekannt sind, nennt man Genies, weil ihnen das Talent angeboren und das Erzeugniß gleichsam durch sich selbst erschaffen ist. Hieraus ergiebt sich, daß es bei'm Genie nicht auf die Größe des Talents ankommt, sondern darauf, daß es nicht in der Nachahmung bestehen darf. Wir können das Genie mit einem Baume vergleichen: es schießt seine Wurzeln in die Urtheilskraft. Von Teutschland kann man nicht sagen, daß da die Natur sehr freigebig mit Genies gewesen sey, aber das vorzüglichste bei den Teutschen ist die Urtheilskraft, welche eine sittsame Eigenschaft ist, die nicht an wichtigen Erzeugnissen fruchtbar ist, sondern für eine bescheidene Erreichung der Wahrheit abzweckt. Ihr Nutzen ist mehr negativ als positiv. Das Genie schießt in die Krone bei dem, was das vorzügliche Talent der Imagination, nemlich bei der, productiven, ist, die selbst neue Bilder hervorbringt. Am meisten schießt das Genie in die Krone in Italien; denn da giebt es die größten Producte der Imagination, d.i. des Talents der Sinnlichkeit, Gegenstände in ihrer vollkommensten Art hervorzubringen, z.B. in der Mahlerei, Bildhauerkunst, Baukunst. Bei diesen hat der Verstand immer seinen Antheil, aber das Wesentliche besteht doch in der Richtung der Imagination auf Neuheit, Lebhaftigkeit u.s.w. In die Blüthe schießt das Genie bei dem Geschmacke. Frankreich ist der Sitz des Geschmacks, welcher in der Wahl besteht, die einem jeden gefällt. Dieses Vermögen, gesellschaftlich zu wählen, ist bei den Nationen am größten,
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/die Meister in der Gesellschaftlichkeit sind. Doch ist die Blüte nicht das Wesentliche des Genies; denn der Geschmack thut nur die Feinheit zu den Erzeugnissen des Genies hinzu, um sie gleichsam zu glätten; das Genie kann sehr rohe Produkte hervorbringen, z. B. Shakespeare; da zeigt das Genie seine ganze Kraft, und läßt sich nicht durch das Beispiel einschränken. Ein Mensch hat Geschmack, wenn er für jedermann und nicht nur für sich wählt. Jemand in der Einsamkeit wird zwar immer Lüste behalten, und gewisse Dinge werden ihm angenehm oder unangenehm seyn; Geschmack aber kann er nicht haben, weil er nichts für die Gesellschaft wählen kann. Der Verstand beurtheilt alles nach der Wahrheit, der Geschmack aber nach der Sinnlichkeit eines jeden. Je größer die Geselligkeit bei einem Volke ist, desto feiner wird sein Geschmack seyn, und dadurch wird es der Gesetzgeber des Geschmacks werden; dies sind die Franzosen, wovon ihr Hang zur Geselligkeit die Ursache ist, der in diese Nation mehr, als in eine andere gelegt ist. Schon die alten Gallier werden als solche gesellige Leute beschrieben. Montesquieu wird wegen seiner Schriften außerordentlich bewundert, obschon mehr Blüte als Wurzel darin ist. Hier schießt das Genie mehr in die Frucht. Wenn einerlei Gegenstand von verschiedenen Nationen behandelt wird, so finden wir doch, daß der wirkliche Werth mehr in den Schriften der Engländer, als bei Andern gefunden wird.
/Bei dem Genie ist der unerforschlichste Theil das, was man Geist nennt. Dies auszufinden, was man in allen Erzeugnissen der Menschen Geist nennen kann, ist eben so unmöglich, als es ist, einen Geist in der Erscheinung mit Händen zu fassen. Unter Geist versteht man das, was belebt; was aber das sey, was in den Erzeugnisse der Imagination belebend ist, ist schwer zu finden.
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/Wir bemerken, daß ein Ausdruck in einem Dichter einen Eindruck machen kann, daß alle unsere Gemüthskräfte bewegt werden, daß unser Witz in ein Spiel zu gerathen anfängt, und daß unser Verstand Stoff zu denken erhält. Dieser Geist ist nicht bloße Lebhaftigkeit, denn durch Lebhaftigkeit kann der Mensch sehr überlästig werden, sondern Geist ist das, was da wirklich belebt. Beim Geiste ist der Mensch nicht bloß lebhaft, sondern seine Lebhaftigkeit geht sympathetisch auch in das Leben Anderer über. Wir finden, daß in einer Schrift Geist sey, aber man kann nicht sagen, worin er steckt; es scheint jedoch, daß wir einen gewissen Samen zu Kenntnissen eingesogen haben, und mit neuen Gedanken beschwängert sind; man hat seine Talente mit neuen Ideen bereichert. - Zu dem, was Geist heißen soll, wird etwas erfordert, was speciale Idee heißt, welche darin besteht, das Wesentliche aus den Dingen zu ziehen, was in ihnen liegt, wo das Uebrige bloß ein Zusatz ist zu dem, was die wahre Frucht gewisser Erkenntnisse ausmacht. Formey hat aus den Werken J. J. Rousseau's einen Auszug gemacht, welcher aber nichts als die allgemeinen Ideen enthält, wobei denn vieles hinzugesetzt ist, um das Werk auszudehnen. Die Hauptideen, die in manchen Schriften herrschen, sind oft so schwer heraus zu bringen, daß sie der Verfasser selbst oft nicht heraus finden, und ein Anderer ihm manchmal besser sagen kann, was die Hauptidee war. Wenn aber in dem Erzeugnisse etwas ist, das durch das Ganze einstimmig lebt, so nennt man dies Geist. Es kann ein Buch sehr viel Witz enthalten, und sehr unterhaltend, aber doch noch vom Geiste sehr weit entfernt seyn; denn Witz ist eine Art von Leckerwerk, das zwar belustigt, aber nicht oft kommen muß, so wie Süssigkeiten, allein der ächte Geist strengt unsere eigenen Talente mit an, und macht sie dem Originale ähnlich
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/Es giebt Schriftsteller, die aus sich selbst Dinge hervorbringen, die zwar nicht unerhört sind, die sie aber doch ohne alle Belehrung haben zu Stande bringen können. Dies sind die Zöglinge der Natur die von selbst dazu gelangt sind, was Andere nur durch vielen Fleiß haben erlernen können. Kein Land enthält nach Verhältniß der Menschen der Einwohner so viel solche Zöglinge, als die Schweiz; selbst unter den Bauern findet man sie in Menge. Es giebt unter ihnen Philosophen, ohne daß sie es selbst wissen; in ihrem Thun ist so viel Philosophie und in ihren Reden so viel Originalität, daß man sich darüber wundern muß; diese Menschen verdienten wohl, daß man ihren Eigenschaften nachspürte.
/So hat man in der Schweiz wahre mechanische Köpfe, die es allein durch sich selbst geworden sind. Man hat z.B. Brücken durch mechanische Kunst erbauet, die viel Wunderbares haben. Von diesen sind die Autodidakti zu unterscheiden; denn diese bedürfen große Arbeit und Fleiß, und gelangen mit großer Mühe zu dem, wozu sie durch eine kurze Belehrung von Andern würden gebracht worden seyn, z.B. in der Mathematik, Mahlerei etc.; dies sind keine Genis, sondern emsige Leute, die auf etwas verfallen, in das sie sich einmal verliebt haben; diese bleiben gemeiniglich in sehr kurzen Schranken; die wahren Genies aber fangen damit an, daß sie etwas vornehmen, was ein Anderer, dem die Sache schon bekannt war, nicht würde zu Stande gebracht haben. Musiker setzen darin eine große Geschicklichkeit, wenn sie auf einem Instrumente die Töne herausbringen können, die ein anderes Instrument hat, z. B. auf der Hautbois im Flötentone zu blasen, ob der Ton gleich an sich nicht angenehm ist. Wenn es also etwas Außerordentliches ist (ob gleich keinen Werth hat), so wird es doch durch diese Seltenheit und Kunst, die dabei nöthig ist, angenehm,
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/und so bewundern wir Leute, die ohne Hülfsmittel bei allen Hindernissen es so weit gebracht haben.
/Man könnte fragen, ob die Lust zu einem Geschäfte mit der Naturgabe zu demselben immer übereinstimme, und ob die Natur es so geordnet, daß sie uns dazu, wozu sie uns das Talent gab, auch den Hang gegeben habe? Man sollte denken, die Natur würde keinem Thiere einen Instinkt gegeben haben, ohne ihm auch das Talent dazu zu verleihen; aber die Erfahrung stimmt bei den Menschen nicht damit überrein. Es kann seyn, daß jenes das vorzüglichste Talent des Menschen sey, wozu er den meisten Hang hat; aber der Mensch kann wenig damit nützen. Kein Mensch kommt dahin, wohin ihn die Anlage der Natur bestimmt hat, sondern fast alles kommt auf Zufall an. Manche Menschen haben ihr Steckenpferd, wobei sie ihre Belustigung finden, sie mögen dazu Talent haben oder nicht; dieses beweiset, daß das Talent nicht immer mit dem Hange übereinstimmt. So hat bisweilen ein Jurist großen Hang zur Dichtkunst, und verabsäumt wohl darüber sein Amt, wenn er gleich getadelt und herunter gemacht wird, aber er kann es einmal nicht lassen; hieraus sieht man, daß der Kitzel zum Dichten das Unangenehmste von der Welt seyn muß. Ein großer Hang beweiset also nicht immer das Talent, aber dieses zeigt sich doch aus dem Verhalten des Menschen. Als Pflicht übernimmt man ein Amt, und aus Lieblingsbeschäftigung ein angeerbtes Geschäft.
/Praecocia ingenia sind Kinder von vorzüglicher und sehr früher Entwickelung der Fähigkeiten; dies bedeutet aber gemeiniglich, so wie die zu früh ausgebrochene Blüte eines Baumes, keine Frucht. Baratier, der im 14ten Jahr schon Doktor der Philosophie war, und Heinicke sind Wunderkinder gewesen; aber der Erfolg hat bewiesen, daß, als sie erwachsen waren, ihr Geist keine
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vorzüglichen Talente zeigte. Das Genie wird oft durch
cyclopische Gelehrsamkeit niedergedrückt, d.i. durch Gelehrsamkeit, wozu der Mensch Gedächtniß nöthig, und wo die Urtheilskraft nicht Kräfte genug hat, allen Stoff des Gedächtnisses zu verarbeiten, und das wahre Genie unter der Last einer so ungeheuern Gelehrsamkeit niedergedrückt wird. - Leibniz war Eines der vorzüglichsten Genies, aber da er sich durch seine Talente verleiten ließ, alles wissen zu wollen, so geschah es, daß er in keiner Wissenschaft sich vor allen Andern auszeichnete.
/Gewohnheit kann den Mangel der Talente ersetzen, sie besteht in der Leichtigkeit der Ausübung, und macht 1) die Arbeit leicht, 2) das Leiden leicht. Das Leiden wird dadurch leicht, daß man ihm entgegen arbeitet, so daß der Mensch sich eine Gewohnheit erwirbt, den Annehmlichkeiten des Lebens einen gewissen Werth entgegen zu setzen. Gewisse Beschäftigungen bringen durch die Gewohnheit eine Leichtigkeit zuwege, welche dem Talente forthilft; bei gewissen Leuten bewundert man ihre Geschicklichkeit, da sie doch nichts weiter als Routine haben; denn wenn etwas bloßer Mechanismus ist, so bringt die Routine ein Analogon von Gelehrsamkeit zuwege; wenn einmal die Vorschriften da sind, so findet man sich in alles, z.B. in der Jurisprudenz. Es ist da gleichsam ein spanischer Klepper vor einen Pflug gespannt; denn wo peinliche Befolgung der Regel nöthig ist da ist das Genie überflüssig.
/Kelli in Florenz bemerkt, daß es eine Metempsychosis der Genies gebe. Er will es vorzüglich an drei Personen bemerkt haben, daß der Geburtstag des Einen der Sterbetag des Andern war. Am Sterbetage des Michel Angelo wurde Galliläi geboren, und an dessen Sterbetage Newton. Aber als Newtons Mutter schwanger war,
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/lebte ja Galliläi noch, und das Kind mußte doch schon in Mutterleibe eine Seele haben. *1
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/~ *1 Die Kritik der Urtheilskraft von Kant, welche bedeutend später erschienen ist, als obige Vorlesungen gehalten und die pragmatische Anthropologie geschrieben worden ist, theilt S. 181 Bemerkungen über das Genie mit, welche noch tiefer in die Natur desselben einbringen und welche das Treflichste sind, was wir über diesen Gegenstand haben. Genie, heißt es da, ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel giebt. Da das Talent als angebornes produktives Vermögen des Künstlers selbst, zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken; Genie ist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt. - Die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich. Das Genie ist 1) ein Talent, wovon die Originalität die erste Eigenschaft ist. 2) Seine Produkte müssen zugleich Muster d.i. exemplarisch seyn, nicht durch Nachahmung entsprungen und müssen Andern zum Richtmaße oder zur Regel- der Beurtheilung dienen. 3) Es kann nicht beschreiben oder angeben, wie es sein Produkt zu Stande bringe, aber es giebt als Natur die Regel. Jemand ist der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt und weiß selbst nicht, wie sich die Ideen dazu in ihm herbeifanden; auch hat er es nicht in seiner Gewalt, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken und Andern in solchen Vorschriften mitzutheilen, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen. Die Natur schreibt durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vor und auch dieses nur, in so fern diese letztere schöne Kunst seyn soll. Genie ist dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegengesetzt. Die Regel, welche das Genie der Kunst giebt, kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen, weil sonst das Urtheil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar seyn würde, sondern die Regel muß von der That d.h. vom Produkte abstrahirt werden, an welchem Andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der Nachahmung dienen zu lassen. Wie dieses möglich sey, ist schwer zu erklären. Die Ideen des Künstlers erregen ähnliche
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/Ideen bei seinem Lehrlinge, wenn ihn die Natur mit einer ähnlichen Proportion der Gemüthskräfte versehen hat. Die Muster der schönen Kunst sind daher die einzigen Leitungsmittel, diese auf die Nachkommenschaft zu bringen, welches durch bloße Beschreibungen nicht geschehen könnte.
/Die Vermögen das Gemüths, welche das Genie ausmachen, sind Geist in ästhetischer Bedeutung, d.h. das belebende Prinzip im Gemüthe, ästhetische Ideen, welche diejenige Vorstellung der Einbildungskraft sind, die viel zu denken giebt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.h. Begriff adäquat seyn kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann, eine schöpfeische, Einbilungskraft und Kraft. Genie ist daher die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Menschen im freien Gebrauche seiner Erkenntnißvermögen. Zur schönen Kunst sind Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack erforderlich. d. Her. ~
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/ ≥ Von dem Gefühle der Lust und Unlust. ≤
/Wir haben bisher von der Sinnlichkeit und dem Verstande, oder von unserm Erkenntnisvermögen gesprochen; denn die Vermögen des Menschen können wir in drei eintheilen; 1) in das Erkenntnißvermögen; 2) in das Gefühl der Lust und Unlust und 3) in das Begehrungsvermögen oder den Willen. Alle unsere Vermögen laufen auf Thätigkeit und Ausübung hinaus, und der Mensch hat in sich Grundsätze des Handelns. Zu diesem Behufe hat er Vorstellungen von Erkenntnissen, von Lust und Unlust, und von einer Bestimmung der Kräfte, den Gegenstand hervorzubringen oder abzuhalten.
/Das Gefühl der Lust und Unlust ist ein anziehender Gegenstand. Bei der Erkenntniß zog uns noch nichts an, weil wir da noch nicht erkannt hatten, ob etwas unserer Neigung gemäß sey. - Nun fragen wir aber nach den Bedingungen, unter denen das Erkannte ein Gegenstand unserer Lust oder unserer Unlust sey. Es ist
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/schwer zu erklären, was Lust und Unlust, und eben so schwer, was Vergnügen und Schmerz sey. Das Vergnügen ist das Gefühl von der Beförderung unseres Lebens, und der Schmerz das Gefühl von der Hinderung desselben. Unter Vergnügen verstehen wir nicht das Gefühl des Lebens; denn bei dem Schmerze fühlen wir das Leben eben so wohl, ja wohl noch stärker. Bei dem Schmerze wird dem Menschen das Leben erstaunlich lang, bei dem Vergnügen aber kurz; also macht nur das Gefühl von der Beförderung des Lebens das Vergnügen aus. Das Hinderniß des Lebens macht auch noch nicht den Schmerz aus, sondern es muß ein Gefühl von dem Hindernisse des Lebens da seyn. Es kann ein Hinderniß des Lebens nur klein seyn; in einem Organe kann ein Hinderniß des Lebens erregt werden, aber das Gefühl dieses kann groß seyn, z. B. bei Zahnschmerzen. Eben so kann die Beförderung des Lebens augenblicklich seyn, und hinterher noch eine Schwäche des Gemüths zurücklassen, so wie es viele solche Vergnügungen giebt, die hinterher mit einer Art von Unmuth begleitet sind. Aber so lange ein Vergnügen dauert, ist es doch ein Gefühl von der Beförderung des Lebens.
/Unser Leben besteht in der Thätigkeit; diese Art von Vergnügen dient dazu, unsere Thätigkeit zu befördern; andere aber hindern sie; das Gefühl von den Hindernissen der Thätigkeit des Lebens ist der Schmerz; das Gefühl aber von der Beförderung der Thätigkeit des Lebens das Vergnügen. Dies finden wir bei allen Zeitverkürzungen, und wir können sogar das Vergnügen des Lesens dahin zählen. Wir bemerken eine harmonische Bewegung aller unserer Gemüthskräfte bei der Musik, Dichtkunst, welche ein Gefühl von der Beförderung unsers Lebens sind. Viele vermeintliche geistige Vergnügungen sind mittelbar doch körperlich, ob wir schon dafür
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/halten, daß nur unser Geist dadurch ein Vermögen erhalte; z. B. die Musik trägt zur Verdauung und zur Gesundheit bei, und da wird unser Gemüth durch das Wohlbefinden des Körpers mit in Bewegung gesetzt, welches man das idealische Vergnügen nennt.
/Es fragt sich, ob das Vergnügen für sich allein vorhanden seyn könne und ob wir jedesmal eines Vergnügens fähig sind, oder ob vor jedem Vergnügen ein Schmerz vorhergehen müsse, so daß das Vergnügen bloß eine Aufhebung des Schmerzes und nichts Fortdauerndes, sondern der Schmerz allein das Selbstständige sey, und nichts zu enthalten, was einen Werth hätte. -
/Wenn das Vergnügen das Gefühl von der Beförderung des Lebens ist, so setzt dies ein Hinderniß des Lebens voraus; denn es kann keine Beförderung erfolgen, sobald kein Hinderniß vorangeht. Wenn also das Hinderniß des Lebens der Schmerz ist, so setzt das Vergnügen den Schmerz voraus. Wenn wir unsere Lebenskräfte über das Maaß vergrößern wollen, um aus dem Zustande der Gleichheit herauszugehen, so bringen wir einen entgegengesetzten Zustand hervor, und wenn wir die Lebenskräfte über das gebührende Maaß vergrößern, so bringen wir ein Hinderniß hervor. Die Lebenskraft hat ein Maaß, wobei weder Vergnügen noch Schmerz ist, das Wohlbefinden. Wenn dieser Zustand durch irgend etwas verringert ist, so ist eine Beförderung des Lebens nützlich, sobald dieses Hinderniß des Lebens aufgehoben wird; das Vergnügen kann daher nur auf einen Schmerz erfolgen. Wenn wir unsere Augen auf den Lauf der Dinge richten, so finden wir einen Trieb in uns, der uns augenblicklich zwingt, aus unserm Zustande heraus zu gehen. Wir werden durch einen Stachel dazu genöthigt, durch eine Triebfeder, wodurch alle Menschen (als Thie-_
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/re) in Thätigkeit gesetzt werden: In Gedanken ist der Mensch immer nur gequält; er geht beständig aus dem gegenwärtigen Zustande heraus in einen andern, lebt immer in einer künftigen Zeit, und kann in der gegenwärtigen nicht verweilen, sondern ist stets gezwungen, auf künftige Aussichten über zu gehen. Allein alles dies, was uns nöthigt, aus einem Zustande heraus zu gehen, muß doch ein Schmerz seyn, und daß das Vergnügen uns nicht lockt, aus der Zukunft heraus zu gehen, sondern eine Art von Ungeduld den Menschen anficht, um seinen kleinen Schmerz zu lindern, sieht man daraus, daß man sich schon im voraus einen Gegenstand des Vergnügens sucht, ohne noch den Gegenstand desselben zu kennen, und ihn bloß als eine Hülfe für die Unruhe, die ihn treibt und quält, aufspürt; denn wir sehen deutlich, daß, wenn der Mensch beständig beschäftigt ist, und immer Plane macht ihn kein Vergnügen lockt, das er in der Aussicht hat, sondern er dasselbe erst zu erlangen sucht; er ist getrieben worden, aus dem Zustande des Schmerzes heraus zu gehen, um sich Linderung desselben zu verschaffen. Der Mensch befindet sich also in einem immerwährenden Schmerz, und dieser ist der Sporn zur Thätigkeit in der menschlichen Natur. Unser Loos ist so beschaffen, daß nichts bei uns dauerhaft ist, als der Schmerz, bei dem Einen mehr, bei dem Andern weniger, aber so, daß er doch bei Allen bleibt, und daß die Vergnügungen bloß kleine Linderungen des Schmerzes sind. Das Vergnügen ist nicht positiv, sondern nur eine Befreiung vom Schmerze, die bloß negativ ist. Hieraus folgt, daß wir beim Vergnügen niemals anfangen können, sondern bloß beim Schmerze, und daß das Vergnügen nur immer auf Schmerz folgen kann; denn weil es nur eine Befreiung vom Schmerz ist, so kann es nicht zu Anfang seyn. Das Vergnügen kann also nicht in Einem
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/fortdauern, sondern muß sich mit dem Schmerze vereinigen, um sich alle Augenblicke durch den Schmerz durchzubrechen, worin eigentlich das Vergnügen besteht. Der Schmerz kann aber in Einem fortdauern und langsam und allmählich gehoben werden; dann bemerken wir das Vergnügen nicht. Die augenblickliche Hebung des Schmerzes macht das, was wir ein wahrhaftes Vergnügen nennen können. Wir finden uns fortwährend mit namenlosen Schmerzen ergriffen, wir nennen Unruhe, Begierde, und jemehr ein Mensch Lebenskraft hat, desto stärker fühlt er den Schmerz. Ohne daß das Gemüth etwas Körperliches plagt, ist es doch von namenlosen Schmerzen gefoltert, und handelt, ohne daß es genöthigt wird, etwas vorzunehmen. Menschen laufen deshalb in Gesellschaften, woran sie sonst keinen Geschmack finden, und ob sie gleich dasselbe Misvergnügen fühlen, so hebt doch der Wechsel der mancherlei Eindrücke ihren Schmerz auf. - Aus eben der Ursache haben sich auch verschiedene Menschen das Leben genommen, und der größte Theil solcher Melancholischen kommt auf das Laster des Selbstmordes, weil der Stachel des Schmerzes sie so verfolgt, daß sie kein anderes als dieses Mittel dagegen finden.
/Es ist ganz gewiß, daß die Einrichtung der Vorsehung von der Art ist, daß wir durch den Wechsel des Schmerzes zur Thätigkeit getrieben werden sollen. Kein Mensch kann stets am Genusse der Ergötzlichkeiten Vergnügen finden, sie werden ihm mit der Zeit schal; er kann kein wahres Vergnügen nirgends genießen, als allein in der Arbeit. Diese ist für ihn so nothwendig, daß er in ihrer Ermangelung seine Zeit nicht so gut zubringen würde, als bei der Arbeit selbst. Das Vergnügen bei dieser besteht in der Rückwirkung gegen den Schmerz, dem der Mensch unterworfen seyn würde, wenn er nicht
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/eine Kraft anstrengte, ihm zu entgehen. Die Arbeit hat Ungemächlichkeiten an sich selbst, aber diese sind doch kleiner, als wenn wir ohne Arbeit sind. Da der Mensch also in der Arbeit Unterhaltung suchen muß, so muß sein Leben wahrlich sehr elend seyn; und da ihm alle Zerstreuungsmittel keine Linderung verschaffen, so muß er in einer Unruhe seyn, die ihn beständig nöthigt, aus seinem Zustande heraus zu gehen.
/Die Menschen glauben, es sey undankbar gegen die Schöpfung, wenn wir von der Vorsehung so sprechen, daß sie uns in einen beständigen Schmerz versetzt habe; aber es ist dies eine weise Einrichtung der menschlichen Natur, um uns zur Thätigkeit anzutreiben. Bei dem Vergnügen würden wir nicht aus unserm Zustande heraus gehen, noch etwas Neues vornehmen wollen. - Wir können das Leben glücklich nennen, das mit allen Heilmitteln, wider den Schmerz gerichtet, versehen ist; denn wir haben keinen andern Begriff von Glück. Zufriedenheit ist, wenn man in dem Zustande zu beharren denkt, und alle Mittel des Vergnügens entbehren will; so ist die Entbehrlichkeit alles Vergnügens der Zustand des Wohlbefindens, worin man aller Gegenmittel gegen den Schmerz überhoben ist; allein diesen Zustand finden wir bei keinem Menschen. Es kann ein Mensch wohl sagen: ich bin mit dem Ganzen meines Zustandes zufrieden, d.i. ich kann Befreiungsmittel wider den Schmerz haben; denn wir genießen gewisse Dinge, die unmittelbar und an sich selbst unangenehm sind, und von denen man nicht den geringsten Begriff haben könnte, warum wir sie genießen, sobald sie nicht plötzlich verschwinden, und indem sie verschwinden, uns Vergnügen machen. Der Tabacksrauch veranlaßt bei jedem Zuge einen widrigen Geschmack, der jedoch in demselben Augenblicke wieder verschwindet, und dieser Reiz macht uns Vergnügen. Was hätte man
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/nun nöthig, sich unangenehme Empfindungen zu machen, wenn die Linderung des Schmerzes nicht Vergnügen wäre? Wir finden, daß Menschen bei einer Pfeife Taback eine besondere Unterhaltung finden; die Ursache davon ist, weil alsdann nichts da ist, das einen fortdauernden Eindruck machte, und der Eindruck so oft wiederholt werden kann, und so bald wieder verschwindet. Der Raucher hat hierbei zwei Vortheile: 1) zerstreut ihn die Mannigfaltigkeit der Eindrücke, 2) vergnügt dies ihn, weil die Eindrücke sogleich wieder verschwinden. Alle Genußmittel, die wir niemals wieder lassen können, sind von der Art, daß sie unmittelbar unangenehm sind. Dahin gehören alle Tabacksgenüsse, unter andern das Tabackskauen, welches nichts als eine ätzende Schärfe erregt, die aber in der Folge durch den Reitz, den sie hat, wieder vermindert wird. Daher ist dies eine Unterhaltung; das Gemüth wird von den Sorgen abgezogen, welche es sonst fortwährend anfechten.
/Warum suchen Menschen den Rausch der starken Getränke wider die Langeweile? Langeweile ist der Inbegriff des unnennbaren Schmerzes. Bei allen wilden Völkern und gemeinen Leuten finden wir, daß sie den Rausch suchen, so, daß der Bauer kein starkes Getränke verlangen würde, wenn er nicht wüßte, daß es ihm einen dauerhaften Rausch verursachte. Der Rausch macht ihn gefühllos gegen die unaufhörliche Unruhe des menschlichen Gemüths, und er kann sich dadurch mit Blendwerken und leeren Hoffnungen das Uebermaaß seines Schmerzes lindern.
/Kein Vergnügen kann in uns fortdauern, sondern der Schmerz muß sich immer mit einmischen. Das Vergnügen von Wohllaut kann ohne Dissonanzen nicht statt finden. Das Salz ist eine Art von Reitz; in den Speisen aber liegt etwas wider diesen augenblicklichen Schmerz,
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/das gegen ihn wirkt, so daß er gleich wider gehoben wird. Durch solche Antriebe wird unsere Thätigkeit belebt, etwas zu schaffen, und unser thierisches Leben würde ohne solche kleine Schmerzen nicht befördert werden können.
/Können diese Vergnügen eine größere Summe ausmachen als der Schmerz? Nein! weil sie nur so viel ausmachen als der Schmerz selbst, und oft noch weniger; denn bei einem langsam aufgehobenen Schmerze fühlen wir die Aufhebung nicht, und in der plötzlichen Aufhebung allein besteht das Vergnügen. Unser Leben kann also wohl mit sehr lange dauerndem Schmerze, aber nur mit Vergnügen, das mit Schmerz verknüpft ist, verbunden seyn, und beim Menschen ist wenigstens immer der Wunsch da, auch aus den größten Vergnügungen heraus zu gehen, z. B. Leute, die große Erbschaften erhalten, haben immer sehr große Unruhe.
/Alles dieses Angeführte enthält die Behauptung des Grafen Veri, die von Einigen gemisbilligt wird, die aber doch richtig ist; hierauf ist die wahre Oeconomie der menschlichen Natur gegründet.
/Sind bei der Religion die Verheißungen von der Freude des Himmels das, was die Menschen zur Beobachtung der Gesetze antreiben soll? Nein! vielmehr nöthigt sie die Furcht vor den Strafen, sich den Religionsgesetzen zu unterwerfen. Dies ist so sicher, daß, obschon Mahomed versucht hat, den Himmel mit lauter sinnlicher Wollust anzufüllen, es doch eben so wenig gewirkt hat, als wenn wir unnennbare Freuden versprechen. Der Schmerz wirkt kräftiger; von ihm können wir uns einen faßlichen Begriff machen. - Daß dies wahr sey, zeigt sogar die mosaische Schöpfungsgeschichte; die Menschen können die immerwährenden Vergnügungen nicht aushalten; daher verfiel der erste Mensch auch darauf, das Ge-_
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/bot zu übertreten. Hierauf mußte er arbeiten, weil er von Natur faul ist. In dem Zustande des Herumschlenderns konnte er nicht bleiben, daher mußte er in diesen Zustand kommen.
/Die schönen Künste, die Dichtkunst, die Mahlerei sind alles Hülfsmittel wider den idealen Schmerz. Ein Mensch, der völlig gesund am Geiste wäre, würde die schönen Künste nicht achten. Die schönen Künste enthalten unaufhörlich Eindrücke auf das Gemüth, wodurch der Mensch genöthigt wird, immer etwas zwischen den idealischen Schmerz zu mischen; denn da die schönen Künste eine solche Mannigfaltigkeit haben; daß sie es niemals bis zum völligen Ueberdruße bringen können, so sehen wir, daß sie auf verfeinerte Seelen tiefe Eindrücke machen, die für Seelen, die durch idealischen Schmerz gereizt sind, auch idealische Hülfsmittel haben müssen.
/Bei dem Vergnügen wird dem Menschen die Zeit kurz, und bei dem Schmerze lang; wenn das Leben zu Ende ist, so ist das, was mit Vergnügen durchflochten war, kürzer gewesen, als das, was mit Schmerz geschwängert war. Nun ist es einleuchtend, daß, da uns bei dem Vergnügen das Leben kürzer wird, dasselbe nichts Positives seyn kann, und da uns das Leben bei dem Schmerze lang wird, so muß dieser das rechte Gefühl des Lebens enthalten. Wir können uns daher unser Leben nicht vergnügt machen, ohne es zu verkürzen. Jeder Theil des Lebens wird uns immer lästig, wir wünschen immer die folgende Zeit herbei, und daß die gegenwärtige doch verstrichen wäre. Daher muß das glücklichste Leben mit beständigem Schmerze verbunden seyn, sonst würden wir nicht so froh seyn, die Zeit zu Ende gebracht zu haben. Es scheint dies eine besondere Einrichtung bei den Bewohnern dieses Planeten zu seyn, daß bei ihnen der Schmerz die Triebfeder ist. Vergnügen hängen nur vom
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/Schmerze ab; wir mögen diesen nun Sehnsucht, oder Unruhe des Gemüths nennen, so ist es doch immer ein Stachel, einen neuen Zustand zu suchen, ehe man noch einen Begriff davon hat. Wir werden genöthigt, einen Zustand zu verlassen, und suchen einen andern, den wir Vergnügen nennen, weil er uns von der gegenwärtigen Unruhe befreiet, und darnach benennen wir unsern Begriff von Glückseligkeit. Wenn jemand die menschliche Natur deshalb als hart behandelt ansehen wollte, und glaubte, sie habe eine traurige Bestimmung, so irrt er sich; denn nach unsern Begriffen vom Glücke ist das Glück das, was uns vom Schmerz befreiet. Der Mensch kann sich nichts vorstellen, was ein dauerhaftes Vergnügen wäre und worin nicht Furcht und Hoffnung abwechselten. Mahomed sagt von dem Paradiese, daß es einen sehr reichlichen Vorrath von Nahrungsmitteln und sehr große Vergnügen mit dem weiblichen Geschlechte, mit den sogenannten schönen Houris, enthalte. Dadurch lockt er die Menschen nicht sehr, und die Furcht vor den Uebeln in der Zukunft thut mehr Wirkung; denn wir können uns die Idee von einem ununterbrochenen Glücke gar nicht denken; unsere Begriffe vom Glücke hängen von dem Wechsel zwischen Wohlseyn und Schmerz ab. Der Himmel hat uns nicht zu genießenden, sondern zu thätigen Wesen gemacht. Wir haben Talente der Vernunft und körperliche Kräfte, um unsere Zwecke zu erreichen. Der Schmerz ist uns zum Stachel gegeben, um in uns Thätigkeit hervorzubringen. Dies war der Zweck der Natur, wobei freilich bei uns das Meiste auf lauter Mühseligkeiten hinausläuft, indessen wissen wir noch nicht, was uns am Ende bevorsteht. Wir finden auch, daß wir in diesem Zustande, nach unserm Begriffe von Glückseligkeit, glücklich seyn können.
