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/Titelblatt_0

/ ≥ Anthropologie

/von

/Emanuel Kant. ≤

/Titelblatt_1

/ ≥ Inhalt Seite ≤

/

/1.) Von der Schwierigkeit und Leichtigkeit 23.

/2.) Von der Attention und Abstraction 24.

/3.) Vom Gebrauch der Sinne 45.

/4.) Vom Betruge der Sinne 49.

/5.) Vom Wiz und Urtheilskraft 92.

/6.) Von den Ideen 112.

/7.) Vom Ideal 113.

/8.) Träumerei, oder v. Zustande d. unwillkürl. Dichtens. 114.

/9.) Von den Träumen. 114.

/10.) Vom Schlafwanderer 116.

/11.) Vom Phantasten, gestörten %Mensch, oder vom kranken Zu- 118.

/ stande der Seele.

/12.) Von der Erstarrung. 120.

/13.) Enthusiasmus. 120.

/14.) Von der Störung. 122.

/15.) Wahnwiz und Dummheit. 123.

/16.) Unterschied der Narrheit und Thorheit. 125.

/17.) Von der Vor<her>sehung. 135.

/18.) Von der Praesagition 137.

/19.) Von der Traumdeuterei 139.

/20.) De facultate characteristica 141

/21.) Von den eigentl. Sinnbildern und Symbolen 142.

/22.) Vom Wiz und Scharfsinnigkeit. 148.

/Titelblatt_2

/Seite

/23.) Vom Lachen 158

/24.) von den obern Erkenntniskräften 168

/25.) von der gesunden Vernumft. 179

/26.) Von der Gemüthsfähigkeit. 185

/27.) Vom Genie 190

/28.) von der Lustigkeit und Traurigkeit 195.

/29.) Bedingungen des Geschmaks 201

/30.) Vom Nuzen der Kultur des Geschmaks 215.

/31.) vom Wohlgefallen und Mißfallen. 226.

/32.) v. d. vernümftigen %Urtheilskraft. 235.

/33.) vom Begehrungsvermögen. 236.

/34.) Gegenstände unsrer Affekte 246.

/ und Leidenschaften

/35.) Vom Charakter der Menschen. 251.

/36.) vom Naturell 257.

/37.) Vom Charakter 259.

/38.) Von der Physionomie. 259.

/39 : vom Nationalcharakter. 260.

/40 Vom Charakter der Geschlechter. 262.

/Rest_leer

/Seite 1

/ ≥ Anthropologie

/Die empirische Psychologie ist eine Art von Naturlehre.
Sie handelt die Erscheinungen unsrer Seele ab, die
ein Gegenstand unserer Sinne sind, nämlich des inneren
Sinnes sind, und ausmachen, und zwar auf eben die
Art wie die empirische Naturlehre oder Physik, die Er-
scheinungen abhandelt. Man sieht also gleich ein, wie
wenig diese Lehre ein Theil der Methaphysik ausma-
chen kann. Da diese lediglich die conceptos puros
oder die Begriffe die entweder blos durch die Ver-
numft gegeben sind, oder doch wenigstens deren Er-
kenntnisgrund in der Erfahrung liegt, zum Vorwurf
hat. Es kommt dieser Irrthum blos daher, weil
die alten noch wenige Erfahrungen der Seele ge-
sammelt hatten, theils weil sie nicht wußten, wo sie
dieser Lehre einen Plaz einräumen sollten, denn
sie hielten die ganze Methaphysik für eine ausge-
breitete Psychologie, weil die Seele ein Gegen-
stand des inneren Sinnes ist, aus der Seele aber
alle Verstandesbegriffe entspringen. Da wir nun
aber schon eine ganze Sammlung dieser Quelle der
menschlichen Handlungen, oder der mancherlei Er-
scheinungen der Seele, besonders durch die engli-
schen Schriften erhalten haben, so können wir die-
se Lehre eben so wie die Physik vortragen. Es
ist zu bewundern, daß die Alten sich nicht mehr mit
der %Kenntnis der Menschen beschäftigt haben, ob
sie gleich diese Bemühung für die nüzlichste erklär-
ten. Es ist aber nichts gewöhnlicher, als daß man

/ das

/Seite 2

/das womit man umzugehn gewohnt ist, erkennt zu ha-
ben glaubt, und seiner Untersuchung nicht würdig
hällt. Diese Meinung welche dem Menschen gleichsam ein-
gepflanzt ist, hat den Wißenschaften ungemeinen Ab-
bruch gethan, und uns die Erkenntnis vieler Dinge
entzogen. So lange die empirische Psychologie der Me-
thaphysik angehängt gewesen und nicht besonders
vorgetragen worden ist, so lange ist sie auch von
sehr geringem Umfange gewesen. Sie verdient
auch eine besondre Vorlesung, theils weil sie gar
nicht in die Methaphysik gehört, theils weil sie von
jedem erlernt werden kann, ohne daß dazu vorzügli-
che Wißenschaften erfordert werden. Man kann hier
die Grade der menschlichen Handlungen und Charak-
tere im Zusammenhange kennen lernen, die man hin
und wieder nur in den Wißenschaften und einigen
moralischen Abhandlungen zerstreut findet. Man
kann alsdann jeden Zug der Thorheit, den man
in einer Schrift bemerket, aus seinen Quellen
herleiten und auf die Art seine Kentnisse vom
Menschen sehr vermehren.

/Montagne der vor 200 Iahren ein Buch in altfran-
zösischer Mundart geschrieben hat, ist blos darum bei
jedem vernümftigen Gelehrten bis izt in Achtung,
weil man aus seinem Werke den Menschen nach allen
verschiedenen Umständen kennen lernt, ob er gleich
unangenehm zu lesen ist, weil er immer von sich
selbst spricht. Wir wollen auch bei dieser Abhand-
lung den Menschen in verschiedenen Umständen er-
wägen z. B. im rohen und ungesitteten Zustande,

/ nach

/Seite 3

/nach seinem verschiedenen Alter pp. Der erste Gedan-
ke der beim Menschen, bei dem ersten Gebrauch sei-
nes innren Sinnes aufsteigt, ist das Ich. Es ist merk-
würdig, daß wir uns unter dem Ich soviel vor-
stellen, denn bei Zergliederung deßelben finden
wir, daß wir uns unter demselben folgende
Stücke denken:

/1.) Die Einfachheit der Seele. Denn das Ich drükt nur den
Singularem aus, und wäre die Seele zusammengesezt, und
jeder hätte Gedanken, so müßte es heißen: wir denken.

/2.) Die Substantialitaet der Seele d. i. daß das Ich kein
Praedikat von einem andern Ding ist, ob ihm gleich als
dem Subjekt viele Praedikate beigelegt werden
können. Denn z. B. wenn ich sage: ich will das, o-
der ich denke das, so sondre ich doch alle Praedika-
te von dem Dinge ab, und betrachte mich als Sub-
jekt, von dem alle Dinge praedicirt werden.

/3.) Eine vernümftige Substanz. Denn indem ich das
Ich denke, so empfinde ich zugleich, daß ich mich auch
zum Gegenstande meiner Gedanken machen kann
Hierin aber äußert sich vorzüglich das obre Er-
kenntnisvermögen der Seele oder die Vernumft,
daß es die Untern gleichsam inspicirt, und indem
ich mich zum Gegenstande meiner Gedanken ma-
che, so reflectire ich über die Vermögen, die in
der Seele liegen.

/4.) Die Freiheit der Seele. Wenn ich das Ich denke,
so sondre ich auch von allem andern ab, und denke
mich unabhängig von allen äußern Dingen. Eben
dies nun, daß man das Ich nennt, sich gleichsam zum
Mittel- und Standpunkt aller Dinge macht, woraus

/ alles

/Seite 4

/alles eine Beziehung hat, macht daß man in Gesellschaft
so ungern einen anhört, der immer von sich selbst re-
det, und ob man gleich sich in die Stelle eines andern
setzen kann, der von sich selbst redet, so thut man
es doch ungern, denn man will vielmehr haben, daß
keiner sich zum Standpunkt der Dinge sezt, son-
dern daß von allgemeinen Dingen geredet wer-
de, die auf alle eine Beziehung haben. Daher es nicht
als eine Höflichkeit anzusehen, daß alle Fürsten (der
König von Spanien ist in neuern Zeiten hievon eine Aus-
nahme.) sich nicht ich sondern Wir nennen, weil sie
nämlich vor Zeiten alles mit Bewilligung der Stände
thaten. Das Ich bedeutet im weitlauftigen Sinne den
Menschen und im engern die Seele. Daß die Seele
etwas einfaches und vom Körper unterschiedenes sey,
siehet man daraus, daß wenn auch ein Theil des
Körpers nah am andern zerstört wird, der Mensch
ohne Hände und Füße sich doch noch das ganze Ich nennt.
Die Stoiker und Plato verstanden unter dem Ich nur
allein das unsterbliche Wesen, die Seele, und glaub-
ten, daß sie ihren Körper nur als die Schneke ihrer
Schaale mit sich führen müßte. Sie standen nicht
in dem Wahn, daß sie auf keine Weise beleidigt
werden könnte, weil niemand ihrer Seele etwas
anhaben könnte; wenn er nicht ihren Körper ent-
ehrt. Ein jeder Sklav hielt sie bei ihnen für
frei, denn er hatte eine freie Seele. Die Epiku-
raeer waren auch nicht der Gegenmeinung. Man
muß beim Menschen jederzeit die Thierheit von
der Rationabilitaet unterscheiden. Looke und ein
andrer italienischer Medikus wollen gar behaup- 

/ ten

/Seite 5

/ten, die Menschen wären geneigter auf 4 als auf 2
Füßn zu gehen, weil ihre ganze Leibesconstitution so
eingerichtet wäre, daß sie auf 4 Füßn gehen müßten
und weil daraus, daß sie auf 2 Füßn giengen vie-
le Krankheiten entstehen, denen sie aber im unge-
sitteten Zustande abzuhelfen gewußt hätten, und
wie viel ist ein Hottentot von einem Thier ver-
schieden, wenn man ihm seine Seele nähme. Und
es scheint wirklich, daß wenn man dem Menschen
seine Seele nehmen wollte, er kein gutes zahmes
sondern ein Raubthier werden würde. Es hat
der Mensch also eine doppelte Persönlichkeit, näm-
lich als Mensch und als Seele. Wir sind also ge-
wiß, daß die Seele ein einfaches und von dem
Körper verschiedenes Wesen sey. $psyche$ Seele
bedeutet eigentlich einen Schmetterling, der, nach-
dem er den Wurmbalg abgelegt, ein Vogel wird.
Mit diesem Wurmbalg verglichen die Griechen
den Körper, und der Schmetterling stellet
die Welt vor. Als Anaxarikus auf Befehl ei-
nes Tyrannen in einem Mörser gestoßen
wurde, so sagte er, tunde, tunde Anaxarchium
se Anaxarchi. Wir sehen, daß der Mensch
die Substantialitaet der Seele empfindet. Wir
finden auch, daß unsre Seele zuweilen leidend,
zuweilen thätig ist. Daher nannte schon Lucretius
die Seele in Absicht ihres leidenden Zustandes
animam, und in Rüksicht ihres thätigen Zu-
standes animum. Wir betrachten aber die
Seele aus einem dreifachen Gesichtspunkt, nämlich
1.) als animam (Seele) 2.) animum (Gemüth.) u.
3) als Mens (Geist.)

/ In

/Seite 6

/In so fern die Seele in Verbindung mit dem Körper
gedacht wird, und also nicht verhindern kann, daß
das was die Sinne afficirt, ihr auch mitgetheilt
werde, dann ist die Seele blos leidend.

/In so fern die Seele aber auf die sinnlichen Ein-
drücke sich thätig beweiset, ist sie animus und
in so fern sie unabhängig von aller Sinnlichkeit
sich etwas vorstelt, ist sie mens. z. B. Ich kann
nicht verhindern, daß der Schmerz, der meinem
Körper angethan wird, nicht auch auf meine See-
le herüber gehe z. B. Wenn ich das Podagra habe
und denke, was in Zukumft daraus werden wird,
wie ich mein Brod werde erwerben können. - - 
Dies verursacht Traurigkeit über meine Gesundheits-
umstände. Hier agirt animus, und diese Ge-
müthskrankheit macht uns elend. Endlich entsteht
der höchste Grad der Traurigkeit, wenn mein
Geist von allem abstrahirt, einen Selbsttadel in
mir erweckt, wenn er sich vorstellt, wie ich mir
selbst diese Krankheit zugezogen habe, und
also durch meine eigne Schuld unglüklich gewor-
den bin. Diese Krankheit des Geistes wirkt je-
derzeit mit doppelten Kräften auf den Kör-
per. Es ist sehr gewöhnlich, daß die Menschen
sagen, sie wollten mit einem andern tauschen,
sie wünschen sich eine beßere Gesichtsbildung, Ge-
dächtniß und wenn sie auch mit allem tauschen
könnten, so würden sie doch nie ihr Ich ver-
tauschen, weil sich jeder für vollkommen in seiner
Art hällt. Es liegt auch etwas contradictorisches
in diesem Saz, denn sie wollen, und wollen

/ auch

/Seite 7

/auch nicht tauschen. Wir sagen oft, die Rede hat keinen
Geist, und hieraus ist zu ersehen, daß wir doch
durch einen Geist, das Princip der Bewegung
verstehen. Das Gemüth nennt man auch im gemei-
nen Redegebrauch das Herz. Sagt man aber
der Mensch hat ein guth Gemüth oder Herz, so
verstehen wir nichts anders darunter, als des
Menschen Konstitution ist so beschaffen, daß sei-
ne Neigungen nicht anders beschaffen sind, und be-
schaffen seyn können. Daher gehts wohl an,
daß der Mensch sehr tugendhaft aber doch zu-
gleich ein böses Herz haben kann. Solches behaup-
tet man vom Sokrates, der, obwohl seine Nei-
gungen nicht mit der Vernumft übereinstimmten,
dennoch dieselbe durch die Vernumft zu leiten wuß-
te. Allein wir äußern jederzeit gegen einan-
der ein größeres Vertrauen, wenn jemand
ein guth Gemüth hat, als gegen den, der ganz
tugendhaft ist, aber ein böses Herz hat. -
Die Ursache ist folgende: Man ist immer sicherer, wenn
man sich jemanden anvertraut, deßen Neigun-
gen schon mit den Grundsätzen der Vernumft
übereinstimmen, als einem, der solche immer be-
streitet. Denn wie oft sehen wir uns nicht
von einem sinnlichen Triebe überrascht, noch ehe man
sich deßelben recht bewußt ist. Es ist aber wohl
zu merken, daß man niemals sagt: man hat
einen bösen Geist (es sey dann, daß er vom Teu-
fel beseßen wäre) deswegen, weil der Geist
der unabhängig vom Körper und äußerlichen

/ An- 

/Seite 8

/Antrieben, blos nach den Grundsäzen der Vernumft
lebt, niemals anders als Guth handeln kann, denn
er wählt nicht, was schön sondern was guth ist.
Daher sagt man, das Fleisch widerstreitet den Geist,
wenn der Geist handeln könnte, würde es sehr nüzlich
seyn. Die Welt hat eine Beziehung sowohl auf un-
sere Körper, als auch auf unsre Seele, und nachdem
wir die Welt aus diesem oder jenem Gesichtspunkt
betrachten, nachdem erscheint sie uns auch be-
sonders. Wenn ein Mensch in einer unglüklichen Si-
tuation geräth, so können ihn alle Schönheiten der
Natur, die ihn umgeben nicht vergnügen, geht's ihm
aber wohl, so heitert sich alles um ihn her auf.
Wir gehen nun zu den Vorstellungen und mer-
ken, daß sich der Mensch derselben theils bewust
ist, theils nicht. Der größte Reichthum unsrer Er-
kenntniße stekt in den dunklen Ideen, die von
dem Bewustseyn nachmals in ein größeres Licht
gestellt werden. Denn das Bewustseyn bringt
keine Vorstellung hervor, sondern kläret sie nur
auf. Wenn ein fertiger Musikus sich an ein Kla-
vier sezt, und in Gedanken zu musiciren oder
phantasiren anfängt, so muß er, wenn kein
Dissonant vorkommen soll, theils auf die kümfti-
gen prospiciren, theils auf die hervorgebrach-
ten Töne respiciren. Wenn er nun eine ganze
Weile gespielt hat, so ist er sich nicht bewust was
er gespielt hat. Wenn wir das Frauenzimmer
oder einen den wir ehren, zur rechten Hand gehen
laßen, so geschieht solches, damit wir ihnen nicht

/ den

/Seite 9

/den Gebrauch der rechten Hand benehmen. Wenn
jemand viel Geld in der Tasche oder im Kasten hat, so
wird er wenig vom Appetit gereizt. Warum? Er
weiß, daß er alles dies leicht haben könnte. Man
könnte unendlich viel Phaenomene der menschlichen
Seele erzählen, die der Philosoph aus ihrer Dun-
kelheit ans Licht zieht. So wie er in der Physik
bei Betrachtung der Körper, ihrer Kräfte durch
die Vernumft herausbringt. Wir wollen nur ein Paar
der geheimen Gründe der Phaenomene anzeigen
Wir bemerken z. B. daß die Mütter die Söhne
mehr lieben, als die Töchter, und unter den Söh-
nen denjenigen am meisten, der liederlicher
und muntrer ist, als die andern. Woher kömmt
dies? Aus einem doppelten Grunde. Denn

/1.) ist die Neigung fürs andre Geschlecht dem
Menschen schon in die Natur gelegt.

/2) sieht. sieht die Mutter auf den Sohn herab,
als auf einen, der sie kümftig beschützen soll
und daher hoft sie von dem, der munter und
aufgewekt ist, sehr leicht, daß er sie beßer be-
schützen werde, als der schläfrige und sittsame.
Das sind ihre dunklen Vorstellungen.

/Ferner bemerken wir an den weisesten eine ge-
heime Furcht vor dem Tode, ob er wohl weiß, daß
die Kürze des Lebens, der stärkste Trost ge-
gen alle Unglüksfälle ist. Die Ursach davon liegt
in einer dunklen Vorstellung. Sehr oft haben wir
gar keine Macht über die Vernumft, um die in
der Sinnlichkeit liegende Vorstellungen zu über- 

/ wäl- 

/Seite 10

/wältigen z. B. Wenn wir auf einem hohen Thurm sind,
und dann, wann wir auch wißen, daß er festge-
bauet ist, herunter sehen, so empfinden wir ein
Grausen. Und woher das? Aus der geheimen
Vorstellung, daß alle Körper eine Schwere ha-
ben, und vermittelst derselben sich zu einem Mit-
telpunkt senken, und also zum Fall geneigt
sind. Unsre Vernumft läß uns, indem wir be-
denken, daß das ganze so fest gebaut ist, daß
wir nicht fallen können, dennoch ohne Hülfe, und
ein Schauer durchbebt unsre Glieder, weil sich
der Mensch der dunklen Vorstellung von der
Schwere der Körper nicht bewust ist. Er glaubt
das zu empfinden, was doch unsre Seele nicht
afficirt, sondern aus einer sich nicht bewusten
Reflection unserer Seele entspringt. Daher
sagt er, dis Gedicht ist schön. Ich empfinde ein Zu-
trauen zu diesem redlichen Manne, und daher
ist auch das moralische Gefühl entstanden, welches
doch in der That nichts sagen will. Denn alles
was aus Reflection des Verstandes entspringt
und kein Gegenstand der Sinne ist, kann ich nicht
für Empfindungen der Sinne ausgeben, und
es ist gewiß der Erweiterung unserer Kent-
nisse nichts hinderlicher, als daß Menschen ihre
dunkle Vorstellungen für Empfindungen aus-
geben. Dadurch wird aller Untersuchung abgeschnitten,
denn empfinden wir etwas, so lohnt es nicht der

/ Mühe

/Seite 11

/Mühe, es weiter zu untersuchen. Wir befinden uns so-
wohl wachend als Schlafend in einer Gedankenlosig-
keit, wo wir uns viel aber nur dunkel vorstellen. Wir
lassen alsdann alle Gegenstände und Erscheinungen vor-
beifliessen ohne auf eine besonders unsre Auf-
merksamkeit zu richten, und dieser Zustand ist dem
menschlichen Körper am zuträglichsten. Die Erfah-
rung lehrt überhaupt:

/1) daß dem Menschen nichts gesunder und beßer
sey, als daß er alle Aufmerksamkeit auf äu-
ßere Gegenstände richte, wenn es auch Gegenstän-
de der Vernumft wären.

/2) daß dem Menschen nichts schädlicher sey,
als wenn er ein genauer Beobachter seiner selbst
sey. Solches sehen wir dunkel an einem Hypo-
chondristen, daß so bald er sich selbst beobachtet
und seiner Krankheit nachhängt, sich noch immer übler
befindet, und nichts ist einem solchen Menschen nach-
theiliger, als ein medizinisches Buch. Denn alle
Krankheiten, von denen er lieset, glaubet er selbst
zu haben. Daher es die Pflicht eines jeden Arztes
wäre, sich nach den Beschäftigungen der Patien-
ten zu erkundigen, und es so einzurichten, daß
dieser sich selbst vergißt. Es giebt ferner eine
eitle Beobachtung seiner selbst, nämlich was man
für eine Figur in der Gesellschaft macht, dies nennt
man ein gezwungenes Betragen. So wie einer
der ein Buch schreibt immer auf den Ausdruk und
die Wahl der Wörter sieht. Die Quelle dieser Vor-
stellungen nennt man die Theile des Gemüths, und

/ es

/Seite 12

/es ist die Pflicht eines Philosophen, dieselben so viel
als möglich zu erforschen. Wenn es in der Mo-
ral und im Evangelio heist, wir sollen nicht richten
so ist dies aus keinem andern Grunde anbefoh-
len, als wenn wir jemanden aus einer innren
Zuneigung oder aus dem Temperament beur-
theilen, und glauben, daß es aus Grundsäzen der
Vernumft entspringt. Wir kommen nunmehr zu
den deutlichen und verworrenen Vorstellungen.
Es ist anfänglich zu bemerken, daß hier nicht mit Recht
die verworrenen Begriffe den deutlichen ent-
gegengesezt werden. Die Deutlichkeit entspringt
wenn man sich nicht allein seiner Vorstellungen
bewust ist, sondern auch weiß, was in denselben
enthalten ist. Das Verworrene wird der Ord-
nung entgegengesezt, und obgleich die Deutlichkeit
allemahl eine Ordnung voraussezt, so ist's doch
beßer ihr die Deutlichkeit entgegenzusetzen. Die
Deutlichkeit ist entweder die der Anschauung oder
des Begrifs. Die Deutlichkeit der Anschauung be-
ruht blos auf den Eindruk, den die äußern Ge-
genstände auf mich machen. Die Deutlichkeit des
Begrifs besteht aber darin, daß die Anschau-
ung unter allgemeine Merkmahle, die ich sonst
an andre Gegenstände bemerkt habe, unter-
geordnet wird, also kurz, sie besteht in der
Subordination. Man kann sich hier den Verstand
als einen ungeheuern Raum vorstellen, der in
gewiße locos logicos eingetheilt ist, davon jeder
einen Besondern Begrif erhällt. Wenn ich nun

/ meine

/Seite 13

/meine Vorstellung in solchem locum «class» <log>icum stellen kann, so
hab ich einen Begrif. Die Deutlichkeit der Anschauung ist
die aestetische Vollkommenheit und die Deutlichkeit des
Begrifs ist die logische Vollkommenheit. Wir kommen fer-
ner zur Bestimmung des Menschen und merken:

/1) das Verhältnis unserer Erkentnisse zum Objekt, wel-
ches in der Wahrheit besteht, und wenn unser Ob-
jekt von einerlei Quantitaet ist, so ist unsre Er-
kenntnis adaequat.

/2) das Verhältnis unserer Erkenntnisse zum Subjekt,
welches in der Veränderung unsres Zustandes be-
steht z. B. angenehme, - Lust und Unlust. Eindrücke
die in der Aestetik ihren großen Nutzen haben.

/3) das psychologische Verhältnis, oder das Verhält-
nis der Erkenntnisse unter einander, welches man
die Aenlichkeit nennt, die dem Wiz allen Vorschub
thut. Endlich bemerken wir auch 2 Unvollkom-
menheiten unsrer Erkentnisse d. i. Unwißenheit
und Irrthum. Die Unwißenheit ist ein bloßer Man-
gel der Erkenntnis. Der Irrthum ist aber ein Hin-
derniß der wahren Erkenntnis, und also weit ge-
fährlicher als die Unwißenheit, denn bei der Un-
wißenheit darf nur eine Handlung vorgenom-
men werden, nämlich, man bringt dem Unwißen-
den die fehlende wahre Erkentnis bei. Allein bei
dem Irrthum sind zwei Handlungen nötig, näm-
lich man muß erst deßen Verstand von Irrthümern
reinigen, ihn unwißend machen, welches schon schwer
ist, und ihm nachher die wahre Erkenntniß beibrin-
gen. Daher die Philosophen ganz recht haben, wel-
che sagen: Es soll erst negatiue Erziehung bei der

/ Iugend

/Seite 14

/Iugend vorhergehn soll d. i. man soll sie erst für Irr-
thümer bewahren. Wir bemerken aber, daß die
Menschen lieber in einem Irthum verfallen, als daß
sie in Unwißenheit bleiben solten. Daher urtheilt
man ganz recht und will das Urtheil auch gar nicht
suspendirt wißen, bis die Wahrheit erhellt. Das
ist ein wahrer Instinkt in der Natur der Menschen
eingepflanzt, vermöge deßen er immer thätig seyn
muß und sollt er auch irren. Gott gab aber dem Men-
schen die Vernumft zum Regierer dieses Instinkts.
Der Mensch empfindet das Leben nur durch seine
Tätigkeit. Daher gefallen uns paradoxe Schriften,
die der allgemeinen Einsicht widerstreiten, und
zugleich anfänglich zeigen, wie sehr man irren kann,
weil wir hoffen Einsichten in diese oder in jene Wißen-
schaft zu bekommen, wodurch wir vieleicht manches
unbekannte entdecken können. Sie enthalten zwar
Irrthümer, aber sie erweitern doch die Kennt-
nis des Menschen mehr, als die welche nur gemei-
ne und bekannte Erkentnisse der Menschen enthal-
ten. Ein solches Paradoxon war das System des
Copernicus, die Lehre von den Antipoden, das
La«cta»crantius sehr lächerlich macht, und zulezt sagt,
er könnte dies leicht widerlegen, wenn er nur
nicht das Buch schliessen müßte. Es ist zu merken
daß die Ueberzeugung des Menschen eine ge-
raume Zeit erfordert. Wir gehen nunmehr zu
den perceptionibus communicantibus et sociis.
Es sind die begleitenden Vorstellungen wohl von
den vergesellschafteten zu unterscheiden. Es
ist eben so, als wenn ein Fremder Reisen- 

/ der

/Seite 15

/der in ein mit allen Naturschönheiten bedektes Feld kommt,
alsdann begleiten diese weidende Gegenstände der
Natur seinen Blik allein, ist er aber Herr und
Eigenthümer dieser Gegend geworden, so wird sie
mit ihm als vergesellschaftet betrachtet. Doch pflegt
man oft begleitende Vorstellungen für percep-
tiones socias zu nehmen. Es ist zu merken, daß
man die mit einer Sache verknüpfte Vorstellung
von der Hauptsache nicht unterscheiden kann, und
sie daher mit einander verwechselt. z. B. Man sieht
ein sehr schönes Frauenzimmer, der man wegen
ihrer Schönheit sehr viele Fehler zu Gute hällt.
Ein ihre Schönheit begleitender Umstand kann seyn,
daß sie lispelt. Es läßt ihr schön, man hällt
dies für die Ursach ihrer Reize und gewöhnt
sich auch das Lispeln an. Es verdunkelt auch sehr
oft, die vergesellschaftete Vorstellungen die
Hauptvorstellung z. B. Wenn ein wegen seiner
Meriten verdienter Mann sich prächtig klei-
det, so vergißt man darüber seinen eignen Werth
und inneren Vorzug. Daher dient's zur Regel
daß kein verdienstvoller Mann sich prächtig klei-
de, sondern reinlich und höchstens nach dem Geschmak,
wenn er nicht haben will, daß seine Würde durch
die Kleidung soll verdunkelt werden.