/Die Arbeit ist die beste Art, die Zeit zu vertreiben,
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/und die Zeit wird nicht anders ausgefüllt, als durch Arbeit; denn die Vergnügen berauben sich selbst ihres eigenen Genusses, und werden mit der Zeit schal. Arbeit ist aber eine erzwungene Beschäftigung der Muße dadurch, daß sie Beschwerden bei sich führt, die man nur eines Zwecks wegen übernimmt. Man sollte daher denken, die Arbeit könne nur in Ansehung des Zwecks vergnügen, allein die Arbeit muß unserm Gemüthe mehr Ruhe geben und der Zweck kann das Vergnügen des Menschen nicht befördern; denn der Zweck des Vergnügens macht nicht den, seinen Genuß aus, sondern das, was in der Aussicht ist. Da die Arbeit aber doch nichts weiter, als eine Bemühung ist, so kann sie dazu dienen, uns des Glücks des Lebens fähig zu machen, indem sie den Schmerz abhält; denn über der Arbeit vergessen wir die unnennbaren Leiden, die uns immer verfolgen.
/Die Leidenschaft zum Spielem wird bei allen Nationen angetroffen; selbst die canadischen Wilden spielen gern, und die Chinesen sind dem Spiele bis zur Raserei ergeben, so daß sie Weib und Kind und sich selbst zu Sclaven verspielen. Das Interesse beim Spielen dient dem Spiele zur Belebung, und erhält dadurch einen so großen Reitz, daß es den meisten Zeitvertreib unserer Gesellschaften ausmacht. Die Ursache ist: Furcht und Hoffnung wechseln beständig im Spiele ab; man verläßt jeden Augenblick den Gegenstand seiner Empfindung, so wie die Charten sich alle Augenblicke verändern, und die Eindrücke haften niemals lange. Aber wir können doch kein fortwährendes Vergnügen darin finden, denn wir haben auch eine Furcht dabei; da aber in mißlichen Lagen eine größere Mannigfaltigkeit von Eindrücken ist, und da wir noch an eine Verbesserung der Aussichten vom Glücke glauben, so macht das Spiel eine Unterhaltung aus, die uns flüchtig aus einem Zustande in den andern versetzt,
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/und so hat dieser fortwährende Uebergang aus einem Zustande in den andern etwas Belebendes. Das Gemüth ist dabei bewegt, und geht durch alle Affecte. Ein vernünftiger Mann, der sich zum Spielen setzt, kann den Gewinn nicht zu seiner Absicht haben, sondern er muß glauben, daß er wenigstens am Ende ein Chartengeld werde bezahlen müssen. Daher muß seine Absicht wohl etwas anderes seyn, als zu gewinnen. Während des Spiels ist freilich seine Absicht nur zu gewinnen, aber darum hat er doch das Spiel nicht unternommen. Es ist hier lauter Hoffnung und Furcht, die im Grunde vergebens sind; aber man zerstreuet sich doch während dieses Zustandes, und hat den Schmerz, der den Menschen unter dem Namen der Langeweile quält, zerstreuet. Ein solches Uebel, dergleichen die Langeweile ist, weiß man gemeiniglich nicht zu nennen, noch die Gegenmittel dagegen anzugeben. Dieses Uebel der Langeweile entspringt aus dem Mangel an Thätigkeit. Man wird sich also immer besser befinden, wenn man spielt, als wenn man ganz unthätig ist.
/Es ist gewöhnlich, daß sich Menschen ein ruhiges Alter auf dem Lande versprechen, und dies scheint die Aussicht zu seyn, welche alle ihre Wünsche beschließt. Aber die Erfahrung zeigt, daß das Landleben ohne Arbeit nicht mit Vergnügen genossen werden kann, sondern daß man Langeweile hat, und nicht anders Ruhe findet, als in der Arbeit, indem man sich durch Arbeit wieder eine neue Aussicht macht. Dies geht so weit, daß es keinem Romanschreiber gelungen ist, eine glückliche Ehe zu schildern; er kann nur die mancherlei Hindernisse der beiden Verliebten darstellen, so daß das Ende der Liebesschmerzen zugleich das Ende der Liebe ist; denn der Besitz schwächt den Reitz, und setzt ihn zu einer ruhigen Empfindung herab. Einige haben einen Roman bis über die Heirath
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/hinaus fortgesetzt, z. B. Fielding den Tom Jones, aber der Verfasser hat doch eine Eifersucht in die Ehe hineinbringen müßen, um sie anziehend zu machen. Daraus läßt sich die Frage der Alten beurtheilen, wie wir den Werth des menschlichen Lebens schätzen können, und ob mehr Vergnügen oder Schmerz in demselben sey. Diese Berechnung ist vielfältig in den Schulen der Philosophen angestellt worden. Die Stoiker sagten, der eigenthümliche persönliche Werth des Menschen sei die Tugend, und die physischen Uebel wären der Wetzstein und die Folie, worauf die Tugend glänzen könne. Nichts in der Welt, sagt Zeno, hat einen Werth als das Bewußtseyn seiner eigenen Würde, alles Andere ist nichts; Vergnügen und Uebel haben wenig Unterscheidendes; das Vergnügen ist vorübergehend und der Schmerz übt unsere Standhaftigkeit, und erhöhet dadurch unsern persönlichen Werth. Bei Nationen, denen die Natur alles gegeben hat, finden wir, daß sie in einer solchen Unthätigkeit leben, daß sie zuletzt weniger wahrhafte Vergnügungen genießen, als andere, denen es die Natur schwer gemacht hat. - In unsern Ländern ist der Schmerz, den die Kälte der Luft und die Schwere der Arbeit uns verursacht, ein starker Stachel unserer Thätigkeit. - Der Stoiker sagt also, im Menschen sey der wahre Werth, im Schmerze sey nichts Böses, indessen ist uns die Summe des Lebens so abgemessen, daß der Schmerz das Uebergewicht hat; daher sagte er: sustine et abstine, lerne dulden und enthaltsam seyn, damit du nicht verzärtelt wirst, und daß du dir kein Vergnügen zum Bedürfniße werden lässest. Man muß sich die Vergnügen so erlauben, daß man sich mehr von ihnen trennt, als sich ihnen ergiebt, d.i. gnügsam seyn.
/Sustine drückt das aus, daß der Mensch auf die Vergnügen nicht rechnen könne. Epicur empfahl das ver-_
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/gnügte Herz, das so sehr getadelt worden ist, das aber in nichts weiter als in der Sorglosigkeit bestand. Sonst war sehr wenig sinnliches Vergnügen in seinen Gärten; das vornehmste bestand darin, daß sie Brei aßen und Wasser tranken, und sich freundliche Gesichter machten. Jetzt würde man sich wohl dafür bedanken, so epicurisch behandelt zu werden. Die Epicuräer waren also die rechtschaffensten Leute unter allen, sie behaupteten, daß der Mensch beim tugendhaften Verhalten das größte Vergnügen genösse. - Man sieht also doch, daß sich ein Epicuräer in den Schooß der Tugend zurückziehen mußte, weil er in der Welt kein Glück fand. Lucrez beschreibt die Geburt eines Kindes und sagt: "das Kind fängt mit bangem Winseln an, wie es einem Geschöpfe zusteht, auf das eine solche Reihe von Uebeln wartet." Die Standhaftigkeit macht den Menschen von dieser Reihe von Uebeln unabhängig.
/Einige haben geglaubt, daß, wenn man wieder von vorne zu leben anfinge, man einen bessern Gebrauch von seinem Leben machen werde; indessen findet man doch, daß je älter man wird, desto mehr man gewonnen hat, und daß je länger das ist, was man vor sich hat, desto mehr Muth man faßt, allein wenn das Leben zu Ende ist, so fürchtet man doch den Tod; daraus, sollte man denken, müßte folgen, daß ein Uebergewicht von Vergnügungen in unserm Leben sey, aber das widerlegt nichts; denn dies ist eine thierische Furcht, unsere Imagination nährt uns mit Hoffnungen, und so sehr auch diese Hoffnung Illusion ist, so unterhält sie doch immer unser Gemüth; daher ist es nicht zu verwundern, daß wir am Leben einen Ueberdruß haben, und doch den Tod fürchten können. Wenn man das Leben genossen hat, und noch mit möglich guter Gesundheit genießt, so scheint doch alles nicht der Bemühung werth zu seyn, die wir uns da-_
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/mit geben, so daß wenn man jünger seyn will, dies einen Hang zu eingebildeten Vergnügungen anzeigt, die der Mensch haben zu können glaubt, oder er hat die Sache nicht genug überlegt, und besinnt sich auf das Beschwerliche seines vorigen Lebens nicht, folglich wird kein vernünftiger Mensch wünschen, sein Leben noch einmal von vorne anzufangen; denn der Stoiker hatte recht, daß der Schmerz das Uebergewicht des Lebens ausmache. Veri sagt: es ist nicht allein kein Ueberschuß des Vergnügens im Verhältnisse zum Schmerze, sondern der Mensch kann auch kein Vergnügen genießen, wenn der Schmerz nicht vorhergegangen ist. Daher sagte Socrates, als ihm an dem Tage, wo er den Giftbecher trinken sollte, die Fesseln abgenommen waren, und er sich an der Stelle kratzte, die ihm vom Drucke der Fesseln juckte: "so folgt Vergnügen auf den Schmerz". Denn jede Empfindung von Schmerz ist die Ursache von Vergnügen. Die Begierde, die Sehnsucht, macht, daß uns hernach etwas vergnügt; würden wir nicht durch diesen Stachel getrieben, und Schmerz fühlen, so würden die Vergnügen kein Vergnügen mehr seyn.
/Voltaire sagt, die Vorsehung habe uns wider die Uebel dieses Lebens zwei Mittel gegeben: die Hoffnung und den Schlaf; der Schlaf ist so etwas Nothwendiges, uns einen Theil der Zeit außerhalb der Empfindungen zu setzen, daß, wenn wir den Schlaf nicht hätten, ich nicht wüßte, wie wir die Triebe zu neuen Vorstellungen immer befriedigen könnten. Diese acht Stunden, die von dem Leben abgerechnet werden, sind eine wahre Erholung, und mit neuen Hoffnungen geht man am Morgen in die Welt.
/Man macht die Bemerkung, der Mensch habe nicht so lange gelebt, als er genossen, sondern als er gehandelt habe. Es ist sonderbar, daß man auf Reisen findet, daß
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/die Meilen in schlecht bewohnten Ländern kurz sind; daher ist es gekommen, daß die, welche in öden Ländern reiseten, wenn eine Meile zu Ende war, noch nicht lange gereiset zu haben glaubten, weil sie keine Abwechslung hatten. Wenn man aber in stark bewohnten Ländern reiset, so hat man so viele Dörfer gesehen, und glaubt deshalb, man sey eine lange Zeit gereiset, und rechnet dies für einen langen Weg. Deshalb sind die Meilen in Pommern lang, und nachher nach Berlin zu kurz, weil der, welcher die Meilen einrichtete, diese Täuschung nicht bemerkte. Ein Mensch, der sein Leben wohl besetzt hat, glaubt, daß er eine lange Zeit gelebt hat; wenn er aber lauter Vergnügungen nachhängt, so verschwindet die Zeit, so daß er gar nicht gelebt zu haben wähnt. Daher klagen nur die Nichtsthuer über die Geschwindigkeit der Zeit. Die Arbeit und die Beschäftigung sind das, was die Zeit uns wirklich macht. So haben wir es in unserer Gewalt, uns das Leben abzukürzen. Dagegen verlängert man sein Leben durch Handlungen; daher sieht man, daß die Zufriedenheit mit seinem geführten Leben nicht auf dem Genusse, sondern auf Handlungen beruht.
/Glückseligkeit ist eine Art von Ideal, wovon wir uns keinen Begriff machen können, worein wir sie setzen könnten, wenn wir unter Glückseligkeit die größte Summe von Freude verstehen, d.i. die völlige Befriedigung aller unserer Neigungen. Wir können uns nicht einmal die Möglichkeit davon vorstellen, ein aus lauter Vergnügen zusammengesetztes Leben zu genießen. Wir können nie ein volles Ganze hervorbringen, womit wir völlig zufrieden seyn könnten; dies ist also eine Einbildung, die keinem Begriffe entspricht. Etwas mehr können wir uns einen Begriff von einer Zufriedenheit machen, die aus der Genügsamkeit entspringt, wo der Mensch sich von allem dem entwöhnt, was zum entbehrlichen Genusse der Ver-_
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/gnügungen gehört, und wo er sich daran gewöhnt, entbehren zu können. Da kann er sich eine Zufriedenheit vorstellen, die auf sehr wohlfeilen Bedingungen beruht. Aber auch von dieser kann man kein rechtes Beispiel geben; denn wenn wir viel entbehren können, so fehlt uns die Triebfeder zum Handeln; daher kann man nicht recht einsehen, wie die Zufriedenheit eine Triebfeder zum Handeln seyn soll, da sie negativ ist.
/Die Untersuchung der Alten vom höchsten Gute bestand darin, daß sie fanden, wir könnten die Zufriedenheit der Seele nicht ins Physische, sondern ins Moralische setzen. Der Beifall, den der Mensch sich selbst giebt, muß die Triebfeder zum Handeln enthalten. Daher schlossen sie, der Schmerz sey nichts Böses, sondern ein Uebel, das Laster allein sey etwas Böses. In der That muß man sagen: die physischen Uebel sind nichts Böses oder Verabscheuungswürdiges, sondern ein Uebel, das sich für die Vernunft recht sehr wohl schicken kann.
/Strafen sind für die Lasterhaften recht gut, aber das Laster selbst ist nicht beifallswürdig. Schmerzen können gebilligt werden, aber Laster nicht. Lügen, die man verübt hat, wird Einer dem Andern nicht erzählen, aber Schmerzen sind angenehm in der Erinnerung; die Erinnerung an schlechte Streiche aber schlägt nieder, das Böse ist bloß moralischer Natur.
/Wir unterscheiden die Gleichgültigkeit von der Gleichmüthigkeit. Gleichmüthig ist der, der sich nicht erfreuet und nicht betrübt. /Gleichgültig d.i. unempfindlich zu seyn, ist eine Schwäche; gleichmüthig eine Stärke; beides aber sind Eigenschaften der Seele. Das Gleichgewicht ist ein Zustand durch Ueberlegung, wozu man zu zwei entgegengesetzten Dingen durch gleiche Gründe angetrieben wird. Die Gleichgültigkeit ist eine Gemüthskrankheit, die Gleich-_
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/müthigkeit aber entspringt aus edleren Triebfedern, und ist die Eigenschaft eines Weisen, der in dem beharrlichen Zustande des Gemüthes ist, sich nicht zu erfreuen oder zu betrüben. Thiere sind weder der wahren Freude noch der Traurigkeit fähig; denn diese setzen Nachdenken über den Zustand voraus, wornach man sich des jetzigen und vorigen Zustandes bewußt ist. Die Thiere haben zwar Vergnügen und Schmerz, aber keinen Begriff davon. Daraus sehen wir, daß die Traurigkeit ein neuer Schmerz über unsern unglücklichen Zustand ist, indem wir diesem Uebel ausgesetzt sind; daher entstehen Krankheiten, die das Gemüth niederschlagen, allein bei Krankheiten, die mit Schmerz verbunden sind, faßt man Muth. Beim Schmerze kann man wacker seyn; aber die Traurigkeit beruht auf dem Gemüthe. Wir haben ein Vermögen, das uns sowohl gegen die Freude, als gegen die Traurigkeit stark machen kann. Den Schmerz können wir nicht verhüten, aber wohl die Traurigkeit. Die Gleichmüthigkeit des menschlichen Lebens nur kann es verhüten, daß wir unsern Zustand für so unglücklich nicht halten; denn wir sehen, daß alles nicht lange dauert. Dies nimmt den Dingen des Lebens ihren Werth, und läßt nichts übrig, als; was einen großen Werth hat. Von der Freude; sich übernehmen zu lassen, ist etwas Kindisches; man verläßt einen Menschen, z.B. der sich freuet, wenn er im Spiele gewinnt. Man mißgönnt ihm sein Glück nicht, aber man schätzt ihn doch gering; denn es ist ja nichts von so großer Erheblichkeit, das jemanden so sehr erfreuen könnte. -_
/Man behält im Leben nichts Wichtigeres übrig, als die Rechtschaffenheit, so daß wir am Ende sehen, wir bekommen nichts heraus, was einen bleibenden Werth hätte, als was zu unserer Person selbst gehört. Die Grundsätze des Wohlverhaltens allein verschaffen ihn. Dieses geht uns selbst an, und liegt in unsrer eignen Natur; alles
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/andere ist betrügerisch und blendend. Durch das Zeugniß des Wohlverhaltens ist es allein möglich, die Gleichmüthigkeit sich zu erwerben, und uns am Ende unsers Lebens einen Werth zu geben.
/Laune oder Humeur ist eine besondere Stimmung des Gemüths, welche der Mensch nicht in seiner Gewalt hat, weil ihm die Welt nach verschiedenen Farben erscheint, so wie sich seine Gemüthsstimmung verändert. Die Gleichmüthigkeit beruht oft auf dem Temperamente, aber dann ist es nur eine Art von Gleichgültigkeit, wobei man jetzt stark ist, und dann weder in ausgelassene Freude noch in Traurigkeit versetzt wird. Diese Gleichmüthigkeit ist dem launischen Zustande entgegen gesetzt, wo man dem Wechsel seines Gemüthszustandes unterworfen ist, und bald verdrüßlich, bald vergnügt ist. Dazu kann zum Theil Krankheit Veranlassung geben; aber sich einer solchen Schwäche zu überlassen, ist die größte Vernachläßigung seiner selbst. Einige Menschen leiden nicht so viel davon, als der launisch Geplagte selbst. Das Launige aber gehört zum Talente, und besteht in der Originalität eines willkürlichen Standpuncts, Dinge anders an andern Menschen anzuschauen. Der Eine sieht an einem Tage den Putz des Frauenzimmers sehr gern, an einem andern hält er ihn für Kinderpossen und Eitelkeit, je nachdem ihm der Kopf steht. Ein solcher Mensch heißt launisch, weil er solchen unwillkürlichen Stimmungen unterworfen ist. Er ist unverträglich und unleidlich. Aber launig zu seyn, wo man Dinge von einer originellen Seite betrachtet, ist sehr herrlich, und schickt sich für das Leben des Menschen besser, als alle gravitätische Art, über Andere zu urtheilen, und Dingen eine Wichtigkeit beizulegen, die sie nicht haben. Democritus war der Philosoph der guten Laune, und sagte: "im Leben der Menschen ist gar keine Wichtigkeit, es ist
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/alles ein bloßes Kinderspiel; die Klagen der Menschen über ihre Leiden sind Klagen der Kinder, die ihr Spielwerk verloren haben." Ein eingebildetes Uebel ist das, was den Menschen quält. Die großen Wichtigkeiten der Menschen, wobei sie so gravitätische Mienen machen, sind lauter Kinderspiel. Selbst über ihr Uebel hat man mehr Ursache zum Lachen. Die Uebel, worüber sie das größte Geschrei erheben, sind phantastisch. Wir haben in der That Ursache, uns eine gute Laune zu verschaffen; denn sie ist dem Menschen nützlich, und macht ihn zu einem guten Gesellschafter. Heraclitus nahm die traurige oder finstere Seite an, als ob alles an dem Menschen immer in einen traurigen Zustand versetzen müßte. Freilich wenn ich die Bösartigkeit des Menschen betrachte, so empfinde ich ein gewisses Grauen. - Aber dies thun sie sich selbst an, und die Natur hat es nicht über sie verhängt. Am Ende sehe ich doch, daß der, welcher Ehre und Redlichkeit um eines Gewinnes willen verliert, nicht verdient, daß man über ihn Tränen vergieße. Der Mensch ist ein Thor, und ist also eher ein Gegenstand des Spottes wegen seiner vielen Thorheiten.
/Empfindsamkeit ist ein Vermögen, Empfindlichkeit eine Schwäche, und eine große Empfänglichkeit der Eindrücke. Empfindsam muß der Mensch seyn; denn er muß doch das empfinden können, was er in der Person eines Andern verhüten soll, der ihn um etwas bittet. Diese Empfindsamkeit ist eine Art von Theilnahme an Anderer Empfindungen; sie ist ein Vermögen, das mit einem Zartgefühle verbunden ist, den Verdruß bei Andern zu verhindern. Die Empfindsamkeit ist ein Vermögen zu urtheilen, aber die Empfindlichkeit die Schwäche, leicht gerührt zu werden. Es ist ein erbärmlicher Zustand, gleich von allen Gegenständen so sehr getroffen zu werden, daß man darüber
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/aus der Gleichmüthigkeit gesetzt wird, und es kann dies nur dem schwachen Geschlechte zu gut gehalten werden. Empfindlich ist der, dessen Wille zu Empfindungen hingerissen wird; empfindsam der, der wohl zu unterscheiden weiß, was Empfinduugen erregt, und der sich ihnen überlassen und sie wieder aufheben kann, wenn er will. Man hat seit einiger Zeit von der Empfindlichkeit (die man falsch Empfindsamkeit nennt), von der weinerlichen und schmelzenden Sympathie viel Wesens gemacht; aber das sind müssige Empfindungen, welche Menschen entnerven, ihnen eine Mattigkeit verursachen, und ihr Herz welk machen. Sie wird in den Romanen sehr gepflegt, und ist mit lauter leeren Wünschen angefüllt. Empfindsamkeit muß jeder Mensch haben, sie ist dem Rohen entgegen gesetzt, wo man glaubt, was mich nicht belästige, sey auch Andern nicht lästig; sie setzt Grundsätze und Zartgefühl im Urtheile voraus. Die gute Laune ist das, was man jederzeit bei Allen wünschen möchte. Sie fruchtet mehr als pathetische Beredsamkeit. Bei dieser wird wider die Laster mit lauter Verwünschungen gesprochen. Lasterhafte Mensch sind freilich ein Gegenstand der Verabscheuung, aber die Verabscheuung kann auf der einen Seite mehr Verachtung als Haß, und auf der andern mehr Haß als Verachtung erregen. Es kann ein Gegenstand des Hasses seyn, aber warum sollen wir uns mit Haß gegen Andere erfüllen? Mein Gemüth ist nie in liebenswürdiger Fassung, wenn ich jemanden hassen kann. Wir wollen also das Böse so verabscheuen, daß dieses mehr mit der Verachtung zusammenhängt, und da können wir uns der guten Laune überlassen. Wenn man das Ungereimte des Geitzes betrachtet, so erregt dies eine weit innigere Art des Abscheues, wenn sie auf Verachtung, als wenn sie auf Haß gegründet ist; denn demjenigen, den man haßt, legt man noch immer einen Werth
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/bei; sobald man aber jemanden verachtet, hat dieser keinen Werth mehr für uns. Bei der Frömmigkeit, bei der Arbeit, sollte man immer guter Laune seyn, so daß der Mensch alles in guter Laune thäte, und sich nicht eine angemaßte Wichtigkeit seiner Geschäfte gäbe. Daher laßt uns das Spiel des Lebens mit guter Laune treiben; das gravitätische Gesicht schickt sich gar nicht für die Lage des Menschen; denn als Mensch ist er ja ein Ball des Schicksals, er sey also frölich, denn wenn er keine gute Laune haben soll, wer soll sie denn haben? Der Bösewicht gewiß nicht. Dies muntert uns selbst dann auf, wenn wir etwas Verabscheuungswürdiges betrachten, und macht uns bei Andern beliebt. Man hat Beispiele von standhaften Menschen, die bei guter Laune gestorben sind; denn es ist ja einmal nichts weiter zu thun als standhaft zu seyn. Was ich zu sehr mit angestrengtem Fleiße ausführe, das thue ich ungern, aber mit guter Laune thue ich etwas gern.
/Man sagt, sich etwas zu Gemühte ziehen, und sich etwas zu Herzen nehmen. Man muß sich nichts zu Gemüthe ziehen, aber vieles muß man zu Herzen nehmen. -_
/Sich etwas zu Gemüthe ziehen, heißt sich dem Schmerze gänzlich überlassen, und der Schmerz ist nur der Mangel an Thätigkeit. Man muß also etwas thun, um den Gegenstand des Schmerzes zu heben, oder etwas dem Schmerze entgegen Wirkendes zu Stande zu bringen. -_
/Man verachtet einen Menschen, der über einen unglücklichen Zufall Thränen vergießt, und nicht lieber Muth faßt, um das Verlorne wieder zu ersetzen. Er muß in seinem Gemüthe nicht den Wurm nagen lassen, und sich nicht mit einem Stachel quälen, ohne dadurch zur Thätigkeit getrieben zu werden.
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/Indessen haben doch Geistliche behauptet, daß die Buße eine innere Reue sey, die in einem Selbstquälen bestehe, welches man nicht lange genug fortsetzen könne. Allein Reue, als solche, hat keinen Werth, sondern insofern sie die Triebfeder der Besserung ist. Die Reue ist ernstlich, wenn sie so geschwind als möglich zu guten Thaten übergeht. Wer da glaubt, daß die Reue an sich selbst einen Werth habe, der irrt sich sehr. Thue etwas Gutes, dazu ist dir der Schmerz gegeben; denn wie kann die Vorsehung verlangen, daß der Schmerz bloß an unserm Herzen nagen soll? Der Mensch wird durch den Gram verzehrt. Mit allen Vergnügen müssen wir so haushälterisch umgehen, daß wir sie immer steigern können; denn kein Vergnügen erhält sich immer in derselben Art, und wenn es im Abnehmen ist, so schlägt uns die bloße Verminderung desselben so nieder, als die gänzliche Entbehrung. Das Vergnügen muß man in der Jugend nur sparsam genießen, damit man mit ihm immer steigern kann; denn der Nachgeschmack eines bereits ganz genossenen Vergnügens verursacht Traurigkeit. Wenn mir ein Vergnügen bevorsteht, so habe ich es in der Aussicht; ist es aber vorbei, so kann ich es nicht mehr in der Zukunft suchen. Wir haben daher Ursache, uns in unserm Leben immer etwas vorzubehalten; das Vergnügen im Vorgeschmack ist das kräftigste. Eine Rede, wenn sie sich zuletzt mit einem frölichen Ausdrucke endigt, erfreuet, ist aber das Ende schal, so vergißt man alle vorige Vergnügungen. Der Schluß des Lebens muß also die Zufriedenheit mit uns selbst enthalten. Die Jugend hat alle Ursachen, ihre Vergnügungen auf diese Art einzutheilen. Es giebt Vergnügungen, die activ, andere, die eine Abnutzung sind. Die Vergnügungen des Stoffs und des Gebrauchs des Geschlechtsvermögens sind eine wahre Abnutzung. Um ihre Vergnügen zu sparen, muß sich also die Jugend
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/am meisten den Vergnügungen entgegen setzen, die in der Abnutzung bestehen. Wer sein Geschlechtsvermögen verschleudert hat, der hat sich ein sehr schales Alter aufgespart. Die Vergnügungen mit den schönen Künsten setzen uns in den Stand, dergleichen noch immer mehr zu genießen. -_
/Das Vergnügen aus der Arbeit setzt uns in den Stand, uns mehr dergleichen zu verschaffen. Es bildet unsere Talente überhaupt aus, und jede Verbesserung unserer Talente ist ein Fonds vom wahren Vergnügen. Dagegen giebt es Vergnügungen die nicht eine Ausbildung, sondern eine Abnutzung sind. So ist die wilde Lust in Gesellschaften, wo man es nur aufs Saufen anlegt, ein Hinderniß, mehrere Vergnügen zu genießen. Die Unterhaltung in gesitteter Gesellschaft mit dem andern Geschlechte setzt uns in Stand, diese Vergnügen noch oft zu genießen; denn sie bildet unsere Talente aus. Wenn dieses Vergnügen aber bloß auf Genuß, und auf das gerichtet ist, wie wir die Sinne befriedigen mögen, so ist es eine Abnutzung. Die Jugend muß sich erst bilden, sich so das Vergnügen auf die Zukunft sparen, und alles entfernen, was sie des Vergnügens unfähig macht. Nichts ist bildender als Gesellschaften mit gesitteten Personen von gutem Geschmacke. Ob uns gleich solche Gesellschaften etwas Zwang anthun, und uns nöthigen, auf uns selbst mehr acht zu haben, als in rohen Gesellschaften, wo wir uns gleichsam durch Uebereinkommen von aller Art von Bedenklichkeit und Achtsamkeit frei sprechen, so sind sie doch die beste Bildungsschule unserer Talente; denn sie verschaffen uns Geschmack an dem, was uns fähig macht, immer viele Vergnügen des Lebens zu genießen. Wenn wir also unsern Geschmack so verfeinert haben, daß wir solcher Vergnügen fähig sind, so können wir sie hernach alle Tage haben; aber nicht in jenen ungesitteten Gesellschaften, über die Lord Chesterfield klagt,
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/daß die Engländer mit keinem Andern, als bloß mit ihres Gleichen umgehen, weil es ihnen beschwerlich ist, in Gesellschaften zu gehen, und sich Zwang anzuthun. Wir können fast nichts thun, ohne dazu gezwungen zu werden; denn nur gezwungen geht man aus der Faulheit heraus. Hat man aber einmal Geschmack erworben, so sucht man beständig einen solchen Umgang. So ist es auch in dem Umgange mit wohlerzogenen Frauenzimmern; man nimmt mit der Zeit ihre Manieren an, findet dabei Unterhaltung, wird zuletzt selbst ein guter Gesellschafter, und zollt sich selbst deshalb Beifall, indem man davon für das künftige Leben eine Quelle von Vergnügen voraussieht.
/Vergnügungen sind bisweilen mit Ungemächlichkeiten verbunden, aber dieser Schmerz macht thätig und wacker. Vergnügungen verweichlichen uns allmählig, wenn sie uns zu Theil werden, ohne daß wir uns ohne viele Mühe darum bewerben dürfen. Die Ungemächlichkeit hingegen macht uns immer neuer Vergnügen fähig, aber das bloße Vergnügen stumpft uns zu neuen Vergnügen ab, so daß der Stoiker Grundsatz: sustine et abstine, ein Grundsatz zu folgenden Vergnügen ist. Lerne erdulden, und enthalte dich der Vergnügungen; denn jedes Vergnügen, das ich mir jetzt versage, bereitet mich zu einem künftigen vor.
/Alle Dinge sind im Vorschmacke am vorzüglichsten. Der Bräutigamsstand in am glücklichsten. Die Gegenwart zerstreuet die Blendwerke der Phantasie, und der Ehemann sieht die Sache mit gleichgültiger Miene an. Man irrt sich, wenn man glaubt, daß man ein glückliches Leben führen würde, wenn man des Gefühls und der Plakkereien des Amts und der Städte überhoben seyn könten; ist man aber auf dem Lande, so fängt man bald an, Langeweile zu fühlen. Wenn wir uns also von den Ver-_
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/gnügungen immer etwas für die Zukunft aufsparen, so machen wir uns fähig, mehr davon zu genießen; so wie mancher Mensch nur um so weniger frühstückt, um am Mittage desto mehr zu essen. Man nimmt sich vor, das Vergnügen mit langsamen Zügen zu trinken, da unsere Neigungen uns hintergehen, denn bestürmen können wir sie nicht. Wir halten uns selbst hin; denn wenn wir immer etwas auf die Zukunft aufsparen, so finden wir mit der Zeit, daß wir wohl das Vergnügen gänzlich entbehren können. Während der Zeit hat man seine Denkart gestärkt, und aus dem Zustande herausgebracht, in welchem man nur immer seine Wünsche sogleich befriedigt sehen will. So wie man schon Kindern angewöhnen muß, etwas zu entbehren, um ihren Eigensinn zu brechen, so haben wir auch Klugheit in Ansehung unseres eigenen Gemüths nöthig, damit wir es in eine solche Verfassung setzen, daß es ächter Vergnügungen des Lebens fähig wird. Ohne Grundsätze wird kein Mensch glücklich; in ihnen liegt die Quelle der Glückseligkeit, und glücklich ist der, der in der Jugend frühzeitig daran arbeitet. Dies ist die Zeit, wo man gute Gewohnheiten annehmen kann, so daß man zuletzt aus einem guten Hange so verfährt, wie Andere sich Mühe zu verfahren geben müßen.
/Die Vergnügungen verschwenden die Lebenskraft, die Unannehmlichkeiten drängen sie zusammen; bei dem Vergnügen wird die Lebenskraft zwar auf einen Augenblick aufgeregt, aber eben auch dadurch verschwendet. Wer Taback raucht, der vergeudet seine Lebenskraft, indem er seinen Speichel auswirft, welcher ein Auflösungsmittel der Speisen ist. Ueberhaupt bestehen alle unsere Vergnügungen in Absonderungen, welche Elemente des Lebens sind und durch ihren Verlust der Lebenskraft Abbruch thun. Daher heißt es sein Leben erhalten, wenn man sich vieles versagt, und nicht so begierig alle Vergnügen ver-_
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/schluckt, gleich als ob sie verboten wären. Es ist von unserer Seite mehr Klugheit, wenn wir unser Leben mehr zu empfinden suchen. Der Genuß der Vergnügungen besteht also im Abbruche mit Ausnahme der Vergnügungen der Geselligkeit; diese sind nicht Erschöpfungen, sondern Ermunterungen, indem sie allen unsern Talenten Nahrung geben. Dazu wird kein Organ unserer Lebenskraft verwandt; das Princip des Lebens steckt im denkenden Geiste. Daher ist das größte Vergnügen das, nach welchem man geschickter geworden ist. Solche Vergnügungen machen sogar, daß man im Genusse mehr vertragen kann, und befördern überhaupt das Wohlbefinden des Körpers.
/Wir urtheilen über unser Vergnügen und Misvergnügen, ob uns dasselbe gefällt oder misfällt; denn obgleich der Schmerz unser Urtheil über den Gegenstand ausmacht, so fällen wir doch ein neues Urtheil, und da kann uns bisweilen der Schmerz unmittelbar gefallen, ob uns schon sein Gegenstand misfällt. Eben so gefällt oft der Gegenstand des Vergnügens, aber unser Urtheil über den Gegenstand des Vergnügens und den Gegenstand des Schmerzes misfällt, und der Schmerz kann gefallen; denn wir haben außer den Sinnen noch ein höheres Urtheil, das in der Vernunft liegt. Wenn ein Sinn Vergnügen bei sich führt, so kann die Vernunft Misvergnügen dabei fühlen, eben so kann die Vernunft am Schmerze der Sinne Wohlgefallen haben. Ein Gegenstand kann angenehm seyn, aber das Vergnügen am Gegenstande nicht. Die Erbschaft durch den Tod eines guten Freundes ist angenehm, weil ich dadurch aus großer Verlegenheit gezogen werde; aber man wird sich die Freude aus dem Sinne schlagen, und sich nicht freuen, indem man sich der Geringschätzung würdig halten würde, weil man sich über den Tod eines Mannes freuet, der uns so
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/sehr liebte. Ein solcher Mensch fühlt natürlicher Weise Freude, aber er billigt sie nicht. So hat der Adjunctus eine Freude über den Tod seines Vorgängers, aber wenn er eine gute Denkungsart hat, so wird er sich die Freude aus dem Sinne schlagen. Er wird denken, daß ihm eine solche Freude Geringschätzung zuziehe. Er wird daher der Freude nicht nachhängen, und ohne sich zu verstellen, wird er eine traurige Miene annehmen. Man kann aber nicht sagen, daß es geheucheltes Beileid sey; denn beide Empfindungen sind in ihm zugleich, und beide sind ganz wahr. Er freuet sich freilich; hätte er aber die Freude ohne den Tod dieses Mannes haben können, so würde er ihm ein langes Leben gewünscht haben. Die Misbilligung dieser Freude ist eine ungeheuchelte Art von Beileid über den Tod eines Andern; dasselbe kann die bittere Freude genannt werden. Auf der andern Seite kann der Gegenstand unangenehm seyn, aber der Schmerz über den Gegenstand kann gefallen. Dies heißt der süße Schmerz. Dieser ist in Romanen, bei denen man sich einer Art von Schmerz gern überläßt, und es ist in der menschlichen Natur ein Grund dazu, den Schmerz, den man fühlt, zu billigen, und an seinem eigenen Schmerze ein Wohlgefallen zu finden. So kann sich ein Witwer über den Tod seiner Frau nicht trösten, der Schmerz selbst scheint ihm etwas edles zu seyn, da doch der Schmerz wirklich nicht edel ist, und man muß ihn so geschwind als möglich loszuwerden suchen, weil er unsern höhern Maximen der Denkart zuwider ist. Wir sind aber so geartet, daß wir in den Schmerz, woran wir ein Wohlgefallen finden, ein Verdienst setzen. Ich bedauere Personen, die ich geliebt habe, wenn ich mir alles das Gute vorstelle, was ich ihnen noch hätte leisten können. Hier scheint der Schmerz eine innere Süßigkeit zu haben, und ist daher wohl einem Instinkte zuzuschreiben. Aber wir müssen den Grund-_
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/satz annehmen, uns bei keiner Sache aufzuhalten, wobei wir nichts thun können, das Uebel abzuwenden, und finde ich dann, daß dies nicht geht, nun, so muß ich das auf einmal so aus dem Sinne schlagen, als ob mich es gar nichts mehr anginge; denn wo wir nichts dabei thun können, da ist der Schmerz ganz unnütz; wir müssen uns so viel als möglich gleichgültig zu werden bemühen. Nicht den ersten Tag wird man das Uebel, wenn man es so betrachten kann, mit Gleichgültigkeit ansehen, aber wenn man den Grundsatz einmal hat, so wird man es doch mit der Zeit können. Der Stoiker sagt: "ich wünsche mir die Freude nicht, daß mich ein Anderer tröste, wenn ich in Noth bin, sondern daß ich jemanden habe, dem ich Trost zusprechen kann." Darauf sagt er sogleich: "wenn ich einen Freund habe, der in Noth ist, und dem ich nicht helfen kann, so thue ich, als ob es mich nichts anginge; denn da ich nichts dabei thun kann, so würde ich mein Gemüth mit unnützem Schmerze plagen. Ich werde ihm zwar nicht mit einer Hohnmiene entgegen kommen, aber ich werde meine Seele doch frei halten, daß sie nicht durch ein unnützes Mitleiden gestört wird. Ich werde jedoch oft über das Schicksal des Andern nachdenken, ob es nicht möglich sey, ihm Beistand zu leisten. Ist dies nicht möglich, so lasse ich den Kummer aus meiner Seele." Der Kummer, den Romane verursachen, bläßt die Seele mit unnützem Mitleiden auf. Ueberhaupt ist das Mitleiden nur geheuchelt, oder wenigstens geziert, oder auch eine gewöhnlich gewordene Einbildung, man werde helfen können, die aus einer theilnehmenden Empfindung herrührt. Dieser süße Schmerz macht oft das Herz leer, weil man da in bloßen Ideen Gutes thut, und sich Romane in den Kopf setzt, ohne jemals etwas von dieser Empfindung in Thätigkeit übergehen zu lassen. Man muß sich nie mit
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/Schmerzen plagen, sondern immer etwas thun, was dem Uebel abhelfen kann.
/Jedermann empfindet bei sich eine Reue über einen unersetzlichen Schaden; wenn man aber diese Traurigkeit mit etwas verschuldet hat, so muß man entweder Muth fassen, oder man kommt in Versuchung, sich aufzuhängen. Bei der Nichtigkeit der Dinge hat man jedoch Ursache, Muth zu fassen, und nicht den Werth der Dinge zu hoch zu schätzen, da ja überdies das Leben so kurz ist. Eines von beiden muß man also thun, entweder Muth fassen, oder aus dem Leben gehen. Ein Entschluß muß da seyn, ewig kann man sich nicht härmen. Ob man gleich den Menschen anrathen muß, sich nicht immer zu härmen und zu klagen, wenn nichts weiter dabei zu thun ist, so kann man doch nicht billigen, wenn jemand fröhlich ist, der einen Andern unglücklich gemacht hat; und der, welche wahre Reue über etwas fühlt, wird sich diese Reue nicht ausreden lassen, sondern Vergnügen darin finden.
/Man billigt die Reue eines solchen Menschen. Dieser gute Hang liegt im Temperamente, in der Empfindlichkeit und dem lebhaften Gefühle des Herzens; allein wenn wir die Sache nach der Vernunft abwägen, so sehen wir doch, daß in der Welt dadurch nichts besser wird. Wir müssen lieber suchen, den Verlust des Andern erträglich zu machen; dies ist der Entschluß eines wackern Mannes. Hast du wahrhafte Reue, so hast du auf weiter nichts zu denken, als es künftig besser zu machen. Jedoch ist das menschliche Herz so beschaffen, daß es diese gutartige Reue billigt und dieselbe schätzt; aber manche Menschen gehen dabei zu Grunde.
/Außer dem, daß das Vergnügen an der Traurigkeit gefällt, kann auch das Vernügen über das Vergnügen gefallen. Es zeigt eine gute Eßlust an, wenn man über viele Schüsseln ein Vergnügen empfindet; aber das
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/Vergnügen dabei kann jemandem nicht zur Ehre gereichen. Allein wenn man beim Studieren Vergnügen findet, so vergnügt selbst das Vergnügen. Wenn man Vergnügen am Spiele findet so vergnügt das Vergnügen selbst nicht. Wenn man dabei sagt, man finde Vergnügen daran, sobald man einen alten Mann unterhalten könne, so vergnügt das Vergnügen selbst, weil es wesentlich an sich selbst gut ist. Von der andern Seite kann der Schmerz an sich selbst misfallen. Misgunst ist ein Schmerz über die hervorragenden Vollkommenheiten Anderer. Wenn das Verdienst Anderer anfängt, das unsere zu verdunkeln, so empfinden wir Misgunst; allein dieser Schmerz über die hervorragenden Tugenden Anderer misfällt uns selbst; daher suchen wir ihn, und den Haß so viel als möglich zu verbergen. Mit einigem Schmerze prahlt man, z. B. mit dem mitleidigen Schmerze. Diesen sucht man immer auszukramen, aber von den andern schweigt man still. Geld überhaupt erfreuet durch die Folgen, die aus dem Besitze desselben entspringen können. Wer durch ein Spiel Geld gewinnt, dessen Vergnügen ist niemals ganz rein: denn ob er schon das Geld gewonnen hat, so ist doch in ihm eine Art von Misbilligung; darum läßt er sich seine Freude über den Gewinn nicht recht merken. Das selbst erworbene Geld erfreuet doch noch mehr, nicht so wohl die Wirkung desselben, sondern wir haben ein Vergnügen an unserer eigenen Geschicklichkeit, wodurch wir es uns verschaft haben. Ein Schmerz, woran wir selbst schuld sind, betrübt mehr. Die Unbesonnenheit, die uns theuer zu stehen kommt, macht uns doppelt traurig. Aber selbst wenn man unschuldig ist, sind die Urtheile verschieden. Der Eine klagt, daß er unverschuldet, der Andre freuet sich, daß er ohne Verschulden leiden müsse. Der Erstere ist über die Beleidigung Anderer entrüstet, die ihm unschuldig widerfährt. Dies ist eine wackere Empfindung. Wer aber
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/schuldig leidet, der scheuet sich, weil er sich selbst von seinem Unrecht überzeugt hat. Der Beifall, den sich ein Mensch selbst giebt, ist der kräftigste und überzeugendste. Der Unschuldige faßt Muth, wenn er üble Urtheile erlebt; und wenn es auf Unmuth hinaus läuft, so hat man gemeiniglich selbst schuld.
/Das Vergnügen wächst durch die Vergleichung mit den Leiden Anderer, der Schmerz durch die Vergleichung mit den Freuden Anderer. Wenn man in einer Gesellschaft ist, und der Sturm draußen raset, so freuet man sich in seiner warmen Stube, sobald man an den armen Seefahrer denkt. Auf der andern Seite vermindert es die Leiden des Menschen, wenn er noch unglücklichere Menschen sieht. Er erhebt sich über sie hinweg, wenn er nicht dieselben Gegenstände vor sich gewahr wird. Stellt euch vor, ihr wäret in einer belagerten Stadt, und hättet nichts als Brod und Wasser, aber ihr wüßtet, daß keiner in der Stadt es besser, sondern alle noch schlechter hätten, so würdet ihr herrliche und fröhliche Mahlzeiten halten.
/Es kommt also dabei alles auf die Vergleichung an. Es ist gewiß, daß die fröhlichen Gesichter dem, welcher durch innerlichen Kummer sehr zernagt wird, sehr unangenehm sind, und seinen Schmerz vergrößern. Der Unglückliche ist boshaft, und sucht einen Theil seines Unglücks Andern mitzutheilen. Sobald wir glücklich sind, scheinen wir uns ein größeres Verdienst beizulegen. Wer reich ist, der sieht auf den Armen herab, als auf Einen, dem er Vorwürfe machen könnte. Bei einem Unglücksfalle scheuet der Mensch nichts mehr, als die Verachtung anderer Menschen. Indessen ist die Geringschätzung eines Unglücklichen von den im Wohlstande Lebenden nicht zu trennen; daher kann man nur dadurch getröstet werden, daß man sieht, Andere seyn auch unglücklich.
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/Ein Schmerz wird dadurch gelindert, daß man sich vorstellt, er hätte leicht größer seyn können. Eulenspiegel, ein Witzling, sagt: Gott solle ihn vor drei Stücken bewahren: 1) vor großem Glücke, d.i. daß er nicht den Hals breche, weil die Leute zu sagen pflegen (wenn jemand den Arm bricht), es ist ein großes Glück, daß er nicht den Hals gebrochen hat. 2) Vor starkem Getränke, d.i. Wasser, weil es die Mühlen treibt, und 3) vor gesunden Speisen, d.i. vor Medicin aus der Apotheke. Der gemeine Mann sagt immer, es ist ein großes Glück, daß dieses oder jenes geschehen ist. Dies ist gut, wenn wir aus allen Uebeln einen Trost herausklauben können; denn das Leben ist kurz, und alles Interesse an demselben ist nichtig. Das Glück macht weichlich, und das Unglück zaghaft, doch stärkt das Unglück auch. Ein Uebermüthiger im Glücke ist hassenswerth, ein Zaghafter im Unglücke verachtungswürdig.
/ ≥ Von dem Geschmacke. ≤
/Von dem, was gefällt, kann Einiges den Sinnen, Anderes dem Geschmacke und noch Anderes nach Begriffen der Vernunft gefallen. Angenehm ist das, was in Rücksicht auf die Sinne gefällt; schön das, was nach einem allgemeinen sinnlichen Urtheile gefällt. Der Geschmack ist ein Urtheil über das, was allgemein gefällt. Das Gute bezieht sich auf die Denkart. Die Franzosen nennen dies Sentiment, wornach man urtheilt, ob etwas jedermanns Beifall hat. *1
/~ *1 In der Critik der Urtheilskraft nennt Kant den Geschmack das Vermögen der Beurtheilung des Schönen in der Natur und
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/Kunst: - Das Beurtheilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mittheilbar macht: - Das Vermögen, ohne Begriffe über Formen zu urtheilen, und an der bloßen Beurtheilung derselben ein Wohlgefallen zu finden, welches wir zugleich jedermann zur Regel machen, ohne daß sich dieses Urtheil auf ein Interesse gründet, noch ein solches hervorbringt. ~
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/Es ist im Gebrauche, unter sensus communis den allgemeinen Menschenverstand zu verstehen; allein da doch sensus nicht Verstand heißt, so könnte man sagen, sensus communis sey ein Sinn, der nicht für sich urtheilt, sondern allgemeingültig urtheilen kann. Der Geschmack unterscheidet sich vom bloßen Gefühle dadurch, daß dieses ein Verhältnis des Gegenstandes zu dem Privatsinne ist, aber das Verhältnis des Gegenstandes zu dem allgemeinen Sinne ist der Geschmack. Der Mensch, dem es an seinem eigenen Tische gut schmeckt, hat einen guten Appetit; man wird daher nicht sagen, er habe Geschmack, wenn er nicht so wählt, daß es auch Andern gut schmeckt. Der Geschmack ist das, was man nicht blos für einen individuellen Sinn ausgiebt, sondern für den Sinn Aller. Der Geschmack ist daher eigentlich das Vermögen, mit Beifall zu wählen. Aller Geschmack ist gesellig; ein Mensch, der ganz allein wäre, würde nicht darauf sehen, was dem Geschmacke gefällt. Er wird z. B. nicht dafür sorgen, daß sein Haus bemahlt und mit Zierrathen versehen wäre, sondern daß es gut und dicht sey. Er würde also nach seinem Privatsinne wählen, und nicht nach dem, was schön ist. Der Geschmack ist gleichsam als der Ueberfluß des Angenehmen anzusehen. Wenn der Mensch an dem, was zum Bedürfniße gehört, noch Mangel hat, so denkt er nicht an Geschmack. Der Landmann wählt nur nach seinem Privatsinne, doch putzt er sich bisweilen am Sonntage nach dem Geschmacke; denn jeder Mensch findet doch zu ge-_
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/wissen Zeiten etwas mehr als das, was zu seinem Bedürfnisse hinreicht; dann sieht er auf den Geschmack, und wählt so, daß seine Wahl Beifall erhält. Der Geschmack ist eine Folge der Geselligkeit, und seine Bildung eine Ausbildung des Menschen, in Ansehung seiner wahren Vollkommenheit, die ihn der Sittlichkeit näher bringt. Je mehr der Geschmack bei dem Menschen ausgebildet wird, desto mehr ist er empfänglich und fähig, in die gute Denkart überzugehn. Menschen, die gar nichts Gefälliges haben, weil Sie dies für eine Unterwürfigkeit unter Anderer Wünsche halten, haben keinen Geschmack; denn der Geschmack ist die wahrhafte Gefälligkeit gegen Andre, um nicht blos für sich, sondern auch für Andre zu wählen. Sehr geitzige Leute haben gewöhnlich keinen Geschmack; denn weil sie alles auf ihre Privatabsicht einrichten, so werden sie nie nach Anderer Wohlgefallen wählen; ihr Kopf hat nicht die Richtung so zu wählen. Ein silberner Stockknopf sieht nicht so gut aus, als ein porcellainer; denn da hier blos für Anderer Augen gewählt wird, so sieht man, daß, wenn der Knopf aus Silber besteht, der Andere dabei Privatabsicht haben kann; man soll aber blos für Andere wählen. Dinge sind also auf den Geschmack angelegt, wenn sie dem, der sie besitzt, gar keinen Nutzen bringen.
/Das, was in der Empfindung vergnügt, ist uns in weit höherem Grade angenehm, als was blos in der Beurtheilung des Geschmacks gefällt; aber das, was dem Gegenstande des Geschmacks im Grade abgeht, ersetzt derselbe durch Allgemeinheit. Die Annehmlichkeit in einer geschmackvollen Sache ist gering und doch hält man sie von einem großen Werthe; denn ob sie gleich nur in einem kleinen Grade Wohlgefallen verschaffen kann, so kann sie doch eine Unendlichkeit des Vergnügens erregen. Der Geschmack besteht also darin, daß Anderer Sinn mit je-_
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/mandes Wahl übereinstimmt. Daher kann der Geschmack zuletzt ein ganz wichtiger Gegenstand im gesellschaftlichen Umgange werden.
/Es macht selbst ein großes Talent bei dem Menschen aus, wenn er viel Geschmack hat. Dies kann man von den Franzosen sagen. Ihre Wahl ist besser als jene anderer Nationen. Der Geschmack wird etwas Wichtiges in einem Zeitalter der Geselligkeit. Mancher sagt, ich habe einen eigenen Geschmack; allein ein solcher hat gar keinen; denn der, dessen Wahl keinen Beifall bei Andern findet, hat keinen Geschmack. Er hat seine eigene gute Empfindung, aber für Andere kann er nicht wählen. Man kann freilich über den Geschmack nicht so bündig sprechen, als über einen philosophischen Satz, weil die Sache nicht unter Begriffe zu bringen ist; aber wenn der Satz, ich habe meinen eigenen Geschmack, so viel heißen soll, als: meinen Geschmack kann keiner bestreiten, so ist dies falsch; denn wenn du dein eigenes Privaturtheil Geschmack nennst, und doch nicht für Anderer Augen gewählt hast, wie doch beim Menschen geschehen soll, so kannst du nicht sagen, daß du Geschmack hast.
/Es fragt sich, liegt in der Natur etwas, wobei man ohne die Beistimmung Anderer sagen könnte, daß dieses Anderer Beifall haben müsse? Allerdings liegt etwas in der Natur der Sache, woraus wir a_priori urtheilen können, daß etwas für den öffenlichen Sinn, d.i. nicht nur angenehm, sondern auch schön sey. Dies sieht man deutlich bei dem Ebenmaße. Die Angemessenheit und Ordnung in einem Hause, wo die Thür nicht in einem Winkel angebracht ist, muß jedem gefallen; dies läßt sich aus der Natur der Sache beweisen. Allein die Nothwendigkeit, daß die Menschen darin überkommen müssen, können wir aus der Vernunft nicht darthun, sondern müssen die Erfahrung befragen. Daher haben alle Geschmackssachen
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/das Besondere, daß sie vieler Untersuchungen bedürfen, aber nur im Anfange, bis der Geschmack ausgebildet ist; hat aber etwas Beifall gefunden, so kann man dies für eine Geschmacksregel halten.
/Der Geschmack betrifft gewisse allgemeine Gesetze unsers sinnlichen Wohlgefallens, insofern dies Wohlgefallen unter einem allgemeinen Gesetze steht. Das Uebermaaß der größten Annehmlichkeit des Genusses heißt Luxuries: das Uebermaaß der Annehmlichkeit des Geschmacks Luxus. Luxus ist eine Uebermäßigkeit in Ansehung der Vergnügungen des Lebens, aber mit Geschmack; Luxuries ist die Fresserei, wo man nicht auf die Mannigfaltigkeit der Speisen, sondern auf große Trachten sieht. Die vielerlei Gerichte auf großen Tafeln dienen dazu, daß jeder das findet, was ihm schmeckt. Die Kochkunst beruht also auf der Wahl des Geschmacks. Die Luxuries macht krank; der Luxus arm; denn der Geschmack ist unendlich, wir können nicht so viel genießen, als wir anschauen können. Die Annehmlichkeit im Geschmacke hat nichts, was übersättigt, indem diese Vergnügen zwar klein sind, aber sich vermehren, die Geselligkeit befördern, ohne Ueberdruß unterhalten werden, und das, was uns am Grade abgeht, ersetzen wir durch die Vermehrung. Das Talent des Geschmacks ist also nicht gering zu schätzen; es zeigt an sich selbst einen verfeinerten Menschen, und bildet das menschliche Herz zu moralischen Eigenschaften. Wenn die Geschlechtsneigung blos auf den Genuß geht, so ist sie brutaler Art; aber durch die Kunst des Geschmacks wird diese Neigung von dem Thierischen abgeleitet. Wenn der Dichter durch sein Gedicht die Sinne wollüstig zu machen sucht, so thut er dem Geschmacke Abbruch. Wir müssen diese Neigung mit allerhand Täuschungen so zu hintergehen suchen, daß z. B. die Dichtkunst den Menschen von der thierischen Neigung ganz abbringen, und ihn mit an-_
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/dern Annehmlichkeiten unterhalten kann. So verbessern Verfeinerungen des menschlichen Geschlechts die menschliche Natur.
/Wir unterscheiden oft nicht, was ein Gegenstand des Geschmacks, und was ein Gegenstand des Appetits ist. - Winkelman sagt, die wahre Idee von der Schönheit sey bei den Griechen. Unsere Begriffe von der Schönheit sind sind partheiisch, und mehr Urtheile vom Reitze. Schönheit ist aber bald nicht Reitz, und Reitz bald nicht Schönheit; denn das Eine betrifft die Form allein. Wenn wir allgemein gültig für Alle urtheilen sollen, so muß das Urtheil einerlei seyn z. B. ob ein Frauenzimmer als Frauenzimmer schön ist, oder ob wir es auch als eine verkleidete Mannsperson für schön halten würden. Wenn etwas blos des Geschmacks wegen für schön angesehen werden soll, so geht dieses partheiische Urtheil nicht auf den Geschmack. In unser Urtheil des Geschmacks muß sich kein Reitz einmischen; denn der Reitz gehört für die sinnliche Urtheilskraft. Wo etwas die Affekten erregt, da muß von der Schönheit in der Anordnung unterschieden werden.
/Die Mode hat einen größeren Einfluß auf den überhandnehmenden Geschmack. Sie gründet sich auf Geselligkeit; es wird etwas allgemein angenommen, nicht weil es schön ist, sondern weil man sich nicht gern vor Andern auszeichnen will. Die Menschen haben einen Hang zur Einförmigkeit, wo man sich nicht gern auszeichnet. Die Neuigkeit muß mit diesem allgemeinen Gebrauche verbunden seyn, und etwas hört auf Mode zu seyn, wenn es allgemeiner Gebrauch wird. Aber da die Mode die Wahl ist, die dem Geschmacke gefällt, so kann man doch gar nicht ausmachen, was für eine Art von Tracht diejenige sey, die der menschlichen Bildung am angemessensten ist; denn wenn wir uns jetzt an die kurzen Taillen gewöhnen, so lacht man über die vorige Mode, und mit
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/der Zeit kommt sie doch wieder auf. Das Auge gewöhnt sich so an eine Tracht, daß man sagen möchte, es sey darin nichts Bestimmtes. Man gewöhnt sich an die Veränderungen, aber am Ende muß doch eine Art von Putz am besten gefallen, wo das Urtheil der Sinne mit der Natur übereinstimmt. Die Manier des Menschen, wie man sich kleiden soll, scheint durch den Geschmack nichts Bestimmtes zu haben, damit er abwechseln und immer mehr Reitz in Gesellschaften erregen soll. Wir schätzen alle Erzeugnisse der Kunst nach der Natur. Es ist etwas dem Geschmacke gemäß, was der Natur gemäß ist. Geschmackvoll sieht etwas aus, was ohne vielen Aufwand durch eine vernünftige Wahl so eingerichtet ist. Wo die großen Summen, welche etwas gekostet hat, in die Augen fallen, da zeigt sich kein Geschmack, aber desto mehr verräth sich Geschmack, je weniger der Gegenstand gekostet zu haben scheint, und doch gefällt.
/Man muß Geschmacksurtheil und Geschmacksneigung von einander unterscheiden. Es ist gut, ein gesundes Geschmacksurtheil zu haben; aber eine erklärte Neigung für den Geschmack zu haben, ist eine Schwäche. Ein Mensch hat Geschmacksneigung, wenn er nur auf die Reitze Anderer sieht; ein solcher zeigt gewöhnlich viel Eitelkeit. Das Schöne und Angenehme beruht auf Empfindungen; das Gute auf Begriffen. Das Schöne steht mit dem Guten in einer natürlichen Verbindung, ohngeachtet es nicht einerlei ist; z. B. der Koch sorgt für den Wohlgeschmack der Sinne, der Tafelservirer für die Schönheit der Gefäße; allein wenn gleich der Koch Gerichte zu machen weiß, so weiß er sie doch nicht zu wählen, dazu gehört jemand, welcher Geschmack hat; es wird noch ein anderes Mittel erfordert, um über das, was zur Empfindung gehört, noch ein Geschmacksurtheil zu fällen. Ob aber die Mahlzeit gut sey, würde allein der Arzt ausmachen
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/können, und des Arztes Urtheil würde oft dem Geschmacksurtheile entgegen gesetzt seyn. Das Gute fällt nicht in die Sinne, sondern gehört für die Beurtheilung der Vernunft. Wenn z. B. die Speisen noch so wohlschmeckend sind, und Beifall finden, so ist dies doch blos durch das Wohlgefallen der Sinne. Die Vernunft sorgt für die zukünftigen Folgen des Wohlbefindens, die nicht in die Sinne fallen.
/Hängt das Schöne immer mit dem Zweckmäßigen zusammen? Die Sinne urtheilen gar nicht über die Dinge, und was den Sinnen gefällt, gefällt oft der Vernunft nicht. So viel ist gewiß, alles Schöne muß eine Beziehung aufs Gute haben, z. B. die gute Bildung eines Menschen beruht darauf, daß das Verhältniß der Theile so beschaffen sey, daß sie nützlich oder doch wenigstens der Nutzbarkeit nicht entgegen gesetzt seyn. Man hält einen Menschen für schön, wenn Leichtigkeit in der Bewegung seines Körpers herrscht, weil diese zur Brauchbarkeit tüchtig macht, so daß die Nützlichkeit hier bei der Schönheit hervorleuchtet, nur mit dem Unterschiede, daß die Sinne hier auf das Zweckmäßige sehen. Ohne die mindeste Beziehung auf Nutzen können wir keine Schönheit finden, wenigstens darf sie ihm nicht widerstreiten. Eine Säule sieht schön aus, wenn sie gleichmäßig und oben mit sich ringelnden corinthischen Acanthen ausgeschmückt ist. Alles muß auf den Nutzen abgezweckt seyn, sonst würde es nicht gefallen. Einige haben geglaubt, große Ohren hören besser, ob sie gleich nicht gefallen; aber dies ist falsch; sie hören im Gegentheile schwerer; denn je mehr die Ohren in den Knorpeln zusammengezogen sind, desto besser werfen sie den Schall zurück. Man hat bei einigen Nationen auch bemerkt, daß ihre Ohren weit vom Kopfe abstehen. Dies kommt blos auf Gewohnheit an, und ist keine Naturanlage; denn die Ohren werden
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/von einigen Nationen so gedrückt, daß sie nicht hervorstehen können. Hier ist also das Schöne der Nützlichkeit nicht entgegen gesetzt.
/Wir finden aber auch, daß die Natur das Nützliche weniger schön eingerichtet hat, z. B. unsere Getreidearten sehen sehr einfältig aus, gegen die Gewächse, die unsere Felder von selbst hervorbringen. Das Unkraut blüht gemeiniglich am schönsten. Der Esel ist Eines der nützlichsten Thiere, und auch bei den Alten nicht als ein Gegenstand des Spotts angesehen; indessen ist er ein unansehnliches Thier, obgleich in vielen Ländern nutzbarer als das Pferd. Nützlicher kann nicht leicht etwas seyn, als das Rindergeschlecht; daher auch die Kuh von den Hindus andächtig verehrt wird, aber man kann an ihr keine Schönheit entdecken. Ein Stück Rindfleisch finden wir zwar schön, aber das ist die Empfindung im Vorgeschmacke am Genusse desselben. - Natur, wenn sie wie Kunst aussieht, ist dem Geschmacke gemäß. Wenn wir die Blumen mit den Abwechslungen ihrer Farben ansehen, so sehen sie wie gemahlt aus. - Wenn die Kunst, ob man sie gleich als Kunst erkennt, doch wie Natur aussieht, so gefällt sie doch sehr. Daher auch die englischen Gärten gefallen, weil die Kunst darin so weit getrieben ist, daß sie wie Natur aussieht. So ist auch die Beredtsamkeit die beste, die wie natürlicher Ausdruck aussieht; was daher für die Augen aller Welt schön seyn würde, das würde das seyn, was der Natur ähnlich wäre. Man sieht also doch, daß hier eine Vereinigung zwischen Natur und Geschmack statt findet, zwischen dem Guten, was die Natur hervorzubringen sucht und zwischen dem Schönen.
/Die Vermehrung unserer Bedürfnisse bringt Bildung zuwege, und Bildung wieder Vermehrung unserer Bedürfnisse. Wenn Menschen in großen Gesellschaften bei-_
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sammen wohnen, so vermehren sie ihre Bedürfnisse; aber da werden auch ihre Talente mehr aufgeregt, für die Befriedigung der Bedürfnisse zu sorgen. Wenn sich endlich der Geschmack einfindet, so versittigt die Bildung die Verfeinerung des Geschmacks, vermehrt und befördert die Glückseligkeit. Der Geschmack ist das Vermögen gesellig zu wählen. Eine Fortsetzung der Gesittung (Civilisirung) versittlicht, und dies ist der höchste Punct, den der Mensch erreichen kann; so bringt die Beförderung der Geselligkeit Sittlichkeit in den Gesinnungen hervor, indem sie den Weg dazu bahnt. Die schönen Künste bessern den Menschen zwar nicht, aber sie verfeinern ihn doch, und machen es ihm leicht, sittlich gut zu werden. Man kommt den menschlichen Gesetzen einen Schritt näher, wenn man Geschmack am Schönen findet, und bereitet sich vor, Geschmack am Guten zu finden. So ist die allmähliche Ausbildung der Menschen, wenn sie bis zur Civilisirung hinaufsteigt, und die Ausbreitung des Geschmacks eine Vorbereitung zur Besserung der Menschen.
/Der Geschmack befördert idealische Vergnügungen und macht uns Vergnügungen fähig, die wir durch den Genuß der Sinne nicht haben könnten. Es giebt idealische Vergnügungen in der Mahlerei, Musik und in den Wissenschaften. Dieser idealischen Vergnügungen werden wir fähig, wenn wir den Geschmack ausbilden. Der Mensch ist von den thierischen Bedürfnissen der Sinne frey, jemehr er an deren Stelle etwas anderes setzen kann. Das Vergnügen, das wir an einem Gedichte haben, verdrängt je mehr und mehr in uns den nachtheiligen Hang, den wir an Befriedigung sinnlicher Begierden finden. Luxus ist ein Aufwand, der mit Geschmack übereinkommt, aber bisweilen wird auch Luxus als ein Verderbniß der Zeit angesehen; dann ist er ein Geschmack, der zum Nachtheile sinnlicher Begierden vergrößert wird. Dies ist die Schäd-_
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/lichkeit des Luxus, oder die Ueppigkeit. Die Ueberhandnehmung der Gewerbe giebt allen Menschen zu thun, sie vermehrt die Bevölkerung, aber auch die Bedürfnisse. Eben deswegen ist sie eine Quelle von vielem Guten; denn die Arbeit so vieler Menschen kann viel hervorbringen, was zu vielen Zwecken dient. Aber sie vermindert auch die Zufriedenheit und Gleichmüthigkeit bei den Menschen; denn sie vermehrt sehr unsere Sorgen. Der Luxus thut auch den Naturbedürfnissen Abbruch. Viele Menschen lassen eher ein natürliches Bedürfniß unbefriedigt als ein Stück des Luxus, daher fragt Hume: wenn ist der Mensch arm? Der eine schlechte Mahlzeit hat. Nein! Dieser wird doch satt, sondern der, welcher keine Schuhe hat, und also nicht unter Menschen gehen kann; denn da verliert er das, was den Menschen sanft macht. Arm ist also der, der sich in keiner Gesellschaft zeigen kann, und ein solcher ist bedauernswürdig. Wenn der Luxus den natürlichen Bedürfnissen auf der einen Seite Abbruch thut, und dagegen alle Kunst auf die Schönheit verwendet, so ist dies doch nicht so sehr zu bedauern; der Mensch wird dadurch nicht unglücklich, sondern ein gebildeteres Subjekt für die Gesellschaften. - Wenn Staaten im Besitze ihrer Freiheit zu großen Reichthümern gekommen und zu der größten Ueppigkeit gelangt sind, um ihren Ausschweifungen Genüge zu thun, so kann das nicht so wohl dem Luxus, als vielmehr der Luxuries beigemessen werden. Solche Luxuries zeigt sich gemeiniglich an den Tischen gemeiner Leute, die einmal ein Gastmal geben wollen. Die Tische brechen unter den Trachten der Speisen. Luxuries wird bestimmt nicht der Qualität, sondern der Quantität nach. So kann man sagen, daß ausschweifende Menschen nur in Ansehung ihrer Vergnügungen der Quantität nach tadelhaft sind. - Einige vornehme Herren setzen ihre Pracht darien, daß sie eine große Zahl Be-_
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/dienten haben; aber das ist ein großer Prunk, in dem kein Geschmack steckt. Wenn der Luxus recht verfeinert ist, so macht er sparsam, und es sieht noch etwas besser aus, wenn es ohne große Kosten zu Stande gebracht ist, selbst für den, der Zuschauer ist. Hume sagt, er sey eine Art Vergnügen, der weichlich macht. Wenn aber Vergnügen von der Art sind, daß sie abhärtend sind, so können wir sie nicht zum Luxus rechnen. Er sagt also, die Ausschweifungen der Engländer seyn alle von der Art, daß sie die Stärke vermehren, z. B. ihre Wettrennen und Jagden, welche die körperlichen Kräfte ausbilden und abhärten. Aerger ist freilich der Luxus, der auf Gemächlichkeit angelegt ist, wodurch der Mensch verzärtelt wird; dies taugt nichts, denn er entnervt den Menschen. Aber im Allgemeinen besteht der Luxus in der großen Menge überflüssiger Bedürfnisse, die viele Menschen beschäftigen. Derselbe bildet zwar sehr, aber er schwächt auch sehr, weil er die Empfindung des menschlichen Gemüths abnutzt, wodurch es der Vergnügen fähig ist; wir werden der Vergnügen zuletzt unfähig, wenn das Gemüth durch eine allzugroße Menge von Vergnügungen übertäubt wird.