/Die Russen haben das Sprüchwort: man empfängt
seinen Gast nach der Kleidung und begleitet ihn nach
seinem Verstande. Wir kommen jezt zu den sinn-
reichen Ausdrücken. Ein sinnreicher Ausdruk
ist ein solcher, der viel Sinn enthällt. Nach der

/ grie- 

/Seite 16

/griechischen ist die deutse Sprache diejenige, die viel
Begriffe in einem Wort zusammenfaßt, und sie
zugleich analytisch ordnet. z. B. Die Kleinmüthig-
keit. Es dient zur logischen und aestetischen
Vollkommenheit. Die Araber haben sehr kurze Ge-
bethe vor und nach dem Essen. Vor dem Essen be-
ten sie bis milta (Gott segne es) Nach dem
Essen adi milta (Gott sey gedankt. Wir sind
gerne leidend und lieben doch das thätige über
alles z. B. Wir lassen uns gerne pflegen und
aufwarten und sind in dieser Rüksicht leidend.
aber solte jemand für unsre Glükseeligkeit
unter dem Beding sorgen, daß wir gar nicht wäh-
len sondern disponiren sollen, so würden wir
uns schwierig bezeigen weil wir alsdann unthätig
seyn müßten. Wir laßen uns gerne führen, weil
wir wißen, daß wir auch thätig seyn und gehen
können. Wir haben Vermögen worinnen alle Ver-
änderungen unsers Verstandes oder der Zustand
unsrer Empfindungen ihren Sitz haben. Dies Ver-
mögen theilen wir ein, in das untere und obe-
re. Das Untere besteht blos in der Sinnlichkeit
in Absicht auf welche wir immer leidend sind. Das
Obere ist der Verstand, durch den wir auch thä-
tig sind. Allein außer diesem Vermögen haben
wir auch eine obere Kraft d. i. die freie Will-
kühr, durch welche der im Vermögen liegende Zu-
stand der Empfindungen bewirkt wird. Wir ha-
ben eine doppelte Kraft, so wie ein doppeltes
Vermögen. Die untre Kraft ist die blinde Will- 

/ kühr

/Seite 17

/kühr und die obere Kraft ist die freie Willkühr.
Das untere Vermögen mit der untern Kraft zusam-
men genommen, macht die Thierheit aus. Und das obere
Vermögen mit der obern Kraft macht die Mensch-
heit aus. Wenn wir die obere Kraft mit dem unterm
Vermögen vergleichen, so finden wir, daß wir vermit-
telst der freien Willkühr unsre sinnlichen Empfin-
dungen so dirigiren können, wie wir wollen. Wir
können uns sogar Schmerzen lindern, indem
wir davon abstrahiren, und unsre Vorstellungen
auf andre Dinge richten

/Ia es ist bekannt, daß man einen kleinen Schmerz durch
die Fiection eines größern lindern könne z. B. wenn
jemand durch den Verlust seines eignen Sohnes sehr
betrübt ist, und es wird ihm plözlich die Nachricht
hinterbracht: sein Schiff wäre nicht untergegangen
sondern glüklich eingelaufen, so ist der Stachel
der vorigen Betrübniß stumpf, und der Mann
wird aus beiden Betrübnissen gerißen. Nur scha-
de, daß dies Mittel nicht immer gebraucht werden kann.
Der obern Kraft trauen wir soviel zu, daß wir
uns wegen unsrer Gesinnungen gar nicht bekümmern,
ob sie guth oder böse sind, weil wir glauben, sol-
che in einem Augenblik ändern zu können, wenn
wir nur wollen. Diese freie Willkühr oder obere
Kraft wird eingeschränkt.

/1) Durch unwillkürliche Vorstellungen. z. B. Wenn die
Vorstellung einer üblen Begegnung die ich erlitt, mei-
ne Ruhe stört, dann will ich sie oft verbannen, weil
die Vorstellung verdrüßlich ist, allein ich vermag sol-
ches nicht mit aller Macht einer freien Willkühr.

/ 2)

/Seite 18

/2) Durch die übermäßige Begierden, die durch Antriebe
bewirkt werden. Die sämmtliche Erkenntnisse sind nur
von den Verstandes_Erkenntnisse d«ie»em «Quelle» Grade
aber nicht der Form nach verschieden. Daher blei-
ben die dunklen Vorstellungen, so undeutlich sie
auch immer seyn mögen, beständig Verstandes-
vorstellungen. Hierin haben viele, ja sogar Men-
delsohn gefehlt, der die deutlichen Vorstellungen
für Verstandesvorstellungen hällt. Da er aber doch
eingesehn, daß sehr oft die Sinnlichkeit vor den
Verstandes_Begriffen Vorzügen hat, so hat er dies
auch aus der Verwirrung hergeleitet; welches
jedoch nicht möglich ist. Denn die Deutlichkeit der
gesammten Vorstellungen kann sehr gros seyn, ohn-
geachtet man doch von der Sache keinen Verstan-
des_Begriff haben kann. z. B. Wenn ein Wilder
in unsre Stadt kömmt, und ein Gebäude ansieht,
so wird er zwar alle Theile deßelben unterscheiden
und jedes klar erkennen, aber deswegen hat er
noch keinen Begriff. Er weis nicht zu welchem Ende
dies errichtet ist. Die Sinnlichkeit giebt uns die Ma-
terialien und der Verstand hat nur gleichsam po-
testatem rectoriam und disponirt. Hieraus folgt,
daß die Sinnlichkeit gar nicht zu verachten sey.
Dann eben so wenig als es einen Beherrscher
des Staats geben würde, wenn der Niedrige als
der Bauer ihn nicht ernähren möchte, eben so we-
nig kann den Verstand ohne die Sinnlichkeit etwas
unternehmen. Es ist also kein Vitium, wenn jemand

/ blos

/Seite 19

/blos sinnlich ist; sondern blos nur ein Mangel, es fehlt
ihm nur eine Wißenschaft. Er ist eben so wie eine Uhr,
an der noch das Zifferblat fehlt, ohngeachtet man des-
wegen sie nicht für fehlerhaft halten kann. Denn thut
man es hinzu, so ist sie fertig. Es ist also nicht nö-
tig, wenn das Wort Sinnlichkeit gebraucht wird, die
Nase zu rümpfen. Sie hat ihren Nuzen, wenn sie
vom Verstande dirigirt und nicht gemißbraucht wird.
Es frägt sich nun aber, ob das Bewustseyn zum o-
bern oder untern Vermögen gehört. Dieses Be-
wustseyn wird durch keine Vorstellung zu Wege ge-
bracht, sondern nur in ein größeres Licht gesezt. Es
ist also nur die Bedingung unter der die obere Kraft
wirksam seyn kann. Die Sinnlichkeit ist bei einigen
so verhaßt, daß auch Pallas in seiner Reisebeschrei-
bung Pillen erfunden haben will, die, wenn sie jemand
vor seinem Ende einnimmt, ihn von aller Sinnlichkeit
befreien sollen. Es ist zwar wahr, daß die Sinn-
lichkeit etwas niederes anzeigt, weil sie der frei-
en Willkühr des Menschen hinderlich ist. Allein
das Vermögen sich etwas sinnlich vorzustellen
ist sehr nüzlich, weil nur der Mensch allein sinnliche
Beschauung hat, und nur das Vermögen, das allge-
meine in concreto zu betrachten, ihn zu den Erkent-
nissen der Wahrheit bringt. Es wäre sehr guth,
wenn diejenigen Schriftsteller, die von der rüh-
renden zur launichten Schreibart übergehen, die
Laster des Menschen mehr lächerlich zu machen such-
ten, als wenn sie sie gleichsam mit Furien verfolg- 

/ ten

/Seite 20

/ten. Denn lezteres macht den Schriftsteller zum Men-
schenhasser. Es ist aber beßer, die Menschen in eine
Narrenkappe zu hüllen, als seine Fehler zu detesti-
ren. Denn nichts fruchtet im Menschen mehr, als
ausgelacht zu werden. Ehe dies geschiehet, will er alle
Menschen zu Feinden haben. Daher ist's beßer,
ein Heraclit als Democrit zu seyn. Man betrach-
tet die Welt als ein Narrenhaus und lacht über
die Thorheiten der Menschen, sich selbst muß man
aber nie ausschliessen. Alsdann wird man ein
Freund von allen Menschen bleiben, man wird über
ihre Thorheiten lachen, und sie doch lieben.

/Iezt gehen wir zur Betrachtung der positiuen
und negatiuen Erkenntniß über. Die negatiue Er-
kenntnisse sind blos Mittel Irrthümer zu ver-
hüten. Die negatiuen Handlungen die dahin abzwecken
Irrthümer zu verhüten, nennt man leere «Irrth»
Handlungen.

/Initium sapientiae est stultitia caruisse. So ist
Rousseaus ErziehungsPlan. In den ersten Iahren
der Kindheit blos negatiu. Er zeigt, daß man im
Anfange Kinder blos für Irrthümer bewah-
ren müße. Derjenige ist negatiu ehrlich, der nicht
aus Grundsäzen ehrlich ist, sondern blos deswegen
weil er bequemer auf dem geraden als krum-
men Wege fortkömmt. Der negatiue Saz ist der
Begleiter der Tugend. Ein Mensch der diesen Saz
besizt, wendet blos damit ab, daß er nicht ver-
achtet wird. Die negatiuen Handlungen haben ihren
großen Nuzen. Ein Mensch kann nie anders als

/ negatiue

/Seite 21

/negatiue weise seyn, derienige Mensch ist gewiß hoch-
zuschätzen, der ob er gleich keinem eine Wohlthat
erwiesen, doch niemanden beleidigt, niemals sein
Versprechen gebrochen, nie die Unwahrheit gere-
det, also negatiu tugendhaft gewesen ist. Man hat
nicht nöthig einen solchen für lieblos auszuschrei-
en, dieser darf nicht erst handeln, daß etwas
nicht sey, so wie ein Irrender erst den Weg
zurükgehen muß, auf welchem er geirret hat.
Das Element des Witzes ist scherzen und lachen,
und wenn die Menschen etwas ernsthaftes thun,
so thun sie sich einen gewißen Zwang an. Die
Griechen erzählen von den Pyruithinern, daß
sie bei allen Geschäfte«t»n in ein Lachen ausgebro-
chen, und da sie einst den Apollo gefragt: was
sie zu thun hätten, um nicht stets zu lachen, so
that er den Ausspruch, daß sie dem Neptun
einen Ochsen am Wasser opfern soltn, jedoch ohne
zu lachen. Da sie nun damit beschäftigt wa-
ren, drängte sich ein kleiner Iunge unter sie,
der bald den Ochsen bald sie ansahe. Sie zerr-
ten bereits ihr Gesicht und stießen den Iun-
gen weg, damit er sie nicht zum Lachen rei-
zen möchte, der darauf schrie: denket ihr
denn, daß ich eure Ochsen fressen werde; wo-
rauf sie in ein lautes Gelächter ausbrachen
und Narren blieben. Da aber die negatiue
Handlungen der Thätigkeit des Menschen als ein

/ ihm

/Seite 22

/ihm eingepflanzter Instinkt, zuwider sind, so bemü-
hen sie sich jederzeit, positiu zu handlen.

/Wenn ein Mensch alle seine Nerwen in Bewegung
empfindet, so fühlt er sein ganzes Leben und
ist vergnügt. Sind aber alle Nerwen ganz gleich
gespannt, so daß er einen jeden nach Belieben
in Bewegung setzen kann, so befindet er sich in
einer gewißen Ruhe und Zufriedenheit. Er
empfindet seinen Verstand, seinen Körper, er
erinnert sich Niemanden beleidigt zu haben, und
dies ist der glüklichste Zustand des Menschen. Wenn
nun der Mensch durch seinen Thätigkeit in einem
Irrthum verfällt, und jeder Einwurf, der ihm
der andre macht, ihn in seiner Thätigkeit stört,
so befindet er sich übel, wenn ein anderer ihm
widerspricht. Daher auch bei den Einwürfen die Er-
bitterungsformel angeführt ist: ich bitt um Verge-
bung. Allein hier kömmts sehr auf den Thon an,
mit dem jemand die Formel sagt, denn man kann
damit eben so viel ausdrücken: Du bist ein dum-
mer Kerl. Ueberhaupt ist diese Formel gleich
einem Cartell, wodurch man jemanden zum Streit
auffordert, und es ist daher kein Wunder, daß der-
jenige, an welchen ich sie richte, stuzt und mein
Feind wird. Daher ist's beßer, wenn jemand irrt
nicht gleich mit dieser Formel anzufangen, son-
dern ihm zuerst darinnen Beifall giebt, wo-
rinnen er Recht haben will, hernach aber ihn

/ all- 

/Seite 23

/allmählig so herunterbringt, daß ers nicht einmal
merkt, man sey anderer Meinung. Wir kommen izt zu

/ ≥ Der Schwierigkeit und Leichtigkeit ≤

/Man braucht zwar Schwere und Leichtigkeit von den
Körpern, aber vorzüglich nennt man das schwer, was
in einem großen Verhältnisse mit unserm Kör-
per steht, und das leicht, was in einem kleinen Ver-
hältniß mit diesem steht.

/Da wir nun bei allen Dingen die wir angreifen,
auf den Ueberschus unsrer Kräfte sehn nach
dem wir auch noch in andern Dingen thätig seyn
können, so verwerfen wir jederzeit das schwe-
re und wählen das leichte. Derjenige nun, dem
alles, was den übrigen Menschen schwer wird
leicht ist, hat Ehre. Der aber der jemandem
das Schwere leicht machen kann, hat Verdienst.
Es giebt sehr wenige, die das schwere leicht
vortragen können, unter denen schäzt man
vorzüglich Fontenelle und Voltair.

/Ueberhaupt sind die Franzosen diejenigen, die
jemandem das schwere fäßlich machen können.
Die Schwere ist entweder äußerlich oder inner-
lich. Die innere Schwierigkeit und Leichtigkeit
besteht darin, wenn man einen kleinen oder gro-
ßen Ueberschus von Kräften bei sich em-
pfindet. Die äußere findet statt, in so fern
diese oder iene Sache mehr oder weniger
Hinderniß hat, die durch diese Kräfte weg-
geschaft werden müssen. So kann man eine inne- 

/ re

/Seite 24

/re Leichtigkeit und zugleich eine äußere Schwierigkeit
bei sich empfinden. z. B. Wenn man ein junges Frau-
enzimmer, das nur darauf bedacht ist, ihre Reize
zu vermehren in metaphysischen Dingen unter-
richten soll, so kann zwar der Lehrende eine
große Fertigkeit darin besitzen, das aufs plan-
ste faßlich zu machen, allein das Frauenzimmer
ist immer zerstreut und denkt an Puz etc.
hier findet sich eine innere Leichtigkeit, und
äußere Schwierigkeit

/ ≥ Attention u. Abstraction

/Die Aufmerksamkeit besteht nicht in der Klarheit
der Dinge selbst, denn bisweilen ist eine Sa-
che klarer, wenn man blos leidend als thätig
ist, denn sie besteht in der Anstrengung der
Kräfte und in der Richtung, die wir unsern
Gedanken in Ansehung der Sache geben, indem
wir sie blos und vorzüglich auf einen und eben
denselben Gegenstand lenken. Die Abstraction
besteht gleichfals in einer Anstrengung, indem
wir gleichsam eine Sache von allen sie beglei-
tenden Gegenständen absondern, und für
sich allein betrachten. Was aber bei einer sol-
chen Anstrengung in unsrer Seele vorgeht, ist
nicht zu erklären. Genug daß es sehr schwer
ist, besonders von sinnlichen Erkenntnissen und
Empfindungen zu abstrahiren, daß sie nicht

/ bis

/Seite 25

/bis in unsre Seele dringen, oder wenigstens eine
dunkle Vorstellung hervorbringen. Ein empirischer
Kopf abstrahirt zu wenig und ein speculativer
zu viel. z. B. Wenn man bei der Betrachtung der
Sittlichkeit von dem Subject selbst, als dem Men-
schen abstrahirt. Es giebt eine willkürliche Atten-
tion und Abstraction aber auch eine unwillkür-
liche, und dies ist ein elender Zustand - dagegen
ists sehr vortheilhaft, wenn diese beiden in
unsrer Willkühr liegen, denn so kann keine
Beleidigung uns unglüklich machen. Wir abstrahi-
ren und machen uns dadurch dasjenige Bild
das uns quält, unsichtbar. So kann man sogar
den größten Schmerz überwinden, wie man
denn auch erzählt, daß jemand der auf der
Tortur lag, blos dadurch, daß er seine Auf-
merksamkeit auf ein Bild richtete, die größesten
Schmerzen überstanden habe. Es ist kein Zustand
deswegen für den Menschen unerträglicher als wenn
er zwischen Furcht und Hofnung schwebt, denn
so kann er sich in keine gewiße Disposition
setzen. z. B Wenn mein Freund todkrank ist,
so denk ich jeden Augenblik, er wird noch ge-
rettet werden, aber es fällt mir gleich wie-
der ein, er wird doch sterben müßen, alsdann
verfällt man nicht auf das Mittel und auf die Mög-
lichkeit der beiden Fälle. Ist er nun einmal
tod, so disponir ich gleichsam über mein Ge- 

/ müth

/Seite 26

/müth und abstrahire davon. Da man dem Sokra-
tes andeutete, die Athenienser hätten ihm den Tod
zuerkannt, sagte er: Wohlan die Natur hat den
Atheniensern d«ie»en Tod zuerkannt. Und darauf
sezte er sich in eine solche Disposition, daß er
den Tod leicht ertrug. Rousseau merkt an: daß
die Medicin den Menschen feig für den Tod
gemacht habe, denn man sähe an einem Wilden,
daß er ruhig sterbe. Aber daß der Medicus
dem Kranken Hoffnung zur Genesung macht, gleich
darauf aber der Kranke an den Gesichtern
der Umstehenden bemerkt, daß er gewiß ster-
ben muß, ist er gleichsam in einem beständigen
Schrecken und wird dadurch feige. Bei einem
Hypochondristen ist ein Hauptfehler, der Man-
gel an Abstraction, denn von den Gedanken, die
ihm einmal einfallen, kann er sich nicht so leicht
losmachen. Sonst glaubte man auch, daß ein Mensch
gar vermögend ist, von allen Dingen zu abstra-
hiren, und daß man dadurch den Schlaf beför-
dern könne; allein man findet wohl, daß
der Schlaf <durch> die Abziehung seiner Aufmerksam-
keit von allen Gegenständen befördert wird,
und alles durch einander denkt, was ihm ein-
fällt.

/Wir wollen nunmehr zu den perceptionibus com-
plexis oder von den gehäuften Vorstellungen

/ reden

/Seite 27

/reden. Gehäufte Vorstellungen nennen wir nicht die, wenn
wir uns viele Dinge auf einmal vorstellen, sondern
wenn aus subjectiuen Gründen eine Vorstellung viele
andre Nebenvorstellungen hat. z. B. Wir denken, wenn
uns eine grammattikalische Regel, die wir in der
Schule lernten, einfällt, an jene grammattikali-
sche Miene, mit der sie der Lehrer vortrug. Die-
se Vorstellungen, die wir uns wirklich vom Ob-
jekte machen, nennt man perceptiones primariae.
Diejenige aber, die diese Hauptvorstellung be-
gleiten perceptiones adhaerentes, oder secundarias.
Nun aber geschieht's nicht selten, daß die percep-
tiones adhaerentes objectiu genommen subjectiue reg-
nantes werden. Zum B. Wenn man in eine Kir-
che geht, und eine wohlausgeschmükte Predigt
hört, so geht man erbaut heraus, jedoch denkt
man nicht lange daran, und solches kommt daher,
weil unsre Andacht durch perceptiones adhaeren-
tes rege gemacht worden ist, als daß sie auf
die perceptio primaria beruhen sollte. Vor-
züglich bemerken wir dies bei Leuten, die nicht
nach Grundsäzen handlen, und also nicht wißen
daß in solchen Fällen die perceptiones adhae-
rentes praevaliren. z. B beim Frauenzimmer, die
mehr auf den Puz und Möblen des Hauses
sieht, als auf ein bequemes Leben. Als Neuton
von seiner Frauen ermuntert wurde, den pa-
triotischen Sinn fahren zu lassen, und die Par-
thei des Königs wieder zu ergreifen, da

/ ihm

/Seite 28

/ihm überdem eine Sekretair Stelle war angetra-
gen worden, so antwortete weil er sie sehr liebte
Sie haben recht, weil sie nur denken in Kutschen
zu fahren, allein ich muß ein ehrlicher Mann
bleiben. Sie dachte nämlich, daß ein Schelm in der
Kutsche beßer wäre, als die Ehrlichkeit zu Fuße.
Als eine Gesellschaft über schlechte Zeiten klag-
te, und einen Mann, der dabei ruhig sein Pfeif-
chen rauchte, fragte, was er wohl meine, so
klopfte er seine Pfeife aus und sagte: Die
Menschen machen durch die Vermehrung ihrer
Bedürfnisse selbst die Zeiten schwer. Er hielt
gleichsam darüber eine Predigt, man hörte
ihm aufmerksam zu und gieng nach Hause
und blieb wie man vorher war. Es ist merk-
würdig, daß Menschen bei der Hauptvor-
stellung gar nicht, aber bei den Nebenvorstel-
lungen sehr gerührt werden. Als ein engli-
scher Officier aus der Bataille, da die Eng-
länder von den Franzosen geschlagen waren,
nach dem Könige deshalb abgestattetem Be-
richt in ein Coffee Haus kam und daselbst den
Karthenspielern die traurige Nachricht davon brach-
te, wie so viele 1000 Menschen dabei ums Leben
gekommen wären, so nikten sie mit dem Kopf
und spielten weiter. Hierauf erzählte er
wie die Frau eines Capitains, die aus Liebe zu
ihm in der Bataille nachgefolgt sey, nach geen- 

/ digter

/Seite 29

/digter Schlacht den Körper ihres Mannes gefunden
ohnmächtig geworden und gestorben sey. Bei dieser
Erzälung hörte die ganze Gesellschaft zu spielen
auf, und eine mitleidsvolle Thräne zitterte in ihren
Augen. Woher kommt dies? Daß sie bei dem Tode
von 1000 ungerührt blieben und doch bei dem Tode
der Frau so gerührt waren? Dies entstand
blos aus einem sympathetischen Gefühle ge-
gen das andre Geschlecht, und man schäzte mehr
das Gefühl des Subjects als Objects. Es giebt
überhaupt keine Vorstellung ohne Adhaerentien
und eine Vorstellung ohne diese erwekt bei
uns Verdruß.

/Wir nennen eine Vorstellung ohne perceptionibus secun-
dariis eine trokne Vorstellung. So sagt man: Er hat ihm
ganz trocken die Wahrheit gesagt d. h. ohne alle
Umschweife. Man hat diese Benennung von den Spei-
sen hergenommen, wenn sie trocken und also unan-
genehm sind.

/Rabner sagt: Verstand ist wie Rind und Schöpfsen-
fleisch, welches für Bauern und Bürgern guth ist.
Thorheit mit einer Brühe von Wiz übergossen ist
ein Gericht das man auf eine königliche Tafel setzen
kann. Es machen zuweilen die Predigten Saucen u.
die perceptiones adhaerentes mehr aus als die
perceptio primaria. Es kommt nur auf dem
Kopf an, wie man die Suppe zurichtet. Wir
gehen zur Ueberredung und Ueberzeugung.
Diese beiden Stücke können ein Subjekt nicht unter-
scheiden, sie haben in Ansehung des Subjekts glei- 

/ che

/Seite 30

/che Wirkung.

/Ueberzeugung sagt man, wenn die Vorstellung mit
dem Objekte übereinkommt. Bei Unterscheidung des
Wahren und Falschen geht bei uns ein ordentli-
cher Proceß vor. Der Verstand ist der Richter.
Die beiden Urtheile, sind die streitenden Parthei-
en, und die Criteria die nun jedes Urtheil für
sich anführt sind die Advokaten. Alsdann hört der
Verstand beide Partheien an, allein es finden sich
oft Widersprecher, die das bei dem Verstande
durch Gunst zu erlangen suchen, was sie durch den
Proceß erlangen würde. Iedoch, weil der Ver-
stand etwas nicht lange ohne Zweifel lassen mag,
so schliest er bald die Acten und entscheidet, und
dann geschieht es, daß oft wie in weltlichen Gerich-
ten, die schwächere Parthei blos deswegen siegt,
weil der starke auf ihn stolz thut und trozt. Denn
der Mensch ist immer geneigt, denen zu widerspre-
chen, die auf ihn trozzen, weil nun der Verstand
so eilig mit der Entscheidung ist, so heist oft:, und
der Dieb gieng schnell zum Strik, denn die Richter
wollten essen. Wenn ein türkischer Richter Parthei-
en verhört, und sie führen beide viel zu ihrer Ver-
theidigung an, so wird er dadurch ganz verwirrt
gemacht und glaubt, daß die Partheien aus gar
zu vieler Hitze zu viel verlieren. Er läßt
sie daher auf den Bauch legen und 50 Schläge zur
Abkühlung geben.