/Das Gute ist mit dem Schönen so verbunden, daß es selbst der Schein des guten Geschmacks ist. Die Höflichkeit ist die Vollkommenheit dem Anscheine nach. Darum ist die Höflichkeit auch nicht zu tadeln; sie ist doch die currente Menschenliebe, die man alle Augenblicke ausübt, und von Andern erwartet. Es ist nicht nöthig, daß man immer jemanden hat, der uns Freundschaftsdienste erweiset; denn wir bedürfen sie nicht immer, aber höflich muß man immer seyn, denn dadurch bilden wir uns beständig aus. Daß man jemandem mit Höflichkeit zuvorkomme, daß man ihm nachgebe, ob man gleich recht hat, das alles sind Selbstüberwindungen, wodurch man
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/sich verfeinert. Daher ist die Höflichkeit nicht für Falschheit anzusehen; denn das Zurückhalten unserer Gesinnungen ist keine Falschheit. Es ist doch besser eine geringschätzige Meinung zu verbergen, als sie gerade heraus zu sagen; denn da die Höflichkeit den Geschmack verfeinert, so bereitet sie uns unvermerkt zu moralischen Maximen vor. Durch die Höflichkeit ist also der Mensch auf halbem Wege gebessert, und dadurch wird er zu thätigen Dienstleistungen angespornt; so verbessert sich nach und nach der Charakter eines solchen Menschen. Wenn die Rede vom Angenehmen, Schönen und Guten ist, so ist das Gute das, was von allen den Beschluß macht. Zuerst sorgt man für das, was vergnügt, dann fürs Schöne, und endlich für das, was durch seinen Nutzen überall gut ist. Dies beschließt am Ende die Gegenstände aller Begierden. Die Meisten sind der Meinung, die rohe Zeit habe mehr Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und eheliche Treue gehabt, allein dies ist grundfalsch; denn in allen ungebildeten Zeiten herrschten weit gröbere Laster, und wenn ja damals einige Laster nicht waren, so kommt dies daher, weil es zu jener Zeit noch keine Veranlassung zu so vielen Lastern gab. Hume führt in seiner Geschichte von England einige unmenschliche Thaten an, die jetzt nicht mehr geschehen könnten, weil das jetzige mehr gebildete Zeitalter auf ein solches Betragen eine solche Verachtung geworfen hat, daß kein Mensch, wenn er auch Neigung dazu hat, dergleichen zu thun wagen würde.
/Die Versittigung (Civilisirung) macht, daß die Menschen durch die Mode zurückgehalten werden, barbarisch zu seyn. Wir müssen uns das nicht irre machen lassen, daß unter civilisirten Völkern Verstellung ist; dies ist so nothwendig, daß, wenn wir unsere geheimen Gedanken immer ausbrechen lassen wollten, die Thorheit keinen Zügel mehr haben würde. Diese Dissimulation ist nicht so sehr tadel-_
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/haft; denn es ist besser, daß der Mensch das Fehlerhafte vor Andern zurückhält, allein die Grobheit der Alten war auch noch nicht Ehrlichkeit; denn Tugend aus Maximen erfordert ausdrücklich Bildung. Im Zustande der Rohigkeit kann es wohl gute Menschen aus Temperament geben, aber eine gute Denkart kann man ihnen nicht beimessen. Man kann also annehmen, daß die Welt mit der Bildung in der Verbesserung der Sittlichkeit fortschreitet. - Man nennt einen guten Menschen auch den, der sich alles gefallen läßt, und von dem man nichts Böses zu befürchten hat. Dies ist kein Lob für einen Menschen, denn dadurch wird seine Schwäche angezeigt. Indessen kann man sagen, der größte Theil der Menschen sey gut aus Unvermögen. Wenn Mancher die glückliche Gabe der Keckheit hat, so weiß er sich derselben allenthalben zu bedienen. Ein Solcher trauet sich selbst alles zu, kann alles wagen, kommt niemals durch etwas in Verlegenheit und kann sich leicht zeigen, wenn er nur einiges Talent hat. Ein gar zu großes Mistrauen gegen sich selbst verhindert den Menschen, daß er sich nicht so recht vortheilhaft zeigen kann. Diese Gabe der Keckheit kann also eine gute Gabe genannt werden; ein solcher Mensch ist wagehalsig, und kann Dinge unternehmen, welche Gefahr bei sich führen. Mancher unterläßt blos Laster, weil er sich fürchtet. Wenn wir also nur die Menschen übrig behalten wollen, die das Böse, das sie vollkommen in ihrer Gewalt halten, nur aus Maximen unterlassen haben, so würden wir nur einen sehr kleinen Theil behalten. Der größte Theil der Menschen ist gut aus Unvermögen. Man glaubt jedoch, man sey sicher bei einem Menschen, der furchtsam ist, allein demjenigen, welcher das Vermögen hat, Böses zu thun, trauet man nicht viel. Man unterscheidet einen guten von einem großen Fürsten. Die Größe betrifft das Talent, die Güte die
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/Denkart, und den Gebrauch, den er von seinen Talenten macht. Da das vernünftige Große nicht so wohl für die Talente, sondern auf den guten Gebrauch derselben ankommt, so werden wir doch mehr durch die Größe des Talents, durch einen unermüdeten Fleiß, gerührt, als durch einen Andern, der alle diese Talente dem Grade nach nicht, aber den besten Willen hat. - Wir werden wohl dem Letzten Beifall zollen, aber nicht die Bewunderung vor ihm fühlen, die wir vor dem Ersten hegen. In der Geschichte lobt man nicht die guten Fürsten, sondern die großen; denn die guten waren wie ein heiterer Tag, der bald vorüber geht; aber die großen, welche Talente zeigten, und blutige Kriege führten, sind in der Geschichte aufbehalten; dies muß doch in der Natur des Menschen liegen, die noch nicht völlig versittlicht ist. Die Menschen sind noch nicht so weit fortgeschritten, daß alle Bildung im menschlichen Geschlechte schon vorhanden ist, deren wir fähig sind, und wir werden nach kindischer Weise blos durch das Große gerührt. Große Fürsten bekommen bisweilen den Titel der guten, wenn sie alles Böse so weit gethan haben, daß ihnen nichts mehr übrig bleibt. Nun fangen sie an sich gut zu zeigen, weil sie keine Gelegenheit mehr haben, anders aufzutreten. Einem solchen Character schenken wir eine unbedingte Hochachtung. Menschen von wirklichen Empfindungen, welche vom Guten gerührt werden, und Theilnehmung daran zeigen, finden ein Interesse dabei, von Sittlichkeit zu sprechen. Unsere Unterredungen haben allerlei Stoff, z. B. Stadtneuigkeiten, politische Neuigkeiten etc., dann kommt eine Materie, die das menschliche Herz betrifft, aber selten. Es giebt Leute von großem Verstande, die niemals ein solches Gespräch führen, und gar keine Lust dabei fühlen. Die ursprünglich guten Maximen aber können schwerlich in einer solchen Person tief eingewurzelt seyn.
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/J. J. Rousseau und Hume stritten, ob die Tugend ein Geschenk der Natur sey, oder gelernt werden müßte. Rousseau behauptet das Erste, Hume aber widerlegt ihn mit Recht; denn wenn wir uns nicht ausbilden, so wird keine Tugend entspringen, ob wir gleich die Anlage dazu haben. Wer kein Interesse an der Sittlichkeit hat, der kann kein guter Mensch seyn. Wenn die Menschen in Umstände kommen, wo sie bei der Tugend Gefahr laufen, so sieht man, daß Maximen fehlen. Gespräche über Sittlichkeit haben viel Vorzügliches, seine Maximen festzusetzen und sie bei Gelegenheit zu zeigen. Wer also an keinem moralischen Gespräche Geschmack findet, der hat keine bestimmten Maximen gefaßt. Aber ganz etwas anders ist es, eine ganze Menge moralischer Lehrsätze daraus herzuleiten. Alte Leute werfen gern mit solchen alltäglichen Sittensprüchen um sich, obgleich die Grundlage derselben nicht durchdacht ist. Es ist überhaupt nichts unerträglicheres, als Ermahnungen anzuhören; denn das sind alltägliche Regeln, bei denen kein Mensch etwas denkt. Solche Menschen verrathen wirklich Gleißnerei und Verstellung. Ein Mensch, der sich sehr viel Mühe giebt, für gut angesehen zu werden, muß doch vor Menschen etwas zu verbergen haben; denn sonst würde er sich nicht so viel Mühe geben, sich einen Anstrich des Guten zu geben. Gespräche über Moralität aber haben etwas Angenehmes. Der Mensch bessert sich eo ipso, und giebt seinen Maximen Festigkeit, ohne welche keine schöne Denkart statt findet. Die Königin Christina von Schweden dachte niemals etwas Unkluges, und niemals etwas Kluges. Sie warf mit Sittensprüchen um sich, die sie Maximen nannte; aber Maximen sind nicht blos Regeln der Sittlichkeit, sondern auch subjektive Regeln. Sie war also keine Frau von Gefühl (sentiments); denn sprechen kann man bald etwas; aber daß man das, was man spricht,
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/in seine Denkart aufgenommen habe, ist oft noch in weitem Felde.
/Das Angenehme hat einigen Beifall, das Schöne größern Beifall, das Gute soll allgemeinen Beifall haben, ohne das Verhältniß irgend einer Person in Betracht zu ziehen. Wer rechtschaffen in jeder Beziehung ist, ist gut.
/Es ist ein schlechtes Zeitalter, wo man durch Ehrlichkeit Ehre erwirbt, aber noch ein weit schlechteres ist das, wo die Unredlichkeit keine Schande zuzieht. Nichts erwirbt Beifall, als das, was selten ist. Weniger als ein ehrlicher Mann kann Niemand seyn. Wenn es aber schon sehr viel ist, daß jemand ein ehrlicher Mann ist, und wenn ihm das als ein sehr großes Verdienst angerechnet wird, so kann man sich vorstellen, wie schlecht das Zeitalter seyn muß; denn das Verdienst ist das, wodurch man mehr thut als man schuldig ist. Nichts ist verdienstlich, was nur genau der Schuldigkeit gemäß ist. Wer sich aber als ein ehrlicher Mann verhält, der thut nur gerade seine Schuldigkeit; denn darum ist er noch kein Wohlthäter, kein Menschenfreund etc. Wir sehen daher, wie weit wir noch in unserer Zeit zurück sind, indessen wäre freilich die Zeit noch schlechter, wo Unredlichkeit keine Schande ist. Wir werden aber doch jeden als ein unwürdiges Mitglied unserer Gesellschaft ansehen, wenn er mit Unredlichkeit befleckt ist. Das Gute ist überall unsichtbar, weil es immer in der Denkart liegt. Wir beurtheilen alles nach dem Nutzen, der aus der Handlung entspringt. Der Lohn dessen, der recht handelt, ist der, daß man ihm Ehre erweiset, allein dies ist keine angemessene Art von Belohnung. Die Menschen sind zu gleichgültig in Ansehung des Guten, oder schlechte Kenner darin. Das, was uns für die Güte des Charakters selbst belohnt, ist die Gemüthsruhe, und der Beifall, den man sich selbst giebt. Dies ist der größte und vorzüglichste
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/Lohn; der andere, den uns Menschen geben, ist nicht unserm Verhalten angemessen.
/ ≥ Von dem Begehrungsvermögen. ≤
/Angewöhnte Begierden heißen Neigungen; Begierden, die nicht als eine Gewohnheit betrachtet werden, Instinkte. Jede plötzlich entstandene Begierde, ohne daß sie einen eingewurzelten Hang zu einem Gegenstande hat, nennt man Instinkt. Ohne diese Begierden können wir nichts ausführen.
/Alle Begierden haben Beziehung auf Thätigkeit, den Gegenstand der Begierde zu verwirklichen. Dies setzt voraus, daß der Gegenstand in unserer Gewalt seyn müsse; denn sonst ist die Thätigkeit vergeblich, wenn wir ihn nicht in unserer Gewalt haben. Dennoch finden wir, daß in den Menschen Begierden nach Gegenständen sind, wovon sie vollkommen einsehen, daß sie nicht in ihrer Gewalt sind. Solche Begierden sind offenbar müssige Begierden. Es sind leere Sehnsuchten, die in dem Herzen der Phantasten sich finden, welche ihre Begierden auf eine Zukunft richten, in Ansehung derer sie nichts bestimmen können. Solche Sehnsuchten sind entsetzliche Abnutzungen der Seelenkräfte, und der Thätigkeit und Wirksamkeit sehr zuwider. Sie machen den Menschen unbrauchbar für die Welt, weil er sich mit Dingen beschäftigt, von denen er doch weiß, daß sie nicht in seiner Gewalt sind. Gleichwohl fühlt er diese Anstrengung, von welcher er zu Dingen angetrieben wird, die er nicht ausrichtet.
/Die so häufig empfindsamen Seelen sind mit lauter Sehnsucht angefüllt, und dünken sich eben dadurch vortrefflich. Diese Sehnsuchten werden hauptsächlich durch Romane genährt, wo Begebenheiten sich zutragen,
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/wie sie uns bloß im Traume einfallen können; dadurch werden solche leere Wünsche unterhalten. Auch Moralisten, die lauter Großmuth, Wohlwollen etc. predigen, erfüllen das menschliche Herz mit Sehnsuchten. Diese leeren müssigen Wünsche, die das menschliche Herz so welk machen, bringen die besondere Wirkung hervor, daß solche Leute sich für gute Menschen halten, indem sie glauben, daß es ihnen nur am Vermögen dazu fehle, Gutes zu thun. Aber, wenn die Gelegenheit kommt, zeigt es sich bald, daß es lauter Täuschung war._
/Es verräth immer etwas Süßliches, wenn man sich zu verdienstlichen und nicht bloß zu schuldigen Handlungen versteht; denn da glaubt man, man habe Lohn zu erwarten. Daher haben alle Menschen die Moralgesetze gern, welche ihnen etwas Edles vorschreiben; aber Alle scheinen die Gesetze der Natur gering zu schätzen und erfüllen nicht einmal ihre Schuldigkeit, und doch wollen sie großmüthige Handlungen ausüben. Die Empfindsamkeit gehört daher zu den leeren Sehnsuchten, woraus nichts wird. Begierden sind müssig, wenn sie unbestimmt (vag) sind, und keinen beständigen Gegenstand haben. Man begehrt etwas, und weiß nicht, was man begehrt. Dies ist der Zustand der Langeweile, wider welchen schwerlich Heilmittel herbeigeschaft werden können. Sehr vervielfältigte Ergötzlichkeiten erschöpfen die Empfindsamkeit des Menschen so, daß nichts mehr übrig ist, was den Balsam der Linderung mit sich führt. Menschen, die mit solchen Mißlaunen geplagt werden, sind wie Kinder, die nicht wissen, was sie wollen. Ein solcher Zustand des Ekels und des Ueberdrusses entspringt aus der Thorheit, alles zu versuchen. Dadurch, daß Menschen ihre Nerven abgenutzt haben, haben sie sich eine Leblosigkeit zugezogen, so daß sie in sich eine völlige Absterbung aller Empfindungen des Vergnügens fühlen. Dieser Zu-_
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/stand ist der Abscheu vor dem Leeren (horror vacui in natura), von dem die alten Physiker sprechen, wo wir nichts in uns finden, womit wir den leeren Raum in der Seele ausfüllen könnten; wir fühlen uns beklommen und sind ängstlich, zu wissen, was uns abgeht. Es ist dies der Zustand der meisten Menschen, wann sie unfähig sind, müssig zu seyn, aber auch nicht fähig, zu arbeiten. Das Spiel ist in einem solchen Zustande das Beste; es dient dazu, in diesem Zustande der Langeweile sich die Zeit vorübergehend zu machen. Starke Getränke genießen viele Leute, um nur ihrem Gemüthe eine Ablenkung zu machen, das in den Abgrund der Langeweile versinken will. Die scharfen Empfindungen des Tabacks dienen dazu, die Langeweile zu vertreiben, weil sie oft wiederholt werden können. Die Gewohnheit starker Reitze ist Ursache, daß zuletzt der Zustand der Unempfindlichkeit entsteht; daraus folgt, daß die Jugend die Annehmlichkeiten und Vergnügungen des Lebens auf die Zukunft versparen muß, weil sie dieselben dann immer noch in der Aussicht hat.
/Man nennt einen Menschen rüstig, welcher thätig ist ohne starke Triebfedern. Ein Mensch, wenn er auch noch so faul ist, kann durch starke Triebfedern zur Thätigkeit angetrieben werden; ein rüstiger Meuschen ist gern thätig. Läßig ist das Gegentheil von rüstig. Man nennt einen Menschen wacker (strenuus), der mit fröhlichem Herzen arbeitet, in so fern er thätig und dabei fröhlich ist. Ein wackeres Weib ist besser für einen Mann, als die schmachtende Schönheit, die immer mit Mißlaunen geplagt ist. Das Wackere kann man sich verschaffen, wenn man sich die Arbeit als etwas Angenehmes vorstellt, das mit Lust verknüpft ist.
/Wir müssen einen Unterschied machen zwischen Hang, Instinkt und Neigung. Hang oder penchant ist die in-_
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/nere Möglichkeit zu einer Neigung, d. i. die Naturanlage zur Neigung. Eine Neigung setzt voraus, daß man den Gegenstand derselben kennt; aber schon vor der Bekanntschaft mit dem Gegenstande ist eine Anlage im Menschen, von der man sieht, daß er, wenn er damit bekannt werden wird, sehr starke Neigungen dazu haben werde. Man kann schon bei Kindern Herrschsucht und Hang zur Geschlechtsneigung wahrnehmen. Diesen natürlichen Hang bei dem Menschen zu erforschen, ist von großer Wichtigkeit; wenn Eltern den Hang (penchant) ihrer Kinder zu ergründen verstehen, so wissen sie, was sie für Naturanlagen zu arbeiten haben; denn hat er einmal Wurzel gefaßt, so sucht man zu spät ihn auszurotten, im Keime muß die hervorstechende Neigung erstickt werden. Die Menschen haben auf der ganzen Erde einen Hang, sich zu betrinken. Die wildesten Völker, sobald sie nur das starke Getränk kennen, bekommen eine Neigung dazu. Menschen, die gleichgültig gegen starke Getränke sind, haben sehr frühzeitig diesen Hang bekämpft. Das Alter bringt einen Hang zum Geitze; es kann sich aber glücklicher Weise ereignen, daß die Menschen durch gesellschaftliches Vergnügen gelockt werden, so daß dieser Hang keine Neigung wird und diese Art von Leblosigkeit, die den Menschen hartherzig macht, sich bei ihm nicht zeigen kann. Die Theologen sollten daher sagen, der Mensch habe einen Hang zum Bösen, nicht aber eine Neigung. Die Neigung entspringt erst aus der Bekanntschaft mit dem Gegenstande, wozu uns die Natur den Hang gegeben hat. Bei diesem Hang kann verhütet werden, daß keine Neigung daraus wird; allein diesen Hang zu erforschen, dazu gehört viele Bekanntschaft mit Menschen von vielerlei Alter, um darnach urtheilen zu können. Zwischen Hang und Neigung kann man den Instinkt setzen. Der Hang ist keine herschende Neigung, sondern eine bei Ge-_
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/legenheit entspringende Neigung, die nicht auf dauerhafte Weise herscht, z. B. scorbutische Leute bekommen oft einen Hang zu bittern Sachen, die ihnen gerade am dienlichsten sind. Dies sind Instinkte, d. i. Begierden, deren Ursprung uns unbekannt ist. Man nennt diese Instinkte Gelüste, welche man von schwangern Frauen braucht wenn diese Lüste (Appetite) bekommen, woran sie sonst nie gedacht haben, ja die oft naturwidrig sind, so daß ihnen dadurch Nachtheil entspringen kann. Besorgte Ehemänner suchen ihnen gefällig zu seyn, weil sie glauben, daß sonst eine Mißgeburt zur Welt kommen werde. Dieser Schwachheit der Männer bedienen sich die Frauen, um ihre Lüsternheit zu befriedigen. Diese Gelüste heißen oft lateinisch picae; daher hat man ein Buch de pica nasi, wo vom Reitze des Tabacks gehandelt wird. Und dieses Gelüste bei dem Tabacke ist so unwiderstehlich, daß man nicht davon ablassen kann. Die Grönländer, wenn sie den Schnupftaback einmal gekostet haben, können ihn nicht wieder lassen, so, daß sie eine Art von fortdauerndem Gelüste darnach haben. Glücklicher Weise findet sich, daß den Grönländern der Schnupftaback sehr heilsam ist; denn seit der Zeit haben sie die Augenkrankheiten nicht mehr, die sie ehedem sehr häufig hatten. Er ist also besser als der Branntwein, durch welchen viele Völker ausgerottet worden sind. Es giebt Neigungen, die so stark auf den Menschen wirken können, daß er ihnen nicht widerstehen kann. Der Geschlechtstrieb ist ein natürlicher Instinkt. Er ist eine Begierde nach einem Gegenstande, ehe man ihn kennt. Ehe der Unterschied des Geschlechts bemerkt wird, entwickelt er sich schon und deshalb sucht jeder hernach sein Geschlecht auf. Eltern haben zu ihren Kindern unmittelbar eine Liebe, ohne zu wissen, ob etwas Liebenswürdiges an ihnen sey. Thiere haben schon diesen Naturtrieb, und wenn sie sonst
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/frei sind, so werden sie herzhaft, und setzen sich, um ihre Jungen zu vertheidigen, den größten Gefahren aus. Dies dauert aber nur so lange, als sie sie füttern müssen, und so möchte es wohl bei dem Menschen auch seyn, wenn die Eltern sich nicht noch gerade eine Ehre daraus machten, ihre Kinder zu versorgen; der Naturtrieb hört mit der Hülflosigkeit der Kinder auf. Es werden unbillige Ansprüche an diese Elternliebe gemacht; aber sobald die Kinder der Eltern nicht mehr bedürfen, kann wohl Dankbarkeit übrig bleiben, und die Eltern werden eine allgemeine Menschenliebe gegen die Kinder haben, für sie zu sorgen, aber die Schuldigkeit hört ganz auf. Dies liegt im Gesetze der Natur, daher sind sie zum Hinterlassen von Erbschaften gar nicht verpflichtet. Manche Eltern sind affenmäßig in ihre Kinder verliebt, und verziehen sie, gerade so wie die Thiere, ohne Grundbegriffe von Pflichten zu haben. Je roher die Menschen sind, desto mehr lieben sie die Kinder. Eine pariser Dame schickt ihre Kinder sogleich nach der Geburt in die Normandie (und das ist schon ein aus der Art geschlagener Mensch). Gemeine Leute trennen sich am allerletzten von ihren Kindern. So kann man also auch Naturinstinkte unterdrücken.
/Die Neigung ist eine dauernde Begierde, ein dauernder Grund, zu begehren. Ein Mensch, der dann und wann einen Anfall zum Begehren hat, hat noch keine Neigung; denn Neigung setzt Bekanntschaft mit dem Gegenstande voraus, sonst ist sie ein blinder Instinkt. Leidenschaften sind ausschweifende Neigungen.
/Das Gemüth ist entweder in Ruhe oder in Bewegung. Dies gilt sowohl in Rücksicht auf Empfindungen, als auf Neigungen. Ruhige Empfindungen z. B. sind die an einem heiteren Morgen; ruhige Begierden z. B. die Beschäftigungen mit seinem Amte. Dies ist eine Rich-_
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/tung des Willens auf einen gewissen Zweck, mit einer Bestrebung, ihn durch zu setzen. Es kostet viel Uebung und Bemühung das Gemüth in Ruhe zu erhalten. Nachtheilige Gerüchte, üble Nachreden beunruhigen das Gemüth. Für diesen Fall setze man sich vor, nach richtigen Grundsätzen zu handeln, und sich stets so aufzuführen, daß Niemand das Lästern glaube. Man hüte sich Andere zu beleidigen; man sehe sich vor, dem Beleidiger es merken zu lassen, daß er uns zu kränken im Stande sey.
/Der Mensch ist in Ruhe, wenn er seinen Gemüthszustand in seiner Willkühr hat. Hat er sein Gemüth nicht in seiner Gewalt, so ist eine Gemüthsbewegung vorhanden, theils Affect, theils Leidenschaft. Man kann aber auch willkührliche Gemüthsbewegungen hervorbringen, z. B. es spielt jemand den Verliebten gegen eine Närrin, die sich einbildet, ihn gefesselt zu haben. Auch gehören hierher die launigten Gemüthsbewegungen.
/Affect ist ein Gefühl, das uns außer Fassung setzt, Leidenschaft hingegen eine Begierde, die sich unserer bemeistert. Hutcheson hat diesen Unterschied zuerst bemerkt. Bei der Begierde ist nicht Wahrnehmung des Wirklichen und Gegenwärtigen, sondern eine Vorempfindung des Zukünftigen. Das Gefühl geht auf das Gegenwärtige.
/Wirkliche Affecten gehören zum Gefühle, und Leidenschaften zu den Begierden, und beide gehören zu den Gemüthsbewegungen. Die Neigung ist ein dauerndes Princip der Begierden und gehört zur Gemüthsbeschaffenheit. Setzt man wie Baumgarten den Unterschied zwischen Affect und Leidenschaft blos in den Unterschied der Grade, so würde das nur unbestimmte Begriffe geben; z. B. Baumgarten definirt den Geitz durch einen großen Hang zur Sparsamkeit. Sparsamkeit
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/ist Tugend, Geitz ist Laster, also ist Tugend und Laster nur dem Grade nach verschieden. Aus Tugend könnte Laster werden, und aus Laster Tugend durch Erhöhung oder Verringerung der Grade. Dies ist ein gefährlicher Irrthum. Wenn sich jedes Gefühl durch Vergrößerung den Affecten, und jede Begierde eben so den Leidenschaften nähern könnte, so wüßte man nicht das Maaß heraus zu finden, und den Punct genau zu bestimmen, wenn die Tugend in das Laster übergeht u. s. w. Der Grad der Empfindungen, der uns unvermögend macht, die gegenwärtige Empfindung mit der Summe aller unserer Empfindungen zu vergleichen, ist Affect. Verliebt seyn in eine gewisse Person ist Leidenschaft. Muß man sie haben, es koste was es wolle, so läßt man sich eine einzige Neigung fortreissen, ohne das Ganze in Erwägung zu ziehen. Man setzt alle anderen Vortheile bei Seite, die unsere übrigen Neigungen befriedigen könnten, wenn man die einzige, den Geschlechtstrieb, befriedigen kann, welcher alle anderen verschlingt. Bei den Affecten und Leidenschaften äußert sich eine gewisse Ungereimtheit, indem der eine Theil größer ist, als der andere, oder größer, als er seyn soll. Wenn sie auch auf etwas Gutes gerichtet sind, so sind sie darum noch nicht entschuldigt, sie müssen auch der Form nach gut seyn. Der Verstand muß das Gute erkennen, und die Leidenschaft der Vernunft gemäß seyn, und ihr Gehör geben. Die edelsten Gemüthsbewegungen stiften, wenn sie nicht der Vernunft unterworfen sind, den größten Schaden. Stärkere Grade derselben sind ausgelassener Affect, blinde Leidenschaft; z. B. ein Kind fällt ins Wasser, durch eine kleine Hülfe könnte es gerettet werden, ich erschrecke aber so sehr, daß ich zu aller Entschließung unfähig bin, und es ertrinkt.
/Affecten und Leidenschaften werden so häufig als gleichbedeutend angenommen, daß sogar Philosophen hierin
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/fehlen; sie sind aber so wesentlich von einander unterschieden, und die richtige Unterscheidung derselben hat so wesentlichen Einfluß auf das Leben des Menschen, und auf die Bildung des Umgangs, daß es wohl interessiren kann, den Begriff der Affecten zu bestimmen, und dann zu den Leidenschaften überzugehen. Sonst gehören die Affecten in den Abschnitt von Lust und Unlust, z. B. Freude und Angst, und also zu den Gefühlen. Wie die Gefühle aber in Neigung übergehen, davon werden wir besser urtheilen können, wenn wir die Affecten im Verhältnisse zu den Leidenschaften betrachten. - Wir können die Lebhaftigkeit noch nicht sogleich Affect nennen; der Schauspieler muß lebhaft seyn, aber ohne Affect. Wenn jemand durch seine Lebhaftigkeit Affect erregen kann, so glaubt man, er habe selbst dergleichen; aber das ist ein großer Unterschied; der Schauspieler muß Affect erregen können, ohne ihn selbst zu fühlen. Wer eine große Einbildungskraft und viel Lebhaftigkeit hat, sich in die Gedanken Anderer zu versetzen, der ist bei der Rolle, die er spielt, im Stande, das ganze Betragen eines affectvollen Menschen anzunehmen, so daß er mehr rührt, als wenn er selbst im Affecte wäre. Hat er den Affect in der Empfindung, so spielt er eine dumme Person, er ist verlegen, verwirrt etc.; aber der, welcher sich nur in einen Affect versetzen will, hat es besser in seiner Gewalt, wie er seine Mienen und Affecten einrichten muß. Es ist also unrichtig, von einem Schauspieler zu sagen, er müsse selbst gerührt seyn, um Andere zu rühren; denn Alle, welche Andere rühren wollen, z. B. Dichter, sind von dem Affecte ganz leer. Sie haben alles in der Einbildung, und können es so lebhaft machen, daß die Liebesgedichte auf idealische Personen die schönsten sind; wirklich Verliebte denken nicht ans Dichten.
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/Wer selbst einen Affect zu schildern weiß, und Lebhaftigkeit hat, der macht seine Rolle gut; denn sein Kopf ist frei, er stellt sich ein Bild im Gedanken vor und handelt mit allen Kräften nach einem Plane; dies muß anders herauskommen, als wenn den Leuten die Worte auf der Zunge stecken bleiben, weil man durch den Affect aus der Fassung gebracht ist. Man kann sagen, daß in Frankreich mehr Lebhaftigkeit sey, als Affect. Die Franzosen können einen Affect durch den Ausdruck so lebhaft machen, und mit so vieler Beredsamkeit sprechen, daß sie mehr mit ihrem Einfalle spielen, als daß sie selbst in Affect sind. Es ist ein Ausdruck, der eine völlige Vorstellung vom Affecte ist, aber bei allem dem ist der Affect nur angenommen; daher kann man in Schrecken setzen, ohne zornig, liebkosen, ohne verliebt, und klagen, ohne traurig zu seyn.
/Als Young seine Nachtgedanken schrieb, war er so wenig traurig, daß er vielmehr in den herrlichsten Freuden lebte, und frölichen Gemüths war; da konnte er am besten klagen, wenn er die Schwermuth selbst aufsuchen mußte, und sie so bei Andern besser hervorbringen. Wenn jemand ein Gedicht auf einen Todesfall macht, so ist das eine poetische Traurigkeit; ein solcher hat sich mehr dem Plane seines Gedichts überlassen, als dem Vorfalle, der ihm dazu Veranlassung gab. Wenn man dichtet, so ist die erste Traurigkeit schon vorbei. Manche sind inbrünstig ohne Andacht, und es wäre auch nicht möglich, daß der Prediger immer bei dem einen Affecte fühlte, was er Andern vortragen soll; denn die menschliche Natur verträgt nicht so viele Anfälle aufs Herz; daher wird die Lebhaftigkeit der Vorstellungen an die Stelle des Affects gesetzt.
/Rühren, ohne selbst gerührt zu seyn, ist der Zustand eines Menschen, der eine Rolle spielt. Dichter, Redner
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/sind also wirkliche Heuchler; denn wenn sie erhabene Dinge sprechen, so ist das von ihnen nicht auf diese Art empfunden, ob sie gleich Andere rühren können. Jemehr jemanden affectvoll schreibt, und die Empfindungen übertreibt, desto sicherer ist er ganz leer von allen Empfindungen. Der Mensch spielt nicht eher mit seiner Einbildungskraft, als wenn sein Gemüth von aller Rührung ganz frei ist; so ist das Herz leer von allem Affecte.
/Das Gemüth in Ruhe hält alle Neigungen in ihrem gehörigen Verhältnisse; das Gemüth im Affecte fühlt eine innere Empfindung, die stark und vorübergehend ist. Das Gemüth in Ruhe fühlt einen Gegenstand im Verhältniße zu den gesammten Gefühlen; ein Mensch im Affecte aber geräth so außer sich, daß er etwas nothwendig erreichen muß, um sich Luft zu machen, ob gleich das, was ihm widerfährt, keinen Einfluß auf sein ganzes Wohlbefinden hat. Er geräth dadurch so außer Fassung, daß er das Gefühl davon nicht im Verhältnisse seines ganzen Wohlbefindens betrachtet, sondern diese Empfindungen als das ganze Wohlbefinden ansieht. Eine einzelne Empfindung bringt so viel Affect hervor, als alle zusammen hervorbringen sollten. Mit einer Art von Verdruß und Vergnügen wiegt man die ganze Menge aller Vergnügungen und alles Verdrusses. Man kann das Gefühl nicht mit den Empfindungen der Summe seines ganzen Zustandes vergleichen, sondern ist in einer Empfindung ganz befangen. Der Affect ist eine starke, aber auch ein vorübergehende Empfindung, so wie ein Wirbelwind stark, aber vorübergehend ist. Man rühmt bisweilen Menschen, die sogleich in Affect gerathen; denn wenn sie gleich sehr hitzig würden, so hätten sie doch, wie man sagt, ein gutes Gemüth, und würden bald wieder gut; allein dieses sind ungezogene Menschen, und wollen noch, daß sich Andere ihre Ungezogenheiten gefallen lassen sollen. So
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/muß man dieser Hitze Schranken setzen, und wenn der Mensch selbst nicht daran arbeitet, so müssen dies Andere thun. Ob diese Hitze bei einem guten Menschen statt findet, ist noch immer schwer zu glauben, denn es heißt doch beständig: der Tölpel thut in der Gesellschaft, was er will, und hinterher ist es ihm wieder Leid. Einem solchen ausbrechenden Ungestüme kann ich jeden Augenblick ausgesetzt seyn. Im Umgange läuft man immer Gefahr, von ihm grob behandelt zu werden; von seiner Gütigkeit aber kann ich keinen Nutzen haben. Affecten sind also ein Ueberfall von einer Empfindung, die, so lange sie dauert, nicht verhehlt werden kann.
/Wenn wir ein Uebel oder Gutes nicht in Bezug auf unsern ganzen Zustand betrachten können, so ist das eine Blindheit. Daher ist der Affect blind, in Ansehung der Freude und des Schmerzes, sofern diese Empfindung Einfluß auf unsern ganzen Zustand haben könnte. Wir tadeln uns selbst, wenn wir es zum Affecte kommen lassen. Man hat da die Vernunft verloren, und bei reifer Ueberlegung tadelt man hinterher seine Hitze; denn der Andere bekommt dadurch die Oberhand über uns; man kann seinen Vortheil nicht so gut in acht nehmen, als der Andere, der kaltblütig ist, und der ihn also sehr leicht überwinden kann.
/Wenn man im Affect ist, so hat man sich ganz des Andern Gewalt überlassen, aber es ist nicht gut, es zum Affecte kommen zu lassen; es giebt einen Augenblick, der uns die Ankunft des Affects droht, und da muß sich der Mensch diesen Gedanken vorsetzlich aus dem Gemüthe schlagen. Indessen ist es sehr schwierig, gerade auf dem Puncte, wenn der Affect ausbrechen will, ihm entgegen zu wirken. Hernach ärgern wir uns oft, daß wir uns geärgert haben, und so ist des Besserns kein Ende. Der Mensch vergiebt dem Andern die Fehler am wenigsten,
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/die er selbst begangen hat, und wenn man sich unüberlegt in Ansehung des Beleidigens verhält, so kränkt uns das mehr, wenn wir uns nicht im vortheilhaften Lichte gezeigt haben, als die Grobheit des Andern. Der Affect ist, wie eine Pulvermine; daher muß man seinem Gemüthe Festigkeit zu verschaffen suchen, damit es nicht so geschwind in Hitze geräth.
/Jeder Affect ist unklug, denn er macht uns unfähig, ein Uebel im Zusammenhange mit unserm ganzen Zustande zu betrachten. Der Mensch kann wohl Ursache haben einen kleinen Schaden zu ahnden, aber er muß sich deshalb nicht sogleich in Affect setzen lassen. Dieser ist jederzeit unklug, weil er uns unfähig macht, unsere eigene Absicht zu erreichen, und man stolpert gleichsam über sich selbst.
/Man hat nicht die richtige Auflösung über die Frage gegeben: wie es doch zugehe, daß die Furcht einen Menschen, ja sogar ein Thier, außer Stand setzt, zu fliehen. In sehr großer Furcht können Menschen nicht einmal laufen, und dies scheint doch der Absicht der Natur zuwider zu seyn, weil die Furcht uns antreiben soll, uns aus der Gefahr zu retten, so wie dies auch bei einer mittelmäßigen Furcht der Fall ist. Es ist aber beim Menschen gewöhnlich, daß er, wenn er im Affecte ist, wider seine eigene Absicht handelt. Ein gemeiner Mensch will den Andern in Furcht setzen; aber der Andere sieht wohl ein, daß er, so lange jener in diesem Zustande bleibt, den Meister über ihn spielt. Wer kalt bleiben kann, wird weit schicklicher für die Umstände das thun können, was seinen Absichten gemäß ist.
/Hat die Natur Affecte in uns gelegt? Sie hat wirklich Anlagen zu Affecten in uns gepflanzt, aber nur so, daß die Vernunft die Regierung darüber übernehmen kann. Allein wenn das ist, so ist es der Endabsicht der Natur
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/Natur bei dem Menschen zuwider, daß er Affecten nährt.
/Hume dagegen sagt, die Natur habe die Affecte in weiser Absicht in uns gelegt. Wenn wir die Ordnung der Dinge in der Natur, so fern sie das Thierreich betrift, ansehen, so ist es offenbar, daß die Natur Anlagen zu Affecten im Menschen bestimmt hat, und diese setzen ihn in Stand, mit mehr Kraft seine Absichten zu erreichen. Der Mensch hat in der That alsdann meistens mehr Kraft, ob gleich nicht mehr Ueberlegung, etwas zu unternehmen. Die Natur hat also dafür gesorgt, die Menschen durch starke Triebfedern zu bewegen; aber sie hat nicht gewollt, daß wir diese beständig in uns herrschen lassen sollen; denn der Mensch erhält sich sicher selbst, welcher der Ueberlegung der Vernunft folgt; wenn er aber einmal durch den Affect geführt wird, so fehlt er in einem Stücke gewiß. Weisheit findet sich also bei dem Menschen ohne Affect; er hat die Triebfeder, läßt sie aber im Angesichte der Ueberlegung und Vernunft wirken. Er läßt keine Gemüthsbewegung in sich entstehen, die ihn gegen seine gesamte Absicht blendet, sondern er bleibt immer offen genug, um an jeder Sache die gesammte Absicht zu erkennen. Wir schätzen erst eine Sache unrichtig, wenn wir sie nicht im Verhältnisse mit ihrer gesammten Absicht betrachten.
/Dem Affecte ist die Gelassenheit entgegen gesetzt; diese ist ein Gleichgewicht der Empfindungen, worin der Mensch gewöhnlicherweise ist. Dies bedeutet keine Stärkung, sondern ein Gleichgewicht, wo man etwas im Verhältniße auf das Uebrige betrachtet. Wer so beschaffen ist, daß er überlegt, was hier zu thun ist, um es besser zu machen, oder um es sich aus dem Sinne zu schlagen, der ist ein vernünftiger Mensch; dagegen ist der, der so ängstlich ist, daß ihm kein Punct der Ruhe übrig bleibt, ein
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/Thor. Der Affect ist eine Art von Rausch, der den Menschen benebelt; die Vernunft kann auch wohl einige Augenblicke dabei aufwachen, hat aber keine Stärke. Kein Mensch wird sich Affecte wünschen, wenn er keine hat; daraus ergiebt sich, daß sie in seinen Augen verächtlich sind.
/Das Vermögen, sich gut zu fassen, wenn man im Affecte ist, zeigt eine besondere Stärke an; aber es ist doch schon ein Fehler, daß man in Affect kommt; wenn man sich aber bald fassen kann, so vermindert dies schon den Fehler sehr, indem man sich beruhigt, und hernach kaltblütig verfährt. Zu Menschen, bei denen die Affecte laut ausbrechen, hat man mehr Zutrauen, und es ist gewiß, daß Viele die Affecten nicht bezwingen, sondern nur verbergen. Das Feuer glimmt unter der Asche und bricht oft in desto gefährlichere Flammen aus, da, wo es nicht vermuthet wird; und das, was sonst nur einen kurzen Kampf gekostet haben würde, veranlaßt eine tödtliche Feindschaft. Die Entrüstung kann man wohl zurückhalten, aber nicht den Haß. Manche Menschen können sich so weit verbergen, daß ihre Affecten nicht ausbrechen; dies ist gewöhnliche Gelassenheit. Wenn sie aber ein Vermögen haben, die Heftigkeit dieses Affects zu schwächen, so verräth dies ein größeres Verdienst.
/Phlegma ist die Eigenschaft, jeden Eindruck ohne Affect aufzunehmen. Es besteht in dem Vermögen, so wohl die Eindrücke der Annehmlichkeit, als der Unannehmlichkeit ohne Affect zu übernehmen. Es ist keine Gefühlslosigkeit, sondern eine Stärke der Seele, wo das Gemüth des Menschen immer eine so feste Stellung hat, daß solche kleine Vorfälle von Freude und Verdruß ihn nicht aus seiner Fassung bringen. Das wahre Capital seines Wohlbefindens ist ihm so wichtig, daß solche kleine Abwechselungen nichts darauf vermögen. Das Phlegma macht
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/also, daß das Gemüth nicht aus seiner Fassung heraus zu bringen ist; es ist Affectlosigkeit, und mit solchen Leuten ist es gut, etwas zu thun zu haben; denn bei ihnen richtet man mit Ueberlegung das Meiste aus.
/Leidenschaften sind von Affecten sehr unterschieden. Der Affect ist ein durch Sturm bewegter Strom, die Leidenschaft ein Strom auf einem abschüssigen Boden. Sie ist eine Neigung, dahingegen der Affect ein Gefühl ist. Zu den Affecten gehört Freude, Verdruß, Zorn u. s. w.; aber zu den Leidenschaften gehören Neigungen, z. B. Geitz, Herrschsucht u. s. w. Die Leidenschaft ist eine Neigung, die uns außer Stande setzt, den Gegenstand mit der Summe der Gegenstände aller unserer Neigungen zu vergleichen. Ein Mensch kann lieben oder verliebt seyn. Wer liebt, der hat eine Neigung, die wohl mit der Vernunft zusammen stimmen kann, indem er den Gegenstand seiner Neigung nach seinem Geschmacke betrachtet. Hier kann er außer seiner Geschmacksneigung noch andere Betrachtungen anstellen und so lange er diese Betrachtungen anstellen kann, liebt er mit kaltem Blute; seine Neigung kann sehr stark seyn, aber sie ist noch nicht Leidenschaft, weil er noch im Stande ist, den Gegenstand der Neigung mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen. - Aber wenn er verliebt ist, so ist es eine Leidenschaft. Dann sind es keine Urtheile der Vernunft mehr, sondern die Neigung hat einen Grad, daß sie ihn gegen alle Andere blind macht. Wenn wir den Affect eine Berauschung nennen, so ist die Leidenschaft ein Wahnwitz. Die Leidenschaft nährt und vertheidigt sich selbst, und weiß sich selbst mit großem Scheine einen Anstrich von Vernunft zu geben. Der Verliebte ist blind, aber er wird sehend acht Tage nach der Hochzeit. Die Neigungen erhalten wieder ihre richtige Stellung, und er kann nicht begrei-_
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/fen, wie er der Leidenschaft so lange hat nachgeben können.
/Man könnte sagen, es gebe viele Affecten ohne Leidenschaften. Die Jugend ist voller Affecten, aber sie hat nicht so große Leidenschaften, und dies vermindert nicht ihre Lebhaftigkeit. Die Neigung zum Geschlechte kann wohl Leidenschaft bei ihr werden, aber sonst giebt es bei ihr keine anhaltende Leidenschaft. Eine lebhafte Nation hat keine starken Leidenschaften, ob gleich viele Affecten. Diejenigen, welche starke Leidenschaften haben, sind ohne Affect, und hängen so stark und fest ihren Absichten nach, daß sie sich davon nicht abbringen lassen.
/Die Chinesen und Hindus können nicht in Hitze gebracht werden und scheinen keine Affecten zu haben; aber sie besitzen dabei die größte Leidenschaft des Geitzes. Sie scheinen als Philosophen in der größten Fassung des Gemüths zu handeln: aber im Grunde sind sie verstellte und feigherzige Leute, die sich zurückhalten, weil sie furchtsam sind. Ob sie aber gleich nicht auffahrend sind, wie die Europäer, so sind sie doch im höchsten Grade rachgierig. - Nicht die Stärke einer Neigung macht diese zur Leidenschaft, sondern die Gewohnheit, einem Gegenstande nachzuhängen, und die lange Zeit, worin man seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand gerichtet hat.
/Die Empfindung steigt bis zum Affecte, und die Begierde bis zur Leidenschaft. Der Affect bezieht sich bloß auf die Empfindungen, die Leidenschaft aber auf die Begierden. Wenn eine Begierde eingewurzelt ist, so wird sie Leidenschaft; der Affect aber hat keinen Bezug auf das Begehrungsvermögen, sondern auf das Gefühl, beide aber sind von der Art, daß der Affect das Gemüth aus der Fassung, die Leidenschaft aber dasselbe aus der Beherrschung seiner selbst bringt, so, daß der Mensch der Vernunft nicht mehr Gehör giebt.
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/Die Natur hat zwar eine Anlage zu Affecten in uns gelegt, aber dies ist kein Beruf, uns den Affecten zu überlassen. Einige haben sich zu Vertheidigern der Affecten aufgeworfen und gesagt, "weil sie durch die Natur in uns gepflanzt seyn, so wären sie etwas empfehlens- oder wenigstens entschuldigungswerthes." Vorsorglich hat die Natur vieles in uns gelegt, ohne zu hindern, daß die Vernunft die Herrschaft übernehmen könne, welches erst spät geschehen müßte. Lange herrschte der Instinkt; denn der Mensch muß eine Leitung haben, wenn es auch die allgemeine Leitung der Natur ist, wo er noch blind und in der Thierheit ist. Aber er ist dazu berufen, daß sich nach und nach in ihm die Vernunft ausbilde; dann verliert der Instinkt die Herrschaft, und die Vernunft herrscht. Nun bleibt freilich der natürliche Instinkt dabei; aber diesen haben wir, um durch die Vernunft zu verhindern, daß nicht der Instinkt herrsche, sondern die Vernunft regiere, z. B. der Zorn ist ein Affect der Vertheidigung. Die Entrüstung macht den Menschen entschlossener und stärker, sich zu erhalten. Die Natur hat deshalb diesen Trieb in viele Thiere gelegt, weil es ein Affect der Selbsterhaltung ist. Sobald aber die Vernunft anfängt, die Herrschaft zu bekommen, müssen wir zwar diesen Trieb der Selbsterhaltung beibehalten, aber verhindern, daß diese Bewegungen des Gemüths niemals in Affect ausbrechen. Die Lehren der Klugheit und der Weisheit fordern, daß die Bewegungen des Gemüths stets auf das Maaß herabgesetzt werden, daß sie nicht Affecte werden. Die Natur hat uns nicht darum mit Affecten ausgerüstet, daß wir uns ihren Eindrücken blindlings überlassen, und uns durch sie aus der Fassung bringen lassen. Wenn also Moralisten vorgeben, die Affecte seyn eine Veranstaltung der Natur, so irren sie sehr. Sie sind freilich in die Natur gelegt, aber nur aus Vorsor-_
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/ge. Der Instinkt treibt bloß den rohen Menschen, so lange er noch halb Thier ist. Der Zorn ist ein Vertheidigungsmittel, der unsere Kräfte auf einen uns drohenden Gegenstand zusammenrafft. Dieser Affect entspringt aus einem natürlichen Instinkte und regiert uns so lange, bis wir durch die Vernunft beherrscht werden. Der Mensch ist aber dazu bestimmt, daß sich nach und nach in ihm Vernunft entwickele; dann muß der Instinkt wegfallen, damit die Vernunft mehr Macht über ihn erhält. Daher hatten die Stoiker ganz recht, wenn sie gegen die Affecten auftraten. Man stelle sich einen Menschen vor, der stets sogleich zornig wird, und dann einen Andern, der das glückliche Phlegma hat, daß er sich immer in seiner Gewalt behält: der Eine sieht einem Weisen, der Andere einem Thoren gleich, und er bedauert am Ende die schlechte Figur, die er gespielt hat. Es zeigt immer eine Schwäche an, sich durch den Affect aus aller Fassung bringen zu lassen. Die Affecte sind bloße Feinde des menschlichen Gemüths und müssen so weit herabgesetzt werden, daß sie zur Empfindung werden, die, mit der Vernunft vereinigt, eine Entschließung hervorbringt, die überlegt, und doch nicht ohne Nachdruck ist. Der Affect als Affect muß ausgerottet werden. Man mag immer klagen, daß es nicht möglich sey, die Affecte bis zu dem Mittelmaaße einer nachdrücklichen Empfindung herabzusetzen. Auf diese Art könnte diese Klage überall gelten, daß der Mensch z. B. seine Neigung zum Stehlen nicht unterdrücken könne. Der Mensch ist dieser vorgeblichen Ohnmacht wegen niemals zu entschuldigen. Diese Instinkte erwachsen zu Affecten dadurch, daß man ihnen den Willen läßt. So wie Bäume in einer undurchdringlichen Wildniß verwachsen, wenn Menschenhände sie nicht beschneiden; so verwildert der Mensch auch, denn er hat von Natur einen Hang, in die Thierheit zurück zu sinken,
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/und wenn er sich nicht zähmt, so verwildert er. Die Schule macht es nicht allein, er muß sich selbst erziehen; denn er allein weiß am besten, wo es ihm fehlt. Die Jugend hat den großen Vortheil, daß sie bei einer öftern Uebung noch eine andre Natur hervorbringen kann, bei alten Leuten ist dies nicht der Fall. Affecte gehen auf das Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige. Traurigkeit hat man über ein gegenwärtiges Uebel; Furcht vor einem zukünftigen, und Verdruß über ein vergangenes. Im Grunde aber geht jeder Affect aufs Zukünftige; denn das Gemüth wird niemals durch etwas bewegt, als durch das Zukünftige.
Es giebt Affecte, die unmittelbar nur die Sinnlichkeit treffen, Andere aber, die außerdem, daß sie die Sinne treffen, noch ins Gemüth dringen. Der Zorn ist eine Empfindung, die nicht so ganz unangenehm ist für den, der zürnt. Daher sehen wir auch, daß Leute sich durch das Erzürnen sehr oft eine Bewegung (Motion) machen, und brav poltern, welches sie hernach vergnügt macht. Aber gewöhnlich geht der Zorn auf solche, die sich nicht widersetzen können; denn ein zu fürchtender Widerstand mäßigt den Zorn sehr, und schließt eine unangenehme und erwartete Bewegung ein.
/Wir können unter den Affecten den Zorn in die Mitte zwischen das Angenehme und Unangenehme stellen. Daher auch Kranke, wenn sie zu schimpfen anfangen, schon in der Genesung sind; dann muß man ihnen nicht widersprechen, weil ihre Stärke sich zu sammeln anfängt, wodurch sie in die lebhafte Entrüstung des Zorns gerathen. Wenn der Zorn nicht ausbrechen kann, so ist er Aergerniß, eine Erbitterung des Gemüths, die etwas anders ist als der Zorn. Dieser ist bloß auf der Oberfläche, aber bei der Aergerniß zieht man sich eine vermeinte Beleidigung zu Gemüthe. Sie entspringt, wenn man
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/sich wegen der Beleidigung eines Andern nicht zur eigenen Genugthuung gerächt hat, woraus ein Haß gegen den Andern entspringt, der am Herzen nagt.
/Betrübt kann ein Mensch seyn, ohne daß man sagen kann, er sey im Affecte, aber Traurigkeit ist wahrer Affect. Diese ist eine doppelte Art von Betrübniß, man ist erstlich über den Gegenstand betrübt, und zweitens betrachtet man seinen ganzen Zustand, als einen Zustand des Elends, und dann ist beinahe die Hoffnung verloren. Bei der Betrübniß sehen wir unser Daseyn noch nicht sogleich für hoffnungslos an, aber die Traurigkeit ist ein Betrübniß, die man sich zu Gemüthe zieht. Es ist einem Menschen natürlich und unvermeidlich, betrübt zu seyn; aber traurig muß kein Mensch seyn, denn ein solcher taugt zu nichts. Er ist verlegen, niedergeschlagen, und außer Stand gesetzt, sich auf etwas vorzubereiten.
/Wer über ein verlorenes Vergnügen trauert, den verachtet man. Wenn man aber sieht, daß er es fühlt, und sich doch so weit faßt, daß sein Gemüth nicht afficirt ist, und daß er doch noch ein Gespräch mit Fröhlichkeit führt und Entschlossenheit hat, so erhebt ihn dieses in unserm Urtheile. Mitleidige großmüthige Thränen zu weinen, bringt Ehre, aber eigennützige Schwachheitsthränen zu weinen, wird verachtet. Die Traurigkeit ist die Nachlassung unserer Macht, unserm Gemüthe Muth zu ertheilen, und ein Hang, sich der Muthlosigkeit zu überlassen, so, daß sie nicht nur der allerunglücklichste Zustand, sondern auch ein Gegenstand der Verachtung und Geringschätzung ist. Man kann nicht von jedem Menschen verlangen, daß er sich nicht betrüben soll, aber wohl, daß er sich hüten muß, traurig zu seyn.
/Hoffnung und Furcht finden oft statt, ohne daß sie Affecten sind. Der Mensch fürchtet ein Uebel, ob er gleich
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/dagegen gewaffnet ist, wenn es da ist. Jedoch ist es ein Uebel, das er nicht gern sieht; aber sich vor etwas fürchten, heißt wissen, daß man nicht getrosten Muthes seyn werde, wenn das Uebel sich ereignen werde. Furcht und Hoffnung taugen nicht viel. Beide sind Schwächen; der Mensch, der sich leicht mit Hoffnungen schmeichelt, und sich ein Glück vormahlt, mag sich gut genug befinden, aber er ist doch ein Gegenstand unserer Geringschätzung; denn sich mit bloßen Hoffnungen zu nähren, verräth eine Leichtgläubigkeit und Schwäche, auch eine Dürftigkeit des Menschen, und einen Mangel der Selbstgenügsamkeit, wenn er sich durch tröstliche Aussichten in einer guten Laune erhalten kann. Daher schickt sich Hoffnung nicht für einen zufriedenen Menschen; denn die Zufriedenheit ist ein Vorrath von dem Hauptcapitale eines Menschen, er mag in einen Zustand versetzt werden, in welchen er will. Es kann bei jemandem eine Betrübniß seyn, aber dennoch herrscht eine Zufriedenheit in ihm; dies ist die obere Region im menschlichen Gemüthe, die dieses von den Stürmen frei macht; dieser Zustand ist des Menschen würdig und vernünftig; denn es ist Thorheit, sich dem eingebildeten Unglücke in der Welt zu sehr zu überlassen, weil am Ende die Uebel eben so vergänglich sind als das Glück. Zuletzt läuft alles auf eins hinaus, so daß nichts dauerhaft ist als das Bewußtsein seiner Rechtschaffenheit. Hoffnung und Furcht bemächtigen sich des Menschen in Ansehung solcher Veranlassungen, die nicht wichtig genug sind, uns von Affecten abhängig zu machen, so daß die Vernunft theils gelockt, theils verscheucht wird, anders als nach ihrem Plane zu handeln.
/Die Niedergeschlagenheit ist eine Betrübniß, die sich nicht aufrichten kann. Sie zeigt das Unvermögen des Traurigen, wieder Muth zu fassen. Bisweilen wird sie
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/auch der Anfang eines Grams genannt; sie schickt sich nicht für eine mannhafte Gesinnung, denn der Mensch muß durchaus Muth fassen: "entweder gehe aus dem Leben, oder fasse Muth." Das Erste ist wider seine Bestimmung, also muß das Zweite erwählt werden. Endlich artet die Niedergeschlagenheit in Verzweifelung aus, welches eine gänzliche Hoffnungslosigkeit ist, die sich ganz dem Schmerze überläßt. Man kann diese in die schwermüthige und in die wilde Verzweifelung eintheilen. Die wilde Verzweifelung giebt alle Hoffnung auf, aber sucht doch alle Mittel auf, sich gegen das Uebel zu waffnen aus. Die Wilden in Canada haben keine solche Verzweifelung; denn wenn sie im Treffen umgeben werden, so zeigen sie ihre Tapferkeit darin, daß sie wie Klötze stehen und sich todt schlagen lassen; die Chinesen aber darin, daß sie sich sogleich aufhängen. Man sollte denken, daß, wenn schon alle Hoffnung aufgegeben ist, diese Wildheit unnütz sey, aber doch liegt in uns mehr Achtung für die Herzhaftigkeit dessen, der dem Feinde sein Leben so theuer als möglich verkauft, und der Zustand dieses Uebels scheint erträglicher zu seyn, wenn der Mensch mit Anstrengung aller seiner Kräfte sein Leben verliert; daher verehrt man die wilde Verzweifelung. Das Gegentheil der Traurigkeit ist das stets fröliche Herz oder die so genannte Wollust des Epicurs, welche darin bestand, daß der Mensch in sich selbst Genügsamkeit und Zufriedenheit fand. Diese kann man sich selbst nicht geben, aber doch viel daran arbeiten. Daher sind Leute zu bewundern, welche herzhafte Launen annehmen, wenn die Uebel schwer werden. - Das ganze Leben des Menschen ist mehr ein Gegenstand des Scherzes als des Ernstes. Seine Natur ist so sehr zum Spielwerke geneigt, daß er das wirklich Erhebliche nur aus Pflicht thut. Daher kann man behaupten, daß die Uebel des Lebens ein Gegenstand der scherzhaften
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/Laune seyn können. Ein scherzhafter Mann im Uebel kann viel Bewunderung erregen; aber er ist auch liebenswürdig, und man thut wohl, sein Gemüth allmählig dazu zu stimmen, und zum schlechten Spiele eine gute Miene zu machen; dadurch bringen wir uns allmählig in eine aufgeräumte und gesunde Gemüthsverfassung, wenn wir es auch nur Anfangs thaten, um uns eine Zerstreuung zu verschaffen. Lustigkeit in Gegenwart eines Traurigen ist Beleidigung; denn sie spottet so zu sagen der Traurigkeit des Andern, die Frölichkeit ist für ihn eine Kränkung, weil er dann am stärksten empfindet, was ihm fehlt. Daher behauptet ein gewisser Schriftsteller, der Unglückliche sey gemeiniglich etwas boshaft. Er kann nicht mit gehöriger Theilnahme das Glück Anderer fühlen, weil er sein eigenes Unglück zu sehr empfindet. Wir leiden immer mehr, wenn wir sehen, daß wir gerade das Ziel sind, auf das das Schicksal seine Pfeile abschießt, als wenn wir neben Andern Unglück zu erdulden haben. Es giebt Sittenlehrer, welche die Schwermuth rühmen, aber diese taugt niemals etwas; denn bei der Gutartigkeit unserer Denkart kommt viel darauf an, daß der Mensch sich nicht unglücklich fühlt.
/Die Herzhaftigkeit ist der Schüchternheit, der Muth der Zaghaftigkeit entgegen gesetzt. Die Herzhaftigkeit ist mehr eine Sache des Temperaments; der Muth mehr eine Sache des Nachdenkens. Die Erste kann sich kein Mensch geben; aber Muth beruht schon auf Nachdenken. Daher kann dieser statt finden, ob gleich kein großer Grad von Herzhaftigkeit vorhanden ist. Die Herzhaftigkeit bezieht sich auf die Gegenwehr; der Muth auf die Standhaftigkeit, ein Uebel über sich zu nehmen, ohne es zu fliehen. Der Herzhafte erschrickt nicht, der Muthige hingegen verzagt nicht. Nicht zu erschrecken ist nicht in der Gewalt eines jeden Menschen; da kommt es auf die
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/Verschiedenheit des Naturells an; allein ob schon Mancher erschrickt, so fehlt es ihm doch nicht an Muth, nicht zu weichen. Der Mensch kann aus Nachdenken den Entschluß fassen, nicht zu weichen, aber er kann nicht verhindern, daß er nicht verblüft (perplex) gemacht wird. -_
/Die Herzhaftigkeit oder die Courage hat Launen, aber der Muth bleibt immer derselbe. Es ist merkwürdig, daß fast alle Thiere alsdann heftige Ausleerungen haben, wenn sie die Furcht durchdringt. Die Herzhaften sind nicht immer muthig, und ziehen sich oft zurück, wenn es aufs Aeußerste kommt. Die Herzhaftigkeit rührt oft von Unwissenheit her, z. B. bei jungen Soldaten; wenn sie aber alt werden, so sehen sie die Gefahr ein, und fangen an sich zurück zu ziehen.
/Die Feigheit ist ein ehrloses Verzagen. Die Ehre kann uns dahin bringen, Leben und alles aufs Spiel zu setzen. Man nennt solche feige Leute Poltrons, welches von Pollex truncatus herkommt, weil ehemals ein Kerl, um nicht in den Krieg zu gehen, sich den Daumen abhieb, welcher dann Poltron genannt, und für ehrlos erklärt wurde. Furchtsamkeit kann mit der Ehre recht gut bestehen; denn da der wahre Muth auf Grundsätzen beruht, so kann er ohne moralischen Charakter nicht statt finden.
/Die Herzhaftigkeit kann bisweilen aus einer Blödsinnigkeit entspringen; der wahre Muth kann aber nicht ohne Charakter seyn. Die Türken nennen diejenigen, die in ihren Treffen aus Ehrliebe vorausgehen, und durch welche gewöhnlich ein Treffen gewonnen wird, die Tollen. Herzhaftigkeit erwirbt jederzeit große Bewunderung, selbst bei Karl_XII., dessen Geschichte zeigt, daß sie nicht immer mit großer Ueberlegung verbunden gewesen ist. Bei vielen Nationen macht Herzhaftigkeit den ganzen Werth aus, z. B. den Indianern. Die Ursache ist, weil es eine
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Art von Opfer ist, das man dem gemeinen Wesen bringt. Ein solcher Mensch hat einen großen Werth für das gemeine Wesen, wenn er gegen dasselbe wohl gesinnt ist. Er hat etwas, was er höher schätzt, als sein Leben, nämlich die Ehre und die Pflichten: wenn er etwas mit völliger Entschlossenheit ausführt, so ist er herzhaft. Ein solcher Mensch ist aber selten; denn die Selbstliebe tritt uns gemeiniglich in den Weg, und verhindert uns, unsere Selbsterhaltung aufs Spiel, und sie unsern Pflichten nachzusetzen. Denkt ein Mensch aber so edel, so kann man sich von ihm Schutz versprechen. Es giebt verschiedene Arten von Herzhaftigkeit, z. B. in einzelnen Vorfällen, oder in Kriegen; zu den letzten gehört schon mehr Herz, so zu handeln, als ob man allein auf dem Schauplatze wäre, und keine Gefahr zu scheuen. Es scheint, als ob der wahre Muth erfordere, daß man eine gerechte Sache habe. Ein Mensch, der gut denkt, muß sich schon mit Unrecht widersprechen lassen. Bei allen Privathändeln herrscht eine Art von Unrecht, daher kann ein Mensch von Grundsätzen an denselben mit so vielem Muth nicht Antheil nehmen, ob er gleich durch allerhand Hypothesen und Wahn dazu angereizt wird; denn es mag ausfallen wie es will, so kann er sich doch nicht für sich selbst vertheidigen.
/Der Affect des Zorns ist eine Art von Unsinn, und doch scheint er immer die wackersten Leute zu treffen, die mit einer Art von Heftigkeit alles unternehmen. Sie mäßigen ihn, aber gemeiniglich um der Anständigkeit willen, und aus Furcht, Andern Unrecht zu thun. - Von dem Zorne ist Angst zu unterscheiden, welche beweiset, daß der Zorn ohnmächtig ist; wenn der Zorn von dieser innern Kränkung abgesondert ist, so kann man dem Zornigen gut seyn; aber es ist doch eine Ohnmacht, wenn der Mensch außer Fassung gebracht ist. Es geziemt sich also nicht für einen vernünftigen Menschen in Zorn über
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/diejenigen zu gerathen, die in seiner Gewalt sind; denn was brauche ich über einen solchen in Affect zu kommen? Ich darf ja nur befehlen, daß er gestraft werde. Ueberdies macht man sich durch den Zorn gemein, und räumt dem Andern zu viel Einfluß auf sein Gemüth ein, und dies ist schon Herabsetzung. Man muß daher auf eine Art von Nachgiebigkeit gefaßt seyn.
/Gemäßigter Zorn verwandelt sich gemeiniglich in Haß. Dieser ist gefährlich für Andere, und empfindlich für den, der ihn hat; denn er ist eine Wunde im Gemüthe, die niemals zuheilt. Daher muß man in vielen Fällen, wenn er Zürnende keinen Haß zurückbehalten soll, ihn in seinem Zorne nicht stören, sondern ihn sprechen lassen; denn wenn der Zorn schon beredt ist, so hört er doch bald auf. Der Beleidiger pflegt gemeiniglich den Beleidigten hinter her mehr zu hassen, als der Beleidigte ihn. Die Ursache muß in der Scham liegen, die er über seine Grobheit empfindet. Man muß sich also in acht nehmen, Anderer Urtheile über uns zu belauschen, und wenn man sie erfährt, sich nichts merken lassen; alsdann wird der Andere froh seyn, denn Beleidigung bringt gemeiniglich noch einen neuen Haß hervor, wenn der Andere sieht, daß man seine Beleidigung erfahren hat. Achtung wird beinahe zum Affect, wenn sie Bewunderung und zum wahren Affecte, wenn sie Erstaunen wird. Die Bewunderung ist Eine der angenehmsten Rührungen; sie entspringt, wenn etwas geschieht, was dem Grade nach alles übertrift, was uns bekannt ist. Daher hört Bewunderung *1 bei Menschen auf, die viel gesehen haben, aber gewisse Dinge erregen unaufhörlich Bewunderung, weil sie jederzeit unsere Begriffe übersteigen, z. B. die Kräfte des Schiespulvers,
/~ *1 Ist dies nicht Verwunderung?
/D. Herausgeber. ~
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/und die Geschwindigkeit des Lichts. Wir verwundern uns nur über etwas Neues; doch giebt es sogar Menschen, die sich über gar nichts verwundern, oder die nichts bewundern; aber diese werden durch eine unmäßige Art von Eigennutz von allem abgezogen, oder sie haben nicht Einsicht genug, den Werth der Dinge zu schätzen. Die Bewunderung ist eine gemischte Empfindung, eine Annehmlichkeit mit Unannehmlichkeit verknüpft. Wir machen uns wegen unserer Unwissenheit in gewissen Dingen Vorwürfe, allein wir erwerben uns vorzüglich eine neue Kenntniß darin, z. B. durch die Betrachtung des Weltgebäudes; da geräth man in Erstaunen, so oft man in gestirnter Nacht den Himmel betrachtet.