/Die Lehre der Sinnlichkeit ist überhaupt die Aestetik
diese ist 3fach:

/ 1)

/Seite 31

/1) Aestetica transcendentalis ist die sich blos mit der
Erkenntniß, die nach Gesetzen des Raums und der
Zeit entspringt, beschäftigt

/2) Aestetica physica. Die sich mit der Natur der Seele
beschäftigt und

/3) aestetica practica. Wir wollen uns zuerst mit
den Sinnen beschäftigen. Die Materie der Sinnlich-
keit, die Form, die sinnliche Anschauung in so fern
wir uns etwas dieser Empfindung parallel vor-
stellen. Bei jeder Sinnlichkeit ist aber zugleich eine
Abbildung, in der wir die Bilder der Eindrücke, die
auf unsre Sinne geschehen, sammlen und sie mit
einander vorstellen, daher man sich auch öfters
kein Bild von einer Sache machen kann, weil die
Einfachheit fehlt. z B. bei der gothischen Bauart,
wo viele Zierrathen angebracht sind. Wir haben
aber auch das Vermögen uns bei Abwesenheit
des Objekts noch das Bild vorzustellen, und sol-
ches nennt man die Nach- oder Vorstellung, welche
beide Begriffe nur der Zeit nach verschieden sind.
Hievon ist aber die Einbildung verschieden, da
wir uns ein ganz neues Objekt schaffen. Der
gemeine Redegebrauch deutet den rechten Ge-
brauch dieses Worts an, ob es wohl gleich bei den
Philosophen anstatt der Nachbildung gebraucht
wird. Ein solche Einbildung muß ein Poet haben.
Derjenige, der äußere Erscheinungen für Ge-
genstände hällt, heist ein Idealiste. Die Ro-
mane die den Menschen in eine eingebildete Welt

/ sezen

/Seite 32

/sezen, sind ganz untauglich, sie dienen aber vie-
leicht dazu, daß sie den Nerwen des Menschen auf
alle Weise zerren. Es hat der Mensch seine Em-
pfindungen, so wohl der äußern als innern Sinne
seiner freien Willkühr zu unterwerfen. Die ame-
rikanischen Knabe legen eine Kohle zwischen ihren
zusammengebundenen Händen, und sehen sich einan-
der an, wer zuerst das Gesicht verzerren wird,
worüber sie denn lachen. Sie gewöhnen sich hier-
durch von aller Empfindung zu abstrahiren, und
gleichsam fühllos zu werden. Es geziemt einem
Mann bei dem Spiel des Schiksaals unempfind-
lich zu bleiben und durch Anwendung seiner Ab-
straction und Attention sein Unglük zu vermin-
dern. Hierin kann man es sehr weit bringen.
Alle unsre Erkentniß hat ihre Quelle in der
Erfahrung, obgleich wir nicht alle unsre Erkenntnis
aus der Erfahrung schöpfen. Wir erwerben
auch selbst Vernumfterkentnisse lediglich bei
Gelegenheit der Gegenstände der Sinne, und wel-
ches besonders zu merken, so haben endlich alle un-
sre Erkenntnisse, selbst die wir auch durch die
Vernumft bei Betrachtung der Welt, von einem
Urwesen oder von Gott haben ihre Beziehung
von Gegenständen der Sinne. Denn dadurch,
daß wir vom Daseyn %Gottes überzeügt werden,
werden wir nicht bewogen, uns in Absicht der Welt
so zu verhalten, daß wir der Glükseeligkeit

/ würdig

/Seite 33

/würdig werden, die uns die Güte«r» eines höchsten
Wesens verspricht. Dieienige Methode der Beur-
theilung der Welt, die wir in Rüksicht dessen, was
in uns ist, die äußern Gegenstände für bloße
Erscheinungen halten, nennt man den Idealis-
mum. Diesen theilt man in den theoretischen,
aestetischen und praktischen ein. Es giebt ein ver-
nümftiges Ideal, da wir nämlich den äußeren
Gegenständen keinen Werth beilegen, als in so fern
sie Beziehung auf ein vernümftiges Wesen haben,
daher wir bei Betrachtung der unzähligen Welt-
körper sobald wir nur kein vernümftiges We-
sen auf demselben denken, auf die so viele Ge-
genstände Beziehung haben, gegen alle die un-
geheuern Körper in denen vieleicht Kristall, Bley
etc. befindlich ist, eine große Verachtung empfin-
den. Aus diesem vernümftigen Ideal ist der
theoretische Idealismus entstanden, indem man glaubt
daß man in der Welt blos vernümftige Wesen
annehmen und den Körperlichen Dingen alle Wirk-
lichkeit nehmen könne. Man stellt sich nämlich
vor, daß die Erscheinung der Welt ein bloßer
Traum sey, worinnen sich aber die Erschei-
nungen nach einer gewißen Ordnung zutrügen,
es wäre kein andrer Unterschied zwischen ei-
nem wirklichen Traum und den Erscheinungen der
Körperwelt, als zwischen Ordnung und Unord-
nung. Allein das theoretische Ideal hat einen so
geringen Effekt in Ansehung der menschlichen

/ Hand

/Seite 34

/Handlungen, daß ein jeder Mensch bei wirklichen
Empfindungen, die von den äußern Gegenständen
herrühren, gleichsam gezwungen wird, ungeach-
tet dieser Subtilitaet das Daseyn der Gegenstän-
de anzunehmen. Was nun das aestetische Ideal
betrift, so ist solches theils wirklich, theils chimae-
risch. Es besteht in der «Ver»<Betr>achtung des Werths
der Dinge, wie sie nach eine«r¿» im Verstande
gegebenen Idee seyn könnten. Uns gefält nicht
alles in der Natur, sondern wir glauben immer
daß wenns so und anders wäre z. B. Wenn
wir uns im nakten Körper betrachten, und
das musculeuse ansehn, wie solches allerlei
Biegungen und Eindrücken macht, so gefällt
uns solches nicht, und dies kömmt daher, weil
dem Menschen nichts gefällt, was Bedürfnis
ist, denn der Mensch schämt sich gleichsam sei-
ner Bedürfnisse, daher wir auch in Gesell-
schaft ge«braucht»<wohnt> sind, alle unsre Bedürfnisse
sorgsam zu verbergen. Die gröste Schönheit
des menschlichen Körpers sezen wir in einer
in uns liegenden Idee, in dem Mittel zwischen
Fettigkeit und Magerkeit. Eine solche Propor-
tion haben die Alten bei der Statue des
Bachus und Apollo p beobachtet, die heut
zu Tage kein Künstler nachahmen kann. So
hat ein rechter Pferdehändler eine Idee von
einem rechten schönen Pferde, ob er gleich ein
solches nie angetroffen hat, und er selbst wenn

/ er

/Seite 35

/er zeichnen könnte, nicht zu Papier bringen könnte.
Es dient ihm das Ideal zur Beurtheilung der
Pferde. Ieder Mensch von Genie hat ein solches
Ideal, weil aber heut zu Tage Leute, d«ie»er Iugend
vornämlich ein Muster (dem eigentlichen Verstan-
de nach giebts kein Muster, sondern liegt sol-
ches allein im Verstande und in der Idee, es
ist solches nur ein Beispiel) weisen, so werden
sie blos Nachahmer, und getrauen sich nicht, von
ihrem Eignen etwas hinzu zu thun. Ia es ist
unvernümftiger als etwas seyn kann, wenn
man Kinder lateinische Phrases, die von andern
sind gebraucht worden, auswendiglernen
läßt. So ist in Frankreich der Geist der Frei-
heit und Nachahmung so groß, daß wenn man
10 Franzosen kennt, man sie in der ganzen Welt
kennt. Dagegen ein Engländer der ungesellig
und nicht gewöhnt ist, sich nach andern zu in-
commodiren, weit leichter etwas hervorbringt
was aus seiner Idee fließt und Genie heist.
Man sollte billig bei Unterweisung der Iu-
gend ihnen zwar Beispiele vorlegen, allein sich
auch bemühen ihr Genie zu excoliren und sie
von der Nachahmung abzuhalten. Was endlich
das praktische Ideal betrift, so hat der Mensch
das besondre Vermögen, den Dingen einen Werth
zu geben, wenn er will. Dahero jemand, der
vorhero in Kutschen gefahren, nunmehr aber

/ in

/Seite 36

/in dürftigen Umständen lebt und zu Fuße geht, sich
seinen Zustand erträglich machen kann, wenn er
diesem vor dem erstern noch den Vorzug giebt. z. B.
Wenn er denkt: Im Gehen erblikst du mehrere
Gegenstände als wenn du fährst pp. Kurz er darf
nur an die Kürze des Lebens denken, und daß
es ihm gleich viel sey, wie dieser Erdboden ge-
schlagen wird, wenn er nur auf seinen Stand-
punkt bleibt. Es ist also der Mensch, der sich über
seinen schlechten Zustand grämt, auslachenswerth.
Wir wollen izt von den feinen und sinnlichen Or-
ganen reden. Zuerst müßen wir aber die
Empfindung von der Erscheinung unterscheiden.
Durch die Empfindung drük ich die Veränderungen
aus, die unsrem Körper vorgehen. Die Erschei-
nung aber ist, wenn wir uns etwas diesen
Empfindungen correspondirendes vorstellen. Zu-
weilen hat die Empfindung, zuweilen die Erschei-
nung das Uebergewicht oder die Herrschaft z. B.
Wenn wir Vitriolsäure auf unsre Zunge nehmen,
so herrscht bei uns die Empfindung, wir un-
terscheiden nicht mehr was sauer oder süß
ist. Bei den Gegenständen aber, die auf un-
sre Lunge würken herrscht die Erscheinung,
weil das Gleichgewicht unsers Körpers nur im
Ganzen betrachtet, dadurch unmerklich aufge-
hoben wird. Daher auch der gemeine Mann glaubt,
daß nicht die Lichtstralen von den Gegenständen
in unsre Augen fallen, sondern daß sie aus

/ unserm

/Seite 37

/unserm Auge auf die Gegenstände fallen. Wenn nun die
Empfindung so stark ist, daß alle Reflection über
den Gegenstand bei uns aufhört, so nennt man dies
Gefühl. Unsre Sinne sind theils mittelbar, theils
unmittelbar. Der einzige Schein durch den wir
uns das Objekt unmittelbar vorstellen ist das Ge-
fühl tactus. Die übrigen sind alle mittelbar.
d.i. man empfindet die Gegenstände nicht anders
als vermittelst eines Mitteldinges, daß sich zwi-
schen dem Objekt und den Organen befindet.
So empfinden wir z. B. etwas durch's Gehör, ver-
mittelst der Bewegung der Luft, die von Ge-
genständen hervorgebracht wird. Wir sehen et-
was z. B. die Sonne vermittelst der Lichtstra-
len. Wir rühren etwas nur vermittelst der
Luft die mit den aufgelöseten Theilchen eines Din-
ges angefüllt ist. Wir schmecken etwas nur
durch den Speichel aufgelößte und in die Papillas
oder Wärzchen eingeführe Salztheilchen. Die
Gegenstände wirken ferner auf die Sinne
entweder mechanisch, durch Stoß und Druk oder
chemisch durch die Auflösung. Die Sinne auf
welche die Gegenstände mechanisch wirken, sind
das Gefühl und Gehör.

/Der Sinn der für den gröbsten gehalten wird
nämlich das Gefühl, ist «nicht» der wesentlichste und
stärkste, denn durchs Ge«fühl»<hör> stelle ich mir nichts
vor, ich habe gar keinen Begrif von dem Gegen-
stande, den die Bewegung der Luft verursacht.

/ Durch's

/Seite 38

/Durch's Sehen erkenn ich nur die Form der Dinge und
etwa ihre Farbe, welche auch zuweilen ein Blend-
werk seyn kann. Allein durchs Gefühl erkenn ich
die Materie. Man sagt es wären zwei Schwe-
stern gewesen, davon die eine taub geworden
und diese habe doch im finstern mit ihrer Schwe-
ster reden können, und zwar auf die Art, daß
sie ihre Finger auf die Lippen ihrer Schwester
gelegt, und aus der Bewegung derselben ihre
Worte genau habe errathen können, also blos
durchs Gefühl. Ein Blindgebohrner in London, dem
die Starr gestochen wurde, hatte zwar viele
Vorstellungen, allein er konnte sie nicht eher
erkennen, als bis er sie durchs Gefühl be-
griffen hatte, und nachdem er alles durchs
Gesicht erkennen konnte, so war er doch nicht
im Stande, eine Kaze von einem Hunde zu
unterscheiden, bis er sie beide betastet hatte.
Ia da er einmal in einem Saal geführt
wurde, deßen Wände mit Malereien ausgeziert
waren, so freute er sich, daß er in einen
so schönen Garten kam, gieng gerade zu
bis er mit der Nase an die Wand stieß.
Hier stuzte er und fieng an die Wand zu
betasten, da er denn bald gewahr wurde
daß solche nur eine fallacia optica sey. Dem
Gefühl kommt der Geschmak am nächsten, weil
sich da die aufgelöseten Salzteilchen in die
Geschmaksdrüsen hineinziehn. Daher kommts

/ daß

/Seite 39

/daß den Menschen nichts so sehr, als der Geschmak
vergnügt. Die Amerikaner die neben der Oper
eine Garküche fänden, würden die schönste Musik
fahren laßen und eßen. Wir müßen hier mer-
ken, daß sich die Geschmaksdrüsen durch den gan-
zen Mund sogar bis an die Milchgefäße,
durch den Schlund erstrecken, daher der Ap-
petit entsteht, wenn die innren Drüsen afficirt
werden, und wenn die Menschen nicht aus Eitel-
keit ihren Appetit verderben lassen möchten,
so würde ihnen nichts schmecken, was ihrer
Gesundheit nicht zuträglich wäre. Sehr oft
afficirt <etwas> entweder die Geschmaksdrüsen auf
der Zunge sehr angenehm beim Herunterschlucken
aber findet man, daß es mit den hintersten Ge-
schmaksdrüsen nicht übereinstimmt. So ist's mit al-
len süßen Speisen. Dagegen der Rheinwein
mit den vordersten Geschmaksdrüsen nicht har-
monirt, und der Nachgeschmak doch angenehm
ist. Dies leztere ist allemal gesünder. Dem
Geschmak kömmt der Geruch am nächsten, da
nämlich die jederzeit feuchten Drüsen auf diese
oder jene Art angenehm oder unangenehm
afficirt werden. Zu den erstern gehören
diejenigen, die nur immer allein die Empfin-
dung haben kann, als Geschmak und Gefühl.
Zu den andern gehören diejenigen, als durch
welche man sehr viele und auf einmal ein Objekt

/ em- 

/Seite 40

/¿empfinden kann. Dahin gehört das Gesicht, Ge-
hör und Geruch. Das Gesicht ist der stärkste
Sinn, durch welchen sich auch die mehresten Ob-
jekte auf einmal vorstellen lassen. So machen
die Franzosen z B. Wenn sie große Entfer-
nungen meßen wollen, ein Feuer in der Ent-
fernung von etlichen Meilen, welches doch gese-
hen werden kann. Dagegen der Schall einer
Kanone allererst in einigen Sekunden zu ei-
ner solchen Distance gelangen würde. Ob
man nun wohl durchs Gesicht sich so viele Dinge
auf einmal vorstellen kann und man nur
aufmerksam seyn darf, um die vielen Ob-
jekte einzeln zu betrachten, so kann man beim
Mangel des Gesichts sich nur blos von der Ge-
stalt, Härte und Weiche der Dinge einen Be-
griff machen. Und obgleich dieses geschiehet, und
man sich durch das Gehör eigentlich keine Vorstel-
lung macht, so ist doch nicht ausgemacht, daß
das Gesicht dem Gehör vorzuziehen sey. Das
Gesicht bringt uns eine objectiue Erscheinung
das Gehör aber eine subjectiue. Weil man das
aber nur schön nennen kann, was vielen in der
Erscheinung gefält, so «werden» werden wir auch«t»
nur durch das Ge«fühl»sicht und Gehör bestimmen kön-
nen, was schön ist. Denn was guth riecht oder
schmeckt, das können wir wohl angenehm
aber nicht schön finden. Das Gehör hat eigentlich

/ keine

/Seite 41

/keine Qualitaet, denn dadurch, daß viel und wenig Schlä-
ge auf die ausgespannte Drommel geschehen, bekommen
wir weder Vorstellungen, vom Angenehmen, Unan-
genehmen oder Schönen, aber wir finden, daß
die Seele ein Vermögen hat, besonders auf die
Proportion der Zahlen aufmerksam zu seyn, und
also auch auf die Schläge, die auf die Drommel
harmonisch oder disharmonisch geschehen, ein Ge-
fallen oder Mißfallen zu finden.

/Es ist also das Gehör nur ein Mittel der Arith-
metik der Empfindungen. Es ist aber zu bewun-
dern, wie «man» das Gehör in einem Augenblik
d«¿¿»er Zeit in so viele Theile theilen kann, denn man
hat ausgerechnet daß der niedrigste Thon
den der Mensch für einen Ton hält, durch ein
90 mal oder wie andre sagen durch ein 24 mal
wiederholtes Berühren in der Drommel her-
vorgebracht werde«n», und daß zu den aller-
höchsten Ton 6000 Bebungen erfordert werden.
Sind nun etwa nur 100 Bebungen weniger, so
erkennt man gleich, daß es ein anderer Ton
sey. Man sieht also hieraus, daß die Seele
des Menschen in dem Augenblicke da der Ton
angegeben wird, die Zeit in 6000 theile theilen
muß, und hieraus ist nun auch zu sehen, wa-
rum man zu dem Mittel, einem andern seine
Gedanken mitzutheilen, Worte und nicht Panto-
minen und Gebärden gebraucht, blos weil der
Schall sich nach allen Orten ausdehnt, und man ü- 

/ ber- 

/Seite 42

/berhaupt die Eindrücke fürs Gehör als fürs Gesicht
weit stärker empfindet. Wie kommt das? daß die
Menschen das Gefallen an manchen Erscheinungen
Geschmak nennen, da solches doch gar nicht auf die
Sinne wirkt. So sagt man: Der Mensch hat Ge-
schmak am Bauen. Die Ursach ist wohl diese,
weil doch alles zulezt die Menschen möge machen,
was sie wollen fürs Essen und Geschmak hin-
ausläuft. So sagt Homer: Wenn die Fleisch-
glocke gezogen wird, so läuft alles davon,
und wenn er auch sein Gedicht, welches sehr schön
war, halb ausgelesen hätte. Der Geschmak
macht den Menschen das gröste Vergnügen,
durch die andern Sinne wird er nicht so stark
afficirt. Was den Geruch anbetrift, der ein
Analogon des Geschmaks ist, so daß auch durch
den Geruch einiger massen die GeschmaksDrüsen
afficirt werden, und man so gleich die Säure
durch den Geruch erkennen kann. Was diesen
Geruch betrift, so scheint es doch eine eingebildete
Sache zu seyn, denn bei Kindern und bei Wilden
bemerkt man nicht, daß ihnen etwas stinken
sollte, ja die Indianer empfinden bei der
assa foetida einen <nicht> üblen Geruch, da die ver-
feinerten Nasen, oft vom üblen Geruch in
Ohnmacht fallen. Man hat auch im Geruch ordent-
liche Moden. In alten Zeiten legte man Ambra

/ Bisam

/Seite 43

/Bisam in die Wäsche und Kleider, izt sind die von
Blumen abgezogene Wasser im Schranke. Der
Eckel entsteht vornemlich aus dem Geruch, und
ist bei den Wilden auch ungewöhnlich. Ob wohl
das Gefühl der unentbehrlichste Sinn ist, weil
man dadurch die Substanzen kennen lernt, ist
er doch deshalb nicht der vollkommenste, denn voll-
kommen ist ein Sinn, in so fern er zur Er-
kenntniß der Gegenstände und zu einer Glük-
seeligkeit beiträgt.

/Einige Sinne die weit vollkommner sind als das
Gefühl dienen dem Menschen und seinem Ver-
stande, andre der Vernumft. So dient das Gesicht
dem Verstand, und schaft uns von so vielen Ge-
genständen die Kenntniß. Das Gehör dient
vornämlich der Vernumft, denn durch dasselbe
communiciren wir unter einander unsre Gedan-
ken. Das Gehör ist der Sinn der Gefälligkeit
Daher ein Tauber immer argwöhnisch und ver-
drüßlich ist. Ein Blinder, der nur das Gehör hat
ist immer aufgeräumt und lustig, denn der
Mensch empfindet das gröste Vergnügen in
Gesellschaft. Die Ursache warum der Mensch
lieber taub als blind seyn will, ist, weil das
Gesicht mehr dazu dient, die Bedürfnisse zu
befriedigen. Man kann durch dasselbe die
Mittel ausfindig machen, seine Bedürfnisse zu

/ befrie- 

/Seite 44

/befriedigen. Das Gehör schaft uns aber ein weit
größeres Vergnügen, als das Gesicht. Wenn wir
nach der Ursach fragen, warum das Frauen-
zimmer gerne spricht, so antworten wir <mit> einem
Schriftsteller, (der dafür hält, daß die Vorsicht
mit allem Willen das andre Geschlecht so geschwäzig
erschaffen habe,) - weil wir von ihnen erzo-
gen werden, und ohne sie spät würden re-
den lernen.

/Der Geruch und Geschmak ist schon von weit grö-
berer Art, als das Gesicht und Gehör. Der Ge-
ruch scheint uns im gesittetem Zustande ganz
unbrauchbar, ja wohl gar tödlich zu seyn; weil
wir dadurch in Ohnmacht fallen. Allein im rohen
Zustande ist er gewiß von großem Nutzen.
Der Wilde kann ein Feuer riechen, wenn er gleich
keinen Rauch sieht, er riecht den Brandtwein, wenn
er auch noch so sehr verstekt ist. - 

/Unsre Sinne sind entweder fein oder scharf.
Feine Empfindungen nennt man, wenn man etwas
sehr kleines empfindet z. B. Wenn man eine sehr
kleine Schrift lesen kann, so sagt man, er hat
ein feines Gesicht. Eine scharfe Empfindung ist,
wenn man den kleinsten Unterschied bemerken
kann, und eine zarte Empfindung, wenn man sehr
bald von einer Sache afficirt wird. Diese ist
dem Menschen schädlich. Wenn man hier frägt,
ob Iunge oder Alte feinere oder schärfere

/ Empfin- 

/Seite 45

/schäfere Empfindungen haben, so dient zur Antwort
daß bei den Alten die Sinne zwar stumpf sind, und
daß sie den Unterschied weit eher bemerken
als Iunge. Die Ursach hievon ist, weil hiezu eine
lange Uebung erfordert wird. Daher haben
die Alten auch mehr Geschmak und lieben das
Sanfte, die Iugend aber liebt das Rührende.

/ ≥ Von dem Gebrauche der Sinne. ≤

/Der Gebrauch der Sinne ist zwiefach, nämlich

/1.) Die Empfindung und

/2) Die Zuwendung der Sinne auf die Erzeugung
der Reflection oder auf den Verstand

/Wenn wir empfinden, so denken wir noch nichts,
sondern wir müssen über die Gegenstände em-
pfinden. Wir sagen gemeiniglich von einem, der
sich durch die Länge der Zeit gewöhnt hat, leicht
über etwas zu reflectiren, daß er starke
Empfindungen haben. z. B. Wenn man mit einem
Iäger zusammengeht, so weiß derselbe bei
Erblickung eines entfernten Orts zu sagen, ob
solcher eine Wiese oder ein Sumpf sey. Wir
erblicken denselben Ort, die Empfindung ist
bei uns eben so groß, allein wir sind noch nicht
daran gewöhnt, darüber sogleich zu reflectiren.
Ferner wir bemerken, daß ein Iäger im Wal-
de die Wege sehr leicht zu finden «z» weiß, wenn
er auch nur einmal darin gewesen, dagegen ein-
andrer, der seinen Gedanken nachhängt, 10mal

/ da- 

/Seite 46

/darin gewesen seyn kann, und zum 11mal doch alles
in demselben neu findet. Die Ursach ist, weil
der Iäger gleich zum erstenmal, wenn er hin-
einkommt, über alles reflectirt. Die Empfindung
wird durch den öftern Gebrauch stumpf, allein
das Vermögen zu reflectiren wird immer stär-
ker, es sey denn, daß man durch den öftern
Gebrauch einen Ekel daran empfindet, immer
über dasselbe zu reflectiren, weil der Mensch
eine «M»Nei«n»gung hat, nur immer das Feld seiner
Erkentniß zu erweitern; Wir haben gesagt,
daß die Empfindung durch den öftern Ge-
brauch stumpf wird, allein das ist nicht so zu
verstehn, daß etwa die Organen dadurch sehr
geschwächt werden, sondern die Aufmerksamkeit
auf die Gegenstände wird stumpf. Die Gewohnheit
beraubt zulezt den Menschen aller Empfin-
dung, so daß Leibniz in seiner Theodicee er-
zählt, daß da 2 Mägde zusammengedient und
einer von ohngefär ein Bratfeuer auf die Hand
gefallen, die andre geschrien: wie weit schmerz-
licher wird das Fegfeuer seyn; die andre
antwortete: o Närrin man kann sich an alles
gewöhnen! Die alten Leute sagen oft, daß
sie sich in ihrem Alter weit gesünder befin-
den als in ihrer Iugend; allein das kommt
daher, weil sie durch Gewohnheit der fei- 

/ nern

/Seite 47

/nern Empfindungen, die sie in der Iugend hatten,
beraubt sind, und dieses nun wirkt ein neues
Uebel. Denn wie sie nun fast nichts empfinden
so arbeitet in ihrem Körper alles zu ihrem
Untergange. Das Blut geräth in Fäulniß pp.
ohne daß sie dadurch incommodirt werden, bis
das Uebel so zunimmt, daß es unheilbar wird.
Der schläfrige Zustand und jeder Rausch schwächt
die Empfindung des äußern und innren Sin-
nes. Ein Mensch kann sowohl gedankenlos seyn
daß er nichts empfindet, er kann sich aber auch
in einem gedankenlosen Zustande befinden.
Da er nichts empfindet, und dies ist der elen-
deste Zustand des Menschen. Wenn ein Mensch
gar zu empfindsam ist, so ist ihm solches
ebenfalls schädlich. Daher Medici oft darauf
bedacht seyn müßen, dem Menschen etwas von
der Empfindung zu benehmen. z. B. bei der
Schlaflosigkeit braucht man das Opium, allein
hiezu gehört Praecaution. Diejenigen, die fast
nichts denken, haben die stärksten Empfindun-
gen. Solches bemerken wir an den Wilden. Ein ge-
wißer Autor erzählt, daß als ein verklei-
detes Frauenzimmer auf eine Insel der Wil-
den gekommen, wo sich beide Geschlechter alles er-
laubt, so sind die Wilden auf sie zugelaufen
und haben sie einmüthig für ein Frauenzim- 

/ mer

/Seite 48

/mer erkannt, durch welchen Sinn sie dies empfun-
den ist nicht zu bestimmen. Der Mensch wird bei sei-
nem unempfindsamen Zustande sehr leicht auf-
merksam gemacht, so sein Interesse dabei lei-
det z. B. Wenn ein Mensch in einer Gesellschaft
ganz in Gedanken ist, und von sich sprechen hört, so
wird er gleich aufmerksam, oder wenn jemand
nur leise seinen Nahmen hört. Ia der Mensch
hat sogar eine besondre Neigung, auch auf das
Geringste sein Interesse zu wenden. So z. B.
Wenn jemand zu Miethe wohnt, und eine schö-
ne Gegend aus seinem Fenster erbliken kann
so hält er schon dafür, daß diese Gegend schäz-
bar sey, deswegen, weil sie ihn interessirt oder
wenn man jemand auf «s»eine Gegend aufmerk-
sam machen will, so darf man ihm z. B. nur sa-
gen, daß dieser Ort ehedem seinem Groß-
vater gehört habe, oder daß hier jemand von
seinen Landsleuten wohne. Ein Mensch wird
durch die Gewohnheit nicht nur gegen Leiden
sondern auch gegen Freuden unempfindlich. Da-
her ein Mensch seines Lebens bald überdrüßig
wird, wenn er in einer beständigen Ruhe lebt.
Er betrübt sich, daß keine Unruhe seine Ru-
he unterbricht. Wenn ein Mensch sein Glück
recht empfinden soll, so muß er vorher
im Unglük gewesen seyn. Daher die Roman-
schreiber ihre Helden zuerst in die betrüb- 

/ testen

/Seite 49

/testen Umstände verwicklen, ehe sie dieselben
mit dem längst gewünschten Glücke krönen. The-
tis stekte ihren Sohn Achilles in die Waßer
des Styx, daß er abgehärtet würde.