/Die Verachtung schlägt in Ekel und Abscheu aus. Der Ekel ist eine besondere Art von Widerwillen, die nichts Belebendes hat, sondern das Leben ganz niederschlägt. Einen gräßlichen Gegenstand fürchterlich zu beschreiben, gefällt; aber einen ekelhaften Gegenstand bis zum Ekel darzustellen, misfällt. Die Ursache ist, weil jeder Ekel die Ertödung unserer ganzen Empfindungskraft ist, und wir in ihm, so zu sagen, nicht mehr ganz leben.
/Dankbarkeit, Mitleiden und Zärtlichkeit werden auch oft zu Affecten, allein sie sollten dies eigentlich nicht seyn. Wir sollen nicht aus Mitleid, sondern aus Grundsätzen wohlthuend gegen das menschliche Geschlecht seyn. Das Sympathetische im Menschen rührt immer von dem Scheine, und nicht von dem Werthe der Sache her; so finden wir, daß das Mitleid mehrentheils Leidenschaft ist. Es ist ein Ruf der Natur, der uns einladet, hier unsere Pflicht in Betracht zu ziehen; aber es ist nichts Kläglicheres, als ein Richter, der nach Mitleiden Recht spricht; denn da läuft ein jeder Gefahr, seinen Prozeß zu verlieren, sobald er mit Personen zu thun hat, die gut winseln können.
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/Die Scham ist ein wunderbarer Affect. Sie ist die niederschlagendste Empfindung, die gefunden werden kann. Sie macht uns unvermögend, so wie eine Furcht, welche ein völliges Entsetzen hervorbringt, und den Menschen außer Stand setzt, dem Uebel zu entfliehen. Wer sich schämt, der fühlt eine Beleidigung; er ist aber nicht in der Fassung, sie zu erwiedern, und deshalb ist er unwillig über sich selbst. Diese Empfindsamkeit ist oft ein Fehler des Naturells; eine Niedergeschlagenheit, die uns außer Stand setzt, eine empfangene Beleidigung zu erwiedern. Sie ist ein starker Affect, der jedoch den Mensch unglücklich macht, weil er ihn außer Stand setzt, den Uebeln vorzubeugen.
/Die Scham ist gemeiniglich mit einem Erröthen verbunden. Warum hat die Natur hier eine solche Blutbewegung veranstaltet, die dem, der sich schämt, am allerunangenehmsten ist? Mancher erröthet, weil er vor einem großen Verbrechen einen Abscheu hat; daher kann man die Schamröthe nicht immer als ein Bekenntniß der Schuld ansehen; es scheint aber, daß sie von Natur auf nichts als auf die Lüge gelegt ist, und sie durch die Röthe diese habe verrathen, und auch das Lügen beim Menschen habe verhindern wollen; denn sie ist ein Verrath, den der Mensch wider Willen vornimmt. Menschen, die mit uns reden müssen, sollen doch ein Kennzeichen haben zu wissen, ob wir die Wahrheit sagen oder nicht. Eltern suchen ihre Kinder bei jeder Gelegenheit durch ein pfui schäme Dich! zu leiten und zu züchtigen, und erregen dadurch eine Art von Schamhaftigkeit bei ihnen, so wie alles, was Anderer Aufmerksamkeit auf sie rege macht, bei ihnen eine Schamröthe erregt. Sie sollten das nicht thun, aber so bald ein Kind lügt, müßte man zu ihm sagen: pfui, schäme dich! dann würde ein solcher Lügner sogleich roth werden, und ein ehrlicher Mann würde nicht
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/anders roth werden, als wenn man ihn einen Lügner schimpfte. Man glaubt, daß im Nervensysteme das Blut in den Pulsadern einen Krampf hervorbringe, und dadurch das Blut im Kopfe zurückbleibe. Dem sey aber, wie ihm wolle, so ist diese Empfindung von großer Heftigkeit, und hinterläßt bei dem Menschen ein großes Misfallen an sich selbst, daß er so schwach war, zu erröthen. Wenn ein Mensch zornig ist, und dabei blaß wird, so ist er in dem Augenblicke zu fürchten; denn alsdann geräth er in Furcht über den Ausgang des Kampfs, den er sogleich vornehmen will; ist er aber zornig und roth dabei, so ist er nicht auf der Stelle zu fürchten, aber alsdann faßt er einen langwierigen Haß.
/Ist Geduld und Muth einerlei? Nein! Sie sind sehr verschieden von einander. Ein Muthiger nimmt große Gefahren über sich, und Geduld erträgt diese ungezwungen. Man hat öfters gefragt, ob der Selbstmord eine Feigheit sey, oder auch aus Muth entstehen könne? Wir setzen bei dieser Frage das Moralische bei Seite, und hier finden wir, daß der Selbstmord gemeiniglich eine Wirkung der Zaghaftigkeit ist; wir sehen öfters, daß Leute, ehe sie ins Treffen gehen, sich lieber ums Leben bringen, ob sie schon selbst vom Feinde nichts ärgeres besorgen können. Dies weicht ganz von der europäischen Gesinnung ab; denn ein Europäer sucht wenigstens sein Leben dem Feinde theuer zu verkaufen; daher sind die feigsten Nationen am meisten zum Selbstmorde geneigt. Gram und Kummer können sie so um alle Hoffnung bringen, daß sie aus großer Zaghaftigkeit zu diesem Mittel schreiten. Indessen können wir dies nicht allgemein behaupten. Man spricht bisweilen von der Macht des Weisen, daß er sein Vorrecht aus dem Leben zu gehen gebrauchen könnte, wenn er wolle, wie man aus einem Zimmer geht, das raucht, und uns nicht gefällt. Die Stoiker gaben eine so
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hohe Beschreibung von der Kunst aus dem Leben zu gehen, daß der Selbstmord wirklich in Ansehen kam, und Atticus sich zu Tode hungerte, weil er nichts mehr nutzen zu können glaubte, ob er gleich herrlich und in Freuden lebte. Es giebt Beispiele, wo man die Schüchternheit sich aus dem Leben fortzumachen für Niederträchtigkeit hielt, ob gleich der Selbstmord an sich abscheulich ist; als Nero Gefahr lief, dem Volke preiß gegeben zu werden, reichte ihm ein Sklave einen Dolch, um sich selbst umzubringen, welches man damals noch für eine Ehre hielt. Er versuchte es einigemal unter den Ausrufungen, quantus artifex morior! womit er auf seine Verse zielte. Daher belegt ihn die Geschichte mit großer Verachtung, daß er nicht Muth hatte, zu sterben; aber überhaupt wird der, der beim Tode Feigheit beweiset, verachtet. Es kommt jedoch immer auf die Meinung der Leute an; in gewissen Umständen können sich die Menschen einbilden, daß er erlaubt sey, und dann kann der Muth die Grundlage seyn, ob er gleich darum noch nicht erlaubt ist. - Was die Geduld betrift, so ist sie die Ertragung des Uebels, das man sich durch die Noth angewöhnt, oder ertragen lernt.
/Wir sympathisiren oft mit den Affecten Anderer, nur nicht mit ihrem Zorne. Wir können mit Anderer Traurigkeit sympathisieren, und da dies eine gute Empfindung giebt, so gefallen wir uns in dieser Trauigkeit, die wir aus Liebe zu Andern empfinden. So können wir auch mit der Frölichkeit Anderer sympathisiren; denn diese ist sehr ansteckend, man lacht ja oft, wenn man noch nicht einmal weiß worüber Andere lachen, und mancher Mensch wird als ein guter Gesellschafter angesehen, nicht weil er viel spricht, sondern weil er so vergnügt ist, daß sein Gesitch schon eine Aufmunterung für Andere ist. Wenn in eine todte Gesellschaft ein spashafter Mann tritt, so wird alles aufgeräumt. Aber mit dem Zorne anderer sym-_
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/pathisiren wir nicht. Wenn also jemand erzählt, was ihn in Zorn gebracht hat, so muß er sich sehr mäßigen, daß Andere nicht über ihn zornig werden; denn so bald jemand aus der Fassung gebracht ist, ist er für Andere gefährlich. Wenn also ein Zorniger etwas erzählt, so erhält er nicht viel Beifall, denn da ist man seinetwegen selbst in Furcht gesetzt.
/Wenn der Zorn zurückgehalten wird, so entsteht daraus Aergerniß; diese ist für den, der zürnt, noch weit schlimmer. Gehaßt werden, ist übel; aber selbst hassen, ist noch ärger: denn da ist eine innere Erbitterung, die nicht befriedigt werden kann. Man hat Sprichwörter, um einen unversöhnlichen Haß anzuzeigen, z. B. odium theologicum, der Haß, den Partheien aus einer Religionsmeinung fassen, wenn sie Lehrer der Religion sind, und wenn ihren Aussprüchen zuwider gehandelt wird, so soll ihr Haß der unversöhnlichste seyn. So ist auch der Haß der Frauenzimmer unversöhnlich. Es scheint also, daß der Haß einer unmächtigen oder schwachen Person der unversöhnlichste ist, indem die Ohnmacht die Erbitterung noch größer macht, und jeder doch gern Genugthuung haben will.
/Auch giebt es ein bloßes Spiel der Affecten, ohne Interesse, und ohne daß man einen ernstlichen Antheil am Gegenstande hat. Im Teutschen heißen alle Bewegungen ein Spiel, z. B. ein Lustspiel, Trauerspiel. Daher kommt der Name des eigentlich sogenannten Spiels, wo es auf Zufall, und einige Geschicklichkeit ankommt, über Andere eine Oberhand in Dingen zu gewinnen, die nicht um des Interesses willen ausgeführt werden. Dieses Spiel ist das Gewöhnlichste in allen Unterhaltungen; allein wo der Vortheil der Beweggrund ist, da ist es kein Spiel mehr, sondern ein Handwerk, und zwar ein unehrliches Handwerk; denn die Leute bringen doch da-_
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durch nichts zu Stande, und können sich nur mit völligem Verluste ihrer Glückseligkeit ändern. Das Spiel muß daher als etwas angesehen werden, das wirklich nicht beträchtlich ist, und wobei die Wirkung der Empfindungen und Affecten, die den Menschen beleben, die Absicht ist; und in der That ist es gegründet, daß, wenn das Spiel ein Spiel seyn soll, kein Eigennutz dabei seyn muß. Man kann in Lagen des Lebens kommen, wo ein Wechsel der Affecten, von Hoffnung, Freude, Verdruß etc. ist.; dies trägt zur Belebung des Gemüths und zur Gesundheit des Körpers sehr viel bei. Ist aber der Verlust unaufhörlich, so hört dies Spiel auf, eine Unterhaltung zu seyn. Im Teutschen nennt man die Musik ein Spiel und die Musikanten nennt man hier und da Spielleute; eine Comödie nennt man ein Lustspiel etc., und bei beiden ist auch ein Spiel der Affecten. Es giebt klagende und ernsthafte Töne und der Mensch hat bei jedem Affecte einen Ton, der mit ihm übereinstimmt, und diese Töne sind das, was auf unser Gemüth wirkt.
/Ein gewisser Castel hat versucht, ob er nicht ein Farbenklavier machen könne, indem er annahm, daß alle Musik auf einem mathematischen Verhältnisse in dem Ebenmaße beruhe; allein er fand, daß dies nicht so sey; denn bei der Musik ist auch eine Art von Gemüthsbewegung, die auf die Leidenschaften Einfluß hat. Sonst ist es doch sonderbar, daß die Farben des Regenbogens eben das Verhältniß gegen einander haben, als die Töne auf einer Monochorde. Unser Ohr wird also nach derselben Analogie gerührt, wornach unser Auge. Was den Augen die Farben sind, das ist den Ohren der Ton, und was den Augen das Licht ist, das ist dem Ohre die Luft. Castel versuchte also, ob, wenn er die eine Saite auf die andere fallen ließe, dieses gefallen würde; allein er fand dies gar nicht. Es ist folglich in der Musik kein Wohlgefal-_
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/len aus der Betrachtung (Contemplation), sondern es entsteht durch die Erregung unserer Affecten. Unsere Sprache den besteht aus drei Elemten: aus der Articulation Worten), aus der Modulation, (dem Tone), und aus der Gesticulation (den Gebehrden). Man kann bloß durch die Articulation sich Andern recht verständlich machen; durch die Gesticulation kann ich mich auch etwas verständlich machen; aber wenn man sich durch die bloße Modulation des Tons verständlich machen sollte, so würde man schon mehr Schwierigkeiten finden. Indessen hat fast die geringste Empfindung unsers Gemüths ihren besondern Ton, und in der Modulation ist auch der Vortheil, daß alles natürlich, in der Articulation aber alles willkürlich ist. Bei allen Völkern gefällt die Musik, weil sie die Affecten aufeinander folgen läßt, und Gemüthsbewegungen rege macht, die bis zum Affecte ausschlagen können. So nehmen wir auch in der Comödie einen Antheil an dem, was vorgetragen wird, aber nur in der Einbildung, denn wir setzen uns freiwillig in die Gedanken hinein.
/Es giebt Affecten, die rüstig ob sie gleich unangenehm sind. So ist der Zorn ein rüstiger, aber der Haß ein hämischer Affect. Daher ist es besser zu zürnen, als zu hassen. Neid ist ein sehr verächtlicher Affect. Es giebt Affecten, die bloß aus Theilnahme entspringen. Diese nennt man Sympathie, Empfindungen, worein man sich versetzt, weil sie uns angenehm sind, z. B. die Zärtlichkeit. Wir sind von Natur zärtlich, wir empfinden eine Dankbarkeit, ob schon eine Wohlthat bloß einem Andern erzeigt wird. Die Scham ist ein gewaltiger Affect, und Menschen sind auf der Stelle davon gestorben; denn die Erröthung geht oft nicht nur über das ganze Gesicht, sondern auch über die ganze Brust, und dies verräth einen gewaltigen Zurücktritt des Bluts. Die Natur hat ohne Zweifel diese Erröthung in uns gelegt, um die Unwahr-_
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/heit anzuzeigen, und man hat sie nur falsch geleitet, wenn man sie auf das Gegentheil gelenkt hat. Vieles Unanständige ist bei dem Menschen conventionell; bei dem Einen ist etwas unanständig, bei dem Andern nicht. Wenn man sich nun angewöhnt, sich in Ansehung dieser Dinge zu schämen, so wird dadurch bei dem Menschen eine Schüchternheit erzeugt; so schämen sich bisweilen Menschen, wenn sie etwas Gutes thun wollen. Am Ende würde sich doch jeder Mensch wünschen, daß er sich nicht schämte, und die Schwachheit nicht hätte, sich dem Gespötte eines Andern auszusetzen. Die Scham bringt den Menschen ganz außer Fassung, etwas Gescheutes zu thun, sich gehörig zu vertheidigen, oder sich auf eine vortheilhafte Art zu zeigen. Sie zeigt nicht an, daß man ein Gefühl von Unanständigkeit habe, sondern sie entsteht aus Furcht, nicht im gehörigen Anstande zu erscheinen. Diese Furcht bringt oft selbst die Wirkung hervor, daß man schüchtern wird, und daß man sich desto mehr gerade in der Verlegenheit befindet, je mehr man sich davor scheuet. Die Dreustigkeit, wenn sie hoch getrieben ist, wird Unverschämtheit; und ist ein Grad des Gefühls von Ueberlegenheit. Jedes Thier macht den Versuch, sich dieser Kraft zum Schaden des Andern, zu bedienen. Wenn der Mensch das Talent hat, durch nichts in Verlegenheit gesetzt zu werden, so geräth er in Versuchung, davon Gebrauch zu machen. Er dringt dreust darauf los; statt daß ein ernster Blick den Andern, der empfindlich ist, oft in Verlegenheit setzt, weil er nicht so durchtrieben ist. Hume macht die Bemerkung, daß die Eigenschaft der Unverschämtheit die einzige sey, die ein Mensch niemals lernen könne. Der Schüchterne befindet sich in großem Nachtheile, weil er sich niemals so vortheilhaft zeigen kann, als wenn er ein gewisses Zutrauen zu sich, aber eine Verachtung in Andere gesetzt hat. Bei Kindern gefällt es, daß
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/sie nicht so überklug thun; eine so völlige Zuversicht bei jungen Leuten wird misfällig; alte Personen verlieren dadurch in Hinsicht des Ansehens, das ihnen junge Personen gewähren müssen, und aus solchen überklugen jungen Leuten wird nie etwas rechtes. Die Dreustigkeit kommt vom Zutrauen auf sich selbst, oder auch von der großen Geringschätzung Anderer her, indem man Andere nicht für Leute hält, deren Urtheil von irgend einem Werthe sey. Ein solches Verhalten bringt immer Verachtung hervor, und diese scheint es auch zu verdienen, so daß eine gewisse Behutsamkeit uns mehr gefällt.
/Eine Gemüthsbewegung, die von Ideen anfängt, aber durch körperliche Bewegung bis zum Affecte erhöht wird, ist das Lachen. Die wahre Natur des Lachens ist von vielen Schriftstellern untersucht worden. Man hat viele Beispiele des Lächerlichen, und wenn man auf die Gründe der Lächerlichkeit dringt, so kann man doch nicht alles enträthseln. Wir können das Lachen als eine Bewegung ansehen, die am innigsten auf die Quelle des Lebens wirkt, so daß sich jemand einer Gesellschaft, in der herzlich gelacht wird, am allerlängsten erinnert. Der Eindruck, den eine lachende Gesellschaft auf uns macht, ist dauerhaft, weil man sich belebt fühlt, so lange man daran denkt, so daß Menschen dadurch, daß sie in ein fröliches Lachen versetzt werden, von Krankheiten befreiet werden können, und die Natur hat deswegen die Milz gegeben. Das Lachen ist mit einer Erschütterung des Körpers verbunden, und wenn man sich derselben überläßt, so wird es laut, und theilt sich der Gesellschaft mit. Wir können ein Lachen bloß mechanisch erregen, und zwar durch das Kitzeln, und auch ein hysterisches Lachen; aber beides führt keine Fröhlichkeit bei sich, und hat nicht die heilsame Wirkung, welche das Lachen aus Ideen hat. Bei dem Menschen der sehr kitzlich ist, muß eine Art von Schwingung seyn;
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/eine Erschütterung, die den Körper angeht, wie bei einer gespannten Saite, und zeigt, daß dem Zwerchfelle solche Stöße versetzt werden müssen. Ein Mensch aber, der gekitzelt lacht, fürchtet sich vor einem solchen Zustande, er kann zuletzt Verzuckungen bekommen. Die Erschütterung des Zwergfells setzt das ganze Nervensystem in Bewegung, so daß die Nerven auf gewisse Weise gezwickt werden. Unsere Gedanken haben auf unsern Körper einen großen Einfluß, und die Seele kann ohne Mitwirkung des Körpers niemals denken, nur ist das in allen Fällen nicht so merklich. Das Lachen entsteht aus einer jeden plötzlichen, aber unschädlichen Umkehrung unserer Erwartung, so daß das Umgekehrte von dem erfolgt, was wir erwarten. Alles Plötzliche bringt bei uns eben dasselbe hervor, was das Gezwicke einer gespannten Saite thut, und diese Bewegung ist bebend, so daß plötzlich das Gegentheil von dem, was wir erwarten, sich ereignet, d.h. Lachen, z. B. wenn eine Sache, auf die wir eine Wichtigkeit setzen, mit einemmale ihren ganzen Werth verliert. Alles Interesse macht ernsthaft, so bald sich aber das Interesse verliert, geht man aus dem Ernste ins Lachen, z. B. das Aprilschicken dient dazu, den Menschen in seiner Erwartung zu betrügen; die Zurückprallung der Seele theilt sich dem Körper mit, und ist dieser einmal erregt, so geht dieselbe in dem Zwergfelle fort; dies befördert die Gesundheit, indem durch diese Erschütterung unser ganzes Nervensystem bewegt wird. Das Lachen ist also nicht idealisch. Die Alten meinten, das Lachen könne aus Stolz entstehen, indem man über die Ungereimtheit eines Andern lache, weil man nicht so dumm sey. Aber es ist nichts weiter als die körperlichen Erschütterung der Lebensbewegungen, wo man geradezu die Beförderung seiner Gesundheit fühlt. Es giebt auch ein schadenfrohes Lachen über die sogenannten Schabernacke; aber Menschen, die sich sehr über die Possen,
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/die einem Andern begegnen, freuen können, müssen nicht nicht die beste Denkart haben; denn das Lachen ist gesellschaftlich und der Andere muß mit lachen können. Man muß daher nicht lachen, wenn jemand fällt; denn bei solchen Kleinigkeiten gewöhnt sich der Mensch die Schadenfreude an, wie z. B. diejenigen thun, die jemanden zu Gaste bitten, um ihn zu narren; dies kann nur so lange erlaubt seyn, als derjenige mitlachen kann, dem es widerfährt.
/Wer gern lacht, ist aufgeweckt, wer leicht lacht, läppisch. Ein Volk, das nicht lacht, ist keiner geistigen Unterhaltung fähig. Aber aufgeweckte Personen müssen auch witzige Sachen sagen, die ein Lachen erregen. Es giebt in Gesellschaften ein fades Lachen, wo ein vernünftiger Mann mitlachen muß; dieses ist, was man das Grinsen nennt.
/Weinen und Lachen sind nicht sehr von einander verschieden, so daß die Mahler das Gesicht eines Lachenden durch einen einzigen Zug in ein weinendes verwandeln können. Bei dem Weinen bricht sich der Schmerz; es ist das Aufhören des Schmerzes und eine nicht unangenehme zärtliche Rührung. Es ist merkwürdig, daß bei dem Lachen der Mensch ausathmet, bei dem Weinen aber den Athem einzieht. Thränen werden bald durch Sympathie, bald durch angenehme Empfindungen erregt, denn dankbare, großmüthige Züge können uns Thränen in die Augen bringen, wenn gleich kein dauerhaftes Weinen. Thränen sind größtentheils Wirkungen des Gefühls der Uebermacht eines Andern.
/Ein Frauenzimmer heult bald, weil es sich zur Rache zu ohnmächtig fühlt; es soll eine Aufforderung an Andere seyn, sich seiner Sache anzunehmen. Großmuth, wenn wir uns unvermögend fühlen, sie zu erwidern, erregt Thränen, dies sind edle Thränen, so wie es auch Thränen des Mitleids giebt. Die sympathetischen Thrä-_
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/nen sind ganz animalisch. Die Thränen der Dankbarkeit sind idealisch. Kein Mensch ist recht dankbar, als der eine Idee von dem hat, was er genießt. Ueberhaupt sucht ein Mann Thränen zurück zu halten, z. B. in der Comödie, und er thut wohl daran; denn alles, was das Herz welk macht, schickt sich nicht für einen wackern Mann, allenfalls für gewöhnliche Personen, die nichts weiter nöthig haben, als zu wünschen.
/So wie Affecten sich bloß aufs Gefühl der Lust und Unlust beziehen, so gründen sich die Leidenschaften auf die Neigungen. Neigungen sind Begierden, die auf eine ganze Gattung von Gegenständen gehen. Jede Neigung treibt an, aber sie herrscht nur dann, wenn sie die Vernunft außer Stand setzt, den Werth derselben mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen. Die Weisheit lehrt den Menschen schon, daß, da er mehr als ein Interesse hat, er keinen Gegenstand allein betrachten, sondern ihn mit allen übrigen Gegenständen seines gesammten Interesses vergleichen muß. Es geschieht doch bisweilen, daß eine Neigung einwurzelt und ganz allein herrscht. So hört z. B. ein Verliebter auf vernünftig zu seyn, denn da sieht er nichts, und giebt der Vernunft kein Gehör. Der Verliebte hat noch außer dieser Neigung andere zu befriedigen. Hinterher kümmert er sich wieder um diese Neigung, in Ansehung deren er bis jetzt blind gewesen ist.
/Alle unsere Neigungen können in formelle und materielle eingetheilt werden. Die Formellen gehen ohne Unterschied der Gegenstände auf die Bewegung, unter denen wir überhaupt unsere Neigungen befriedigen können; sie haben also keinen besondern Gegenstand; die materiellen Neigungen sind die, welche in Ansehung des Gegenstandes bestimmt sind. Die formellen Neigungen sind zweifach; Freiheit und Vermögen, welche die ersten und
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/vornehmsten Neigungen unter allen sind. Die Freiheit bedeutet die Entfernung alles Widerstandes, nach seiner eigenen Neigung zu handeln; sie ist eine formale negative Neigung; aber wir haben auch eine positive formale Neigung; diese ist das Vermögen zu Neigungen d.i. zum Besitze der Mittel seiner Neigungen zu gelangen. Bei der Freiheit suchen wir nur den Zustand, die Neigungen zu befriedigen; beim Vermögen aber die Mittel dazu.
/Das Vermögen ist dreifach, Talent, Gewalt und Geld; hierauf gründen sich drei Neigungen, Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht. Dies sind die drei Leidenschaften, die auf die drei Vermögen gehen, wodurch wir alle unsere Neigungen zu befriedigen suchen. Aber diese Vermögen gehen auf nichts weiter, als auf die Art, wodurch man einen Einfluß auf den Menschen hat. Der Mensch hat keine Leidenschaften, deren Gegenstand die Natur wäre, sondern alle Leidenschaften beziehen sich bloß auf Menschen. Die Ursache davon ist, weil der Mensch das Hauptbeförderungsmittel zur Befriedigung aller Neigungen ist.
/Die Leidenschaften können durch ihre Gegenstände unterschieden werden, z. B. die Neigung zum Wohlleben, zum Spiele etc. Aber es giebt besondere Neigungen, die blos auf die Bedingung gehen, wodurch unsere Neigungen ohne Unterschied befriedigt werden können; diese haben keinen besonderen Gegenstand, aber sie sind die mächtigsten.
Alle Leidenschaften gehen auf Menschen, und niemals auf Sachen. Wir haben wohl Neigungen zu Sachen, z. B. zu starken Getränken, zur Faulheit etc.; aber alle diese werden nicht Leidenschaften, denn die wahren Leidenschaften beziehen sich auf Menschen, weil diese die allergrößten Mittel zur Befriedigung unserer Neigungen sind. Vereinigte Bemühung der Menschen kann unsere Nei-_
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/gungen befriedigen oder verhindern, mehr, als irgend etwas; der Mensch ist ein Subject, und die Natur ist ihm unterworfen. Die Natur enthält nicht so wohl Stoff zur Befriedigung unserer Neigungen, als vielmehr die Empfindungskraft der Menschen. Daher gehen zwar unsere Neigungen auf die Natur, aber vermittelst der Menschen. Man sagt wohl bisweilen der Mensch hat eine Leidenschaft zu starken Getränken, aber das ist falsch; denn dies ist eine Sache, zu der man ohnedies einen Hang hat; es ist jedoch nicht eine heftige Bewegung des Gemüths, die bei den Leidenschaften vorhanden ist, und diese Bewegungen des Gemüths können nur auf Menschen gerichtet seyn.
/Es ist merkwürdig, daß keine Willkühr und kein Vorsatz jemals hinreichend ist, in uns eine solche Wirkung hervorbringen, als der Affect in der That verursacht, noch den Körper so zu bewegen, als er wirklich von dem Affecte durch das Nervensystem bewegt wird. Einige Affecten, besonders solche, die auf Furcht hinaus laufen, bringen Kälte, Freude, auch Angst, Hitze, alle Erwartungen hingegen Herzklopfen, und der Ekel bringt Ohnmachten hervor.
/Wir können oft dem Körper nur durch das Gemüth, und dem Gemüthe durch den Körper beikommen. Jenen Punct der Arzeneikunst vernachläßigt man sehr; man kann bisweilen einem Affect durch einen andern eine Diversion machen, und auch durch einen und ebendenselben, nur in einem andern Gesichtspuncte genommen; denn ein Affect schwächt den andern, z. B. das Lachen den Zorn. Große Affecten können auch plötzlich das Leben verkürzen.
/Das Gemüth kann den Körper in eine besondere Lage versetzen.
/Ein Jäger ist stumm worden, und hat geargwöhnt,
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/er sey von einem Weibe bezaubert worden. Er begegnete diesem Weibe und der Affect verursachte, daß er sprach, und dadurch seine Sprache wider bekam. Besonders ist es, daß der Affect die Säfte bei Thieren und Menschen vergiftet. Man hat Beispiele, daß Thiere, die gereizt werden, und sonst von Natur geduldig sind, so einen giftigen Speichel gehabt, daß ihr Biß tödlich gewesen ist. So wirkt auch der Körper auf das Gemüth z. B. bei schwangern Frauen. Die Hypochondrie kommt auch vom Körper her und theilt sich der Seele mit. Daher sollten Aerzte sich angelegen seyn lassen, entweder dem Gemüthe durch den Körper, oder dem Körper durch das Gemüth zu Hülfe kommen.
/ ≥ Von der Charakteristik des Menschen. ≤
/Die Charakteristik ist entweder innerlich oder äußerlich; zu der innerlichen gehört Talent, Temperament und Charakter, d.h. Naturgabe, Sinnes- und Denkungsart. Das Talent hat so zu sagen einen Marktpreiß; das Temperament einen Affectionspreiß, und der Charakter einen moralischen Werth. Dem Talente nach wird der Mensch gebildet, dem Temperament nach versittigt (civilisirt), und dem Character nach moralisirt. Zum Talente gehört Naturell, oder die Fähigkeit zu lernen, und Geist oder Genie, d.h. das Vermögen zu erfinden. Es kommt zuerst darauf an, das Naturell des Menschen ausfindig zu machen. Es ist eigentlich der Beruf der Natur zu Einem mehr, als zum Andern, und ist mehr leidend (passiv) als thätig (aktiv). Ein gutes Naturell hat eigentlich der, der uns kein Hinderniß in den Weg legt, gern alles annimmt, sich lenken läßt, und ein so genanntes gutes Gemüth hat.
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/Ein gutes Herz aber ist nicht blos leidend, sondern auch thätig. Zu dem Temperamente rechnen wir Gemüth und Herz. Ein gutes Gemüth hat derjenige, der keine Rache bei sich führt, und nicht fähig ist, zu beleidigen. Von Frauenzimmern muß man eigentlich nicht sagen, sie haben ein gutes Gemüth; überhaupt ist das Frauenzimmer schwerer durch Mannspersonen, als Mannspersonen durch Frauenzimmer zu leiten, weil die Frauenzimmer als die Untergebenen sehr auf ihre Rechten halten. Hinter einem guten Gemüthe steckt nicht viel, denn es kann unter den Händen eines Betrügers zum Spitzbuben werden, weil es nur blos durch die Lenksamkeit Anderer besteht. Ein Mensch aber, der nicht immer ein Kind bleiben will, muß einen eigenen Sinn haben. Ein gutes Herz besteht in der wirklichen Thätigkeit, Gutes zu thun, jedoch nur nach einem gewissen Instinkte; dadurch unterscheidet es sich von dem Charakter, welcher die Thätigkeit ist, Gutes zu thun aus Grundsätzen. Bei dem guten Gemüthe sind keine Triebfedern nöthig, weil es nur leidend ist, allein bei dem guten Herzen ist immer ein Antrib, wenn dies auch nicht wahre Grundsätze sind. Die Eltern und Vorgesetzten erforschen immer das Naturell des Kindes und Lehrlings, damit sie einsehen, welchen Eindruck sie am besten annehmen. Die Russen haben ein sehr mannigfaltiges Naturell; daher sie allerlei, aber nichts vorzügliches machen können; die Untergebenen aber suchen das Talent ihres Vorgesetzten zu ergründen, damit sie sich nach ihm richten, und ihm zu Willen seyn können.
/ ≥ a) Die Temperamente. ≤
/Es kann nicht mehr als vier Temperamente geben: diese sind das sanguinische, cholerische, melancholische und phlegmatische, d. h. das leichtblütige, schwerblütige, warm-_
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/blütige und kaltblütige. Da das Temperament die Quelle aller sinnlichen Begierden ist, so beruht alles Temperament auf Gefühl und Neigungen, also 1) die Temperamente der Empfindungen, wozu das sanguinische und melancholische gehört, und 2) die Temperamente der Thätigkeit, diese sind das cholerische und phlegmatische. Das Temperament kann betrachtet werden, erstens aus dem Gesichtspuncte, in so fern es thierisch ist, und in so fern es auf die Complexion ankommt; zweitens aus dem Gesichtspunct eines Anthropologen, in so fern man die Sinnesart der Menschen, oder die Temperamente der Seele betrachtet. Das geistige Leben enthält zwei Stücke: 1) Empfindung und 2) Bewegung. Einige Beispiele beweisen, daß es wohl möglich sey, daß ein Mensch zwar Empfindungen, aber keine Bewegung haben könne. Die Temperamente pflegen durch den Hang zu einer Sache bestimmt zu werden. Man kan viele zusammengesetzte Temperamente herausbringen, nemlich 1) das sanguinisch-cholerische, 2) das melancholisch-phlegmatische, 3) das sanguinisch-phlegmatische, und 4) das melancholisch-cholerische. Eine manigfaltigere Zusammensetzung der Temperamente ist gleichfalls nicht möglich, weil die Temperamente, die unter einem Titel sind, nicht zusammen gesetzt werden können, da sie gerade entgegengesetzt sind. Sanguinisch ist das Temperament, nach welchem die Empfindung sehr afficirt, aber wenig eindringt; melancholisch, wo sie nicht so sehr afficirt, aber tief eindringt. Die leichte Reizbarkeit und ihre Vergänglichkeit macht also den Sanguineus. Ein Sanguineus wird daher z. B. im Unwillen lebhaft seyn, aber einen Groll hegen, oder auf Rache bedacht seyn, wie der Melancholicus. Der Sanguinische hat gewöhnlich ein gutes Gemüth, aber er nimmt nichts zu Herzen, und zieht sich das nicht einmal zu Gemüthe, wenn er etwas Uebles thut, indem er sich sehr
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/vortheilhafte Vorstellungen von der Gutherzigkeit seines Gemüths macht. Er ist von lauter guten Vorsätzen und Entschließungen, aber sehr veränderlich und gemeiniglich sehr vergnügt. Diese Gemüthsart des Sanguinischen ist eine glückliche und deswegen auch ein gutes Temperament, weil nichts tief in dasselbe eindringt. Betrübniß wird bei ihm niemals Gram, und Zorn nie Rache oder tiefgewurzelter Groll. Der Sanguineus affectirt auch nicht; er ist ein guter Gesellschafter, aber ein schlechter Bürger. Er ist höflich ohne Freundschaft, und liebt, ohne verliebt zu seyn. Er ist ferner von einem sehr fähigen, aber nicht getreuen Gedächtniße, und da er dem Witz d.h. einem flüchtigen, aber doch auffallenden Verstandesurtheile ergeben ist, so wird er weit mehr Einfälle lieben, als Einsichten. Er wird geliebt, aber nicht hochgeachtet, und ist ein schlechter Zahler; denn er ist sorgenfrei. Er empfindet wenig nach, weil nichts bei ihm haftet. (In Frankreich hat man sehr viele Sanguinische). Er verspricht alles und hält nichts, aber nicht aus Vorsatz, er nimmt es auch wieder nicht übel, wenn man ihm nicht Wort hält. Die wichtigsten Dinge macht er lächerlich, und die unwichtigen auf einen Augenblick wichtig. Ueber sein Schicksal grämt er sich nicht. Er ist schwer zu bekehren, denn die Reue dauert nicht lange. Er ist des Mitleids fähig, oder was er augenblicklich thun kann, um dem Unglücke eines Andern abzuhelfen, das thut er; aber auf Mittel denken, ist nicht seine Sache.
/Man pflegt sonst unter dem sanguinischen Temperament dasjenige zu verstehen, welches zur Lustigkeit, und unter dem melancholischen ein solches, welches zur Traurigkeit aufgelegt ist, allein dies sind vielmehr die Wirkungen als der Charakter des Temperaments; denn bei dem Melancholischen dringt die Freude eben so wohl als die Traurigkeit ins Gemüth; hingegen den Sanguinischen af-_
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/ficiren beide nur. So ist die Freude bei dem Melancholischen auch größer als bei dem Sanguinischen, aber daß die Traurigkeit bei ihm größer ist als die Freude, kommt daher, daß ein Mensch in der Welt immer mehr Gelegenheit findet sich zu betrüben, als zu freuen, und durch Nachdenken in eine Art von Ernsthaftigkeit versetzt wird. Das Vergnügen läßt sich nicht so hoch steigern als die Traurigkeit.
/Das melancholische Temperament ist nicht so glücklich als das sanguinische. Der Melancholische ist beständig in der Freundschaft; er fordert zwar viel vom Freunde, aber er ist auch bereit, ihm wieder viel zu erweisen. Er haftet auf dem, was ihn interessirt; er ist voll Verdacht, und macht bei allem Schwierigkeiten. Er ist in Ansehung des Versprechens, der Ansprüche auf Anderer Freundschaft, der Dankbarkeit, gerade das Gegentheil von dem Sanguinischen. Er ist in seinem Vorsatze fest, und verspricht nicht viel, weil ihm alle Dinge sehr schwer vorkommen; daher scheint er auch nicht so willfährig zu seyn, als der Sanguinische, weil er sein Versprechen immer gern halten will, und die Willfährigkeit eine vortrefliche Eigenschaft des Umgangs ist, aber keine Tugend.
/Melancholicus est tenax vir propositi, allein dieser feste Vorsatz kann auch zuletzt Halsstarrigkeit und Hartnäckigkeit werden. Er ist enthusiastisch in der Religion, in der Freundschaft, in der Vaterlandsliebe, woraus zuletzt Fanatismus entspringt. Er vergrößert alles, da der Sanguinische alles verkleinert. Alle Wichtigkeit gränzt an Melancholie, der Sanguinische ist in diesem Falle dem Melancholischen auch völlig entgegen gesetzt. Nachdem er, so zu sagen, sich selbst vielmal vorgelogen hat, glaubt er zuletzt sich selbst nicht mehr, aber es ist von großer Wichtigkeit, seinen eigenen Vorsätzen trauen zu dürfen. Da der Melancholische nicht so willfährig ist, als der San-_
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/guinische, so ist er auch nicht so sehr beliebt. Sein Mißtrauen kann wohl überhaupt davon herrühren, daß er den Hang hat, immer Uebles zu befürchten; denn der Unglückliche, er mag es nun aus äußern Ursachen oder durch sein Naturell seyn, gönnt doch Andern ihr Glück nicht.
/Betrübniß kann vorüber gehen, aber Traurigkeit ist beharrlich; denn alle Traurigkeit entspringt aus dem Nachdenken, und das Nachdenken verdoppelt allemal unsere Empfindungen. Nun ist das melancholische Temperament zu solchem Nachdenken aufgelegt, und also ist bei dem Melancholischen das Traurigkeit, was bei dem Sanguinischen Betrübniß ist.
/In Ansehung der Thätigkeit sind die Temperamente cholerisch und phlegmatisch. Cholerisch ist das Temperament, bei dem die Kräfte schnell in Bewegung gesetzt werden, aber nicht anhalten; phlegmatisch aber dasjenige, wo die Kräfte langsam in Bewegung gesetzt werden, dafür aber lange anhalten.
/Die Cholerischen pflegt man zu characterisiren durch den Hang zum Zorne und zum Stolze, allein dies sind nur die Folgen des Temperaments; der Cholerische trägt alles mit vielem Pompe vor, und macht viele Worte; der Trieb zur Ehre ist seine herrschende Leidenschaft. Daher ist er auch sehr heftig und gemeinhin verständig, jedoch scheint er immer mehr zu seyn, als er wirklich ist. Hingegen pflegt der Phlegmatische weniger zu scheinen, als er in der That ist. Das cholerische Temperament ist ein Temperament der größten Vorstellung. Der Gang der Cholerischen hat immer etwas Steifes, sie gehen, so zu sagen, stets auf Stelzen, und ihre Sprache hat etwas Gedrechseltes. Sie wünschen immer solche Leute gern um sich zu haben, an denen sie ihren Witz zeigen können. Sie sind gewöhnlich sehr ordentlich. Wo aber schon eine sehr gezwungene Ordnung statt findet, da ist auch im-_
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/mer ein schwacher Kopf. Der Cholerische hat oft im Tone unrecht, ob er gleich in der Sache selbst Recht hat. Daher ist er kein guter Gesellschafter, aber ein guter Hausherr; er ist sehr methodisch und selten ein Genie. Aus den heftigen Triebfedern der Thätigkeit, die bei dem Cholerischen sich befinden, folgt, daß er leicht aufgebracht wird. Aus dieser Reizbarkeit der Thätigkeit ergiebt sich, daß ein Cholerischer zu großen Dingen geschaffen ist, weil das Große immer Muth erfordert. Eben aus dieser Ursache hat ein solcher Mensch auch viele Fehler, z. B. er mischt sich gern in allerhand Sachen ein, daher ist er auch zu Händeln und zum Streite geneigt. Ein solcher Mensch mag nicht gern von Pflichten hören, sondern will gern alles aus freier eigner Bewegung leisten, als aus Großmuth Wohlthätigkeit. Wenn er ein Richter ist, so läßt er sich nicht bestechen, aber durch Demuth und Bitte um Gnade läßt er sich sogleich auf seine Seite bringen. Ist er selbst mit jemandem im Streite, so kämpft er heftig wider ihn; wird er gebeten, so giebt er sogleich nach. Er nimmt gern Leute in Schutz ohne Interesse, blos um Schutz zu ertheilen. Er arbeitet rüstig, aber nicht emsig. Er ist höflich, aber dennoch, weil er alles als etwas unwidersprechliches anführt, findet man an ihm eine Lust zu widersprechen. Zwei oder mehrere Cholerische sind nicht gut in einer Gesellschaft; denn beide wollen ihre Urtheile geltend machen, und auf diese Weise entsteht oft Streit. Er unterhält beinahe immer die Gesellschaft, und sucht in allen Dingen mehr Pracht als Genuß. Er ist gemeinhin orthodox.
/Das phlegmatische Temperament ist am meisten der üblen Nachrede unterworfen, allein da das Phlegma, wenn es Temperament seyn soll, eben in der Temperatur oder Mäßigung und Herabstimmung der Hitze der Affecte besteht, so ist es glücklich, so wohl für den, der es
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/besitzt, als für Andere, und kann mit mittelmäßiger Vernunft den Zweck erreichen, welchen großen Köpfe verfehlen, indem sie sich den hinreißenden Affecten überlassen. Es führt eine große Zuverläßigkeit mit sich; denn da hier etwas plötzlich unternommen wird, so wird etwas übereilt ausgeführt. Der Phlegmatische erschrickt nicht leicht, und ist zu großen Dingen von ungemeiner Erheblichkeit. In der Freundschaft wird er zwar nichts Schimmerndes zeigen, und daher nicht sehr beliebt seyn, aber er ist doch jederzeit sehr beständig und treu. Er ist emsig zur Arbeit, ob er gleich immer einen Hang zur Faulheit hat, und sich gemeiniglich nur mit Wünschen behilft. Er hat selten Langeweile, aber er ist langweilig für Andere. Als Gelehrter wird er ein guter Sammler seyn. In seinem häsulichen Zustande läßt er sich leicht regieren, da es leichter ist sich regieren zu lassen, als selbst zu regieren, worin jedoch der Cholerische von ganz entgegengesetzter Meinung ist. Will man den Phlegmatischen gut nennen, so ist er nur negativ gut, nemlich unschädlich. Das phlegmatische Temperament ist das, wo die Empfindungen langsam und schwach anfangen, aber sehr zunehmen, und lange dauern. Der Character dieses Temperaments ist die Apathie, welche nicht Fühllosigkeit, sondern eine gewisse Geduld ist. Das Phlegma kann als Stärke, und als Schwäche betrachtet werden: als Schwäche ist es eine Art von Unempfindlichkeit, Unthätigkeit, als Stärke besteht es darin, daß das Gemüth keiner heftigen, sondern langsamen Empfindung fähig ist. Es ist eine Kraft, die aus dem Naturell fließt. Es wird langsam erwärmt, und in Bewegung gesetzt, aber es dauert sehr lange; der Phlegmatische überlegt also alles, und hat immer einen festen Vorsatz, und eine unveränderliche Denkungsart. Man kann daher auf ihn trauen.
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Phlegma im Temperamente ist glücklich. Ein Mensch, der Phlegma hat, wird bisweilen für einen Philosophen gehalten, und insofern er zum Nachdenken geneigt ist, kann er wirklich das durch sich zu wege bringen, was ein Philosoph durch vieles Nachdenken bewirkt. Dieses Temperament glänzt nicht, und man kommt oft damit am allerweitesten. Für den Hausstand ist Phlegma sehr glücklich, denn es ist beständig eine gute Laune dabei.
/ Es ist schwer zu unterscheiden, was die Erziehung oder das Naturell bei Menschen hervorbringt.
/Die Indianer machen die Bemerkung, daß die Lebensart den Kaufmann phlegmatisch, den Geistlichen melancholisch, den Soldaten cholerisch und den Handwerksmann sanguinisch machen kann.
/Gewohnte Geneigtheiten können oft fälschlich Temperamente zu seyn scheinen, als z. B. Misanthropen, worunter man eben nicht Menschenfeindschaft versteht, sondern wenn man alle andere Menschen für böse hält. In Ansehung der Religion ist der Cholerische von der herrschenden Kirche orthodox, der Sanguinische ist zur Freigeisterei geneigt, der Melancholische zur Schwärmerei, und der Phlegmatische zum Aberglauben, welcher knechtisch und von der Schwärmerei ganz unterschieden werden muß; ohngeachtet beide letztere einen Religionswahn haben. Im Amte ist der Cholerische zum Herrschen geneigt; der Sanguinische würde ordentlich, der Melancholische sehr peinlich, und der Phlegmatische ein Ja-Herr seyn, und gerne alles bei dem Alten lassen. In den Wissenschaften ist der Cholerische gründlich, aber unwichtig, der Melancholische tief, der Sanguinische allgemein verständlich, und der Phlegmatische sehr weitläufig, aber doch ohne vielen Inhalt. Als Schriftsteller ist der Sanguinische witzig, der Cholerische geht auf Stelzen, der Melancholische ist ein Original, vielleicht auch launig, aber
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/dunkel; der Phlegmatische zeigt viel Belesenheit und citirt viel.
/ ≥ b) Der Character überhaupt. ≤
/Es giebt in der That Menschen, welche in Absicht ihrer Handlungen und ihrer Absichten gar nicht bestimmt sind, und nach gar keinen Maximen handeln, daher auch keinen Charakter haben. Indessen wird ein Mensch doch gerühmt, wenn er einen bestimmten Character hat, wäre dieser auch ein böser, weil sich doch hier noch mehr Tüchtigkeit befindet, als bei einem Menschen, der gar keinen Character hat, ob er schon ein gutes Gemüth und Herz hat. Der Character beruht eigentlich auf der Macht des Verstandes, und kann auch oft durch die Eigenliebe erregt werden; hingegen beruhen Gemüth und Herz blos auf dem Gefühle, und gehören zu dem Temperamente. Man sollte billig bei der Erziehung der Kinder darauf bedacht seyn, in ihnen einen Character hervorzubringen, wenn dieser auch nicht immer auf das Gute gerichtet wäre.
/Character ist das, was den Menschen auszeichnet, eine Festigkeit in Grundsätzen. Ein Zerrbild ist eine Uebertreibung des Characters, so sind z. B. die Comödien. Im Character liegt der Grund von allen Ausbildungen des Menschen. Der Character hat einen innern moralischen Werth. Zum Character wird erfordert ein Wille, auf den man sicher rechnen kann, eine beständige Denkungsart, und nicht blos eine Empfindung; denn der, der nicht einen bestimmten Character hat, ist Launen unterworfen. Ein Mensch von recht bösem Character ist fürchterlich, aber wird doch bewundert.
/Die ersten Kennzeichen eines Characters bestehen darin, daß der Mensch das hält, was er sich selbst ver-_
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/spricht. Wer dies nicht thut, der kann sich selbst nicht trauen. Man muß sich darauf üben, daß man feste Vorsätze hat. Wenn die Natur jemandem keine Anlage zu einem Character, d.h. keine Festigkeit in Grundsätzen gegeben hat, so ist es außerordentlich schwer, einen Character sich zu erwerben. Ein Mensch ohne Character macht nie eine bestimmte Person, sondern bei jeder Gelegenheit ist er ein anderer Mensch; so muß ein Mensch Grundsätze fassen in Ansehung seiner Ausgaben.
/Einen schlechten Character unterscheidet man von einem bösen. Unter einem schlechten Menschen versteht man einen Menschen ohne Ehre, z. B. der da lügt. Der schlechte Character besteht also in einem Mangel der Ehrliebe, und zwar in den Verhältnissen, worin wir gegen einander stehen; allein Falschheit und Treulosigkeit in der Freundschaft ist ein boshafter Character, wenn man sich etwas Böses zu thun vornimmt, und zwar nach Grundsätzen.
/Einen Menschen, der keine Zucht erhalten hat, welche eben in der Bändigung unserer natürlichen thierischen Ungebundenheit besteht, nennt man wild. Wenn aber jemand keine Bildung oder keine Belehrung bekommen hat, so ist er roh, wenn er nemlich keiner Cultur in Ansehung des Verstandes fähig ist, hingegen grob, wenn dieses in Ansehung der Sitten statt findet.
/Die Gutartigkeit eines Menschen aus Instinkt, Empfindung (Sentiment) und aus Character, ist sehr unterschieden. Bei einem Menschen von erster Art ist keine Sicherheit; das Sentiment soll in dem Gefühle für das Gute bestehen, und was der Character ist, ist schon oben gesagt. Beim schönen Geschlechte muß man vorzüglich ein gutes Sentiment zu gründen suchen, da dasselbe es wohl nie bis zum guten Character bringt, den man hingegen von dem Mann fordern muß. Bei dem Frauenzimmer
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/müssen Gefühle der Ehre die Stelle der Grundsätze vertreten. Erziehung muß dies beim Frauenzimmer, und Grundsätze beim Manne gründen.
/Ein Mensch von Character hat seine Maximen in allen Sachen, in Freundschaft, Handlungen und Religion. Der Soldatenstand veranlaßt eine Offenherzigkeit des Characters, der geistliche Stand eine Verstellung und eine gewisse Zurückhaltung. Ein Mensch, der einen Character dadurch vorgeben will, daß er sich aus den Moden nichts mache, hat noch lange keinen Character; denn es kann eben so ein Grundsatz seyn, der Mode zu folgen.
/Die Maximen eines wahren Characters sind:
/1) Die Wahrheitsliebe. Alles Lügen macht verächtlich, und ein Lügner hat keinen Character.
/2) Wenn jemand etwas verspricht, so hält er Wort, d.i. Treue gegen seine Freunde.
/3) Er schmeichelt nicht, denn ein Schmeichler hat einen zu geringen Werth, indem er den Einfluß Anderer gar zu sehr an sich merken läßt.
/Ein edler Character ist die Denkungsart, wenn man das eigene Beste dem allgemeinen nachsetzt, wenn man ferner durch sein Beispiel nie Anlaß zum Bösen giebt. Es ist etwas Niedriges, sich immer zu erkundigen, was Menschen von ihm sprechen, und eben so niedrig ist es, Andern zu erzählen, was von ihnen in Gesellschaft gesprochen worden ist. Dies zu verschweigen, ist etwas edles. Noch edler ist die Denkungsart, daß man das, was böse ist, nicht gut heißt, und ein niederträchtiges Verhalten nicht bevorrechtet.
/Erziehung und eigenes Nachdenken sind die Mittel, um zu einem Character zu gelangen. Zu den Mitteln kann man auch noch moralische Unterredungen, die Fassung guter wohlgegründeter Grundsätze, rechnen.
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/Man findet auch häufig Menschen, welche einen Character affectiren. Ehrlich ist man aus Ehre, redlich aus Gewissen, und rechtschaffen aus Grundsätzen. Man nennt den Character auch öfters den Fonds (ist eigentlich die Naturanlage zum Character) d. h. den Grund der Seele. Eine verfeinerte oder wohlverstandene Ehre, oder ein richtiger Ehrbegriff kann das größte Analogon eines guten Characters seyn, ohngeachtet er es selbst doch nicht ist.
/Die natürliche Anlage des Characters ist angeboren, allein sie fordert sehr viel Thätigkeit und Aufmerksamkeit, um sie zum wahren Character eines Menschen auszubilden. Es giebt gewisse Fehler im Character, welche, wenn sie nicht in der Jugend verbessert werden, auch im Alter bleiben. Der wahre Character äußert sich bei den Menschen sehr selten vor dem 40sten Jahre.
/Der Character ist nicht wie das Temperament selbst eine Anlage zur Glückseligkeit, sondern bestimmt bloß die Würdigkeit, glücklich zu seyn; daher sagt man auch nicht ein glücklicher, sonder ein guter Character. Da der Character eine Sache der freien Willkühr ist, so sehen wir auch denselben nicht als eine Naturgabe, sondern als unser eigenes Verdienst an. Durch einen guten Character ist der Mensch nicht einmal glücklich, wohl aber der Glückseligkeit würdig. Wenn das Gute, das wir an uns haben, nicht auf Grundsätzen beruht, so ist es vergänglich und nichts nütze. /Können wir bei dem Menschen das Innere aus dem Aeußern erkennen? Ohngeachtet Körper und Geist eine vollkommene Einheit ausmachen, so kann doch hier, so viel wir wissen, kein natürlicher Zusammenhang statt finden. Shaftesbury macht in seinen philosophischen Schriften die Bemerkung, es sey in eines jeden Menschen Gesichte, auch selbst des häßlichsten, eine solche Originalität
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/und Regelmäßigkeit, daß, so bald wir nur etwas darin verändert wollten, wir alles verdürben. Dies scheint sich auch dadurch zu bestätigen, daß, wenn man viele Gemälde sieht, man leicht unterscheiden können wird, welches Portrait von einem lebenden Menschen, und welches blos aus der Phantasie hergenommen ist. So viel liegt in der Physiognomie eines jeden Menschen, sie ist aber doch sehr trügend. Ein Arzt hat ein Buch unter dem Titel herausgegeben: "Bemerkungen auf einer Reise durch England." Er sagt darin, daß, wo er die Gefängnisse besucht, er gefunden habe, daß die Bösewichte große Knochen haben und braun gewesen seyn. Bei der Heirath ist wirklich die Physiognomie gut, denn von den Eltern kann man auf die Tochter schließen, wenn sie ihnen ähnelt. Man muß aber Leute nicht sogleich nach den Gesichtszügen beurtheilen, wenn man sie nicht sonst schon geprüft hat, denn die Einbildung macht bisweilen dabei das meiste aus.
/Bei dem Menschen können wir uns vorstellen:
/1) Die Leibesgestalt. Die Regelmäßigkeit des Baues gleicht der Harmonie in der Musik. Ein starker robuster Mann, der in sich Ueberlegenheit fühlt, misbraucht gemeiniglich seine Kräfte, und oft ist ein Mensch blos deswegen friedlich, weil er sich zu schwach fühlt, sich über Andere zu erheben. Die Erfahrung zeigt, daß eine Regelmäßigkeit in den Gliedern eines mittelmäßigen Menschen die Tauglichkeit zu allen Geschäften bezeichnet, und dies stimmt auch mit unsern Begriffen überein. Bei den Genies findet man gemeiniglich ein Mißverhältniß der Glieder. Man kann sagen, in der Natur sey keine wahre Häßlichkeit; jemehr man die Natur studirt, desto mehr Wunder entdeckt man in ihr. Das regelmäßige Gesicht hat gemeinhin nichts.
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/2) Die Stellung
/3) Das Gebäude, welches alles Abänderungen der ersteren sind.
/In einem Gesichte kann man mit Recht unterscheiden, die Gesichtsbildung und die Gesichtszüge. Lichtenberg, Lavaters größter Gegner, glaubt, daß die Gesichtszüge gar nicht originel seyn, sondern daß sie blos theils von der Erziehung, theils von der Gewohnheit abhängen. Allein wenn man die Sache genau betrachtet, so wird man finden, daß er hierin Unrecht hat. Bei Frauenzimmern ist die Stirn gewöhnlich runder als bei Mannspersonen. Wenn die Seitenhaare bis an die Augenbraunen gewachsen sind, so bedeutet dies einen schwachen Verstand. Ein Grübchen mitten auf der Nase zeigt einen Spötter, oberwärts einen Stolzen an. Lichtenberg meint, daß man von den durch die Lebensart erworbenen Mienen auf das Leben des Menschen schließen könne. Alle Affecten bringen gewisse Mienen hervor, die endlich in Gesichtszüge ausarten; man betrachte z. B. Frauenzimmer, die auf dem Lande gewesen sind. Man sagt, der Mensch habe ein recht gemeines Gesicht, und dies ist eine Anlage zur Grobheit bei Leuten, die nicht gemein erzogen sind. Was die Anhänglichkeit an Religion oder Observanzen anbelangt, so kann man Leute immer nach ihren Mienen unterscheiden, zu welcher Religion sie gehören, besonders Frauenzimmer, die die Mienen, die sie in der Kirche annehmen, leicht behalten.
/Da die Physiognomik gar nicht in Regeln gebracht werden kann, so kann sie auch nicht ausgebreitet, oder Andern mitgetheilt werden; diese Scharfsinnigkeit würde auch dem menschlichen Geschlechte nichts nützen.
/Gesticulation (Geberdensprache), Articulation (Ausspracheart) und Modulation (Vortrageart) machen die Sprache aus. In der Gesticulation sind die Mienen die
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/vornehmsten, welche in der ganzen Welt einerlei Gemüthszustand bedeuten.
/Ein Interesse verdirbt immer unser Verstandsurtheil, und benimmt uns die Unpartheilichkeit.
/Die Verschiedenheit der Naturgaben bei den so mannigfaltigen Nationen kann doch nicht völlig aus gelegentlichen Ursachen erklärt werden, sondern muß doch wohl in der Natur des Menschen selbst liegen, weil diese Verschiedenheit auch oft unter einerlei Umständen statt findet. Die gelegentlichen Ursachen sind 1) physische; dahin gehören die Climata (Himmelsstriche) und Landesproducte, und 2) moralische.
/Wenn sich ein Volk auf keine Weise in Jahrhunderten vervollkommet, so ist anzunehmen, daß es schon in ihm eine gewisse Naturanlage giebt, welche zu übersteigen es nicht fähig ist. Dahin gehören die Hindus, die Perser, die Chinesen, die Türken, überhaupt alle orientalischen Völker. Jedoch können wir hier blos dem speculativischen Interesse unserer Vernunft folgen, und müssen das practische aufgeben.
/Soll man verschiedene Menschenracen (Menschenschläge) annehmen, die verschiedene Stämme haben? Wenn dies wäre, so müßte Gott verschiedene erste Menschen, für jede Race ein besonderes Paar, erschaffen haben; wir haben keinen Grund dies anzunehmen. Wenn wir eine Art Blumen, oder Früchte auf verschiedenem Erdboden auf verschiedene Art pflanzen, so bekommen wir verschiedene Arten von Blumen und Früchten. So kann auch ein Menschenstamm die ganze Erde bevölkert haben, und gelegentliche Ursachen konnten die Menschen verändern. Alle Arten von Menschen sind, wenn sie sich begattet haben, mit einer andern Race fruchtbar. Dies macht uns auch glaublich, daß sie von einem Stamme herkommen.
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/Anmerk. 1) Das Volk der Amerikaner nimmt keine Bildung an. Es hat keine Triebfeder; denn es fehlen ihm Affect und Leidenschaft. Sie sind nicht verliebt, daher sind sie auch nicht fruchtbar. Sie sprechen fast gar nichts, liebkosen einander nicht, sorgen auch für nichts, und sind faul.
/2) Die Race der Neger, könnte man sagen, ist ganz das Gegentheil von den Amerikanern; sie sind voll Affect und Leidenschaft, sehr lebhaft, schwatzhaft und eitel. Sie nehmen Bildung an, aber nur eine Bildung der Knechte, d.h. sie lassen sich abrichten. Sie haben viele Triebfedern, sind auch empfindlich, fürchten sich vor Schlägen und thun auch viel aus Ehre.
/3) Die Hindus haben zwar Triebfedern, aber sie haben einen starken Grad von Gelassenheit, und sehen alle wie Philosophen aus. Demohngeachtet sind sie doch zum Zorne und zur Liebe sehr geneigt. Sie nehmen daher Bildung im höchsten Grade an, aber nur zu Künsten und nicht zu Wissenschaften. Sie bringen es niemals bis zu abstrakten Begriffen, ein hindostanischer großer Mann ist der, der es recht weit in der Betrügerei gebracht und viel Geld hat. Die Hindus bleiben immer wie sie sind, weiter bringen sie es niemals, ob sie sich gleich weit eher zu bilden angefangen haben.
/4) Die Race der Weißen enthält alle Triebfedern und Talente in sich; daher werden wir sie etwas genauer betrachten müssen.
/Zu der Race der Weißen gehört ganz Europa, die Türken, und Kalmucken. Wenn irgend Revolutionen entstanden sind, so sind sie immer durch die Weißen bewirkt worden und die Hindus, Amerikaner, Neger haben niemals daran Theil gehabt. Unter den Weißen könnte man die Eintheilung des orientalischen und occi-_
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/dentalischen Schlages machen. Auch kann man drittens die finnische Nation hierzu rechnen.
/Frankreich ist das Land des Geschmacks am Umgange, d.h. des artigen Benehmens (der Conduite). Lebhaftigkeit ist das bei ihnen, was bei andern Völkern Affect ist. Leichtsinn ist bei ihnen ganz zu Hause, d.h. sie mögen nicht gern in einem Zustande beharren, sie sprechen gern viel, daher sprechen sie oft etwas, was gar nicht zur Sache gehört. Das Point d'honneur und die Galanterie sind zwei Erfindungen der Franzosen. Die Letztere ist vornehmlich das Zartgefühl des Frauenzimmers. Die Etourderie ist eine Art von Dreustigkeit, und bei den Franzosen die Wirkung der Lebhaftigkeit. Das artige Benehmen ist nirgends so allgemein als in Frankreich; besonders ist an dem Franzosen zu rühmen die leichte Manier. Das Frauenzimmer ist gar nicht häuslich, ist aber auch nirgends so gebildet als in Frankreich. Die Franzosen sind nicht gastfrei, aber ungemein willfährig, dem Fremden einige kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Sie haben viel Naturell und Geist, aber wenig Instinct und noch weniger Zucht (Disciplin). Das Point d'honneur (der Ehrenpunkt), welches bei ihnen zu unzähligen Zweikämpfen Anlaß giebt, ist nicht ein wahrer Ehrenbegrif, sondern etwas, wodurch man sich Ansehen verschaffen will.
/Die Titel, welche zur Unterscheidung der Sachen dienen, bringen eine Sprache hervor, welche sehr weitläuftig ist, und einen großen Reichthum an Wörtern zu intellectuellen Begriffen hat, worin grade die größte Schönheit der teutschen Sprache besteht. Der Geist der Ordnung ist den Teutschen eigen; daher haben sie auch so viel Titelbenennungen. Bei den Teutschen ist mehr Naturell als Genie, und mehr Disciplin als Instinct. Der Teutsche zeigt immer mehr Urtheilskraft als Geist, oder
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/Erfindungskraft; hingegen bei den Franzosen findet mehr das Gegentheil statt. Die Teutschen haben mehr einen Hang zu Gebräuchen, die Franzosen zu Moden. Es fängt etwas dann erst an Gebrauch zu seyn, wenn es schon aufgehört hat, Mode zu seyn. Der Teutsche ist sehr gastfrei.
/Spanien könnte man das Ahnenland nennen, so wie Frankreich das Modenland. Von den Spaniern ist es schwer einen Character zu entwerfen. Sie wollen nicht gern von den Mauren abstammen, sondern von den Gothen, ob sie gleich diese nicht sehr schätzen. Sie sind voller Ceremonien; daher sind sie die größten Feinde der Franzosen. Sie sind in den Wissenschaften noch einige Jahrhunderte zurück, weil sie nichts von andern Nationen annehmen. Sie sind wahre Antipoden von den Franzosen, indem sie große Feinde von allen Veränderungen, so wohl in Ansehung der Religion, als der Lebensart sind; doch haben sie viel Leidenschaften, und fast immer einen Tanz, welcher der Fandango heißt. An Geist fehlt es ihnen gewiß nicht, allein aus ihrem Stolze, nach welchem sie sich für die Vornehmsten und Geschicktesten halten, entspringt auch zugleich die Faulheit. Jedoch kommt es auch in dieser Absicht sehr viel auf die verschiedenen Gegenden von Spanien an; denn in denjenigen Bezirken, welche an Frankreich gränzen, sind schon sehr viele Charactere und Sitten der Franzosen angenommen, so wie in Madrid, wo der Hof ist; aber in Neucastilien und in den asturischen Gebirgen findet man noch Spanier von rechter Art, die sich für Abkömmlinge der alten Gothen ausgeben, und ebendaher ganz gravitätisch in schwarzen Kleidern einhergehen. Nur sehr wenige unter den Spaniern lernen fremde Sprachen.
/In England gehen die Kenntnisse bis auf den gemeinsten Mann, die Ursachen hiervon sollen die Zeitungen
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/seyn, welche vorzüglich Producte des Witzes sind. Die Zeitungen lieset selbst das Gesinde. Der Haß gegen Nachahmung, und der Hang zur Originalität ist den Engländern ganz eigen, macht sie störrig, und zu Feinden von Ceremonien und Höflichkeit. Der Engländer verachtet den Franzosen, denn er ist ihm zu flüchtig. Die Engländer sind gastfrei, und auf ihre Freiheit stolz. Sie reisen viel, und verachten doch immer fremde Länder. England ist das Land der Launen. Der Engländer ist in seinen Schriften witzig und dieser Witz ist vorzüglich schützbar, weil er von großem Inhalte ist.
/Die Italiäner scheinen die Mittelstraße zwischen den Franzosen und Spaniern zu halten, sie haben mehr Affect als die Franzosen, und mehr wahre Geistesstärke. Sie finden Geschmack an den schönen Künsten, auf welche sie sich besonders legen. Die Gegenstände der öffentlichen Bewunderung sind Mahlerei, Architektur und Bildhauerkunst. Italien ist das Land der Schlauköpfe. Die Erfindung der Italiäner muß immer nach dem Geschmack der Vornehmen und der Versittigten gestimmt seyn. Die italienische Nation hat sehr viel Geist und Talente.
/Der Character der Teutschen wird von Einigen ins Phlegma gelegt. Der Teutsche hängt nicht so sehr an seinem Vaterlande, und das zeigt schon von einem aufgeklärten Volke, besonders zeichnen sie sich durch geduldige, arbeitsame Gelassenheit aus, schicken sich nicht zu Reformen, und lassen sich despotisch beherrschen. *1
/~ *1 Die Zeit hat dies anders gelehrt. Die Teutschen wollen Freiheit unter Gesetzen und Ordnung unter der Herrschaft der Vernunft. Eine weise eingerichtete Statsverfassung, welche allen gleiche Rechte, gleichen Schutz derselben gewährt, ist ihr Wunsch und ihr Ziel.
D. Herausg. ~
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/Polen, das Prahlerland, und Rußland, das Land der Tücke, sind beide slavischen Ursprungs. Sie scheinen der Civilisirung nicht recht fähig zu seyn. Die Einwohner des ersten wollen Freiheit und Gesetz, aber keine vollziehende Gewalt, welches Begehren doch ganz abgeschmackt ist. Sie haben etwas von den Spaniern und Franzosen, es fängt sich etwas bei ihnen mit Pomp an, und endigt sich sehr gemein. Die Russen sind noch zu unbekannt, und es ist nicht rathsam, aus einigen Kleinigkeiten die Nation zu beurtheilen. Die Polen und Russen haben mehr eine orientalische Charactermischung als alle andern Nationen Europens.