/ ≥ Vom Betruge der Sinne ≤

/Die Sinne betrügen nicht, denn sie urtheilen nicht, son-
dern Betrug ist nur ein Werk der Reflection. So schrei-
ben wir vieles den Empfindungen zu, was doch ein
Werk der Reflektion ist. Wir müßen aber wohl
Erscheinungen von den Begriffen unterscheiden. Ie-
ne sind bloße Anschauungen, diese aber for-
miren wir uns bei Gelegenheit der Erscheinun-
gen. Allein, weil wir schon so geläufig im Reflek-
tiren sind, daß wir es nicht einmal bemerken,
so verwechseln wir nicht selten die Erscheinun-
gen mit den Begriffen. Der Irrthum aber, der
bei Gelegenheit der sinnlichen Erscheinungen ent-
steht, entspringt aus einem Blendwerk. Wenn
man die Erscheinung für einen Begrif hällt;
So ist z. B. der Nebel eine Ursach des Blend-
werks, da man Dinge durch den Nebel entfernt
zu seyn glaubt, und wirklich für entfernt hällt.
Eben so ist's mit den Vergrößerungsgläsern.
Oder aus einem Hirngespinst, wenn man das was
die Imagination hervo<r>bringt, für wirkliche Er-
scheinungen hällt. So sehn die Menschen oft die,
wovon ihre Köpfe voll sind, als z. B. ein Prediger
einer Frau die lauter Liebeshändel im Kopf hat,

/ durch

/Seite 50

/durch den Tubum «den Man» sehen lies, so sagte sie:
o ich sehe wie der Liebhaber schmachtet und es scheint
daß die Schöne ihn nicht verachtet. Hierauf sagte
der Prediger "schämen sie sich, es sind nicht Verliebte
sondern Kirchenthürme. Die ihre Imagination nicht
sehr beschäftigen, sind für den Betrug der Sinne
der aus Hirngespinstern entsteht, so ziemlich si-
cher. So wird z. B. ein Wilder nie ein Gespenst sehn,
ob er gleich dem Blendwerke mehr ausgesezt
ist, denn man muß erst die Sinne gebrauchen
lernen, und sich bei Empfindungen den gehörigen
Begrif zu machen. So kann man z. B. den Be-
grif von der Naheit und Weite der Größe und
Kleinheit nur durch die Reflection erhalten.
Denn wenn man z. B. einen Hund in der Nähe
und ein Pferd in der Weite sieht, so scheinen
sie gleich groß zu seyn, und nur durch die Reflec-
tion über die Entfernung dieser beiden Ge-
genstände kann man einen rechten Begriff
von denselben bekommen. So sahen einst Stu-
denten, die gewohnt waren früh aufzustehen
und spatzieren zu gehn, im Nebel einen Trupp
Gänse für Dragoner an, weil im Nebel alles
entfernt zu seyn scheint, und sie so reflectir-
ten, daß wenn ein Trupp Dragoner in eben der
Entfernung, als die Gänse, stehen möchten, sie
eben den Anblik der Gänse geben würden.
Der Sinn des Gesichts ist am mehresten dem

/ Blend- 

/Seite 51

/Blendwerk ausgesezt, weil wir hier am meisten
reflectiren, so kommt uns alles was hoch steigt vor,
als wenn es uns über den Kopf käme. z. B. Die
Raquetten. Das Meer scheint uns in der Weite
höher als die Erde zu seyn, welches von den
Lichtstralen herkommt und aus der Optic leicht
zu erklären ist. Alles dieses <sind> nun wahre Erschei-
nungen, aber den Begriff den wir von densel-
ben haben, ist falsch. Sehr oft halten wir den
falschen Begrif, den wir von einer Sache haben,
für eine Erscheinung z. B. Wenn der Mond im
Horizont aufgeht, so leiten wir dieses aus
der Brechung der Lichtstralen in den Dünsten
her, allein wenn man vermittelst des Astrolabii
seinen Diameter mißt, so ist er eben so groß
im Horizont als über denselben. - Es ist
hier also wirklich ein Betrug unsers Urtheils
da unser Begrif von der Erscheinung gegeben
ist. Wir betrachten alle Dinge in einer ge-
wißen Weise, nun urtheilen wir, daß zwischen
den Mond und dem Horizont viele Gegenstände
befindlich sind, er auch weiter entfernt seyn
müsse, wenn er über den Horizont stünde; o-
der weil er in einer großer Weite eben so groß
scheint als in einer kleinern, so schließen wir
daß er im Horizonte größer seyn würde. Die-
sen falschen Schluß halten wir für eine Em-
pfindung. Aber nicht das Auge allein, sondern

/ auch

/Seite 52

/auch die andre Sinne sind betrügerisch z. B. Das
Gefühl, wenn man 2 Finger über einander legt, und
alsdann ein Kügelchen von Brodt mit der äußern
Seite des andern Fingers oder mit der innern
Seite zugleich berührt, so glaubt man 2 Kügel-
chen zu berühren. Ferner: Wenn man einem
Kinde ein Stük gefrornen Käse in dem Mund
legt, so schreit es heiß! Dies rührt daher
weil Hitze und Kälte die Nerwen zusammen-
ziehn und einerlei Wirkung im Munde hervor-
bringen, daher sich auch der sonst widerspre-
chende Ausdruk originirt, brennende Kälte. Es
ist aber nicht nur ein Betrug der äußern Sin-
ne, sondern auch ein Betrug des innern Sinnes. Lez-
terer geschieht, wenn man das für Empfindung
hält was in der Einbildung besteht, und der
dem Betrug des innern Sinns ausgesezt ist,
den man nennt einen Phantasten. Derjenige
der immer in der Geisterwelt ist, ist ein Schwär-
mer. Im Canton Bern war ein rechtschafner
Mann der Major Dauwe, der auf einmahl sich
einbildete, er hätte die Stimme Gottes gehört,
die zu ihm gesagt hätte, er solle nach Lausanne
mit seinen Truppen marschiren. Daselbst
würde eine nüzliche Veränderung in der Reli-
gion vorgehen. Er ging hin und da er sol-
ches ohne Erlaubnis gethan hatte, so wurde
er auf das Rathaus gefordert und um die Ur- 

/ sach

/Seite 53

/sach gefragt, worauf er denn antwortete,
daß eine besondre Schikung ihm diesen Marsch
aufgelegt hatte. Indeßen wurden alle seine
Soldaten arretirt, und er ward, damit nicht
ein andrer unter einem erdichteten Vorwande
solches unternehmen möchte, hingerichtet. Er
starb ganz ruhig, weil er vieleicht dachte, daß
Gott mit ihm in jene Welt eine Veränderung
vorhätte (siehe Schwedenborgs Träumereien)
Der Betrug des innren Sinnes giebt iederzeit
den Verdacht der Störung des Gemüths, weil doch
Empfindungen von Erscheinungen zu unterscheiden
sind. Es ist dieser Fanaticismus da der Mensch
immer denkt in Gesellschaft höherer Geister
zu seyn, gefährlich. Es ist auch dem Menschen
nichts schädlicher als daß er seine Gedanken
immer auf seinen Zustand richtet, und von al-
ler Gesellschaft abgesondert nur immer sein
Gemüth zu belauschen sucht. Dieses ist ieder-
zeit eine Verletzung desselben, welches end-
lich die Ursach zur völligen Störung seyn kann.
Ein solcher der immer innere Anschauungen hat,
verlezt auch leicht alle Pflichten, die er andern
schuldig ist. Lavaters Aussichten in die Ewig-
keit sind gut zu lesen, allein er sagt selbst,
daß er beim Schlafengehn, den Körper gleich-
sam von der Seele getrennt, bemerkt habe,
welches auch schon eine ziemliche Schwärmerei ist.

/ Die

/Seite 54

/Die Priester des großen Lama geben so gar
gewiße Pillen, die den Menschen von aller Sinn-
lichkeit abziehen sollen und ihn in lauter Schwär-
merei versetzen. Ueberhaupt können wir
merken, daß alles was sich nicht mittheilen
läßt, bei Seite gesezt werden muß weil un-
sre Vernumft theilnehmend ist. - 

/Wir gehen nunmehr zum Verhältnis der Vor-
stellungen unter einander, da eine die andre
bald belebt, bald schwächt.

/Wir lieben

/1)Mannigfaltigkeit. Diese besteht in der Vielheit
verschiedener Dinge zu gleicher Zeit. So lieben
wir die Mannigfaltigkeit bei der Tafel und in
Büchern. Daher Montagnens Wochenschriften
so sehr gefallen und die Mannigfaltigkeit in Ge-
sellschaft, wenn's nicht blos solche Personen sind,
die von der Gelehrsamkeit oder Handlung spre-
chen, sondern wenn alles gemischt ist, auch lieben
wir die Mannigfaltigkeit in Gebäuden. Als jemand
nach Rom fahren wollte, und man ihm sagte,
daß er durch eine große Allee fahren müßte,
so kehrte er gleich um, blos weil ihm bange wur-
de, so lange in Einerleiheit zu seyn, und
nichts anders, als dichtgepflanzte Bäume zu
sehn. Ein Wald wird blos wegen der Mannig-
faltigkeit wegen geliebt, und weil man die
Bäume ganz in Unordnung findet. Man men-
get auch zuweilen das schlechte mit dem schönen

/ blos

/Seite 55

/blos um der Manigfaltigkeit willen, ja der Schöpfer
selbst hat so gewählt. Man kann von vielen Ge-
schöpfen, den Nutzen gar nicht einsehen; vieleicht
sind sie aber blos da, um die Mannigfaltigkeit
zu vergrößern. Kurz die Mannigfaltigkeit ist
ein großer Reichthum der Natur.

/2) Die Abwechselung. Sie ist die Mannigfaltigkeit
in den Dingen, in so fern sie sich in verschie-
denen Zeiten befinden. Hier folgt oft das
Schlechte auf das Schöne, blos um die Einerlei-
heit in der Folge der Dinge zu verhüten. Un-
ser Gemüth bekommt durch die Abwechselung
immer neue Kräfte, so wie man von einer Ka-
nonenkugel weis, daß sie mit gestärkter Kraft
fortprelt, wenn sie an die Erde stößt. Die
Ursach daß der Mensch so sehr die Abwechse-
lung liebt, ist in Absicht auf den Körper sehr
mechanisch. Unser Körper ist schon so eingerich-
tet, daß wir nicht lange in einer Stellung
bleiben können, ja man kann ohne Schweispul-
ver sehr leicht in Schweis gerathen, wenn man
einige Zeit kein Glied bewegt. Schirnhau¿en
preißt solches als das beste Mittel an. Es
ist im ganzen Körper des Menschen schon ein
Bestreben nach Abwechselung und Bewegung.
Denn jede Muskel hat ihren Antagonisten, der
die gegenseitige Bewegung verlangt. So geht
es auch mit unserm Gemüth, wenn man sich gar
zu sehr auf eben die Sache einschränkt, so ermü- 

/ den

/Seite 56

/den die GehirnsOrgane, so wie das Träuflen des
Wassers, wenn es auf eine Stelle fällt, die größeste
Wirkung thut, so werden auch unsre Nerwen
des Körpers, wenn sie immer auf gleiche Weise
angestrengt werden, zulezt ganz auseinander
gerissen. Desham erzählt, daß einer blos da-
rum sein Haus an einem Musiker nicht habe
vermiethen wollen, weil durch seine Basvioline
das Haus beständig erschüttert, und er be-
fürchtet, das Haus möchte mit der Zeit ein-
fallen. Wenn Soldaten über eine Brücke mar-
schieren, so kann die Brücke leicht durch ih-
ren gleichen Tritt außer Verbindung gesezt
werden. Man muß daher nicht die Seelenkräfte
auf einen Gegenstand immer richten, sondern zu-
weilen durch Lesen angenehmer Bücher die
schwach werdende Kraft erfrischen. Durch
die Zwischenräume wird das Bewustseyn unsers
Lebens vergrößert, welches unser Wohl ausmacht.

/3)Die Neuigkeit sezt allemal etwas zum vor-
aus, welches in unsern ganzen vorigen Zustan-
de nicht war, obgleich bei einigen öfters das
neu ist, was vergessen war. Die Neuigkeit ist
so angenehm, daß wir uns damit wohl den
ganzen Tag beschäftigen könnten. Kommen
wir in Gesellschaft, so ist gemeiniglich die
erste Frage: Was giebts neues? Bei der
Neuigkeit kömmt es nicht sowohl auf die Neuigkeit

/ der

/Seite 57

/der Sache, als auf die Erkenntnis an. Wenn aber
beides verbunden ist, so ist die Wirkung größer,
weil communicatio ist, und also das man gerne
erzählen mag, was andre noch nicht wißen. Bei
der Tafel spricht man gewönlich von Neuigkei-
ten, kommt man aber zu jemanden und weiß
nichts neues, so redet man vom Wetter, weil man
von draussen kommt; und es auf die Art empfun-
den hat. Man kann auch vom Wohl der Personen
reden, oder vom Zimmer, in welches man tritt. Allein
darüber würde sich jeder wundern, wenn man
beim Eintritt von Römer und Griechen sprä-
che. Weis ein Mensch gar nicht zu reden, so
pflegen die Italiener von einem solchen zu
sagen, der Mensch hat die Tramontana ver-
lohren. Tramontana nennen sie die Nordwinde
die über die Gebürge wehn. Sie meinen da-
durch, der Mensch könne auch doch vom Wetter
sprechen. Die Neuigkeit macht auch sogar
Sachen im Besiz angenehm. Die Seltenheit
besteht in demjenigen, was nicht häufig ange-
troffen wird oder nicht gemein ist.

/Die Menschen bekommen oft deshalb einen Werth
weil sie etwas Singulares haben, wenn es
sonst gleich nicht zu loben ist. Ueberhaupt for-
dert man von einem jeden Menschen etwas
karakteristisches. Eine Münze von der man
sagt, daß sie seltenangetroffen werden, hat

/ blos

/Seite 58

/blos deswegen einen Werth bei dem Menschen. Al-
lein der eine Sache blos der Seltenheit wegen hoch
«ge» schäzt, verräth einen Verdorbnen Geschmak,
denn dies kann nicht aus der allgemeinen Vor-
stellung hergeleitet werden, sondern es ist blos
die Wirkung der Eitelkeit. So hält mancher eine
Putscheere hoch, blos weil sie Epiktet brauchte.
In dieser Verfaßung kann man den Men-
schen recht kennen lernen. In Holland war ehe-
dem die Blumenliebhaberei so gros, daß man im
vorigen Seculo 2 bis 3000 fl (holländische) von
der Kanzel dem anbieten ließ, der eine selt-
ne Blume schaffen würde; und hatte jemand
eine solche und ein andrer sah sie in seinem
Garten, so kaufte er sie wohl für 5000 fl
und zertrat sie, damit er allein im Besiz der-
selben wäre. Es ist aber auch bekannt, daß die
Holländer keinen Geschmak haben. Die Lust
angesehener Seltenheiten ist wieder ein ganz
andrer Trieb. Man hält einen solchen Men-
schen, der viele Seltenheiten gesehen hat, auch für
einen seltnen Menschen. Allein man muß
nicht solche Seltenheiten bemerken, als der
Handwerksbursch, der öfters eine Waage
über dem Stadthor, welche schlecht und falsch
gemahlt sind, sich besonders merkt und es Wahr-
zeichen nennt, als etwa einen Stephanstein oder

/ be- 

/Seite 59

/besondre Art Marmor.

/Wenn man die Seltenheiten und ihre Eigenschaften
recht betrachtet und auszeichnet, so sagt man ge-
meiniglich zuerst, was die Sache nicht ist. Der Con-
trast besteht darin, daß man ein Ding mit dem-
jenigen, was sein Widerspiel ausmacht, zusam-
menstellt. Es wird auch die Abstechung genannt
und ist daher dem Menschen sehr angenehm.
So hält oft eine Dame Kammermädchen von schlech-
ter Bildung, damit sich ihre Schönheit desto mehr
ausnehme. So giebt es viele Contraste in der
Natur. z. B. Pantoppidan beschreibt, wie er
in den nordlichen Gegenden bald ungeheure
Felsen bald rauhe Berge, bald vortreflich frucht-
bare Thäler angetroffen habe. Sie beobach-
ten die Chineser in Einrichtung ihrer Gärten
einen Kontrast. Hägel in seinem Buch von der
Häßlichkeit gedenkt eines kleinen Menschen, der
sich sehr hütete bei jemanden im Parlament
zu sitzen der 6 Fuß hoch war, damit er als-
dann wegen seiner Kleinheit nicht gar lächer-
lich würde. Der Miromeyer des Voltair ist
auch hieher zu rechnen, allein, wenn der Kontrast
mit einem Widerspruch verbunden ist, so er-
niedrigt er den Menschen sehr z. B. Wenn
man einen schönen wohlgebildeten Menschen
sieht, daß er ein schwarzes zerrißenes Hemd
an hat, so ist dies ein Contrast mit einem Wi- 

/ der

/Seite 60

/derspruch verknüpft. Ferner ist die Continuitaet oder
der almälige Uebergang von dem Absprung zu
unterscheiden. Ienes lieben wir, dies ist uns ver-
haßt. Wir verlangen jederzeit, daß unser Zustand
allmälig verändert werde, daher gefällt uns
nicht das ekigte, das abgeschnittene. z. B. Eine
Rede, die keinen Zusammenhang und Verbindung
hat, so auch die spitzige Schaale in der Mahlerei.
Der plözliche Absprung ist allemal etwas widri-
ges, wenn man jemanden in Affekt setzen will,
so muß man ihn allmälig praepariren. Wir wollen
noch einige Beispiele vom Contrast hinzufügen. Ein
Successor der accurat und ordentlich ist, hat
es gut, wenn er einen unordentlichen Antecessor
gehabt, weil er ihn absticht. Es ist jederzeit ge-
färlich eine Wittwe zu heyrathen, weil sie, wenn
sie vorher einen guten Mann gehabt, sich immer dessel-
ben erinnert und mit ihren izigen unzufrieden
ist. Es wäre sehr guth, wenn bei Besetzung der
Aemter darauf gesehen würde, daß jedem
Amte ein solcher vorgesezt würde, der mehr
Meriten hatte, als zu diesem Amte erfordert
würden, weil es guth absticht. So kann einer ein
vortreflicher Schulmann seyn, und als Pre-
diger verachtet werden. Bei widersprechenden
Contrasten wo 2 Dinge vereinigt werden, deren
eins dem andern entgegengesezt ist, wird der
Contrast zwar stärker aber die Vereinigung schwä-
cher. Dieser Kontrast ist allemal schädlich und

/ muß

/Seite 61

/muß verhütet werden. Z. B. Ein widersprechender
Contrast ist der, wenn ich von einem wohlgeklei-
deten und dem Scheine nach artiges Frauenzimmer
einen pöbelhaften Ausdruk oder sie platdeutsch
sprechen höre. - Oder wenn ein Prediger ein fran-
zösisches Wort braucht; Denn die deutsche Spra-
che, die eine ursprüngliche Sprache ist, ist so
delikat, daß ein jedes Wort aus einer frem-
den Sprache darin zu kennen ist. Die wider-
sprechende Kontraste machen uns oft zum La-
chen, Z. B. Wenn eine Menge Personen bei einem
Leichnahm versammelt sind, wo alles ernsthaft
zugehen soll, alsdenn sind sie am meisten
zum Lachen gestimmt. Es darf alsdann nur ein
Hund unter sie kommen, so werden sie alle la-
chen und alsdann können sie das Lachen nicht hemmen,
weil einer nur den andern ansehen und an die
ernsthafte Stellung gedacht werden darf. So
lachen wir, wenn wir sehen, daß jemand stol-
pert und fallen will, welches ein boshaftes La-
chen zu seyn scheint. Dies kommt aber daher, weil
wir uns an seinen vorigen stolzen Gang er-
innern, und ihn mit dem Stolpern vergleichen.
Ferner, wenn iemand in prächtigen Kleidern
ausgegangen ist, und bemerkt, daß er ein
Loch in dem Strumpf hat, so wird er da-
durch ganz decontinencirt, weil er bei jedem
Schritt denkt, daß der hinter ihm ist, es be- 

/ merkt

/Seite 62

/merkt. So bemerken wir dies von 2 gegeneinan-
der gesezten Dingen, von denen eins hart ist und
gleichsam schreit. Hieraus können wir beurthei-
len, ob Farben sich zusammenschiken oder nicht. z. B.
Es schikt sich keine Farbe mit einer andern zu-
sammen, die jener gar zu nahe kömmt. Wenn
iemand einen dunkelblauen Rok und eine etwas
helle Weste hat. Hier stellen wir uns vor, die
Weste könne etwas blauer seyn, und daß
dies ein Mangel sey, und als solcher mißfalle.
Wir stellen uns hier vor, der Mensch intendirt
gute Kleidung zu haben, aber daß er seinen
Zwek verfehle. Wie kommts daß ein blauer
Rok und eine rothe Weste gut lassen aber
nicht umgekehrt. Die Ursach ist: Der blaue
Rok bedekt zum theil die rothe Weste, und das
Auge des Menschen geht vom blauen Rok durch
das violet u. s. w. über. Hingegen wenn wir
vom rothen Kleide auf die blaue Weste sehen,
so sehn wir eine schmutzig rothe Farbe durch
die aus der Mischung von vielem Roth und we-
nig blau entsteht. Es liegt hier die innere
Beurtheilung zum Grunde. Das leichtere muß
immer den kleinsten Theil ausmachen, ferner
das Futter von einem Kleide muß immer lich-
ter seyn, wenn es abstechen soll. Soll es
aber von derselben Couleur seyn, so muß
es Seide sein, welche wegen ihres Glanzes
an sich heller ist. Das Steigern ist sehr an- 

/ ge

/Seite 63

/genehm. Das Harte schikt sich beßer für die Iu-
gend als fürs Alter. Ein Wilder liebt immer das
Rothe, daher bemalen sich die Nordamerikaner
das ganze Gesicht mit Zinnober, den sie von den
Franzosen erhalten. Das purpurrothe ist die
stärkste Farbe. Helle Farben kleiden die Iugend
gut, die Alten sanfte um deswillen, weil sie
zu ihren Gesichtszügen und der Farbe des
Gesichts beßer paßt. Einem Menschen, dem nicht
wohl ist, wird bei Erblickung harter Farben
noch übler. Man hält dubieuse Farben für die
sanftesten. Für Leute die blond und gesund sind,
schikken sich blasse Farbe und für Brunette
harte. Schwarz schikt sich auch für Blonde und
zwar durch den Contrast, denn hier ist ein
völliges Gegentheil. Unsre Empfindungen wer-
den durch die Dauer schwächer. Sie schwächen
sich selbst, und das kommt daher, weil das
Gemüth auf einen Gegenstand, der immer ei-
nerlei ist, in der Aufmerksamkeit nachläßt.
Man sagt z. B. Wenn jemand seinen Ehegatten
verliert, so soll der Schmerz darüber eben so
seyn, als derjenige, wenn man sich den Ellenbo-
gen gestoßen hat, der zwar groß ist, aber
doch bald nachläßt. Man muß daher auch <%nicht> lan-
ge über eine und dieselbe Sache denken, son-
dern der zwischen eins und das andre vornehmen.
Damit die Aufmerksamkeit desto mehr Kräf-
te bekömmt. Bisweilen kann man sein Ge- 

/ müth

/Seite 64

/müth von einer irrigen Sache gar abziehen. Wenn
wir wollen daß etwas lange dauern soll, so müßen
wir es so machen, daß noch immer Hofnung zum Wachs-
thum da ist. So dauert eine Freundschaft die bald
zu ihrer Reife kommt, nicht lange. Wenn wir
glüklich seyn wollen, so müßen wir uns nicht auf
einmal von der vortheilhaftesten Seite zeigen.
Das Gemüth hat eine völlige repugnance ge-
gen die Monotonie oder Gleichförmigkeit. Es
abhorrirt nichts so sehr, als immer an denselben
Flek gebunden zu seyn. Wenn wir auf den Zu-
stand des Menschen gehn, so finden wir, daß
seine Empfindung bald klar bald dunkel ist. Der
4fache Zustand in welchem der Mensch sich sei-
ner Empfindungen dunkel bewust ist, ist im
gesunden Zustande bei der Trunkenheit und
im Schlaf, im kranken Zustande, bei der Ohn-
macht und beim Sterben. Man sagt: Der Mensch
ist seiner selbst nicht mächtig, wenn sein Zustand
oder er selbst seiner Willkühr nicht unterwor-
fen ist. So ist z. B. iemand in Furcht und Ban-
gigkeit, wenn ihm gleich seine Vernumft sagt, daß
er nicht so viel zu befürchten habe. Daher kommts auch
daß die Herzhaftigkeit so zweifelhaft ist, @indem@
die Tapfrigkeit auch zuweilen den besten General
verläßt. Zuweilen befinden wir uns in einem glük-
lichen Zustande der Selbstbeherrschung. Montesquieu

/ führt

/Seite 65

/führt an, daß ein General dem, wenn er im Schlaf-
rok ist, angekündigt wird, daß der Feind aufbricht,
weniger herzhaft ist, als in seiner Uniform. Die
Ursach kann vieleicht diese sein, weil «er» ein Mensch
wenn er angekleidet ist, immer weit wackerer ist,
indem durch die paßende Kleidung die Muskeln
beßer zusammengehalten werden, oder auch, weil
man sich als dann zu allen Unterhandlungen fer-
tig sieht. Ein sehr bequemes Leben macht den
Menschen feige. Der größte Grad der Glüksee-
ligkeit des Menschen besteht darin, daß er über
sich Meister ist, denn die Uebel treffen uns nur
in so fern, als sie zum Siz der Seele gelangen.
Dieser Selbstbesiz war die Lehre der Stoiker,
und obwohl die Epikuraeer ihre Glükseeligkeit in
der Fröhlichkeit sezten, so zeigt sich doch, daß
wenn man animi capacis ist, man größere Gei-
stesstärke habe. Man ist ferner seiner selbst
nicht mächtig, wenn man durch die Bewegung
des Gemüths zu unwillkürlichen Handlungen ver-
leitet wird. So ists mit dem Zorn des Menschen.
So ist das Schreien des Frauenzimmers eine
unwillkürliche Bewegung. Allein die Natur hat
dies dem schwachen Geschlecht zum großen
Nutzen eigen gemacht, indem das Schreien
einen sogleich vom Schrek befreiet, und das
Blut, welches durch den Schrecken zusammengezogen,
wieder auseinander treibt. Man nennt auch

/ die

/Seite 66

/die unwillkürlichen Handlungen Passionen. Ein Zor-
niger wird oft durch die Größe des Zorns
ohnmächtig sich zu rächen, und seinen Zorn aus-
zudrücken. Ebenso ist's mit einem gar zu
heftigen Liebhaber. Wenn man einmal über
sich Herr ist, so darf man nur seinen Verstand
informiren. Wenn das nun ausgemacht ist
daß eine sehr klare Empfindung die übri-
gen verdunkelt, so ist leicht einzusehn, daß man
aus «s» sich selbst gesezt werden kann, die Dunkel-
heit in Rüksicht aller Empfindungen zu Wege
bringt. Der Autor spricht izt von der Exstase
oder «¿¿»aus sich selbst gesezt werden. Wenn
iemand durch eine unangenehme Empfindung
aus sich selbst gesezt wird, so ist dies Betrüb-
niß. Geschiehet dies aber durch eine ange-
nehme Empfindung, so ist's Entzücken. Der
Pöbel versteht unter Entzückung, daß der Geist
aus dem Körper in einem ganz andern Ort
gesezt wird. Phisikalisch wird iemand be-
trübt, wenn man gar zu sehr schreit und lärmt,
moralisch, wenn alle Empfindungen dadurch
verdunkelt werden. Diese Betrübniß macht
Gewönlich den Zustand des Wachens dem Men-
schen zweifelhaft. Man dünkt sich alsdann zu
träumen. Wir wollen izt etwas vom Zu-
stande der Trunkenheit reden. Wenn es
nicht die Erfahrung lehrte, so würde man

/ es

/Seite 67

/es nicht geglaubt haben, daß ein Mensch ohne seine Ge-
sundheit zu verletzen, sich in einem solchen Zustande
versetzen könne, da man voller Chimairen ist, und
alle Dinge anders erkennt, als sie wirklich sind. In
Ländern, wo die Natur nicht einen solchen starken
Saft hervorbringt, weis man nichts von der Trun-
kenheit, als die Grönländer Eskimaus. Alle
rohe Völker sind alsdann am glüklichsten, wenn
sie trunken sind. Daher lieben sie alle den Trunk
und haben sie einmal einen solchen Trunk ge-
kostet, so gehn sie nicht eher davon ab (, als
die Kanadischen Wilden in Nordamerika) bis kein
Tropfen mehr da ist. Die orientalischen Völker
werden durch die Trunkenheit beinahe rasend.
So gerathen die Türken, wenn sie besoffen
sind, gemeiniglich in Wuth, dagegen der Rausch
bei den nordischen Völkern eine Geselligkeit
zu Wege bringt. Wir müßen aber den Rausch
der gesellig macht, sehr wohl von der versoffnen
Neigung unterscheiden, die zur Geselligkeit
unthätig macht. Es ist noch nicht ausgemacht,
ob nicht vieleicht ein mittelmäßiger Rausch (oder
ungekünstelte Fröhlichkeit) erlaubt sey. Man
wird finden, daß wenn ein Mann vor sich
zu Hause allein trinkt, und betrunken wird,
sich iederzeit schämmt, wenn ihn iemand in
seinem Hause besucht, ist er aber in Ge-
sellschaft trunken geworden, so schämt er

/ sich

/Seite 68

/sich gar nicht. Ein mäßiger Rausch macht gesel-
lig, offenherzig und gesprächig, und in so weit
ist er erlaubt. Wir müßen aber auch merken,
daß nicht alle starke Getränke gesellig ma-
chen, sondern verschiedene Wirkungen äußern.
So ist der Brandwein ein ungeselliger Trank,
er macht den Menschen mißtrauisch und aus
dieser Ursach auch heimlich. Man behält alles
für sich, %.und mag keinem seine wahre Meinung
entdecken. Daher hält man auch den, der sich
an Brantwein betrinkt, für schändlich. Das
Bier macht gleichfals schwer und ungesellig,
der Wein aber geistig. In Ansehung der
Personen hat man zu bemerken, daß sich
nicht alle Menschen betrinken müßen. z. B. Wei-
ber, Geistliche u. a. Ueberhaupt müßen alle
diejenigen die eine Schanze zu bewahren ha-
ben, dem Rausch entsagen. Nun scheint es, daß
die Natur alle Mittel an die Frauenzimmer
verschwendet hat, dasjenige zu scheinen,
was man doch nicht ist, et vice versa. Da nun
die Eigenschaften zu besitzen und zu scheinen
die man nicht besizt, viele Achtsamkeit und Vor-
sicht erfordern, so muß kein Frauenzimmer
sich betrinken. Denn betrinkt es sich, so sieht
man, daß sie die Kunst verlohren hat, et-
was zu scheinen, was es nicht ist. So wunder-
bar scheint es auch zu seyn, wenn ein Iude

/ sich

/Seite 69

/sich besäuft. Die Ursach ist diese, weil sich die Iu-
den von allen Regeln im gemeinen Leben ausneh-
men, sowohl im Essen als Kirchenceremonien, und
daher sollten sie sich nicht betrinken. Trunkenheit
scheint nur ein Privilegium der Bürger zu seyn.
Es heist von den alten Deutschen, sie faßten
ihre Rathschlüsse beim Trunk, damit sie herzhaft
wären, und beurtheilten sie nüchtern, damit
sie nicht ohne Verstand wären. Gewiß es ist nicht
zu tadeln, denn weil ihre Rathschlüße auf
Krieg und Frieden gingen, so mußten sie
herzhaft seyn, und daher war beim Trunk
der Wille schon einmal erklärt, auf den an-
dern Tag schämte man sich das zu wider-
rufen, was man am vorigen Tage so prale-
risch geredet hatte, daher moderirte man nur
etwas den Entschluß, wenn er zu ausschwei-
fend gewesen. Seneca sagt, daß man vom Cato
so geredet habe: Virtus ejus incaluit «ferro» <vino>.
"Ich will entweder behaupten, daß Cato sich nicht
betrunken habe, oder wenn er sich betruncken
hat, so will ich behaupten, daß die Trunken-
heit kein Laster sey:" (gewiß partheiisch) Hie-
raus folgt nun, daß diejenigen, die nichts
zu verb«¿¿»ergen haben, und iederzeit aufrichtig
sind, sich eher berauschen können, als die Falschen.
Daher den Deutschen der Trunk nicht so leicht ver-
argt wird. Man darf aber nicht denken, daß
man bei der Trunkenheit den Charakter des

/ Men- 

/Seite 70

/Menschen werde kennen lernen, obgleich sein Tem-
perament dadurch bekannt wird. Die Gesinnungen
der trunknen Menschen aber sind ganz ver-
schieden. Einige werden zänkisch, andre pra-
lerisch, andre zärtlich und wehmütig, welches
man gemeinheit «bei» bei gemeinen Leuten be-
merkt. Allein dies sind keine Beweisthümer
des Charakters, denn wenn solche Leute nüch-
tern werden, so lachen sie über ihr Betra-
gen. Aber dies zeigt das Temperament an.
So sind einige Menschen etwas zornig vor
oder nach dem Essen. Unter Heinrich_III König
von Frankreich begieng ein vornehmer Mann
ein grobes Verbrechen. Er dachte abr, weil
er den König jederzeit großmüthig gekannt
hatte, Gnade zu finden und reisete nach
der Absicht nach Paris. Ein Connetabel der
das gehört hatte, sagte zu dem andern: Dieser
Man verliert seinen Kopf, und als die an-
dern ihn fragten, woher er das wiße, sag-
te er "es ist heute ein kalter Tag und der
König gemeiniglich hart. Der Mann kam
nach Paris, und wurde enthauptet.