/Aufgeklärt und von erweiterten Begriffen zu seyn, sind große Lobsprüche für ein Volk, aber auch sehr von einander zu unterscheiden; denn es kann ein Mensch, der viel gelernt hat, doch noch immer eng an Begriffen seyn; viele Leute kommen zwar zu Kenntnissen, aber wenige zu Begriffen. Geschichte und Geographie verhelfen uns zu erweiterten Begriffen und ein Mensch, der in geographischen Kenntnissen sehr eingeschränkt ist, ist auch gemeiniglich sehr eng von Begriffen. Leute von eingeschränkten Begriffen sind stolz und voll Eigenliebe. Die Engländer haben die ausgebreitetsten Begriffe unter allen Völkern. Ein Mensch von solchen erweiterten (extendirten) Begriffen wird sich immer um das allgemeine Weltbeste bekümmern, und sich nicht bloß an der Wohlfahrt seiner Familie und dem engen Bezirke seines Vaterlands begnügen; er wird für das Heil der ganzen menschlichen Gesellschaft sorgen, und eben daher kein strenger Patriot seyn, dessen Ruhm auch in der That nicht viel zu bedeuten hat. "In der Natur des Evangelii, wenn es recht verstanden wird, liegt der ausgebreitetste Begriff, alle Menschen glücklich zu ma-_
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/chen, und schon deswegen verdient dasselbe alle Achtung."
/Ein aufgeklärtes Volk ist das, worin einzelne Personen für sich denken, und nicht Andere für sich denken lassen. Man findet in der That, daß diejenigen Nationen, in deren Sprache die lateinische starken Einfluß hat, sehr viel Bildung haben. Dies kommt vornehmlich von den Römern her. Diese Völker sind besonders die Franzosen, Italiener, Engländer und Spanier. Wenn das Publicum anfängt, auf das acht zu geben, was für dasselbe Interesse hat, so ist dies das wahre Kennzeichen eines aufgeklärten Volks, wovon das vorzügliche das französische ist. Hingegen die russische Nation ist wohl disciplinirt, auch einigermaßen cultivirt, doch mehr was die Capacität als die Facultät betrift. Eben daher, weil ihre Begriffe gar nicht erweitert sind, haßt sie alle Nationen, mit Ausnahme der Engländer.
/ ≥ Von dem Character der Menschheit und der Geschlechter. ≤
/Je mehr wir die Natur studiren, desto mehr finden wir Mannigfaltigkeit, aber zugleich auch die vollkommenste Einheit der Verknüpfung. Dies fällt uns auch bei genauer Betrachtung in Ansehung beider Geschlechter in die Augen.
/Um den ganzen Menschen zu studiren, dürfen wir nur auf das weibliche Geschlecht unsere Augen richten; denn da, wo die Kraft schwächer ist, ist das Werkzeug selbst um so viel künstlicher. Wir müssen sagen: alles, was in der Natur liegt, ist gut, denn sie ist der Maasstab des Guten. Die Natur hat in das weibliche Geschlecht eine natürliche Anlage zur Kunst gelegt. Der Mann ist
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/geschaffen, um über die Natur zu gebieten, und das Weib, um den Mann zu regieren.
/Zum Ersten gehört viel Kraft, zum Zweiten viel Geschicklichkeit. Man kann sagen, der Mann ward gemacht zur Gewalt über die Natur, und die Frau zur Gewalt über den Mann, und durch den Mann über die Natur. Die Keime, die in der Natur liegen, entwickeln sich nur nach Gelegenheit der Umstände; daher können wir bloß in dem Zustande, wo alle ordentlichen Anreize verborgen liegen, die Natur recht entfaltet sehen; folglich werden wir auch, um die weibliche Natur recht genau kennen zu lernen, und ihre Triebfedern zu bestimmen, dieselbe in keinem andern, als in ihrem gesitteten Zustande zu erwegen haben; denn im rohen Zustande der Wilden sind die Weiber von den Männern gar nicht unterschieden, weil auch hier selbst ihr großer Einfluß auf das männliche Geschlecht weg fällt.
/Bei den Wilden ist das weibliche Geschlecht sehr in Verachtung; bei den gebildeten Völkern aber kann es mehr seine Künste bei den Männern gebrauchen; im gesitteten Zustande verhält es sich also gerade umgekehrt, weil hier das weibliche Geschlecht auch zugleich die Ursache des verfeinerten Zustandes ist. Die Weiblichkeit nennt man Schwächen, wenn sie der Mann an sich hat; bei dem Frauenzimmer hingegen sind diese Schwächen (wenn man sie in dieser Absicht so zu nennen noch das Recht hat,) gar kein Tadel, aber Männlichkeiten bei Frauenzimmern sind immer etwas Unschickliches.
/Diese Weiblichkeiten sind jedoch Schwächen, deren sich ein Frauenzimmer zu schämen hat. Ueber diese Schwäche zu spotten, heißt eigentlich sich selbst verspotten, nämlich deshalb, weil man sich durch diese Schwäche einnehmen, durch sie von etwas leicht ablocken und überreden läßt.
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/Der Zweck der Natur bei der vollkommensten Einheit der Verknüpfung zwischen zwei so sehr unterschiedenen Geschlechtern war: 1) die Art zu erhalten, und sodann auch: 2) den gesellschaftlichen Zustand im menschlichen Geschlechte zu befördern. -_
/Nach dieser Voraussendung gehen wir zum Character dieser beiden Geschlechter fort. Die Versöhnlichkeit ist dem Manne mehr als dem Weibe eigen. Der Mann ist leicht zu erforschen, allein das weibliche Geschlecht kann seine Geheimnisse gar wohl verbergen, nur kann es Anderer Geheimnisse nicht leicht.
/Der Mann ist ziemlich unachtsam in Ansehung der Beobachtung Anderer und giebt leicht dem Urtheile Anderer nach; auch läßt er sich leicht überreden, von seinem Vorsatz abzugehen; bei dem Frauenzimmer hingegen findet gerade das Gegentheil statt.
/Der Mann liebt immer den Hausfrieden, wenn er auch noch so streitsüchtig außer dem Hause ist, und räumt daher alles ein; allein die Frau scheuet den Hauskrieg nicht, sondern sieht ihn als eine angenehme Bewegung an.
/Daß der Mann den Hausfrieden liebt, kommt wohl daher, weil er das Haus für seine Ruhestelle hält; aber er verliert hierdurch viel bei dem Weibe.
/Es ist auch eine Eigenschaft der Frauenzimmer, beredt zu seyn; sie können von Dingen, von denen sie nicht viel verstehen, viel schwatzen. Die Neigung zur Veränderung und zur Herrschaft ist, wie Pope sagt, die vornehmste des Frauenzimmers. Die Erfahrung bestätigt es auch, daß dies Geschlecht die meiste Neigung zu herrschen hat; aber alle diese Vortheile würde es verlieren, wenn es beherrscht würde. Daher räumen wir auch willig die Herrschaft über uns dem andern Geschlecht ein, und fordern dieselbe gern von ihm, ja wir affectiren auch oft
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/eine Neigung zu einem Frauenzimmer, um ihm die Macht in die Hände zu geben, über uns zu herrschen.
/Die Schönthuerei (Galanterie) ist der erste Anfang zu einem verfeinerten und gesitteten Zustande; aber hier müssen wir Sitten und Tugend wohl unterscheiden. Das Princip der männlichen Sitten ist die Tugend, der weiblichen die Ehre, und was die Welt thut, thut das Frauenzimmer auch. - Bei den Teutschen haben die Weiber schon von jeher, selbst da sie noch in Wäldern wohnten, einen sehr großen Einfluß auf die Männer gehabt. Hieraus können wir schließen, daß diese lange nicht so roh und ungesittet gewesen seyn müssen, als es jetzt die Wilden in Amerika und anderwärts sind.
/Der Mann ist mit der Art von Stolz des Frauenzimmers, vermöge dessen es Sicherheit zeigt, zu gefallen, immer recht wohl zufrieden; daher bestärkt auch die Höflichkeit gegen das Frauenzimmer diesen Stolz.
/Die Verdienste des Mannes bewirken bei dem Frauenzimmer nicht so viel Achtung, als die Verdienste des Frauenzimmers bei dem Manne. Das weibliche Geschlecht kann nur immer nach dem Maaße, als die Männer verfeinert und gesittet sind, einen Einfluß auf diese haben. So lange der Mann noch nicht an die Gesellschaft mit Frauenzimmern gewöhnt ist, pflegt er beständig eine geringere Meinung von sich in Ansehung deren Urtheils zu haben, weil er glaubt, daß nichts ihren critischen Augen verborgen bleiben könne.
/Der Gesichtspunct, woraus wir alle Schwächen des Frauenzimmers (doch nach der größten Weisheit eingerichtet) betrachten, ist folgender: die Natur hat dem Schooße des weiblichen Geschlechts die Art oder das menschliche Geschlecht zu erhalten eingepflanzt; um dieses Geschenk treulich zu bewahren, ist in dasselbe auch zugleich eine Furcht vor allem, was Gefahr bringt, ge-_
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/legt, welches dasselbe so behutsam macht und abhält, etwas zu wagen, was mit Gefahr verbunden ist. Daher wird man auch nie, so gar unter den wilden Völkern, das Frauenzimmer in den Krieg ziehen sehen; daher ist alles, was von den Amazonen in dieser Absicht gesagt wird, ein Hirngespinst eines Fabeldichters gewesen.
/Was den Geschmack betrifft, so hat das Frauenzimmer gar viel Beurtheilung davon, aber wenig Neigung dazu, so daß man mit Recht sagen kann, daß der Mann viel feiner und krittlicher in der Wahl als das Frauenzimmer sey. Der Grund davon liegt in der Sache selbst; denn da das weibliche Geschlecht gesucht werden soll, so muß es auch nicht so feinfühlend seyn, als das männliche Geschlecht, welches sich eine Person, die ihm gefällt, aussuchen kann.
/Jedes Geschlecht ist für den Geschmack des Andern bestimmt; nun ist der Mann gröber geschaffen, also hat das Frauenzimmer einen gröbern, der Mann aber einen feinern Geschmack. Das Frauenzimmer ist ein Gegenstand des Geschmacks, daher bemüht es sich, nur zu gefallen, sucht aber nicht so sehr das, was ihm gefällt. Das Frauenzimmer ist nicht freigebig, und es läßt auch nicht, wenn es dasselbe ist. Der Mann verdient, die Frau erspart. Die Frau sucht den häuslichen Vortheil, der Mann ist fähig, das öffentliche Beste zu suchen. Hiobs und Socrates Weiber scheinen nur sehr häuslich, sonst nicht sehr böse gewesen zu seyn.
/So behauptet man auch mit Recht, daß der Mann wirklich zärtlicher sey als die Frau; denn diese fordert von ihm, daß er sich ihrentwegen Ungemächlichkeiten aussetzen, soll. Diese nimmt der Mann auch gerne über sich, um die Frau zu befreien, folglich muß das männliche Geschlecht in Ansehung der empfindlichen Zärtlichkeit in der That einen Vorzug vor dem weiblichen haben. Die
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/Empfindlichkeit ist eine Schwäche, die Empfindsamkeit aber eine Stärke. Erstere besitzen die Weiber; letztere die Männer. Hingegen in Ansehung der Verzärtelung behauptet das weibliche Geschlecht den Rang vor dem männlichen. Das weibliche Geschlecht ist weigernd, das männliche bewerbend. Das weigernde Geschlecht muß dreust seyn, und dies rechnet man zur Galanterie.
/Der Mann ist nur dann eifersüchtig, wenn er verliebt ist, die Frau ist es aber auch, wenn sie nicht verliebt ist. Die Frau muß noch im Ehestande allgemein zu gefallen suchen, und hierüber kann auch kein Mann eifersüchtig seyn; denn das ist ungerecht. Oft zeigt sich auch die Eifersucht wegen des Ansehens und Standes, oft aber auch aus Liebe. Unter sich ist das Frauenzimmer lange nicht so verträglich als die Männer. Eine Toleranz in der Ehe gereicht dem Manne jederzeit zum Schimpfe, und der Mann wird auch mit Spott belegt, wenn er der beleidigte Theil ist, weil er in beiden Fällen doch immer Schuld hat.
/Dem weiblichen Geschlechte muß man etwas nicht als Pflicht vortragen, sondern immer aus dem Puncte der Ehre. Die Ursache, daß die Frauenzimmer nicht gern von Pflicht hören, ist, weil sie eine Neigung zu herrschen haben.
/Das Frauenzimmer putzt sich gemeinhin für das Urtheil anderer Frauenzimmer. Mit dem Manne ist es gemeiniglich umgekehrt.
/Die Zärtlichkeit der Männer ist grillig, die Zärtlichkeit des Frauenzimmers aber empfindlich.
/Die Ehre des Mannes besteht darin, was die Leute denken, des Frauenzimmers aber, was sie sprechen. Die Frau soll herrschen, der Mann regieren; denn die Neigung herrscht und der Verstand regiert.
/Die Herrschaft erlaubt Launen, die aber bei dem
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/Verstande nicht statt finden. Die häuslichen Gesetze schreibt der Mann vor, wobei er aber alles so veranstalten muß, daß die Frau immer das Ansehen der Herrschaft behält. So herrschen die meisten Prinzen, aber die Minister regieren.
/Das Vergnügen im Hause muß man der Frau überlassen, aber die Ehre und Ruhe desselben ist die Angelegenheit des Mannes. Das Frauenzimmer denkt immer, daß die Neigung zum andern Geschlecht nicht vergehen werde, wohl aber, daß die Lust zu heirathen vergehen könne, und es alsdann als Buhlschwester angesehen würde, wenn keine Heirathen statt fänden. - Hume bemerkt in seinen philosophischen Versuchen, daß das Frauenzimmer eine Satyre auf ihr Geschlecht sehr wohl vertrage, nie aber einen Spott auf den Ehestand. Die Ursache liegt ohnstreitig in Folgendem: durch die Ehe wird das Frauenzimmer auf einmal frei, da es vorher im ehelosen Stande entsetztlich vom Anstande gequält wurde. Der Mann dagegen verliert durch eben diesen Stand seine Freiheit. Daher nimmt man es auch dem Manne nicht übel, wenn er unverheirathet ist. Hingegen einer schon erwachsenen Frauensperson gereicht bei uns der ehelose, und im Orient der kinderlose Stand zum großen Vorwurfe. - Da der Ehestand ein ausschließender Besitz des Gegenstandes der Geschlechtsneigung ist, so ist auch die Eifersucht, welche der Nachsicht entgegen gesetzt ist, ganz natürlich, ja eine Frau wird sogar den Mann hassen, der nicht eifersüchtig ist, weil dies ein gewisses Kennzeichen ist, daß er sich nicht viel aus ihr macht. Die Unduldsamkeit der Männer ist der ganze Vorzug der Ehe, sonst ist der Zweck verfehlt; denn der Mann will der Besitzer eines Frauenzimmers seyn, und wäre keine Eifersucht im männlichen Geschlechte, so würde keine Ehe statt finden; denn die Sicherheit über die ächte Abstammung der Kinder ist die erste Bedingung
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/für die Sorge ihrer Erhaltung; hiervon muß der Mann völlig überzeugt seyn.
/ ≥ Von dem Character der ganzen Menschengattung. ≤
/Gehört der Mensch zu den vierfüßigen Thieren oder nicht? Es finden sich viele Ursachen anzunehmen, daß er anfänglich auf 4 Füßen gegangen sey (nach der Anatomie), aber dies läßt sich doch nicht so ganz glauben, weil die Arme kürzer als die Füße, und die Knie nach vorne gebogen sind, da sie bei andern Thieren hinterwärts gehen.
/Der Embryo des Menschen hat an den Füßen das Callum auf den Sohlen, wie alle vierfüßigen Thiere, es fehlt aber gänzlich auf den Händen. Also ist er kein vierfüßiges Thier. Ist der Mensch mit dem Orangoutang verwandt? Von außem sieht er ihm sehr ähnlich, allein sein Knochenbau ist ganz von ihm unterschieden, und alles übrige auch; daher kann man dergleichen Vermuthungen ganz bei Seite setzen.
/Ist der Mensch ein kräuter- oder fleischfressendes Thier? Der Mensch hat wie andere fleischfressende Thiere einen häutigen und andere haben einen muskulösen Magen; dem Magen nach ist also der Mensch ein fleischfressendes Thier; er hat aber auch lange Gedärme, wie die krautfressenden Thiere. Man findet bei den Völkern, die lauter Pflanzenkost essen, eine sehr große Schwäche, und unter den Thieren, die Kräuter fressen, auch. Ein englischer Arzt hat durch lange Beobachtung der Zähne von allerlei Thieren ausgemittelt, daß der Mensch bestimmt sey, 1/3 Fleisch 2/3 Pflanzenkost zu essen. Also könnte der Mensch eigentlich das Mittel zwischen kräuter- und fleischfressenden Thieren seyn.
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/Die Entdeckung, was für Keime in der Menschheit verborgen liegen, giebt uns zugleich die Mittel an, welche wir anzuwenden haben, um die Auswicklung dieser natürlichen Anlagen zu beschleunigen. Ohngeachtet der Einheit der menschlichen Gattung ist doch eine Verschiedenheit der Racen anzunehmen, deren besonderer Character in die physische Geographie gehört.
/Wenn der Mensch dazu bestimmt war, selbst der Urheber aller seiner Geschicklichkeit, ja selbst der Gutartigkeit, durch Entwickelung seiner innern Anlagen zu werden, so müssen wir, so weit wir nur können, in die vorige Zeit zurück gehen, um uns den rohesten, als den ersten Zustand zu denken. Natürlich muß dieser nur der seyn, welcher bloß den kleinsten Theil der menschlichen Bedürfnisse enthält. Die ersten Geschicklichkeiten, die wir auch bei den rohesten Menschen antreffen, sind Gehen und Sprechen.
/Wie hat der Mensch sprechen gelernt? Mit dieser Fähigkeit begabt, konnte er nicht in die Welt gesetzt werden; denn sonst hätte er auch schon alle Begriffe haben müssen, wovon die Wörter nur Zeichen sind. War auch dem ersten Menschen die Sprache anerschaffen; so konnte er doch in Umstände kommen, sie wieder zu verlieren und er mußte die Geschicklichkeit besitzen, sie wieder zu erfinden, wenn sie verloren gegangen war. Der Mensch hat also die Sprache nach und nach erfunden, so wie die Vögel singen, und die Hunde bellen gelernt haben; denn eben so wenig, als den Vögeln der Gesang anerschaffen ist, weil er sonst auch angeboren seyn müßte, welches aber der Erfahrung widerstreitet, eben so kann dies auch nicht von der Sprache des Menschen gelten. Die Sprache des Menschen scheint dadurch entstanden zu seyn, daß er seine Empfindungen durch Töne ausdrücken gewollt hat; daher findet man, daß die Töne mit den Em-_
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/pfindungen übereinkommen. Sobald der Mensch gehen und sprechen konnte, legte er sich auf die Jagd, sodann auf das Anschaffen des Hausviehs, indem er die damals noch wilden Thiere zu zähmen anfing, wodurch er einen mächtigen Schritt zu seiner Vervollkommnung that. Hierauf folgte die Auffindung der Metalle, besonders des Eisens, welches eine sehr große Bewegung unter den Menschen und Thieren muß gemacht haben. Nachher wurde die Schreibekunst, und endlich das Geld erfunden.
/Bei der Thierart erlangt jedes Individuum seine Bestimmung, hingegen bei dem menschlichen Geschlechte kann nie ein einzelner Mensch, sondern nur die ganze Menschengattung ihre Bestimmung erreichen, ohnerachtet der Mensch von Natur wie ein Thier ausgerüstet ist. - In der Menschengattung ist dies zweckwidrig, daß nie das Individuum, sondern die Species ihre Bestimmung erreicht. Dies ist eine Mitursache zur Gesellschaft, zu der der Mensch eigentlich geschaffen ist. Alle arbeiten für Einen, und Einer arbeitet für Alle, da jedes Thier seine Speise sich suchen kann, ohne Hülfe Anderer. Allein eben so wohl aus diesen innern Anlagen in dem Menschen, als im Thiere entspringen auch alle die Hindernisse, welche sich der Ausbildung seiner Humanität entgegen setzen, die doch sein vornehmster Zweck und seine Bestimmung seyn soll. Um auf die wahre Bestimmung des Menschen zu kommen, ist zu merken, daß er ein Thier ist, das sich selbst vervollkommnen kann, die Thiere aber vermögen dies nicht. Dies ist aber noch das Wenigste, die ganze Menschengattung soll sich vervollkommnen, und dies ist weit wichtiger.
/Alles nimmt immer zu Erfindungen und zur Vervollkommnung seine Zuflucht; alles kommt seiner Bestimmung näher, und wir können hoffen, daß es noch einmal dahin kommen werde, daß sich alles vervollkommne, und sei-_
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/ne Bestimmung erreiche, wo keine Veränderungen vorgehen, keine Staaten stürzen, kein Streit, keine Unruhe mehr entstehen werden. Dies hat große Aehnlichkeit mit dem Menschenalter, und die Zwischenzeit bis zur Vervollkommnung ist, wie die Zwischenzeit der Mündigkeit der Natur, und der Mündigkeit eines Menschen d.i. das Jünglingsalter.
/Um dieses deutlicher zu machen, ist es nothwendig, hier die Eintheilungen des Menschenalters nebst dessen Erklärung anzuführen. Ein Kind ist der, welcher weder sich selbst erhalten, noch seine Art fortpflanzen kann. Ein Jüngling kann zwar seine Art fortpflanzen, auch vielleicht sich selbst, aber nicht seine Familie erhalten. Die Natur macht keinen Unterschied unter dem Jünglinge und dem Manne, aber desto größer macht ihn die Versittigung und der bürgerliche Zustand; daher sind auch in dem rohen Zustande keine Heirathen nöthig. Der Mensch, der alles dies zu thun im Stande ist, ist ein Mann. Die bürgerliche Mündigkeit fängt erst ungefähr im 30. Jahr an; die Mündigkeit der Natur tritt schon im 15. Jahr ein. - Ehe der Mensch erzogen (d.i. disciplinirt), also noch in dem ersten Zustande war, war er wild; bevor er versittigt wurde, und in eine menschliche Gesellschaft trat, war er grob, und ehe er sittlich gut (moralisirt) wurde, d.h. ehe seine Handlung aus moralischen Triebfedern entstehen, ist er böse.
/Der rohe Mensch hält jeden Fremden für seinen Feind. Daher ist bei den Wilden jener der Vornehmste, der der Tapferste ist; aber hieran ist die Furcht schuld. Eigentlich scheint die Absicht der Natur diese gewesen zu seyn, daß der Mensch sich auf der Erde verbreiten möchte, welches sonst nicht würde geschehen seyn,. wenn sie friedlich beisammen gewohnt hätten.
/Der Mensch hat von Natur einen Hang sich zu ver-_
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/stellen. Dies zeigt sich bei den Wilden; denn jeder Mensch hat doch gewisse eigene Heimlichkeiten, die nicht jedermann wissen soll.
/Bisher giebt es noch keinen moralischen Zwang unter den Menschen, als den Zwang der Anständigkeit, allein wir haben Grund, ihn zu hoffen. Der Mensch ist dazu bestimmt, in Gesellschaft zu leben, und alles Mistrauen, welches noch jetzt bei Menschen unter einander herrscht, hat seinen Grund in ihrer Thierheit. Im Ganzen genommen geht der Fortgang immer vom Bösen zum Guten, nicht aber umgekehrt; denn das Böse widerstreitet sich jederzeit selbst, und treibt uns an, ein Mittel hervorzusuchen, um diesen Widerstreit zu heben; aus dieser Ursache ist es auch in der That eine Triebfeder des Guten; da hingegen das Gute mit allem Daseyenden vollkommen zusammenstimmt, so kann es uns auch nie dazu bewegen, etwas anderes, das nicht gut ist, d.h. etwas Böses hervorzubringen, und ist folglich, wenn es nur erst recht seinen Anfang genommen hat, ein beharrlicher Zustand. Eben so, wenn das moralische Böse eine Triebfeder des Guten ist, so ist auch das physische Uebel ein Stachel zur Thätigkeit, welcher um so viel mehr nothwendig ist, da der Mensch von Natur träge ist.
/Im rohen Zustande findet auch bei dem Menschen eine große Ungeselligkeit statt, welche aus der Furcht entspringt, die darinnen gegen einander herrscht; daher tritt nur eigentlich in einer bürgerlichen Verfassung der Zeitpunct ein, wo sich die Talente des Menschen recht entwickeln können. Demohngeacht ist die Versittigung (Civilisirung) noch lange nicht der gehörige Grad von Verbesserung, sondern zur Bestimmung des Menschen ist es auch noch unumgänglich nothwendig, daß er seinen Character bessert und daß er moralisirt wird, wovon die Triebfedern auch in den bürgerlichen Gesellschaften liegen,
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/so daß der wahre Werth eines Volks nur darin zu bestehen scheint, daß es dieser seiner Endbestimmung nahe kommt.
/Thierheit und Instinct zusammengenommen finden bei den Thieren statt, und sind ganz gut, weil hier alles zusammenstimmt. Freiheit und Vernunft, welche beide bei dem Menschen nach seiner wahren Bestimmung statt finden sollten, sind auch gut. Hingegen Thierheit und Freiheit, die sich in dem wilden Zustande bei dem Menschen zeigen, sind die Quellen der Triebfedern alles Bösen und der Ursprung desselben.
/Der Mensch ist ein Geschöpf, welches einen Herrn nöthig hat, den nicht einmal die Thiere bedürfen. Die Ursache ist die Freiheit und der Misbrauch derselben; das Thier hingegen wird sicher von seinem Instincte geleitet. Diesen Herrn kann nun der Mensch aus keinem andern Geschlechte als aus seiner Menschengattung hernehmen, welches aber ein wahres Unglück für das menschliche Geschlecht ist, da eben dieser Herr, den der Mensch über sich wählt, auch ein Mensch ist, der ebenfalls einen Herrn nöthig hat.
/Hierin liegt auch der Grund, daß eine vollkommene bürgerliche Verfassung aus Menschen gar nicht zu Stande zu bringen ist. - Einen Menschen, der keinen Herrn hat, kann man völlig einen freien Menschen nennen; da er aber sodann gewiß seine Freiheit misbrauchen würde, so könnte man ihn auch einen Wilden nennen. Wenn der Mensch in Gesellschaft ist, so kommt ihm das Recht des Andern in den Weg, weshalb Richter erforderlich sind; die Ungemächlichkeiten fangen an hier größer zu werden, indem der Eine den Andern immer nöthig zu haben glaubt; dann entsteht die Ungleichheit der Glüksgüter, und des Ansehens. Es findet sich eine Ungleichheit der Stände; der Vornehmere gebietet, und der Geringere
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/dient. Nun ist noch keine richterliche Gewalt und kein Gesetz da. Die Nationen gerathen in Eifersucht, die Eine ist stärker als die Andere, und sie gerathen in Krieg. Hier müssen sie in eine bürgerliche Verfassung treten, d.h. in eine Verfassung, welcher Gesetz und Gewalt zum Grunde liegen.
/Ein Volk ist mehr in dem Zustande, sich gegen Andere zu beschützen, als sich selbst zu regieren. Hingegen ein gemeines Wesen regiert sich schon selbst, und besteht in einer systematischen Verfassung des Volks, wobei ein Unterschied der Stände statt findet. - Ein Volk, vereinigt in einem gemeinen Wesen, insofern es Macht hat, nennt man einen Staat. Das Verhältniß der Staaten gegen einander ist das Verhältniß der Wilden; denn wie diese unter keinen Gesetzgebern stehen, und von allem Zwange untereinander befreit sind, so gilt auch dieses von jenen, indem jeder Staat bloß sein eigenes Wohl besorgt, ohne einem Andern deshalb Rechenschaft geben zu dürfen. Dies zeigt aber offenbar von einer noch vorhandenen Barbarei.
/Die Haupterfordernisse zu einer bürgerlichen Gesellschaft sind die Freiheit, das Gesetz, und die Gewalt. Die Freiheit und die Gewalt ohne das Gesetz machen den Naturzustand aus, aus welchem die Menschen herausgehen sollen, weil sie Vernunft haben. Die Freiheit und das Gesetz ohne die Gewalt könnte man die polnische Regierung nennen; eine wunderbare Grille, worauf der Adel in diesem Lande gefallen ist, und die ganz etwas Widersinniges und Widersprechendes enthält.
/Dies ist der erste rohe Entwurf zu einer bürgerlichen Verfassung. Das Gesetz und die Gewalt ohne die Freiheit sind der Despotismus. Dieser ist eigentlich barbarische Gewalt ohne Gesetz; doch ist dies noch besser als barbarische Freiheit, weil im ersten Falle doch noch Bil-_
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/dung möglich ist. Die ächte bürgerliche Verfassung ist sehr künstlich, und besteht darin, daß der Mensch so viel Freiheit hat, als statt finden kann, und als sich mit der Beschränkung der Freiheit Aller nach dem (gerechten) Gesetze verträgt. Hier muß ein Gesetz seyn, und so viel Gewalt, als nöthig, das Gesetz zu vollziehen.
/Eine vollkommene bürgerliche Verfassung ist nicht eher möglich, als bis gebildete Unterthanen vorhanden sind, welche gar keine andere Verfassung und Regierung leiden. Daher muß man die Menschen aufzuklären, und das Völkerrecht besser einzurichten suchen. Die bürgerliche Verfassung der Römer schien besser zu seyn als jene der Griechen, aber doch war noch vieles daran nicht recht, besonders was den Streit der Patricier und Plebejer betrift. Hieraus sieht man, daß vieles, wovon man glaubt, es habe die Ausbildung rückgängig gemacht, ihr in der That nützlich gewesen ist. Die Freiheit unter einem Gesetz und mit dem Gesetze verbunden, besteht darin, daß die Gesetze so gegeben werden, als ob sie durch die allgemeine Stimme des Volks entstanden seyn. Diese Gesetze müssen auf Alle gehen, für Alle gelten und von Allen gegeben werden können; dann verdienen sie erst den Namen gerechter Gesetze. Wenn also Freiheit, Gesetz, und Gewalt zusammen statt finden, so ist die bürgerliche Verfassung die regelmäßigste und beste. In jedem Staate muß ferner ein Staatsoberhaupt seyn. Dieses kann nun entweder als ein Oberherr (Souverain) oder als ein Regent betrachtet werden. Nach der Natur der Sache kann nur das Volk ein Gesetz geben; denn was das ganze Volk beschließt, ist gewiß immer Recht, weil es sein eigener Wille ist. Nun kann aber nur derjenige Gesetzgeber seyn, welcher im Stande ist, gerechte Gesetze zu geben; folglich kann die oberherrliche Macht (Souverainität) nur bei dem Volk, die Regierung aber bei ei-_
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/nem Andern seyn. Die Souverainität kann man auch die Oberherrschaft nennen, welche entweder despotisch oder patriotisch ist. Patriotisch heißt sie, wenn das Staatsoberhaupt den Staat nicht als sein Gut, sondern als sein Vaterland regiert, d.h. eine Regierung, welche für den Staat als ein Ganzes sorgt, dessen Bestes nicht nur während der Lebenszeit des Regenten, sondern immer fortdauern soll. Eine Staatsverfassung ist despotisch, wenn das Oberhaupt auch die Gewalt in Händen hat.
/Eine Regierung kann entweder despotisch oder aristocratisch oder auch demokratisch seyn. Ein Monarch ist ein negativer Begriff, und heißt eigentlich ein solcher, über den keine Gewalt mehr im Staate ist; folglich der selbst keiner Gewalt unterworfen ist. Jetzt ist bei uns zwischen allen diesen Regierungsarten eben kein beträchtlicher Unterschied, weder in Ansehung der zeitlichen Wohlfahrt der Nationen, noch in Absicht der Sitten.
/Ob aber nicht einmal mit der Zeit eine vollkommnere bürgerliche Verfassung zu Stande kommen wird, läßt sich nicht eher hoffen, als bis sich die Menschen, und ihre Erziehung gebessert haben werden; diese Besserung scheint aber wieder nicht eher vor sich gehen zu können, als bis die Regierungen selbst besser seyn werden. Wovon man anfangen wird, kann man nicht errathen; vielleicht wird sich beides einander begegnen, welcher Zeitpunct jedoch noch weit hinaus zu setzen ist.
/Der Gesichtspunct, aus welchem besoders Fürsten die Staaten betrachten sollten, muß nicht blos patriotisch, sondern auch cosmopolitisch seyn, d.h. auf das allgemeine Beste gehen. Bürger eines Staats können und dürfen nicht cosmopolitsche Absichten haben, mit Ausnahme der Gelehrten, welche der Welt mit Büchern nutzen können, sondern dies ist die Angelegenheit des Fürsten, welches eben so sehr vernachläßigt worden ist, daß es bis-_
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/her noch keinen Monarchen gegeben hat, welcher etwas gethan hätte, wobei er das ganze Weltbeste zum Augenmerk genommen hätte: z. B., die Schlacht des Miltiades, kann man sagen, gab beinahe der ganzen Bildung der Menschen den Ausschlag. Wäre Griechenland unter Persiens Herrschaft gekommen, so wären die Wissenschaften erdrückt worden. Um nun die Ehrbegierde der Fürsten anzureitzen, solchen erhabenen Zwecken nach zu streben, und für das Wohl des ganzen menschlichen Geschlechts zu arbeiten, würde eine Geschichte, die blos aus cosmopolitischer Absicht geschrieben wäre, von erheblichem Nutzen seyn. Eine solche Geschichte müßte bloß das Weltbeste zu ihrem Standpuncte nehmen, und nur diejenigen Handlungen des Andenkens der Nachkommen würdig machen, welche die Wohlfahrt des ganzen menschlichen Geschlechts beträfen. *1
/~ *1 Kant selbst hat eine Revolution in der geistigen, und eine Reform in der philosophischen Welt bewirkt und die politische, welche früher oder später die ganze gebildete Erde umgestalten wird, hat er auch noch erlebt. Daß Gewalt, Gesetz und Freiheit mit einander im Einklange wirken, dieser Wunsch, diese Forderung Kants, ist in einem großen Theile Europens schon zur Wirklichkeit worden. Die Aufgabe lautet: was ist zu thun, um eine allgemeine Rechtsherrschaft unter öffentlichen Gesetzen zu begründen? Zur Erreichung dieser Absicht ist eine Theilung der Gewalten erforderlich, welche das Recht in die Wirklichkeit einführen, und seine Herrschaft durchgängig aufrecht erhalten. Durch diese Einrichtungen werden jedem seine Rechte, sowohl seine angebornen als erworbnen, gesichert und das Beste Aller befördert.
/D. Herausgeber.~
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Stand: Sommer 1997
Datum: 18.04.2007