/Der Schlaf zieht unsre Aufmerksamkeit von
den Gegenständen ab. Die Spannung aller Fasern
läßt «ab» nach, welches daher kömmt, weil wir im
Tage viel Kräfte aufgewant haben. So ange-
nehm es ist, unsre Thätigkeit zu empfin- 

/ den

/Seite 71

/den, so angenehm ist es, almälig unthätig zu wer-
den, denn es scheint alles angenehm zu seyn, was
die Anwendung und Ersetzung der LebensKräf-
te bewirket. Da nun durch den Schlaf die Kräfte
ersezt werden, so ist es uns auch angenehm, wenn
uns derselbe anwandelt. Wir bemerken aber,
daß wenn uns schläfert, uns zu frieren an-
fängt. Die äußere Wärme verliert sich als-
dann. Ueberhaupt wird beim Schlaf die gan-
ze Wärme im Körper verringert, welches
man durch Versuche, indem man einem Schlafenden
ein Thermometer in dem Mund gesezt, erfah-
ren hat. Auch der Urin, den ein Mensch im
Schlaf läßt, ist weit klarer als sonst. Die
Erkältung des Bluts verursacht den Schlaf.
Die Sorex und das Murmelthier schlafen
bei der Kälte ganz fest. Ia wenn man die
Sorex aus ihrem Loche zieht, und sie kneipft,
so schreit sie zwar, schläft aber dennoch.
Ihre Lebenswärme ist dann nicht größer, als
die Wärme der Luft, und ihr Blut ist ganz
klebrig. Da nun die Schläfrigkeit von dem
Nachlaß der Lebenswärme herkommt, so kann
man leicht einsehn, wie schädlich das viele Schlafen
sey. Es verdikt das Blut. Bei einem Schlä-
frigen läßt die Aufmerksamkeit der Gegen-
stände nach und die Chimairen vertreten die

/ Stelle

/Seite 72

/Stelle der Empfindungen. Es ist überhaupt ein
jeder Mensch beim Wachen «n»auch«t» voller Chimai-
ren, aber die äußere Empfindung macht, daß
man die Einbildungen von denselben wirk-
lich unterscheiden kann. So wie ein angezün-
detes Licht am Tage durch das Sonnenlicht
verdunkelt wird, welches doch ein finstres Zim-
mer ganz erleuchtet, so ists auch mit der
EinbildungsKraft, beim Wachen wird sie durch
die sinnlichen Empfindungen geschwächt, aber
des Nachts ist sie sehr merklich. Wir bemer-
ken ferner, daß das geschwinde Einschlafen
immer mit einer Bangigkeit verknüpft ist;
Iungen Leuten, wenn sie einschlafen, deucht
es, als wenn sie vom Thurme oder ins
Meer fielen, dies kommt lediglich daher, weil
die Systole oder die Diastole des Herzens
zu geschwinde nachläßt, oder weil die Muskeln
die die Luft bewegen zu eilig nachlassen. Eine
solche Bangigkeit ist nun mit einem tiefen
Schlaf verknüpft. Ehe man einschläft sieht
man allerhand Gegenstände im gebrochenen
Lichte. Die Pul@ph@ die sonst in beständiger
Bewegung steht, ist alsdann starr, gleich einem
gläsernen Auge. Daher man einem auch
den Schlaf an den Augen ansehn kann. Der
Zustand eines Schläfrigen ist iederzeit mit

/ einer

/Seite 73

/einer Mattigkeit verbunden, nach dieser Mattig-
keit entsteht der Schlummer, bei diesem hat man
wirklich einige äußere Empfindungen; Verhört
z. B. etwas, macht sich aber davon falsche Ge-
danken. In diesem Zustand des Schlummers entste-
hen die Träume, aber nicht im tiefen Schlaf. Die
Sinne müßen die Imagination exerciren, ob
man gleich im Schlafe «keine» <auch> Chimairen hat@,@ so kann
man sich derselben beim Aufwachen nicht er-
innern. Denn nur die Chimairen deren man
sich wachend bewust ist, heißen Chimairen oder
Träume. Ein Mensch im tiefen Schlafe ist dem
Tode sehr änlich. Der Athemzug geht alsdann
so leise, daß er fast unmerklich ist. Dieser
Zustand des Schlafes begegnet den Menschen
aller 2 Stunden zum wenigsten 2mal.

/Es ist rathsam, daß wenn der sich selbst gelaßne
Schlaf nachläßt, man sich weiter nicht bemühet
einzuschlafen. Denn der Zustand des Einschlafens
ist allemal etwas krampfichtes, und wenn man
öfters nach einander einschläft, so gewöhnt
sich die Natur an das Krampfichte. Daher
der Nachmittagsschlag schädlich ist. Alle unsre
Empfindungen geschehen durch die Nerwen, so
daß die Theile des Leibes, welche keine Ner-
wen haben, auch keine Empfindungen haben, wie
solches Haller von der Lunge und andern
Theilen des Leibes erwiesen hat. Die ge- 

/ mein- 

/Seite 74

/meinschaftliche Wurzel aller Nerwen ist das
Gehirn, indemselben ist das Nerwensystem oder
der Hauptstamm, welcher die medulla ablon-
Gata genannt wird, aus welcher sich die Nerwen
in alle Theile des Leibes ausbreiten. So wie
man nun ein Stük von der Wurzel des Baumes
abhauen kann, ohne daß dadurch der Baum aus-
geht, eben so kann iemand ein Stük des Ge-
hirns verlieren, und doch leben bleiben. Die
Fabrique des Nerwensaftes ist das Gehirn.
Es besteht daßelbe aus dem Cerebro und
Cerebello (aus dem Vorder und Hintergehirn)
in dem Cerebello scheint das Principium aller
Lebensbewegung zu liegen, dagegen im Ce-
rebro die Organe der sinnlichen Empfin-
dungen und willkürlichen Bewegung. Man
hat mit einem Hunde ein Experiment gemacht
dem man das Vorder und Hintergehirn
trennte, so schlief er ein. Daher die Schlaf-
sucht Letargie blos von der Drückung des
Vordergehirns durch eine Feuchtigkeit her-
zukommen scheint. Da die willkürlichen Be-
wegungen nur bei Gelegenheit der äußern
Empfindungen vor sich gehen, so müßen die
Organe desselben auch im Vordergehirn
liegen. Wenn man nun den ganzen Tag ge-
wacht hat, so hat man die willkürliche Bewe- 

/ gung

/Seite 75

/gung geübt. Wenn mir der Nerwensaft aus dem Ge-
hirn zu fliessen anfängt, so wird die Schläfrigkeit
aufgehoben. Fängt er aber an nachzulassen, und
laßen die Spannungen nach, so hört auch die Schlä-
frigkeit auf. Daher kömmt es, daß Leute in der
Kirche einschlafen, wenn sie die Prediger immer in
einem Tone reden höhren. Und schreit der Pre-
diger immer einförmig, so schläft man gewönlich
recht fest und hört auch nicht auf zu schlafen, bis
er zu schreien aufhört. Dieses macht die Ab-
stechung. Ueberhaupt ist die Rede einem sopori
Ferum quid. Es entspringt auch eine Schläfrigkeit
wenn die Lebensgeister sich etweder anders
gezogen werden z. B. werden sie auf die pe-
ristalische Bewegung der Eingeweide und auf
die Verdauung gezogen. Der Schlaf kühlt das
Blut, weil nun zur großen Verdauung Hitze
erfordert wird, so ist gleich auf die Mahlzeit
der Schlaf nicht dienlich, weil, wenn die Muskeln
nicht willkürlich bewegt werden, und durch ein
lustiges Gespräch in Uebung erhalten werden,
sie beßer und tauglich zur Verdauung sind. Da-
her liebt der Mensch nicht iedes Gespräch beim
Essen, so zum Lachen reizt, weil dadurch das
Zwergfell erschüttert wird. Des Morgens spricht
der Mensch gern von Geschäften und des Abends
von Gespenstern. Fette Leute lachen über alles,

/ und

/Seite 76

/und es scheint daß sich zum Lachen ein fetter kur-
zer drollichter Kerl schikt, denn ein langer ha-
grer Mann ist gar nicht zum Lachen gemacht. Es
ist zu bewundern, daß die Natur uns unsren
Instinkten angemeßene Bedürfnisse gegeben
hat, es geht also mit dem Schlafe folgendermassen
zu. Die Lebensgeister und der Nerwensaft
muß sich innerhalb 24 Stunden, aus dem Vordern
ins Hintergehirn begeben, wenn nämlich die
Säfte im Tage in einer großen Menge verdün-
sten, so wird zwischen den hinter und vorder
Gehirn gleichsam ein Schuzbrett, wie vor einer
Mühle, vorgeschoben, damit der Nerwensaft wie-
der einen Zufluß erhalten könne. Ist nun beim
Schlaf ein gnugsamer Zuflus geschehen, so wird
dieses Schuzbrett, gleichsam wieder weggezo-
gen und die Lebenssäfte fangen an, sich wie-
der zu ergießen. Man nennt im gemeinen Re-
degebrauch alles dasienige schläfrig, wo eine
Mattigkeit herrscht. Es ist ein Unglük, wenn
den Menschen der Schlaf unwillkührlich über-
fällt, sodaß man ihn mit Zwang vertreiben
muß. So gesund der Schlaf ist, so schädlich ist
er, wenn er übertrieben wird. In den nor-
dischen Gegenden richten sich die Menschen im
Schlaf nach der Iahreszeit. In Iahhi@p@an schla-
fen die Leute beinahe 20 Stunden, und wachen
nur 2 oder 4 Stunden. Diese Unregelmäßigkeit

/ in

/Seite 77

/«in» in Abwechselung des Tages und der Nacht, verursacht
bei diesen Völkern auch eine Unordnung in der Le-
bensart. Dagegen die Leute in wärmern Ländern
wo beinahe 12 Stunden Tag und Nacht ist, auch weit
mäßiger und ordentlicher leben. Wir haben Ver-
mögen und diese sind gleichsam nur Werkzeuge, wir
haben aber auch eine Kraft, welche diese Vermögen
in Wirksamkeit versetzen kann, und dies ist die
freie Willkühr. Wenn aber diese Vermögen den
phisikalischen Kräften unterworfen sind, so wir-
ken sie in uns nicht auf die obern Kräfte. So hat
das Wasser eine Kraft, Mühlen zu treiben
wenn es gleich nicht allemal eine Mühle treibt. Die-
se Vermögen werden bewegt entweder durch
eine phisikalische Nothwendigkeit und dies sind die
untern Kräfte (dies macht die Thierheit und Nie-
drigkeit des Menschen aus) oder durch die freie
Willkühr, und dies ist die obere Kraft. Der Zu-
stand der Dunkelheit beraubt uns die Macht in An-
sehung der äußerer Dinge, denn ein trunkner
ist iederzeit schwach, obgleich muthiger als ein Nüch-
terner, und eben dieser Wahn, den ein Trunk-
ner hat, reizet den Menschen zum Trunk, und
nicht die Annehmlichkeit des Getränkes, denn es ist
bekannt, daß Menschen die niedrigste Geträn-
ke trinken, blos um berauscht zu seyn. Be-
trinkt man sich um der Annehmlichkeit des Ge-
tränkes wegen, so ist's verzeihlich. Die Folgen

/ der

/Seite 78

/der Trunkenheit sind:

/1) Ohnmacht

/2) Unvermögen

/3) Hinderung der obern Kraft.

/Oft will ein trunkner Mensch nüchtern scheinen, allein
man darf ihm nur aufgeben ein Licht zu putzen. Alle
die Spiritus, die aus ausgezogenen Säften be-
stehen, bringen den Wahn von einem größern Ver-
mögen bei. Daher ein solcher Mensch sich einbildet,
weit mehr sein Leben zu empfinden. Dies kommt
daher, daß die Nerwen mehr relaxirt als corro-
borirt werden. Es wäre in der Medizin noch zu
entscheiden, woher es kommt, daß der Mensch sich
beim Trunke stärker glaubt, und woher diese
falsche Opinion entstehe. Denn gesezt auch, daß
ein Trunkner alle seine Kräfte beisammen hat,
so fehlt ihm doch das Vermögen darüber zu dis-
poniren. Er würde doch immer unwillkürliche
Phantasien haben, und gewiß, wenn der Mensch
alsdann nicht schwach wäre, so würde er desto
gefärlicher seyn. Aber die Natur hat schon
dafür gesorgt, daß die Getränke welche
närrisch - auch zugleich ohnmächtig machen, die-
se Narrheit auszuüben. Was die Ohnmacht
anbetrift, so entspringt solche aus der nach-
lassenen Leibesbewegung. Es findet sich aber
beim Ohnmächtigen ein träumerisches Wohlbe- 

/ fin- 

/Seite 79

/@finden@, und ein sanfter Zustand. Wenn wir hier
vom Tode reden, so reden wir nur vom Ueber-
gange des Lebens zum Tode. Wenn ein Mensch natür-
licher Weise stirbt, so stirbt er wie ein Thier
durchs Alter, und zwar nach mechanischen Gesetzen d. h.
durch eben die Mittel, durch welche der Mensch sich
nährt und wächst, muß er auch sterben. Weil näm-
lich die Narungsmittel an jedes Glied immer an-
gesezt und die alten weitergetrieben werden,
so geschieht es, daß wenn immer frische orga-
nisirte Theilchen hinzukommen, und die alten nicht
mehr in die Theile des Körpers dringen können,
solche verstopft werden. Ein jeder Mensch hoft
lange zu leben, ja selbst der Kranke, dem der
Arzt und alle Umstehende das Leben absprechen,
hoft noch zu leben, wenn er auch spricht, er wer-
de sterben. Alte Leute rühmen noch sehr oft ihre
gute Gesundheit, da der Tod ihnen doch schon auf
dem Rücken liegt. Dies kommt vom Mangel der
Empfindsamkeit her, die mit dem Tode zunimmt.
Man empfindet keine Schmerzen mehr, wenn
z. B. innere Uebel an ihrem Untergange
arbeiten. Der Schmerz in Krankheiten ist die An-
zeige von vieler Lebensfähigkeit, aber der schon
ganz bleich im Bette liegt und keinen Schmerz mehr
empfindet, von dem kann man sagen, daß nichts
mehr an ihm Leben hat als das Gehirn. Es geht
also das Stumpfwerden der Empfindungen dem
natürlichen Tode vorher. Die Unempfindlichkeit

/ der

/Seite 80

/der Alten macht auch, daß sie starke Getränke
lieben, die die Iugend nicht vertragen kann. Nach
verlorner Lebhaftigkeit muß auch der Verstand
nachlassen. Vom wirklichen Tode wollen wir nach-
her reden:

/Wir müßen einen Unterschied machen, zwischen
Ober und UnterVermögen, und der obern Kraft.
Unter einigen Bestimmungen ist eine natürliche Ver-
bindung, einige Bestimmungen bestehen nur will-
kürlich aber dies sezt eine natürliche Bestimmung
zum voraus. Die Willkürlichen Verknüpfungen
unsrer Vorstellungen entsteht, wenn wir auf
die Uebereinstimmung der Dinge merken. Z. B.
die Handlung des Verstandes, durch die ich man-
cherlei Dinge unter verschiedene Geschlechter
bringe, ist eine willkürliche Handlung. Andre
Bestimmungen laufen in eins fort, nach Gesetzen
der Sinnlichkeit z. B. Bei dem Wort Rom müßen
wir uns nothwendig eine Stadt denken. So wie
die Theile des Körpers in einem nothwendigen
Zusammenhange stehen, so haben auch die Ideen
ihren natürlichen Gang. Diesen Ideen kann
der Verstand zwar Lenkung geben, aber er
muß sich ihnen auch accommodiren. So darf
man, wenn man das Wasser an einem niedern
Orte haben will, nicht Maschienen gebrauchen, es
herunterzubringen, man darf blos K<a>näle
graben.

/Zu der Thätigkeit die mit dem phisischen Ver- 

/ mö- 

/Seite 81

/mögen verknüpft ist, gehören:

/1.) das Bildungsvermögen

/2) die Nachbildung

/3) Einbildung

/4) Vorbildung und

/5) Ausbildung.

/Die Sinnlichkeit bringt uns lauter Bilder zu We-
ge der Verstand aber lauter Begriffe.

/≥ 1) Vom Bildungsvermögen. ≤

/Bei Oefnung der Augen geschehen viele sinnliche
Eindrücke. Mein Gemüth sezt solche zusammen, und
macht daraus ein Ganzes und das ist, das Bil-
dungsvermögen. So hat ein Mahler, wenn er
die komische Züge einer ganzen Gesellschaft auf
ein Bild bringen sollte, viele Mühe; Bei allen Em-
pfindungen oder sinnlichen Anschauen sind wir
leidend, aber das Bildungsvermögen ist thätig.

/≥ 2) Von der Nachbildung. ≤

/Wir können uns eine Sache, die ehedem gegenwär-
tig gewesen, izt als gegenwärtig vorstellen.
Dies ist die Quelle der Fruchtbarkeit vergan-
gener Zeiten, in Ansehung der kümftigen. Man
nennt dies Vermögen auch Imagination. In Ge-
sellschaft ist die Praetension, wenn alles stille
ist: erzählen sie doch etwas, und eben alsdann
weiß keiner etwas zu erzählen. Wie kommt
das? Der Vorrath der Bilder kann bei einem
sehr gros seyn, allein man kann sie nichtgleich
nachbilden. Sehr oft ist das Gegenwärtige die

/ Ur- 

/Seite 82

/Ursach das Vergangene zu renoviren. Es ist
also eine Connexion zwischen den Empfindungen
und den Bildern vergangener Zeiten, und zwar
eine phisikalische Verbindung

/≥ 3) Die Vorbildung ≤

/geschieht eben so wie die Nachbildung. Man sezt
nämlich das ganze Bild vergangener Zeit auf
die kümftige Zeit, und dies ist ein natürlicher
Fluß. So gar ein Hund weiß, wenn ein Iäger
das Iagdzeug nimmt, daß die Iagd vor sich ge-
hen soll. Wer die Spiele unsers Gemüths ver-
steht, wird leicht im Dichten und Reden rühren
können. Wir wollen hier kürzlich die vorige Säze
wiederholen. Daß das Bildungsvermögen von
der Anschauung ganz verschieden sey, sehen
wir daraus weil derjenige, der eine Sache
zum erstenmal sieht, zwar eben die Eindrük-
ke hat, als der, der sie öfters gesehn, allein
jener weis sich noch kein Bild davon zu machen. Wir
bemerken ferner, daß das Gemüth so gern
bildet, daß wenn auch nur einigermassen
eine Aenlichkeit zwischen Dingen da ist, es
das Bild alsobald vollständig macht. z. B. Wenn
ein Mensch halb schlummernd im Bette liegt und
ganz gleichgültig die Gegenstände, die um ihn
sind, ansieht, ohngefär aber einen Fleken an
der Wand gewahr wird, wo etwas Kalk ab-
gebrochen ist, so kommt ihm dies als ein Menschenkopf

/ mit

/Seite 83

/mit einem Bart vor. Wie kommts aber, daß das Ge-
müth am geneigtesten ist, allendhalben eine Aen-
lichkeit von einem Menschen zu entdeken? z. B.
Wenn einer des Abends reiset, und einen Baum
in der Entfernung sieht, so kommt er ihm als ein
Mensch vor. Dies kommt daher, weil dem Menschen
nichts mehr im Sinne liegt, als ein Mensch. Da
nichts wichtiger in Ansehung unsrer ist, als ein Mensch,
den vom Menschen hängt öfters unser Glük und
Unglük ab. Man sieht aber auch, daß das Gemüth
im Bilden und Formiren ausgeübt worden. So ist z. B.
bekannt, daß als die Patres missionarii nach China
kamen, sie unter andern Künsten auch die Musik
aufs Tapet brachten. Nun war den Chinesern die
Musik sonst schon bekannt, sie hatten sich schon
ein musikalisch Tribunal gehalten, aber alle ihre
Musik war nur einstimmig. Da sie nun die Mu-
sik der Europäer, die viele Stimmen hatte, hör-
ten, so kam diese ihnen als ein Geräusch vor
wo sie keine Einheit darin bemerkten. Dies
kam blos daher, weil sich ihr Gemüth keinen Be-
griff davon machen konnte. Mancher kann sich
leicht ein Bild von einer Sache machen, ein andrer
schwer. Das Vermögen der Bildung äußert sich
entweder bei Gegenwart der Dinge, welches
man eine Anschauung nennt, oder es ist nur eine
wiederholte oftmals gehabte Vorstellung, und
dies ist das Nachbildungsvermögen. Wir können

/ uns

/Seite 84

/uns aber auch etwas vorbilden. So müßen wir
z. B. uns gleich, wenn wir ein Haus bauen wol-
len, die Form desselben vorbilden. Wir kön-
nen uns entweder einbilden, wenn die Erschei-
nung niemals vordem in uns gelegen hat. Wir
copiren zwar bei jeder Einbildung die Ma-
terialien zu neuen Bildern, denn ganz ori-
ginell ist kein Bild, aber die Zusammensetzung
geschiehet nach Belieben. Das nennt man die
Einbildungskraft, welches das Fundament von al-
le dem ist, was erfunden wird. Das Vermö-
gen zu bilden liegt aber bei der Einbildung ie-
derzeit zum Grunde. Die Nachbildung nennt man
Phantasie. Unsre gegenwärtige Zeit ist ein Bild
von der vorigen, bei iedem Worte bildet
man sich die Vorstellung nach, die man mit dem
Worte zu verknüpfen pflegte, und bei Nennung
eines Nahmens bildet man sich iederzeit einen
Mann vor. Wir sind voll von Phantasien, selbst
des Nachts sind sie so stark, daß man die nach-
gebildeten Vorstellungen anzuschauen vermeint.
Im Tage werden sie durch die äußern Em-
pfindungen verdunkelt. Diese Reproductionen
sind bei verschiedenen Menschen auch sehr ver-
schieden. Iunge Leute sehn mehr auf das Zu-
kümftige, Alte sehr auf das Vergangene.
Und zwar ist bei den Alten dieses Reproductions
Vermögen zuweilen so stark, daß sie die izige
Welt ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig

/ hällt

/Seite 85

/hällt. Keine Vorstellung hat bei ihnen mehr einen rech-
ten Eindruk, es dringet nichts mehr bis zu ihrem Gehirn,
und hieraus kommt es eben, daß sie sich den lang
vergangnen Zustand leicht, den kurzen aber gar
reproduciren können. Sie glauben, daß nunmehr
nichts so angenehm sey, als zur Zeit ihrer Iugend,
ja sogar die Sonne scheint ihnen nicht mehr so helle
zu scheinen, als vordem, woher aber das? blos
daher weil ihre Nerwen nunmehr mit einer diken
Haut umgeben, und sie nicht mehr die Empfindlich-
keit besitzen, die sie in ihrer Iugend hatten.
Sehr oft ist aber auch die Partheilichkeit die Ur-
sach des Mißfallens an dieser Welt, weil sie
derselben bald Abschied geben müssen. Diese
Reproduction ist entweder die der Empfindung
oder der Bildung, leztere ist objectiu und subjectiu.
Wir können uns die Bilder klärer vorstellen,
als die Empfindungen z. B. wenn einer vorher
in den elendesten Umständen gewesen und
hernach reich wird, so kann er sich zwar das
Bild seiner Armuth lebhaft vorstellen, aber
schwach dagegen die Empfindungen, die er bei
den damaligen Umständen gehabt. Daher hat
eine solche Reproduction nur wenige Wirkun-
gen. Doch giebt es Fälle, wo auch die Empfin-
dungen lebhafter reproducirt werden. Daher
man von einer solchen Sache nicht gerne reden
hören mag. Das Vermögen nachzubilden ist zwar
allen Menschen nöthig, aber eine sehr lebhafte
Nachbildung ist uns auch selten hinderlich. Von dem- 

/ je- 

/Seite 86

/jenigen, was selten empfunden wird, kann man sich
nicht leicht ein Bild formiren, wenn aber eine Sache
gar zu oft empfunden wird, so wird das Bild in
uns schwächer, daher eine Sache mit gewißen In-
tervallen vergeßen werden muß, wenn sie eine
rechte Kraft auf unser Gemüth äußern soll. Da-
her kommts, daß man sich in einem Lande, wo
auf alles Strafe erfolgt, man sich zulezt nicht
an die Strafe kehrt. Rousseau führt an, daß
ein Vater einmahl seinen Sohn, der allen Wollü-
sten ergeben war, in ein Lazareth geführt, wel-
ches mit lauter solchen unglüklichen Menschen an-
gefüllt war, die die natürliche Strafe ihrer Laster
duldeten, und durch eine glükliche Anwendung die-
ses Bildes auf seinen Zustand, ihn von seine«r»n schäd-
lichen Ausschweifungen gänzlich abgezogen habe.
Hieraus sieht man, wie stark ein seltnes Bild
ist. Man muß ferner so zu Werke gehen, daß
man seine Empfindungen immer steigern könne.
Denn es ist bekannt, daß in den barbarischen
Ländern, wo auf das geringste Verbrechen die
schreklichsten Strafen gesezt sind, man sich am
wenigsten daran kehrt. Die Ursach ist: weil
ein starkes Bild das vorige schwächere verdun-
kelt, und die größten Strafen man durch Ge-
wohnheit ohne Schaudern ansehen kann. Wo man
die Diebe am fleißigsten aufhängt, da wird
am mehresten gestohlen. Ferner giebt auch die
Neuigkeit der Imagination wieder Stärke, sol- 

/ ches 

/Seite 87

/ches sieht man an den Empfindungen der Verlieb-
ten, die alsbald schweigen, wenn man sich verehlicht
hat. Die Imagination wird durch die Neuigkeit exci-
tirt, und das hervorgebrachte Bild haftet länger.
Ueberhaupt haftet «das» <im> Gemüth allemal das Bild
länger als die Sache selbst, denn wenn wir das
Bild einer Sache in unser Gemüth zeichnen, so fliessen
hier allerlei Neigungen mit ein, nach deren Ver-
schiedenheit das Bild auch verschieden ausfällt.
Gewiße Leidenschaften verursachen, daß manche
Gegenstände mehr in ihrer Abwesenheit als Ge-
genwart gefallen. So ist's mit der sogenannten Zau-
berliebe beschaffen, da die Imagination dem Ver-
liebten von der Schönen immer ein vorteilhaftes
Bild einflößt, wenn er von ihr gegangen, als wenn
er bei ihr ist. Solche Verliebte sind unheilbar, indem
die Entfernung ihre Gemüthskrankheit mehr «ent-»
vermehrt, als vermindert. Dasjenige was nach
der Reflektion gefällt, gefällt weit inniglicher
als das, was sich unsrer Empfindung aufdringt.
Daher kommts, daß ein Frauenzimmer, welche nicht
so bezaubernd schön ist, gleich beim ersten Augenblik
gefallen sollte, sondern bei der man, vermöge der
Reflection vortheilhafte Züge entdekt, immer
das glüklichste ist. Es ist damit, wie mit dem Nach-
geschmak beschaffen. Die süßen Weine haben
gewönlich im Schlunde einen widrigen Geschmak,
und umgekehrt die bittersten im Schlunde einen
desto angenehmern, wegen der bittern Salze. Mit

/ den

/Seite 88

/den Iahren lieben die Menschen immer die Weine, die
im Nachgeschmak gefallen. So giebts auch Menschen
die nur im Nachgeschmak gefallen, und dies sind
gemeiniglich solche, die in Gesellschaft so etwas
an sich haben, was theils gefält oder mißfällt.
Wenn wir z. B. einen Man in Gesellschaft sehn,
der einen widersprechenden Contrast bei sich führt,
ihm entweder die Naht am Kleide aufgetrennt
ist, so mißfält es uns schon. Kommen wir nun
zu Hause, so läßt die Imagination die Fehler
weg, und geht nur auf das Hohe, das er in
seinen Gesprächen gezeigt hat, kurz er gefält
uns. So ist es mit den recht witzigen Einfäl-
len beschaffen, dabei man anfänglich stuzt, sie
entwicklen sich aber in uns ohne Zeitverlust,
und wir merken leicht, worauf sie abzielen. Ei-
ne gleiche Bewandniß hat's mit dem Lachen. Die
Materie, über die man lacht, muß gleichsam 2
Seiten haben. Wenn man sie nur von der einen
Seite betrachtet, und im Augenblik uns das Ge-
gentheil davon in die Augen fällt, so legt
sich das Lachen in uns. Als der Pabst einen Poeten,
der auf ihn ein Gedicht gemacht hatte, eine Stelle
darinnen wies, wo der Vers fehlte, so antwortete
lezterer, er möchte das Gedicht nur zu Ende lesen,
vermutlich würde zulezt ein Vers zu viel seyn. Der
heilige Vater lachte. Hier ist eben das Gegen-
theil, da ein Vers an einem verschiedenen Orte

/ zu

/Seite 89

/zu wenig und am andern zu viel ist. Das Nachbilden
ist angenehm, in so fern wir uns etwas aus Par-
teilichkeit von der angenehmen Seite vorstellen.
Hingegen kann man sich, kraft dieses Bildungs-
vermögens von kümftigen Dingen ein vortref-
liches Bild machen, und in diesem Falle ist man e-
lend daran, weil man hier ohne Hofnung ist, da
doch Hofnung und Schlaf die Mittel sind, wodurch
wir uns unser Elend erleichtern. Stärke, Rich-
tigkeit und Ausbreitung der Imagination sind
sehr von einander verschieden. So haben Frauen-
zimmer eine starke und ausgebreitete Phantasie,
aber sie ist darum nicht richtig. Die Leute wel-
che alles nachäffen können, zeigen eine starke
Imagination. Man hält diese gemeiniglich für
Wiz, es ist aber nur eine starke Lebhaftigkeit. Die-
se Imagination muß uns helfen, wenn wir uns
an die Stelle anderer setzen. So muß ein Redner
Dichter und Komoediant eine starke Einbildungskraft
haben. Als einmal eine Actrice die Rolle einer
Liebhaberin gespielt hatte, und der Principal ihr
sagte, daß sie dieselbe schlecht und frostig ge-
spielt hatte, und sie fragte: was sie machen
würde, wenn ihr ein Liebhaber untreu würde, ant-
wortete sie ganz kalt: ich würde mir einen andern
wählen. Da sagte der Principal "sie verdienen
weder geliebt noch eine Actrice zu seyn. Das
lezte Mittel für Komoedianten, daß sie ihre Rol-
le gut spielen, ist, daß sie «nicht» nachzuahmen ver- 

/ gessen

/Seite 90

/gessen, und die Sache nach der Natur darstellen.
Solche Menschen können auch keinen eigenthümlichen
Charakter haben und studieren, weil sie sich mit
Freunden zu viel abgeben müssen. Man sagt
daß Valerius ein Mathematiker, eine so starke
Imagination gehabt habe, daß er in eine Reihe
von 15 bis 20 Ziffern im finstern habe heraus
ziehen können. Die orientalischen Nationen
haben alle eine starke Imagination. Daher ihre
Schriften so bilderreich sind, sie haben aber
dagegen eine desto schwächere Vernumft. Die
Araber und Türken können kein geschniztes
Bild leiden, weil nach ihrem Vorgeben, «w» die bösen
Geister solche Statüen, die keine Seele haben,
bewohnen, oder w«eil»ie andre sagen: daß diese
Statüen in der Ewigkeit die andern Menschen
anschwärzen werden, daß man ihnen keine Seele
gegeben. Der wahre Grund ist aber wohl dieser:
weil ihre Imagination bei Erblikung die-
ser Statüen so groß ist, daß sie sich solche als
lebendig vorstellen. Es ist ausgemacht, daß
je weniger die Menschen reflectiren, desto
mehr sie phantasieren. Das gröste Unglük der
hypochondrischen Menschen besteht blos darinnen,
daß sie ihre Imagination nicht unter der Herr-
schaft der Willkühr haben. Daher ein solcher Mensch
über eine ihm einfallende Chimaire ganz vor
sich lachen kann, ab er gleich einsieht daß es dem
Wohlstande zuwider ist. Ein Hypochondriste ist

/ einem

/Seite 91

/einem Wahnsinnigen ziemlich änlich. In den Leidenschaf-
ten werden iederzeit die Bilder in ihrer Richtigkeit
verfälscht, daher irrt sich ein Redner sehr, wenn
er glaubt, daß eine Rede die die Leidenschaften
rege macht, schön sey. Das Redende ist iederzeit
das widrige Produkt des menschlichen Genies, in-
dem es nur die Anwendung einer vorhandnen
Vorstellung auf die Triebfedern des Gemüths
ist. Wenn nicht Richtigkeit in der Rührung ist, so
verursacht es nachmals dem Gerührten den grös-
ten Verdruß, weil es doch ärgerlich ist, daß man
dem andern gleichsam zum Instrument gedient, da
er auf meine Nerwen als auf Seiten gespielt hat.
So ärgert man sich über einen Dichter, der durch
die Geburte seiner ausgelassenen Phantasie wohl
noch gar rühren will. Wenn aber im Gedicht Wahr-
heiten sind, die wenn die Erdichtung der menschlichen
Natur und Vernumft gemäß ist, und ich als dann
gerührt werde, so ärgert mich dies gar nicht, denn
ich sehe mich als dann gleichsam im Lande der Möglichkeit ver-
sezt. Eine ungezähmte Einbildungskraft ist eher schäd-
lich als nüzlich. Vernumft und Erfahrung müssen der
Imagination Schranken setzen. Um seine Phan-
tasie zu bändigen, muß man sehen, ob Richtigkeit
darinnen ist, und dann muß man sich hüten, daß
sie uns nicht allendhalben unwillkürlich verfolgt.
Denn alle Ausschweifungen rühren von ihr her.
Wer mehr von seiner Phantasie als Gegenwart
der Sachen dependirt ist unglüklich.

/ Vom

/Seite 92

/ ≥ Vom Witz und Urtheilskraft

/oder

/Vom Vermögen Aenlichkeit u. Unterschied

/zu bemerken .≤

/================================ 

/Diese Vermögen bestehen eigentlich nur in Acti-
bus der Vergleichung und sind von der Sinnlich-
keit ganz verschieden, als wodurch die Vorstellun-
gen in uns erzeugt werden. Es kommt also
bei diesen Vermögen wirklich auf die phisische
Beschaffenheit unsers Gehirns an, und es ist nicht
unrichtig, wenn Swift in seinen phisikalischen Be-
trachtungen von der Dichtkunst sagt, daß das
Gehirn der Poeten mit Würmer angefüllt sey,
die durch das verschiedene Nagen der Nerwen
auch verschiedene Einfälle zu Wege bringen. Ob-
wohl er dieses satyrisch sagt, so ist doch gewiß,
daß keine Karakteristische Phisik des Menschen
ohne phisikalische Veränderung im Gehirn möglich
ist, obgleich niemand diese Veränderungen im Ge-
hirn durch Vergrößerungsgläser bemerken
wird. Eine jede distincte Empfindung im Gehirn
erfordert eine besondre Organisation in demsel-
ben, denn es ist bekannt, daß es gewiße empi-
rische Genies giebt, die im Stande sind alles ge-
nau zu beobachten, besonders ein vortrefliches
Augenmaß haben. Werden denn die Bilder der

/ Sachen

/Seite 93

/Sachen in meinem Gehirn oder in meiner Seele auf-
behalten? - Wir befinden uns zuweilen in einer
solchen Gedankenlosigkeit, daß wenn wir in Ge-
sellschaft gebeten werden, etwas zu erzählen,
nicht wißen was wir sagen sollen; fängt aber
iemand etwas an, so kommen wir sehr leicht auf
Materien, die zur Unterhaltung dienen. Es
muß also doch etwas im Kopfe liegen, welches
angrenzende Bilder hat; wenn nur ein Vorfall
rege gemacht wird, so wirkt eins aufs andre.
Es ist wahrscheinlich, daß alle Bilder die einmal in
unser Gehirn kommen, nie mehr aus demselben
schwinden, aber dadurch, daß sie nicht mehr ge-
braucht werden, gleichsam als in Staub und Schutt
begraben liegen, so daß sie ganz unkenntlich
sind. Diejenigen Aerzte die mit den Arzneimit-
teln, die Kentniß von den Wirkungen der See-
lenkräfte verbunden haben, sagen: daß die Bilder
der Sachen im Gehirn aufbehalten werden. Die
wahre Gelehrsamkeit ist allein die Kunst, dasje-
nige im Gedächtniß aufzubewahren, was seines
Ruhms wegen, aufbehalten zu werden verdient.
Aber die Neubegierde bestehet in einer eitlen Auf-
merksamkeit auf alles das, was nicht dahin
gehört, worauf man am wenigsten achtet, weil
es unnüz ist. Die genaue Richtigkeit ist das rechte
Verhältnis der Theile gegen einander, und ihrer
Uebereinstimmung zu einem Ganzen; Der

/ diese

/Seite 94

/diese nicht hat begnügt sich mit einer Genauigkeit in
Kleinigkeiten, begnügt sich mit Silben und Worten.
Wir haben eine lebhafte aber auch matte Imagina-
tion. Wenn wir auf etwas denken und schreiben
wollen, so müßen sich viele Dinge in unsrer Seele
offiriren, woraus wir das, was für uns nüzlich ist,
nehmen können, gleich als wenn ein Officier der die
grösten Leute aus einem Regimente aussuchen
soll, sie zusammenkommen läßt, so so müßen wir
es auch mit unsern Bildern machen. Wir müßen
gleichsam im Gehirne Lärm schlagen um alle
Bilder rege zu machen. Hierauf überlassen
wir uns dem Strom unserer Vorstellungen, als-
dann bringt eine Vorstellung die andre hervor, und
wir haben hiebei nichts weiter zu thun, als daß
wir die Hauptvorstellungen nicht aus dem Ge-
sichte lassen, denn die Bilder laufen immer fort,
nachdem sie im Gehirn vergesellschaftet sind, und
weil die Imagination oft den Gang nimmt, den
die Bilder in Ansehung der Zeit haben, so kön-
nen wir leicht von unserm Objekt abgeführt wer-
den, wenn wir nicht aufmerksam genug sind. Wir
haben aber wenig Kraft über die Imagination
als über den Lauf des Blutes. Nur das können
wir thun, daß wenn sie gar zu sehr ausschweift
wir sie sistiren. Alsdann muß man wieder
von da anfangen zu denken, wo wir zuerst
angefangen haben, und ihr hieraus freien Zug

/ lassen

/Seite 95

/lassen, alsdann wird sie wieder einen andern Gang
nehmen. Man muß sich aber hüten seiner Imagi-
nation Gewalt anzuthun. Denn auf die Art hin-
dert man den ganzen Fortgang der Ideen. In
diesem Lauf der Imagination fliessen die Bilder
entweder nach ihrer Nachbarschaft, je nachdem
sie zusammen liegen und nach ihrer Verwandschaft,
welche von iener ganz verschieden ist; Man wird
auch zuweilen durch diese Nachbarschaft der I-
deen so verdrüßlich, als wie man sich im ge-
meinen Leben über einen nichtswürdigen Nach-
bar ärgert. Die Imagination denkt selber
nicht, sondern ich bemerke nur in dem Strom die
Bilder, die in meine Materie einschlagen. Bis-
weilen geschiehet es, daß in dem Fluß dieser
Bilder augenbliklich eins entwischt, welches ich doch
hatte brauchen können, alsdann ist man gewön-
lich unruhig und bekümmert. Das beste Mittel wie-
der auf dieses Bild zu kommen ist, daß man von
neuem zu denken anfängt. Kann ich es noch nicht
ausfindig machen, so fang ich es von eben dem
Punkt an, und gemeiniglich gelingt es, das verlang-
te Bild wieder zu ertappen, denn izt darf es
nur noch einmal vorkommen, so wird mans leicht
bemerken, weil man schon praeparirt <ist> es aufzu-
fangen. Wenn man also etwas schreiben will,
so muß man einige vorher der Imagination frei- 

/ en

/Seite 96

/en Lauf lassen, und man darf nur gleichsam einen
Zettet im Gehirn aufschlagen, die Hauptideen da-
rauf schreiben, und dann kann man ungehindert
in Gesellschaft gehen, und hat sich diese in Par-
theien getheilt, und man gewinnt nur einen Au-
genblik Zeit, so fällt einem gemeiniglich der Ge-
danke ein, den man sonst nur mit Mühe würde
hervorgebracht haben. Wenn man zu Hause ist und
sich mit dieser Materie beschäftigt, so darf
man nur noch Bücher von ganz andern Subjecten
z. B. lustige Geschichten, Reisebeschreibungen, zur
Hand nehmen. Wird die Imagination schwach
so lieset man in einem solchen Buch. zuweilen
geschiehet es, daß ein einziges Wort, was da-
rin vorkommt, bei mir ein ganz vortrefliches
und zu meiner Materie passendes Bild excitirt.
Denn dasjenige, worauf man sich am wenigsten
praeparirt ist am naivsten. Bei allen diesen
denken wir aber. Man muß einen gebrochenen
Bogen Papier zur Hand nehmen, worauf man
alle Bilder, die etwa zur Materie gehören, pro-
miscue aufzeichnet. Ferner muß man auch einige
Intervalle zum denken haben, die zur Unterhal-
tung und Stärkung der Imagination ungemein
viel beitragen. Man muß sich auch hüten, das
was man aufgeschrieben oft durchzulesen, son-
dern man denke nur immer an die Sache und sam-
le Bilder. Wenn nun alle Materialien zu un- 

/ srer

/Seite 97

/srer Materie da sind, so wird beim durchlesen in
uns ein Schema entspringen, welches wir in kurzen
Sätzen einkleiden und ohne Zwang ausbilden. Ist
das Schema richtig, so concuriren wir zu unserm
BilderMagazin. Nun schreiben wir die Materie
in einem Zuge ohne nachzusinnen nieder, und
fält uns etwas nicht gleich ein, so notiren wir
es mit einem Wort am Rande und laßen
ein Spatium. Darauf sehn wir es durch, füllen
das was noch fehlt aus, und schreiben es noch-
mals ab. Wärend dem Abschreiben notirt man
es hin und wieder, und so wirds fertig. Wer
etwas auf einmal recht guth machen will, und dar-
zwischen seine Gedanken anstrengt, der denkt
sich dumm und verfehlt seinen Zwek gewiß. Auch
beim Bücherlesen ist es rathsam, daß man erst
flüchtig durchlese und wenn man auch gleich nicht
alles versteht. Findet man daß der Autor selbst
gedacht hat und kein Schmierer ist, auch die Mate-
rien nicht alltägliches Zeug sind, so lieset man
es nach einem nicht gar zu großen Intervallo noch
einmal, nimmt eine Bleifeder zur Hand, notirt
die vorzüglichsten Stellen, es seyn nun gute Histo-
rien oder etwas arges oder ein schöner Einfall,
denn man kann dies alles brauchen. Da wir
nun schon die Absicht des Autors beim ersten durch-
lesen gesehn, so werden wir bei den Beweisen und
Definitionen, worauf der Autor seinen gan- 

/ zen

/Seite 98

/zen Vortrag gründet, etwas stille stehn, und das
was der Autor sagt, genauer examiniren, da
wir solches erst, ehe wir wußten, was der Autor
daraus folgern wollte, überzeugen. Alles was
bisher gesagt ist, dient dazu, daß man einsehen
könne, wie die Ideen verbunden und wie man aus
dem Strom seiner Ideen einige nach Willen auszeich-
nen könne. Das Gedächtniß ist das Vermögen be-
liebiger Reproduction ehemals gehabter Vor-
stellungen. Es unterscheidet sich also von der
Phantasie hauptsächlich darin, daß man nach Be-
lieben seine Vorstellungen meist reproduciren
könne, da die Phantasie unwillkürlicher Weise die
vorigen Bilder in unser Gedächtniß zurük-
bringt. Die Phantasie ist eine rastlose thätig-
keit, sie ist gleichsam ein Strom von Bildern, der
unaufhörlich dahin fließt. Dieser Bilder sind
wir uns bisweilen bewust, aber zuweilen auch
nicht. Hier macht ein Bild das andre rege und
das geht immer so fort. Wenn wir also eine
Sache verhehlen wollen, so müßen wir im
Discours alles das sorgsam verhüten, was
beim andern das angrenzende, «v»Bild von dem
was ich verhehlen will, excitiren kann. Z. B.
Wenn man wohin reisen will, aber der andre
soll von der Reise nichts wißen, damit er mir
nicht durch aufgetragene Commissionen beschwerlich

/ falle

/Seite 99

/falle, so muß man, wenn man mit ihm spricht, nicht
etwa von der Post oder vom Wagen sprechen, denn
davon kommt er leicht aufs Reisen, und fragt
mich, ob ich nicht dort oder dahin reisen wollte,
und auf diese Art habe ich Beschwerden zu
ertragen. Man pflegt den Narren vom Klugen zu
unterscheiden, nicht durch das was er denkt, da ein
Kluger nur das spricht was sich schikt. Möchte
ieder in der Gesellschaft reden, was ihm nach den
Gesetzen der Phantasie einfällt, so würde man
auch den Klügsten für einen Narren halten müssen.
Hieraus folgt auch, daß wenn ein Wilder ver-
rükt wird, er nie ein solcher Narr wird seyn kön-
nen als ieder andre der mehr Materialien in der
Phantasie gesammelt hat. Unsre Phantasie ist also
mit der Stoff zu unsrer Klugheit, wenn sie aber
nicht unter unsrer Willkühr steht, so ist sie mehr
schädlich als nüzlich. Es können Leute eine starke Ima-
gination «seyn» haben und ein schwaches Gedächtnis,
ja oft ist die gröste Lebhaftigkeit der Phanta-
sie die Ursach des schlechten Gedächtnisses. Wie
es aber das Gemüth macht, daß es aus allen Bil-
dern das hervorlangen kann, was es will, ist nicht
zu beweisen.

/Zum Gedächtniß gehören 3 Stücke:

/1) Etwas fassen

/2) etwas behalten und

/3) sich erinnern.

/Diese Fähigkeiten äußern sich bei manchen Objek- 

/ ten

/Seite 100

/ten nur langsam, bei andern sehr leicht. Man kann
ein gutes Gedächtnis haben, aber doch sehr langsam
und schwer fassen, solches findet man gewönlich
bei Leuten die wenig Wiz haben, wenn sie sich
aber einer Sache erinnern, so thun sie solches mit
weit mehr Richtigkeit als andre. Etwas im Ge-
dächtnis fassen ist: wenn man etwas in der Phan-
tasie gründet, aber so daß man es wieder her-
vorbringen kann, wenn man will. Um lezteres
aber zu Stande zu bringen, muß man Ideen
mit einander verbinden. Dieses geschiehet da-
durch, wenn man Bilder oft zusammenstellt. z. B.
Wenn iemand einen Nahmen nicht behalten kann,
so darf man nur ihm einen änlichen nennen, so daß
er nur einen behällt, dieser ihn sogleich auf dem
änlichen bringt. Dennoch ist das erste Mittel
Ideeen leicht aus der Phantasie hervorzu-
bringen die bloße Association oder Vergesell-
schaftung der Begriffe. Diese Association ist
verschieden von der Begleitung. Denn so kann
mich jemand in der engsten Straße begleiten, der
aber darum von mir noch kein Gesellschafter ist. Der-
ienige aber ist es, der mich beständig begleitet. In-
deßen ist doch nach der Natur der Phantasie die
Begleitung ein Grund der Association. Diese
Association ist oft wieder ein Grund des Ekels
einer Sache. So kann «k»einer keinen Thee mehr
trinken, weil er das Pulver Rhabarbara

/ welches

/Seite 101

/welches er ehemals einnahm zu schmecken glaubt, sogar
Wörter bekommen eine andre Bedeutung durch eine zu-
fällige Association z. B. Cour machen hat vieleicht je-
mand im Scherz gebraucht, anstatt hoffieren, und nun
denkt sich fast ein ieder beim ersten nicht das lezte,
ja diese Ideen hintergehen zuweilen den Menschen.
Es hat das, was durch einen Umschweif der Phan-
tasie in unser Gemüth gebracht wird, lange nicht
einen so starken Eindruk, als was gerade zu in
unser Gemüth kömmt. Woher kömmts, daß Autores
oder auch Leute in Gesellschaft von lauter Gelehr-
ten die Wörter, welche die naturalia hominis be-
treffen, nicht deutsch sagen, sondern lateinisch, da
sie es doch so guth verstehn als die deutsche. Daher
weil man das Wort in Gedanken übersetzen muß,
und also der Begrif durch einen kleinen Um-
schweif in unser Gemüth kommt, welches wegfallen
würde, wenn man den deutschen Ausdruk brauch-
te. Es wird also durch den lateinischen Ausdruk
nicht die Bescheidenheit so geradezu beleidigt. Allein
wenn ein solcher Umschweif oft gebraucht wird,
so lassen wir ihn zulezt ganz weg, und nehmen
den Begriff in unsrer Seele auf. So nannte
man die Krankheiten der Wollüste, die aus Ost-
indien ihren Ursprung haben, (die venerischen)
zuerst die neapolitanischen Krankheiten. Da
aber solches mit der Zeit zu grob klang, so brauch-
te man den französischen Ausdruk Mal de Nea-
ples. Da aber die französische Sprache so gemein

/ wurde

/Seite 102

/wurde, daß man keinen Umschweif brauchte, um
diesen Begriff ins Gemüth zu lassen, so brauchte
man wieder den Ausdruk neapolitanische Krank-
heit. Hier kann nun ein Mensch wirklich seinen
Wiz zeigen, wenn er in Gesellschaft, da mit den
Frauenzimmern von Dingen redet, die gerne ge-
hört werden, welche aber doch gegen die Gesetze
des Frauenzimmers liefen, wenn er sie deutlich
ausdrükte, wenn er dann solche Wörter brau-
chen kann, die zwar ein jeder versteht, bei
denen sich aber ein ieder so stellen kann, als
verstände er sie nicht. Die erste Methode
also sich leicht zu reproduciren ist die Associa-
tion.

/Wenn Kinder etwa einen Spruch auswendig ler-
nen sollen, so bethen sie ihn so oft her, daß einem
andern die Ohren wehthun. Sie associiren aber
theils dadurch die Wörter untereinander, theils
den ganzen Spruch mit allerlei andern Vorstel-
lungen, die sie beim herbeten haben, und so be-
halten sie ihn. Ferner wenn ein Kind das 1 mal
eins auswendig lernt, so hat es eine Zahl mit der
andern so associirt, daß nur eine Zahl mit den
andern reproducirt wird. Daher kommt es, daß
wenn man das Kind fragt wie viel etwa 5 mal
7 wäre, es die ganze Reihe wiederholen muß,
bis es an diese Zahl kömmt. Es ist diese Associa-
tion gefärlich, «S» weil es vieleicht das ganze 1 mal
1 vergeßen könnte, welches auch oft geschehen würde,

/ wenn

/Seite 103

/wenn man nicht rechnete. Wiederholt man auch ein Wort
nur einige mahl, so ist das schon eine Association «die man»
mit den Begriffen, die man bei der Wiederholung ge-
habt hat.

/Das zweite Mittel der leichten Reproduction ist die
Aenlichkeit. Hier wird durch das Spiel des Witzes eine
Vorstellung der andern associirt; allein wenn gleichsam
nur mit der äußern Seite der Dinge gespielt wird,
so wird der Verstand dadurch corrumpirt, als wie
in Banonis Kinderbiebel. Um den Nahmen Julius
Caesar behalten zu können, eine Uhle scharrt im
Kaese, oder um den Titel aus den Pundecken
sich einzuprägen de heredibus suis et legitimis.
hat man einen großen Geldkasten gemahlt (heredibus)
bei diesen ein paar Säue (suis) und zulezt die
Tafeln Mosis (legitimis). Diese Aenlichkeiten
sind allerdings schwerer zu behalten als die Sache
selbst. Wir bemerken ferner, daß wenn jemand
etwas falsch gerathen, oder einmal etwas falsch
ins Gedächtniß geprägt hat, so bleibt das immer,
daher müßen die Eindrücke, so ich zuerst bekom-
men immer richtig seyn. Es ist auch nicht leicht Geo-
graphie und Historie zu erlernen. Denn in der
Geographie gehe ich nur mit dem Finger die
ganze Landcharte herum, und zeige die Prowin-
zen. Und wenn ich eine Prowinz verlassen habe,
so bleibt sie doch da. Daher ist sie weit leichter
als die Historie, wo immer der eine König weg
ist, wenn der andre kömmt. Es ist auch interessanter
zu wißen, daß ein Land in der Welt liegt, als

/ daß

/Seite 104

/daß ein König gelebt hat. Will man durch eine Aen-
lichkeit eine Sache reproduciren, so muß eine wahre
Aenlichkeit in der Sache, nicht aber in willkürlichen
Zeichen seyn. Ferner sind Mittel der leichten Re-
production

/1.) Die Verbindung der Begriffe nach logischen Sätzen;
in so fern Dinge unter Klassen gebracht wer-
den. Man kann sich den Verstand als einen un-
ermeßlichen Raum vorstellen, in diesem «Begrif» <Raume>
sind nun für ieden Begrif, Beziehungen oder Ab-
theilungen, welche man logicos nennt, in diesen
muß eine iede neue Vorstellung gesezt werden,
wenn man sich dieselbe reproduciren will

/2) Daß die Dinge verglichen werden nach dem Ver-
hältniß des Verstandes und der Vernumft. Es
wird hier nämlich nur die Ursach mit der Wir-
kung verglichen. Wenn man nämlich das Wort
mumia mineraliter betrachten will, so muß
man wißen, daß es ein Balsam sey, vermit-
telst deßen man einen zerbrochenen Fuß eines
kleinen Thierchen in 24 Stunden heilen kann.

/3) Muß man die Dinge im Verhältniß setzen
mit den Gesetzen unsrer Neigungen d¿ die grö-
ßeste Aenlichkeit. Daher kommt's, daß man von
judicioesen Leuten sagt, sie hätten allemal ein
schlecht Gedächtniß, und es ist nicht ganz unwahr,
denn dergleichen Leute behalten nur solche Dinge,
die sie mit den Gesetzen des Verstandes zusam-
menpaaren können. Da aber solches von den

/ we- 

/Seite 105

/wenigsten Dingen gilt, so behalten sie auch wenig. - 
Hätten solche Leute weniger Verstand, so würden
sie mehr mit ihrem Witze spielen und dadurch mehr
behalten. Es darf sich aber niemand damit prah-
len, daß er ein Kurz Gedächtniß habe, und also
ein«e» starkes Iudicium besäße, denn es ist immer
ein Fehler, wenn die Untervermögen schwach
sind, denn man kann den Verstand nur in so
fern brauchen als man viel Materialien hat.
Die Materialien geben uns die äußern Dinge,
die man ins Gedächtniß fassen muß; Auch selbst
ein local Gedächtniß ist von großem Nutzen.
Die Association von der wir oben geredet
haben ist entweder

/1) sinnlich oder

/2) bildlich.

/Ersteres ist die Association der Empfindung, das
zweite ist die Association der Anschauung. Alle
Dinge die sich gleichsam in einem Riß bringen
lassen, sind leicht zu behalten. Daher die Ge-
ographie leichter als die Geschichte ist. Denn in
der leztere ist eine solche Anschauung der
Dinge nicht möglich, indem die Stelle der verstor-
benen Könige nicht mehr übrig bleibt. Man weiß
auch kein Mittel die Geschichte leicht ins Gedächt-
niß zu bringen. Das beste Mittel wäre, die
Zeit in große Abschnitte und diese wiederum in
kleinere zu theilen. Weil iedes Land seine eigne
Geschichte hat, so trägt der Synchronismus viel
dazu bei. Die Aenlichkeit macht, daß man

/ etwas

/Seite 106

/etwas leicht behalten kann, wie auch die Abthei-
lungen des Ganzen in Theile. Ueberhaupt hilft
alle Ordnung dem Gedächtniß. Dinge, die sich nicht
unter allgemeine Begriffe bringen lassen, sind
schwer zu behalten. Gemeinhin machen sich die
Menschen nicht viel daraus, daß sie ein schwa-
ches Gedächtniß haben. Verstand laßen sie sich
aber nicht absprechen, denn jeder hält den sei-
nigen für groß genug. Der Grund ist, weil ieder
die Größe seines Verstandes durch seinen Verstand
selbst erkennt. Das judicioesse Memoriren ist einem
Menschen von Iahren sehr leicht, aber das sensitiue
Memoriren fält ihm schwer. Daher es denn
rathsam ist, daß junge Leute bis ins 30ste
Iahr einen Haufen von Materialien ins Ge-
dächtniß fassen, weil solches nach dem 30sten
Iahre fast unmöglich ist. Es ist daher unver-
antwortlich, daß Lehrer die Kinder in der
Schule mit einer Art Philosophie, Naturleh-
re und andren dergleichen Wissenschaften be-
schweren, die sich doch nur für ältere Leute
schicken. Allein es ist ein allgemeiner Fehler
der Aeltern und Lehrer, daß sie Kinder wider
ihre Natur zu alten Leuten machen wollen, da
sie doch dieselben nur darin unterrichten solten,
was sich für ihre Kindheit schikt. In diesem Alter
sollte man sie viele Sachen sensitiu memoriren lassen
weil sie dann am fähigsten dazu sind. Es scheint

/ zu- 

/Seite 107

/zuweilen, daß man etwas vergessen hat, allein es
sizt dennoch im Gehirn. So weis man, daß ein Eng-
länder, der vorhin die deutsche Sprache gelernt
hatte, und nachher einige Iahre in England
geblieben war, bei seiner Zurükkumft glaubte,
daß er die ganze deutsche Sprache vergeßen
hatte. Iedoch sprach er sie nach einigen Wochen
wie vorher. Was den Grund des Gedächtnisses
anbetrift, so findet man hievon WunderDinge.
Ein Polyhistor hatte den Inhalt von ganzen
Bibliothecen inne, und wäre es möglich, alles
in der Seele eines solchen Menschen befindliche
in ein klares Anschauen zu setzen, so wür-
de man erstaunen - Ein außerordentliches Ge-
dächtniß hatte Maleabeki ein Bibliothekar
des Herzog von Florenz, der anfänglich ein
Lehrjunge war, der allendhalben Bücher such-
te, wo er sie nur ertappen konnte. Er war
erst bei einem Gärtner, kam darauf zu ei-
nem Buchhändler, wo er lesen lernte, und sein
glükliches Gedächtniß äußerte; und endlich wur-
de er wegen seiner außerordentlichen Be-
lesenheit zum Bibliothekar am gedachten Ort
ernannt. Er war das Orakel von Europa,
wenn die Gelehrten eine Stelle nicht ausmachen
konnten, wo sie zu finden sey, so fragte man
ihn, und er konnte gleich sagen, daß die Stelle
in diesem oder ienem Buche in einer Bibliothek
zu Constantinopel, in dem und dem Fach, auf

/ dieser

/Seite 108

/dieser oder iener Seite befindlich sey. Er war
aber zu gemein, und sehr schmuzig; trug leder-
ne Beinkleider, die aber so abgeschmuzt waren,
daß er zuweilen mit einer Steknadel seine Ge-
danken darauf schrieb. Ein nicht weniger merk-
würdiges Beispiel von einem glüklichen Gedächt-
nisse war Robert Hill ein Schneider in England
der etwa noch vor 25 Iahren lebte, und der
arabische und andre Schriften weit besser ver-
stand, als die größten Gelehrten. Man sehe
in Bentleys Polihistor das arabische Manniscrip¿
von Hill. Er wurde auch Bibliothecar zu Cam-
bridge, befand sich aber dabei schlechter als
bei seinem Metier. Es ist überhaupt sehr wahr-
scheinlich, daß alle Eindrücke auf unser Gehirn
erst kleben bleiben, und daß es nur daran liegt,
daß einer vor dem andern ein beßres Mit-
tel hat, die Sachen in ein gewißes Licht zu
setzen. Daß Kinder etwas leichter be-
halten, wenn sie es des Abends lesen, hat
seinen Grund, weil die Seite Vocablen die
sie gelernt die Nacht über in der Phantasie
schwebt, und diese kann sie sich daher lebhaf-
ter vorstellen, je weniger die sinnlichen Ge-
genstände, die alsdann daran fehlen, sie ver-
hindern können. Wir haben ferner ein Ver-
mögen, Vorstellungen hervorzubringen, die
niemals in unsrer Phantasie aufbehalten

/ waren,

/Seite 109

/waren, ja die niemals in unsrer Seele gelegen
haben, und dies ist das:

/ ≥ Dichtungsvermögen. ≤

/Dies Vermögen ist nicht zu erlernen. Auch werden die
Vorstellungen durch dasselbe nicht renovirt, sondern
nur hervorgebracht, und fingirt. Man nennt einen Töp-
fer Figulum, blos weil er dem Thon die Form giebt,
aber so wie der Töpfer erst Thon haben muß,
ehe er ihm eine Gestalt geben kann, so müßen auch
einem Dichter iederzeit die Materialien zu einem
Gedichte gegeben werden. Er kann sich eine als eine
Empfindung fingiren, haben ihm aber die Sinne
Materialien garnicht, so kann er denselben
verschiedene Formen geben. Bei den sinn-
lichen Dichtern liegen die Phantasmata von den
Erscheinungen und Empfindungen zum Grunde,
die von ihnen auf mancherlei Art verändert
werden. Ein Mensch dichtet auch im Traume, der
Stoff dazu liegt aber in der Empfindung. Das
Dichten ist entweder willkürlich oder unwillkührlich.
Wenn man öfters Histörchen lieset, besonders
Romane, so kann man es oft dahin bringen, daß
man unwillkürlich dichtet. Die Annehmlichkeit der
Ramane beruht darauf, daß sie das Dichtungs-
vermögen mit ins Spiel setzen. In sehr vielen
Umständen des Lebens dichten wir Romane.
Den leeren Raum zwischen Empfindungen füllen
wir mit Dichten an. Manche unangenehme Stelle im
Leben kann man durchs Dichten angenehm ma- 

/ chen

/Seite 110

/chen. Ieder Mensch der allein ist dichtet sich allerhand
Umstände, in den er hätte gerathen können. Me-
lancholische Gemüther fühlen sich zum ausgebrei-
teten tiefen Dichten sehr aufgelegt. Das
Dichten macht uns glüklich, indem es uns diese
Welt angenehm macht, und den Genuß derselben
würzet. Aber es macht auch unglüklich, indem
es uns zum menschlichen Leben und Umgang
unnüz macht. Das unwillkürliche Dichten hat den
grösten Grad der Schädlichkeit, um sich davon
zu befreien muß man sich an die Erfahrung hal-
ten und Gesellschaft lieben. Der Hypochondrist
schlägt aber alle Mittel aus, die ihn heilen könnten.
Man kann nach der Phantasie dichten und auch
nach dem Verstande. Einige Menschen haben einen
recht instinct mäßigen Hang zu lügen, sie ziehn
das Erlogne dem wirklichen vor, ohne alle Ab-
sicht; und aus einem ganz unbegreiflich son-
derbaren Geschmak muß ihnen ienes darum
beßer gefallen, weil es ihr eigen Werk ist. Ei-
nige solcher Lügner sind oft sehr liebenswür-
dige Menschen, aber verachtet zu werden ver-
dienen sie doch. Die Ursach ihres Lügens mag
vieleicht eine überlistige Dichtungskraft seyn. Der
Charakter eines Dichters besteht darin, daß er
sich neue Bilder schaffen kann. Man muß Ausdrü-
ke von Gedanken und eben so Dichter von Schriftstel- 

/ ler

/Seite 111

/ler und Versemacher unterscheiden - Gellert war
kein wirklicher Dichter, aber ein guter Schriftstel-
ler. Milton war ein wirkliches dichterisches Genie,
man lese nur sein verlornes Paradies. Der
Dichter muß analogisch mit der Natur dichten, wenn
er nicht einen durchaus entgegesezten Zweck hat.
Klopstok stellt die Sache nicht so vor, daß sie
rührt, sondern redet als einer, der gerührt ist;
und rührt daher durch Simpathie, so wie ein
Weinender uns auch weinend macht. Das Dichten
ist eine reichhaltige Quelle der Empfindungen, alle
Empfindungen sind aber Geburthen vom Dichtungs-
vermögen. Man kann nicht eher ein ordentliches
Leben führen, als bis man sich einen Begriff
davon gemacht hat. Selbst der Begriff von Gott
ist erdichtet. Man sieht also hieraus, daß Er-
dichtungen nicht immer leere Bilder und Hirnge-
spinste sind. Leer dichtet einer, wenn er dichtet
was der Erfahrung widerspricht. Die pia desi-
deria da man immer wünscht, daß die Menschen
so leben, daß sie solche Gesinnungen hätten, die
kann man wohl zur Noth Poeten und Redner ver-
geben, aber nicht dem Philosophen, diese pia %.desideria
sind chimairisch, und geben uns von der Welt
eine vereckelte und vergalte Denkungsart.
Ein Frauenzimmer, die den Grandison gelesen, hat einen
Eckel vor der Welt, wenn sie keinen Grandison
darin findet. Ein noch größerer Schaden des Roma-
nenlesens besteht darin, daß sie das Herz welk

/ machen

/Seite 112

/machen und die Gemüthsart so umformen, daß man
für die Gesellschaft der Menschen, und die Welt
unnüz wird. Denn sie machen den Menschen unzufrie-
den mit derselben. Wenn man eine Gemüthsart in
sich erwecken will, so muß es die Härte seyn, die
uns gegen alle Vorfälle des Lebens wafnet; und
uns alles Glük von uns selbst erwarten läßt,
anstatt daß die Romane alles nur vom Glük
erwarten läßt. Unglüklich ist der Mann, deßen
Frau zu oft den Grandison lieset. Sie vergißt
dabei alle ihre Wirthschaft, hat den Grandison zum
Man, lebt im Wittwenstande weil sie ihn nicht
haben kann.

/ ≥ Von den Ideen ≤

/Alle Ideen sind gebildet. Die Ideen vom Wesen von
der unverdorbner Natur des Menschen, vom Himmel
pp sind nicht aus der Erfahrung geschöpft, son-
dern durch die Neigung, eine Sache völlig und
komplet zu endigen, erdichtet. So macht man sich
eine Maxime der Freundschaft in der Idee,
sie wird aber nicht bestehen, denn sie ist nur nach
Regeln der Vernumft (Intellectualitaet) oder
nach den Regeln der Sinnlichkeit (Sensualitaet)
erdichtet. Eine Vorstellung die intellectualiter er-
dichtet ist, heißt eine Idee, und man macht sie sich
von einem Begrif des Maximi; auch ist sie auf
verschiedene Art erdichtet: So ist der stoische
Weise von dem chimairischen verschieden. Beide
waren Ideen des vollkommnen Menschen. Eine

/ Idee

/Seite 113

/Idee in concreto ist:

/

/ ≥ Ideal ≤

/Wir können 3erlei Ideale haben:

/1) ein aestetisches

/2) intellectuelles und

/3.) praktisches.

/Was das aestetische Ideal betrift, so ist zu merken, daß
es nicht möglich sey, von Empfindung etwas zu erdich-
ten mithin auch von Empfindungen sich ein Ideal zu
machen. Unsre Ideale gehen blos auf die Form,
weil auch unser Dichten blos auf die Form geht. Wenn
iemand von einer andern Welt redet, so sind es blos
Worte. Ein Mahler ist entweder ein bloßer Mahler
oder Original, der das Ideal mahlt. Nach dem Ur-
theile des großen Mahlers Mengs hat das Ideal
Raphael gemahlt, nachdem er sinnliche Gewalt über-
menschlich mahlte. Correggio war ein Mahler der
Geselligkeit, indem er sanfte Empfindungen in
uns erwekte, welche die Erfahrung nicht giebt. Ti-
tian bekommt den untern Rang, den er mahlte
die Natur. In unsern E«mpfind»<rdicht>ungen können wir nicht
alles erdichten. Etwas wahres liegt immer zum Grun-
de. Unsere Freiheit zu dichten ist an die Bedingung
der Möglichkeit gebunden. Wie weit geht aber un-
sre Dichtung in der Fabel? Die «Wahr» Freiheit
bei derselben muß nicht an die Analogie an den
Charakter, den man sich in den Thieren denkt ge-
bunden seyn. Z. B. Man kann nicht sagen, daß das
Schaaf sich über den Wolf macht und ihn zerreißt.

/ Es

/Seite 114

/Es scheint auch nicht so widernatürlich zu seyn, daß ein
Thier Verstand habe. Die Romanenschreiber sollten
vorzüglich Carricaturen lebhaft schildern u. Laster
in ihrer Thorheit, stets solche Charaktere nehmen,
die in der Welt am gewönlichsten sind, nicht minder
moralische Empfindungen uns einflößen. Filding
rühmt sich am meisten dieser Pflichten des Ro-
manenschreibens.

/

/ ≥ Träumerei oder der Zustand
des unwilkürlichen Dichtens. ≤

/Das unwillkürliche Dichten ist ein träumerischer Zu-
stand, den wir im Wachen eben so guth, wie im Schla-
fe haben, nur mit dem Unterschiede, daß wir im
Wachen alle Eindrücke gleich fühlen, und also dieser
Zustand oft unterbrochen wird. So wie der Phos-
phorus oder Faulholz im dunklen leuchtet, so ist
auch die Einbildung im Schlaf, so klar und deutlich wie
die sinnliche Empfindung, und der Mensch kann sie
nicht anders von dem wahren Zustande unterschei-
den, als durch die Stärke der sinnlichen Eindrücke.
Auch einem wachenden Menschen legt man Träumereien
bei, wenn er beständig in Gedanken ist, keinem
aus dem Wege geht, allendhalben anstößt, mit
sich selbst spricht und seinen Hirngespinsten nach-
hängt. Dieser Zustand wird durch das Roma-
nenlesen vermehrt.

/

/ ≥ Vom Traume ≤

/Der wahre Traum sezt einen Schlaf voraus. Der Traum

/ gränzt

/Seite 115

/gränzt an Schlafen und Wachen. Wenn alle Gemeinschaft
mit den Sinnen aufgehoben ist, so hört auch der Traum
auf. Ein Mensch träumt wenn er leise schläft und
am meisten des Morgens. Hat man stark ge-
geßen und wird am Schlafe gehindert, so träumt
man die ganze Nacht. Die Bilder im Schlafe hangen
so zusammen, wie sie im Wachen associirt waren.
Der Traum geht nach Bildern der Einbildung vor
sich. Er ist eine Kette von Einbildungen, von de-
nen eine die andre herbeizieht, wie in Gesell-
schaft das Gespräch. Der Anfang geschiehet von
den sinnlichen Empfindungen, die Continuation die-
ser Reihe von Bildern folgt nach. Die Einbildun-
gen im Wachen und Schlafen sind durch die Stärke
unterschieden. Im schlummernden Zustande fängt man
an zu träumen, denn da sind die Empfindungen
stumpf. Wenn die Einbildungen im Schlummer eben
so stark sind als im Wachen, so vermengen wir
die mit einander. Z. E. im Schlummer kommt mir das
Geschrei eines Hahnes eben so vor als die Stimme
eines entfernten Menschen, und so geht die Rei-
he fort. Man kann daher einem Menschen Träu-
me voraussagen. Z. B. So sah iemand einen andern
mit dem Kopf an der Wand und offnen Munde
schlafen, und tröpfelte dem Schlafenden durch einen
Schwam Wasser in den Mund. Der Schlafende erhob
sich etwas, hernach immer mehr, zulezt bewegte er
die Glieder so, als wenn er schwimmen wollte, bis

/ er

/Seite 116

/er erwachte. Will man nicht träumen, so muß man
suchen fest zu schlafen, man muß nicht eher zu
Bette gehn, bis man schläfrig ist. Kurzer fester
Schlaf erhält beßer als Träume die ermüden.
Man muß daher alles vermeiden, was den Schlaf
verhindert. Das Schlummern ist nicht guth. Denn es
giebt keine Erhohlung. Im Traume laßen die sinn-
lichen Einbildungen nach und der Mensch hat einen
eingebildeten Körper. Wenn er glaubt zu lau-
fen so läuft er unwillkürlich. u. s. w.

/

/ ≥ Vom Schlafwanderer ≤

/Es giebt einen Zustand des Menschen, der aber zu
seiner Krankheit gehört, da der Mensch seinen
Körper einstimmig mit seinen Chimairen bewegt.
Der gelindeste Grad seiner Krankheit ist das
Sprechen im Schlaf. Ein stärkerer Grad ist das
eigentliche Nachtwandlen, welches so weit gegan-
gen ist, daß sie Abhandlungen verfertigt haben
die an sich sehr gut, die Buchstaben aber unregel-
mäßig waren. Man nannte diese Krankheit die
Mondsucht, weil man glaubte, daß sie sich nach
dem Monde richte. Das beste Mittel dagegen
ist, daß man eine Nasse Decke vor das Bette
des Patienten lege, denn, wenn er solche betritt
so geht er gleich in dasselbe zurük. Das vornehm-
ste und bewundernswürdigste ist, die Bewegung
der Gliedmassen, da solche Menschen doch nur stump- 

/ fe

/Seite 117

/fe Einbildungen haben und dennoch auf Treppen, Dächern u.
s. w. wie ein Wachender steigen können. Es ist nicht A-
berglauben daß sie beim Rufen ihres Nahmens er-
wachen, denn nichts frappirt den Menschen so sehr als
sein eigner Nahme. In den Memoires de l'academie
de Bourgogne wird folgende Geschichte von einem
Nachtwanderer erzält. Ein junger Graf hatte einen
Haushofmeister, der im Frühjahr Abends schläfrig
und schwach wurde, und zulezt im Sitzen einschlief. Da-
rauf fieng er an, im Schlaf sein Gesicht zu sträu-
cheln und nun gieng seine Wanderung an. Gemei-
niglich bildete er sich ein, daß Gäste gekommen wä-
ren und weil es seine Pflicht war, dieselben zu
empfangen, so sezte er die Tische zurecht, wenn
gleich alles Licht ausgelöscht war. Er nahm ein
Licht in die Hand gieng seinen Gästen entgegen
und machte Komplimente, sezte alles zurecht, bat
die Gäste zum Essen und wenn man ihm einen fal-
schen Tisch hingesezt hatte, so schalt er auf die Be-
diente. Er gieng ans Schaff, und wenn man ihm
Papier ins Schlüsselloch gestekt hatte, so klopfe
und arbeitete er so lange, bis es heraus war.
Schlug man ihm auf die Füße so schalt er den Hund,
er sollte ihn nicht beissen. Der Köchin hatte er
etwas Kohl zur Verwahrung gegeben, den for-
derte er. Und als man versuchen wollte ob er Ge-
schmak habe, gab man ihm Hundebrei und er fand
ihn ganz schmakhaft. In diesem Zustande hatte
er keinen andern Sinn als das Gefühl. Mit einem

/ Be- 

/Seite 118

/Bedienten beredete er sich ins Weinhaus zu gehen, da
die Herrschaften assen. Sie nahmen ihm das Geld aus
der Tasche, einer ging mit ihm ins Weinhaus und
gab ihm Wasser zu trinken, und er tranks für
Wein. Hernach suchte er Geld um es zu bezahlen, als
er aber keines fand, schimpfte er auf seinen
Kameraden. Der Graf bat viele Aerzte und Gelehr-
te zu sich um diesen zu beobachten. Man konn-
te ihn am ersten zu sich bringen, wenn man ihm
ein nasses Tuch aufs Gesicht legte. Es giebt noch
viele Arten von Nachtwanderer. Die Ursach da-
von liegt in ihrem Gehirn. Die Organen der will-
kürlichen Bewegung haben noch Nerwensaft. Die
Organe der Empfindung haben keinen.

/

/ ≥ Vom Phantasten, vom gestörten
Menschen oder vom kranken Zustande
der Seele. ≤

/Die Phisiologie und der gesunde Zustand der Seele
wird oft traktirt, aber nicht der kranke. Phan-
tasten heißen diejenigen, die ihren Hirngespinsten
nachhängen, und sie für würkliche Dinge halten. Phan-
tasterei ist Realisirung der Phantasie. Sie glau-
ben das zu empfinden, was sie sich einbilden. Die
Verliebten sind gemeiniglich Phantasten. Dieser
Instinct ist mehr idealisch und nicht von so grober
Natur. Bei allen idealischen Köpfen arten
alle Affekte und Phantasien aus, man glaubt bei
einer Sache mehr zu finden, als in ihr liegt. Ein

/ Ideal

/Seite 119

/Ideal bedeutet das Maximum einer Sache, in so fern
ich es ohne alle Sinne außer mir gedenke. So macht
man sein Ideal von Tugend und Laster. Himmel
und Hölle sind Ideale der grösten Glükseeligkeit
und der grösten Marter. So stellt der, der sich
das höchste Ideal der Freundschaft denken will, sich
die gröste Freundschaft vor. Gleichwol sagt Plato:
meine Lieben Freunde, es giebt keine Freunde. Iunge
Leute sind gemeiniglich aus Unwißenheit herzli-
che Freunde. Mit zunehmenden Alter lernt man den
Eigennuz beßer kennen, und die Freundschaft
nimmt ab. Im vollkommensten Grad ist sie in concre-
to unmöglich. Nimmt man das Ideal an, nicht als den
Gegenstand des Verlangens, den wir suchen (princi-
pium practicum) sinnlich als ein Mittel der
Beurtheilung (principium judicandi) so ist das
Ideal gut und möglich. Sucht man aber einen sol-
chen Freund wie ihn das Ideal beschreibt, so
wird man ein Phantast und daher bekommen wir
die Menschenfreunde und Misanthropen, welche
alle große Tugend Freunde sind. - Affekten
machen, daß aus einer vernümftigen Idee Phan-
tasterei wird. Man lacht über Rousseau daß
er sagt, er wolle uns ein Beispiel zur Ausübung
unserer Ideen geben, da er die Einfalt der
Natur einflechten will. Es ist aber gewiß, daß
er wenig Nachahmer haben wird und seine Lehren
nicht den gewünschten Nutzen haben werden. Er ist

/ aber

/Seite 120

/aber ein Iugendfreund und kein Phantast. Die Ideen
von Rousseau und Plato sind richtig und keine
Chimairen, allein die Wirklichkeit derselben ist un-
möglich.

/ ≥ Von der Erstarrung ≤

/Dieser Zustand ist bei uns selten, doch hat man eini-
ge Fälle davon. Sauvage erzält von einer Frau-
ensperson, die das Unglük hatte, daß sie oft
ohne alle Empfindung und Gefühl stehen blieb, aber
ihrer Einbildung nach gegangen zu seyn glaub-
te. Sie hatte kein Gefühl, denn sie fiel über
alles. Man machte «ch» mit ihr grausame und un-
anständige Versuche. Man tröpfelte ihr heißen
Talg auf die Hände, und schoß eine Pistole
vor dem Ohre ab, und sie blieb ohne alle Empfin-
dung. Sie sprach oft klüger als ein Wachender.
Wiederholte ganze Predigten und zeigte ein
sehr gutes Gedächtniß. Bei ihr war aber der
Gebrauch der Mittel umsonst

/

/ ≥ Enthusiasmus

/Den nennt man Phantast, in so fern er aus dem
Ideal der Vollkommenheit entsprungen ist. Ein
Enthusiast ist ein Phantast, ob man wohl das
Wort nicht so oft braucht, denn das leztere ist
etwas spöttisch. Enthusiast ist ein edler Phan-
tast. So giebt es einen Enthusiasmus der Liebe
der Freundschaft, des patriotischen Eifers. Die

/ Af- 

/Seite 121

/Affekten taugen zu nichts, sie müssen gemildert
werden. Die Vorsicht gab uns Affekten zu Triebfe-
dern, aber eigentlich nur für den Narren, denn
sie wußte wohl, daß der gröste Theil der Men-
schen Narren seyn würde. Einen Enthusiasten
betrachtet man mit Nachsicht und bedauert ihn.

/Rhaeder in seiner Fabel von der Freundschaft des Men-
schen und des Bären sezt hinzu "macht mit keinem
Tölpel und mit keinem hitzigen Menschen Freund-
schaft, wenn er auch um unseretwillen hitzig wird.
Er kann uns dadurch großen Schaden thun. Der En-
thusiasmus in der Religion ist mit gefärlich. Ein
solcher Mensch richtet viel Uebel an, um nur seinen
Ernst zu beweisen. Die Menschen werden leicht
vom Enthusiasmus angestekt, und man kann da-
ran sich so berauschen, als wenn man in einem
Kriege gewesen wäre. Die Körperliche Berauschung
schadet nie so viel als die geistige. In unserm
Körper haben wir Anschauungen, die Seele aber
reflectirt nur. Wenn man glaubt mit der Seele
etwas anzuschauen, so ist man ein Schwärmer,
ein Phantast der geistigen Anschauung. Der
Phantast ist kein Schwärmer, er ist nur zu hitzig
und zu streng in seinen Grundsätzen. Die Zeiten
der Ritter waren enthusiastische Zeiten der
Lieb und Tapfrigkeit, da der Ritter eine Schöne
als eine Schuzgöttin nöthig hatte. Ein solcher Ritter
log niemals und das war ädel, und man weis

/ nicht

/Seite 122

/nicht, ob man iene Zeiten den unsrigen vorziehen soll,
da unsre Ritter sich keine Schande daraus machen
zu widersprechen und nicht Wort zu halten, und
oft nicht anders bezahlen können. Der Enthusiasmus
überwindet viel und bringt große Dinge hervor.
Die Kaltblütige Vernumft muß sie aber beßern
und poliren. Der Phantast wenn er fortfärt,
scheitert alle Zeit. Der Fanatikus oder Schwär-
mer kömmt dem gestörten Kopf näher als der
Enthusiast. Der Phantast glaubt entweder Geister
um sich zu sehen, oder sie innerlich anzuschauen.
Eine @gl@aubliche Verwirrung des Gehirns oder der
Erkenntniß heißt:

/

/ ≥ Störung. ≤

/Es giebt gestörte Menschen in Ansehung der Sinne, und
das sind Blödsinnige oder Wahnsinnige, die ersten
bemerken zu wenig, die andern zu viel. Die
ersten sind zu stumpf zum Gebrauch der Sinne,
der Aufmerksamkeit und der anzustellenden Re-
flektion. Die Sinne können scharf genug seyn,
es kommt aber viel auf den Verstand an. Die
Blödsinnige sind gemeiniglich harthörig, doch nicht unge-
lehrt, denn die harthörige sind nicht blödsinnig. Der
Wahnsinnige geht weiter, als die Sinne. Diesem kommt
der Visionair am nahesten, der glaubt entweder
zu sehn oder zu hören wo andre nichts bemerken.
Solche Schwärmer sind wahnsinnig. Wahn heist

/ Ein- 

/Seite 123

/Einbildung. Wahnsinnig ist also der, der die Einbildungen
als wirklich substituirt - Der Blödsinn bedeutet
die Schwäche des Verstandes, ein solcher Mensch kann
sich keinen Begrif durch Affectionen machen, ohne
welche wir nichts erkennen. Der Blödsinnige hat ei-
nen Mangel des Verstandes. Der Wahnsinnige hat
weder einen Fehler noch einen Mangel am Verstan-
de. Er kann ein kluger Mann seyn, er hat nur
das Unglük, Einbildungen für Wirklichkeiten zu
halten. Die an hitzigen Fiebern laboriren sind
einige Zeit wahnsinnig. Hypochondristen sind wahn-
sinnig, ihre Einbildungen versetzen sie bald in diese
bald in iene Krankheit. Wie selten darf der Arzt
ihnen glauben. Die geringste Beschwerung des
Herzens sagt ihnen schon den Gedanken ein, den
Polyb im Herzen zu haben. Der Hypochondrist
wird auch ein Phantast der Praevision oder des
Vorhersehehens, der Urtheile, Besorgnisse u. s.
w. die kein andrer sieht. Man sieht, daß er
den Wahnsinnigen sehr nahe kömmt und wenn er
nicht seine Vernumft in andern Fällen zeigen
möchte, so würde man ihn dafür halten. Er ist
zu bedauren, besonders wenn man gewönlich
mit ihm kein Mitleiden hat. Man glaubt, er sey
ein Grillenfänger.

/

/ ≥ Wahnwiz und Dummheit ≤

/Verschiedene Arten davon sind:

/ 1)

/Seite 124

/1.) Witzlinge, die immer witzig seyn wollen.

/2) Wizjäger, die den Wiz immer haschen wollen.

/3) Ueber- oder Aberwitzige, die gar zu witzig
scheinen wollen

/4) Wahnwitzige.

/Wahnwiz und Wahnsinn sind verschieden, bei Wahnwitzi-
gen ist der Gebrauch der Vernumft schwach, bei Wahn-
sinnigen der Gebrauch der Sinne. Der Wahnsinnige
kann einen guten Verstand haben, bei den Wahnwitzigen
sind die Sinne zu schwach aber nicht der Verstand. Der
Wahnwiz ist ein großes Uebel und überschreitet die
Grenzen der Vernumft. Böhms Schriften sind voll
Wahnwitz. Man übersezte sie ins Englische. Ein Eng-
länder ließ sich verleiten, viel Verstand darin
zu finden, und glaubte, die heiligen Geheimnisse
dieses Buchs zu studieren, lohne wohl der Mühe. Die
Albernheit ist eine Annäherung des Wahnwizzes. Al-
bern ist derjenige, deßen Spiel des Witzes den
Umständen nicht anpaßend ist. Wenn ein alter
Mann tändelt und kindisch spaßt, so ist er albern,
aber bei Kinder ist Tändelei des Witzes keine
Albernheit. Die Albernheit geht nicht auf das Ob-
jekt sondern auf die Personen und Umstände. Die
Albernheit ist eine Munterkeit. Die alberne Men-
schen sind spaßhaft und ein Objekt des Auslachens.
Störung und Verrückung sind nicht sonderlich ver-
schieden, nur daß die Verrückung ein höherer Grad
und unheilbar ist. Albernheit kann der Thorheit
contradistinguirt werden. Der gestörte Mensch

/ ist

/Seite 125

/ist entweder albern oder doll, der leztere ist wütend
wild und überhaupt zornig. Beim albern ist nur ein
Spiel seiner Empfindungskraft. Durch viele und man-
cherlei Schattirungen kommen wir endlich auf die
Leute, die wir um uns haben und die wir in unserm
eignen Busen finden. Ia der Mensch hat eine Do-
sis von Thorheit, und iener hatte recht zu sagen "
die Menschen sind mehr für Thoren als für Bö-
sewichter zu halten. Die Welt scheint ein großes
Narrenhospital zu seyn, daher wird <der> für fein und
klug gehalten, deßen Thorheit von der ange-
nehmen Klasse ist. Wer aber nach seiner eig-
nen Thorheit handelt, hält man für thöricht. Der
englische Zuschauer macht den Unterschied zwi-
schen einem Thoren und klugen Manne, daß der
Thor alles laut sagt, was er denkt, der kluge
aber seine Gedanken die Musterung paßiren
läst und dann nur das sagt, was sich für seinen
Zweck schikt und es am gehörigen Orte anbringt.
Doch sagt er: ist in ihrer Denkungsart kein we-
sentlicher Unterschied.

/

/ ≥ Unterschied der Narrheit und Thorheit ≤

/Thorheit ist eine Ungereimtheit, die weder schädlich
noch lasterhaft ist. Die Narrheit ist auch eine Un-
gereimtheit, aber aber schädlich und lasterhaft
ist. Ein Narr muß also durch seine Ungereimtheit
schaden thun, und den guten Sitten widerspre-
chen. Das Wort Narrheit paßt auf keinen Men- 

/ schen

/Seite 126

/schen beßer als auf den Hochmüthigen. Ieder sucht
einen solchen Menschen, wenn er auch nicht Lust dazu
hat zu stürzen, zu demüthigen, herunterzusezzen
und zu kränken. Die Narrheit ist die seltsamste Un-
gereimtheit, indem sie sich um ihren eignen Vortheil
bringt und ihren eignen Zwek verfehlt, so z. E.
der karge Geiz. Ein solcher Mensch handelt ge-
rade zu seinem Zwek entgegen. Er hat den
Genuß seiner Güter zur Absicht, und genießt
sie nicht. Der Hochmuth ist auch eine gewiße Art
Narrheit. Man muß ein gewißes Mittel aus den
Sitten haben, das ist die Gleichheit in Ansehung
des Grades der Hochachtung gegen andre. Geh
ich darüber so ist es noch nicht «Hochachtung» <Narrheit>. Thorheit
kann es seyn, wenn sich iemand einzuschmeichlen
sucht, durch Kleiderpracht, gute Speisen, ob man
gleich kaum für sich zu leben hat, und zwar um
sich zu distinguiren. Eben so wenn man aus
Eitelkeit um die Ehre buhlt; gerne das Wort
führen, oben an gehen und der erste am Tische
seyn will. Was hilft uns denn das alles? Aber
es schadet auch nie. Narrheit hingegen ist, wenn
man die niedrigsten Mittel wählt, zu seinem
Zweck zu gelangen. So schneiden die Leute die
aus einem niedern Stande in einem höhern kommen
wunderbare gravitaetische Mienen, sie wißen nicht
wie sie die Glieder halten und die Füße stellen

/ sollen

/Seite 127

/sollen. Man sieht solche Leute bei jeder Gelegenheit aus-
lachen. Findet sich nun noch ein Kontrast an ihnen,
so lacht sie ieder aus vollem Halse aus. Ungereimt-
heit in die sich der Mensch verleiten, kann schädlich
und tadelhaft seyn, aber sie haben nur indirecte
böse gehandelt. So verlachte Democritus die zu
seiner Zeit gepuzten Menschen, in ihren sizt
alles voll Thorheit und Ungereimtheit. Die Men-
schen verhehlen ihre Thorheit mit glänzenden Blend-
werken. Der Lord der des Vormittags im Parla-
ment für das Wohl des Staats arbeitet, geht nach
Haus und divertirt sich im Ballspielen und Billart.
Der allgemeine Zweck vieler Arbeiten ist: Das kümfti-
ge Vergnügen desto beßer und lebhafter zu em-
pfinden, der angewante Fleiß hat oft das Faul-
lenzen und die Ruhe zur Absicht, nicht das ädle
sondern die kümftige Gemächlichkeit treibt den
Menschen zur Bemühung an. Daher entspringt
oft ein trauriges Weinen, wenn einem etwas
von seiner Gemächlichkeit entrißen wird. In Spanien
betteln sich die Leute Schminke, so lächerlich uns
dies vorkömmt, so halten sie es für keine Schande
weil es einmal Mode ist. Die Karaiben laßen sich von
ihren Weibern 3 Stunden und darüber mit Koh-
lenstaub und andre Farben schminken. Sind sie
noch nicht völlig ausgemahlt, und schreyt iemand
nach ihnen, so muß die Frau sagen: der Herr

/ ist

/Seite 128

/ist noch nicht angezogen, ob sie gleich ganz nakend sind.
Wir wundern uns oft, daß Leute ganz überflüssige Dinge
zur Nothwendigkeit machen, aber wir machen es nicht
beßer. Wir könnten weit angenehmer leben, wenn die
Eitelkeit, Ambition, Zeremonien und aller Zwang weg-
fallen möchte. Was macht die Kleiderpracht allein
nicht für Ungemächlichkeit. Eitelkeit ist eine größere
Thorheit, als die Begierde etwas zu geniessen, denn
das lezte ist doch was würkliches. Wie rechte hatte
Democrit, daß er den Menschen von der thörichten
nicht aber von der ernsthaften Seite mit Nachsicht
betrachtete. Wie vorteilhaft wäre es, wenn keiner
für den andern in der Stadt sich schämen dürfte.
Die Menschen handlen überaus selten nach Grund-
sätzen. Geschiehts zuweilen, so ist ihr einziger Grund
die Ehrlichkeit, oder eine gewiße Redlichkeit, die
aber nicht die Handlung sondern nur die Form
betrift. Der Mensch handelt so, daß er dem an-
dern als dann nicht schadet. In der Ehrlichkeit es
hoch bringen ist nichts, es heist nur, es genau
wissen. Denn wenn man nur etwas von der
Erlichkeit abgelassen und einmal gelogen hat, so
ist man kein ehrlicher Mann sondern ein Schelm.
Der Ernst ist nicht die rechte Eigenschaft des Men-
schen, er ist nicht in seiner wahren Natur und
Element, sondern vielmehr wenn er spaßt. Der
Ernst und das gravitaetische scheint dem Men-
schen nicht eigen zu seyn. Ein witziger Kopf

/ hei- 

/Seite 129

/heitert eine ganze Gesellschaft auf und ist ihr will-
kommen. Ie mehr der Mensch die Welt kennen lernt,
desto mehr spaßt er. Iunge Leute sind am mehresten
ernsthaft. Die Lust zu lachen wächst mit den Iah-
ren und alte Leute möchten wohl den ganzen Tag über
spaßen und lachen. In der Iugend sieht der Mensch
das Blendwerk der Meriten noch nicht ein. Es wäre
auch nicht gut, wenn die Iugend solches wüßte,
sonst würde sie nicht Gründe genug haben, ihre
Kräfte zu continuiren, darum bietet sich ihnen
alles ernsthaft und wichtig an. Mit zunehmenden
Iahren sieht man alles mit Lachen in seiner eig-
nen wahren Gestalt an. Das ganze Universum
des menschlichen Geschlechts betrachtet ist der Ernst
erzwungen, spaßen, lachen und tändeln ihm na-
türlich, ja wahre Neigung und Leben. Die Pflicht des
moralisten ist, nicht wider die menschliche Neigungen
zu handlen, sondern sich den Neigungen zu accommo-
diren und die Tugend liebenswürdig vorzutragen.
Sein wahres Bestreben muß seyn, nicht die Tugend
als eine schwere Pflicht vorzustellen, sondern eine
Lust zur Ausübung der Tugend hervorzubringen su-
chen, nicht deswegen, weil ein Richter da ist, sondern
weil sie das Leben angenehm macht, und an sich
etwas vollkommnes ist. So ist auch in der That nichts
schwer vor dem, der durch Albernheit nicht verderbt
ist. Auf die Art muß die ganze Moral vorgetra- 

/ gen

/Seite 130

/gen werden. Epicur scheint sie so gelehrt zu haben, ob er
gleich in der Bestimmung des wahren Worts gefehlt hat. Nicht
mit Detestationen und Verwünschungen muß man die
Laster begleiten, sondern sie lächerlich zu machen suchen.
Als schändlich werden die Laster verabscheuungswür-
dig seyn, als ungereimt sind sie aber lächerlich. Die
mehresten Menschen begehen Laster nicht um Scha-
denfroh zu seyn, sondern nur, um sich das Leben an-
genehm zu machen. Keiner würde den andern besteh-
len, wenn er sich nicht die Vorstellung machte, durch dies
Mittel auf eine leichte Art zum vergnügten Leben
zu kommen. Der Mensch wird durch Verachtung mehr
gerührt, als durch Abscheu und Haß. Verachtung ist
dem Menschen unerträglich. Wenn ein Mensch ver-
haßt ist kanns er noch ertragen, weil sich doch
noch andre seinetwegen incommodiren, und mit ihm
umgehen, wird er aber verachtet, so incommodirt sich
keiner um ihm, sondern ist ganz gleichgültig und
frägt nie nach ihn: Die Ursach warum Verachtung
mehr nahgeht als Verabscheuung und Haß ist diese:
Man verachtet das, was an sich gar keinen Werth
hat, man hast hingegen das, was comparatiue
zwar nichts taugt, aber dennoch viel Vollkommenhei-
ten haben kann. Einen tapfren Feind kann man
hassen aber nicht verachten. Die Methode also, die
Laster verabscheuungs<würdig> zu machen ist die beste. Die
launichte Schreibart eines Schriftstellers in Ansehung
der Laster hat viele Vortheile. Sie bringt nicht nur

/ eine

/Seite 131

/eine boshafte Person zur Verachtung, sondern ist auch
angenehm zu lesen. Die Menschen lesen gerne lächerliche
Vorstellungen von Laster. - Das Verabscheuen mit
den Detestationen bringt zugleich das Verabscheuen des
ganzen Menschengeschlechts, und viele Menschenfeinde
hervor. Christus sagt daher weislich "richte nicht u. s. w.
Man muß die Sachen in ihrer Natur ansehn. Viele
fromme Leute werden Menschenfeinde, weil sie die-
ser Regel nicht folgen. Viele Menschen thun sich auf die
Tugend nicht wenig zu Gute, sie haben aber nie den
Vortheil gehabt sie zu probiren. Manches Frauen-
zimmer kann sich mit ihrer Keuschheit und Tugend
bis ans Grab viel einbilden, weil sie nie das Glük
gehabt hat, darum angesprochen zu werden. Die
lezten Absichten der Menschen sind immer Kinderei-
en und Albernheiten. Der Mensch sieht es oft ein
und ist nie so er<n>sthaft in dem Zwecke als in den
Mitteln. Die einzige Rechtschaffenheit ist, was or-
dentliches und rechtschafnes in der Welt zu thun Fil-
dings Schriften sind von der launigten Schreib-
art. Man resoloire nur Ernsthaftigkeit. Alle
Frauenzimmer «von» <mit> reifer Ueberlegung betrach-
tet haben allezeit was lächerliches und unanstän-
diges, für vernümftige Wesen. Wie oft werden
nur Thorheiten damit verdekt. Wenn ein Lord Ma-
jor über die Straße geht, wird ihm der Scepter
vorgetragen, eine seltsame Zeremonie. Was
hat man nicht für Formalitaeten, einem eine Wür-
de zu übertragen, wozu ist's nötig, daß wenn

/ ein

/Seite 132

/ein Paar sich verloben, solches man der Stadt durch Poe-
ten, Karossenfahren und von der Kanzel anzeigt.
Sie könnten dies vor sich in der Stille abmachen und
dennoch zeigen sich die Menschen in der ehrlichsten
und ernsthaftesten Stellung. Man muß sich wun-
dern, wie sie sich des Lachens enthalten können. Cicero
sagt "ich wundre mich sehr, daß 2 Auspicier (Wahr-
sager) aus dem Vogelgeschrei bei den Römern, wenn
sie sich auf der Straße begegnen, sich nicht ins Ge-
sicht laßen. Man erzählt von einer Nation, die
beständig lacht, man kann kommen, wenn man will,
so findet man sie immer im Lachen. Es ist eine arme
Nation, dennoch mit dem ihrigen zufrieden, und auf
ihre Art stolz. Die Ernsthaftigkeit, als ein Man-
gel des Spaßes ist nicht immer zu billigen. Ein be-
ständig Gelächter ist unerträglich und stört die
ganze Unterhaltung. Ohne raison lachen macht
nicht, daß die andre mitlachen. Das Lachen ist
ansteckend und verbreitet sich sehr schnell. Der
Mensch lacht gern, wenn er nur irgend Ursach
dazu hat, und alles ist ihm zuwider, wenn er
nicht sympathisiren kann. Die Freude verbrei-
tet sich wie ein unaufhaltbarer Strom durch alle
Herzen. Ist iemand in seiner Seele recht vergnügt,
so sympatisirt ihm alles nach. Alles empfindet Wol-
lust, und alles wird von Annehmlichkeit gerührt. Fängt
iemand aber an zu heulen und zu weinen, so läuft
alles davon. Bisweilen bleibt man wohl, wenn

/ man

/Seite 133

/man weis, daß aufs Weinen Lachen erfolgt (wie bei
den Frauenzimmern geschieht.) Der Ernsthafteste, wenn er
von den wichtichsten Sachen spricht, würde wenn er Geld
genug hätte sich des Amts begeben und sich in einer
Gesellschaft wünschen, wo immer gelacht wird. Ein mun-
trer aufgelebter Kopf ist einer Gesellschaft immer will-
kommen. Das menschliche Geschlecht ist mehr zur Fröhlich-
keit und Lustigkeit und guter Laune gebaut, als Run-
zel zu ziehn. An einem Abend, wenn man recht herz-
lich gelacht hat, denkt man weit länger als an dem
wo man Neßeln gespeißt hat. Man sieht an solchen
Personen, die keine ernsthafte Geschäfte treiben,
daß Fröhlichkeit das rechte Element des Menschen
sey; denn die sich mit ernsthaften Sachen beschäfti-
gen werden zuweilen schwermüthig. Der Mensch ist
durch Hang und Stellung zum Scherz und guter Lau-
ne geneigt. Das sind die rechten Verdienste die
sich ein Mensch im Scherz und guter Laune erwirbt.
Der Mensch hängt an vielen Thorheiten, wird aber
dadurch ein rechter Narr, wenn er Thorheiten zu
wichtigen Dingen macht. Es scheint einer hat recht,
wenn er die Welt das allgemeine Appartement
des Schöpfungssystems nannte, wo hin aller Un-
rath der dort nichts taugte, hingeworfen wird. Ie-
dem Menschen liegt bei seiner Handlung eine Lieblings-
handlung und seine Steckenpferd im Sinn. Er be-
zahlt eine Medaille sehr theuer, weil sie etwa
vom Carl_XII ist. Hört er daß ein andrer auch
diese Neigung hat und diese Munze besizt, so kauft

/ er

/Seite 134

/er sie ihm sehr theuer ab, damit er diese Raritaet
doch ia nur allein besizze. So war Nero mehr Narr
als Bösewicht, er wollte in allen Künsten und Wißen-
schaften für den grösten Meister gehalten wer-
den, und wie er sich den Dolch in die Brust stieß
sagte er: quantus antifex morior. Seine Künste
bewunderte er also und nicht seine Kayserwürde.
So wie ein Kind bei seinem Steckenpferde sich noch
Kopf und Fuße hinzudenkt, so bildt sich auch ein
solcher Mensch bei seinen Lieblingssachen wichtige
Dinge ein. Es ist immer sonderbar, einen Menschen
als einen großen Menschen vorzustellen. Man
hat Bücher von einem großen Mann überhaupt.
z. B. Abts Buch vom Verdienst. Sollen wir die an-
genehme großen Eigenschaften und ihre Hand-
lungen extendiren? Wir wollen sie lieber
schlechthin gut nennen, denn die vielen Thorheiten
die doch immer mit, unter diesen klugen Verdiensten
eingestreut sind, vermindern auf der andern Sei-
te die Größe gar sehr. Wir sind alle als Zwer-
ge anzusehen.

/Ich habe keine eigentliche Hochachtung für einen
Menschen, sondern ich halte ihn nur für werth, und
verlange dasselbe von ihm, denn keiner ist groß, wenn
er gut ist. Die Moralitaet kann uns keine Grö-
ße vom Menschen zeigen, denn der Mensch der
groß genannt wird, muß so seyn. Den Ausdruk "
guten Charakter kann man brauchen, aber nicht

/ Größe

/Seite 135

/Größe. Es sind Talente die man für Größe hällt.
z. B. großer Körper, große Kräfte, Stärke des
Verstandes, der Vernumft, das macht nicht das we-
sentliche des Menschen aus.

/

/ ≥ Von der Vorsehung ≤

/Alle Unterschiede der Vorstellung des Gegenwär-
tigen, Vergangenen Zukümftigen, sezt die Idee
der Zeit voraus. Wir ändern die Stelle der
Zeit allendhalben. Es kann kein Zusammenhang
in einem Vortrage seyn, wenn man nicht pro-
spicirt. Alle unsre Vermögen der Seele und
der Sinne sind praktisch, durch die Praevision,
weil die Gegenwart nur ein Augenblik nur ein
Punkt ist, und das Vergangene das meiste von
der Zeit ausmacht, so geht unsre Kentniß nur
auf das Vergangene und kümftige. Das Ver-
gangene trift uns nicht mehr, daher ist nichts rei-
zender für den Menschen als die Zukumft zu
durchschauen, zu suchen aus iedem Phaenomen
am Himmel zukümftige Dinge zu entdecken. Nur
Gelehrte fragen hier nach der Ursache der Grö-
ße, der gröste Haufen der Menschen aber nach
den Folgen. Ein zukümftiges Glük, das wir
hoffen, macht, daß wir den izzigen traurigen
Zustand gern erdulden. Iupiter, sagten die
Alten, hat 2 Fäßer, eins voll Glükseeligkeit
eins voll Uebel, aus beiden schöpft er für
ieden Menschen eine Portion, und vermischt mit-
einander Glük und Unglük. Würde es auf

/ die

/Seite 136

/die Menschen ankommen, Glük und Unglük sich selbst
zu theilen, so würden sie erst das Unglük über-
nehmen und dann das Glük.

/Die Türken sagen, um den Menschen zur Mäßigkeit
zu ermuntern: es sey dem Menschen eine Portion
Essen zugewogen, wenn er die verzehrt habe, müße
er sterben. Die Aussichten machen viel bei uns,
ein trauriges Ende könnte dem Menschen eine
ganze Reihe von Iahren heimlich ängstigen.
Es ist wunderbar, daß der Tod dem Menschen
nicht «w¿¿¿» <fürcht>erlich vorkommt. Wir glauben, daß er
immer gleich weit von uns entfernt sey, so wie
eine Allee, am Ende spitzig zuzugehen scheint,
und wenn man dahin kommt, sie noch eben so weit
als von Anfang ist, so kann der Mensch, wenn
er lange gelebt, sein Leben der Idee nach, so
lange verlängern, als er will. Wenn der Mensch
die gegenwärtige Zeit als einen Zusammenhang
des vorigen und zukümftigen Zustandes ansieht,
so wird ihm die Zeit lang, sieht er sie aber
als einen Theil des Wohlbefindens an, so wird
sie ihm kurz.

/Schakespear sagt: mit einem gallopirt die Zeit,
mit einem trabt sie, und mit einem kriecht sie
wie eine Laus. Die Menschen betrachten die meiste
Zeit als einen Uebergang von einem Zustan-
de zum andern. De«r»m Mensch der in einem Amte
steht, wird die gegenwärtige Zeit zur Last, sie
dient ihm nur zum Verbinden der beiden Zustän-
de. Die Menschen sind vielen unwillkürlichen Prae- 

/ vi- 

/Seite 137

/visionen unterworfen z. B. bei der Furchtsamkeit, bei
hypochondrischen Grillen u. s. w. So träumen viele
ihr ganzes Leben hindurch viele Praevisionen. Sie kön-
nen auch unser Leben erträglich und angenehmer ma-
chen, wenn wir uns angenehme Prospecte machen.

/

/ ≥ Von der Praesagition

/Die Menschen sind am mehresten darauf erpicht
ihr und andrer Schiksal vorherzusagen. Man kann
durch die Astronomie kümftige Begebenheiten auf
viele Iahre mit der grösten Genauigkeit vorhersa-
gen, weil sie sich nach zuverläßigen Naturgesez-
zen, wenn man diese genau kennt, geschehen. So ist
das Vorhersagen solcher Begebenheiten so unbe-
deutend als das Auf und Untergehen der Sonne
vorherzusagen. Indeßen sind doch die Menschen im-
mer bemüht gewesen, als ob ihre Schiksale damit
eingeflochten wären und sich aus der Constellation
der Sterne entdeken ließen. Aber welch ein Uebel
für uns, wenn wirs wüßten. - Das Glük wür-
de weniger Annehmlichkeiten bei sich führen, es
würde alle Augenblik unterbrochen werden,
und das Unglük würde für uns eine unerträg-
tliche Last seyn. Der Lauf der Welt könnte auch
nicht so fortgehen, er würde öfters gehemmt wer-
den, weil die Menschen als freihandelnde We-
sen ihn immer zu ihrem Vortheil einzulenken su-
chen würden

/Gott will es soll des Schiksals Buch in mir

/verborgen seyn

/ Die

/Seite 138

/Die Rappina der Gegenwart, entdekt sich nie

/allein.

/@Ro@pe.

/Wir müßen einen höhern Standpunkt erwarten, wo
wir allmälig einen kurzen Blik in die Zukumft
werden thun können. Die Menschen mögen auch gern
das Wetter vorhersagen. Alte Schaden, Barometer
der Mond, das Hahnegeschrei und Beobachtung an
Thieren sind in diesem Falle das beste Orakel.
Allein auch diese Kunst ist sehr unzulänglich, die
Vorsicht hat auch hier einen Vorhang vorgezogen.
Wie viele Verwirrung würde nicht aus dieser
stolzen Wißenschaft entstehen. Der Landman, der
seinen Akerbau nach vorhergesehenen Regeln
einrichten wollte, würde zu oft irren, da er
iezt wenn ihm das Wetter ungünstig ist, zu-
frieden bleibt und es der glüklichen Unwißen-
heit zuschreibt. Aber der wichtigste Theil des Vor-
hersehens scheint dem Menschen die Bestimmung sei-
nes kümftigen Schiksals zu seyn. Die starke
Neigung, Merkmahle der Zukumft zu entdecken
macht den Menschen so leichtgläubig und aufmerk-
sam, daß er die geringste Begebenheit für
große Wichtigkeit hält, die er sonst, durch die-
se Neigung nicht geblendet, verachten würde. In-
deßen sagt doch Maupentius ein großer Astro-
nom, obgleich ein ieder einsieht, daß die Sterne nichts
zum Betragen des Menschen beitragen, so wür-
de man doch ungewiß seyn, ob nicht die Constellation
der Sternen mit den Begebenheiten der Erde

/ einen

/Seite 139

/einen Zusammenfluß haben, wenn man sieht, daß bei
dergleichen Constellation einigemal sich auf der Erde
wichtige Veränderungen ereignet haben. Den Vorbe-
deutungen der Träume auch dem Wimmern der Thie-
re massen die Menschen Glauben bei, nicht aus Mangel
der Vernumft, sondern um der Stärke des Affekts
willen.

/ ≥ Von der Traumdeuterei ≤

/Die natürlichste Art der Prophezeihung ist durch
die Träume. Die Ursache vom kümftigen in mei-
nem eignen gegenwärtigen Zustande, oder gar in
meinem Körper zu suchen ist natürlich. z. B. Von
einer zukümftigen Unpäßlichkeit, Tod pp. So kann
ich im Schlaf durch dunkle Empfindungen zu sol-
chen Träumen gereizt werden, die ihre Bedeutung
haben. So glaubt man, es bedeute Zank, wenn
Männer sich mit Hunden zerren, und Weiber
Steknadel verlieren. Man sieht hieraus deutlich,
daß sich schon im Schlaf die Galle mit dem Blut
vermischt, man kann denn leicht Händel bekom-
men, denn man ist durch den Schlaf schon dazu prae-
parirt. Die Ursach des Traumes muß also in
uns liegen. Sind die Ursachen der Träume ganz
unabhängig von uns, so bedeuten sie auch nichts, und
die Seele kann nichts davon wißen. Personen die
viel träumen zeigen an, daß sie auch im Wa-
chen dazu geneigt sind, denn zwischen Schlaf und
Wachen ist blos die Stärke der sinnlichen Empfin-
dungen der Unterschied. Viel träumen zeigt

/ eine

/Seite 140

/eine schlechte Disposition des Körpers an. Das Frau-
enzimmer träumt viel, behält alles und giebt ihm ein
großes Gewicht. Oft sezt uns doch die genaue Ord-
nung der Träume in Verwirrung und Verlegenheit
und verleitet uns zu glauben, daß im Schlaf die Seele
gleichsam außer uns sey, und der kümftigen Schik-
sale sich bewust ist. Der weise und erfahrne Mann
hat in gewißer Art eine facultatem diuinatricam.
Er hat eine starke Beurtheilungskraft, hat lange
gelebt und viele Erfahrung, daher weiß er auch
durch die Verbindung der Dinge viel voraus. Der
Ministre Ilgen soll dem Patoul, der unter Carl_XII
sein Leben verlor, sein Ende vorhergesagt
haben. Man erzählt von Fridrich_I folgende Ge-
schichte. Ein Mensch der sich für einen Propheten
ausgab und eines Verbrechens beschuldigt war, ant-
wortete dem König, der ihn frug, ob er wohl
wüste, wie lang er leben würde, daß sein Le-
bensziel noch weit entfernt sey. Der König
ließ ihn in Arrest nehmen, weil sein Verbrechen
so er begangen nicht ausgemittelt war, um aber
seine Prophezeihung zu vereitlen, wurde er den-
noch zum Galgen verurtheilt. Da aber die Excution
vor sich gehen sollte, kam die Prinzessin von
Meklenburg nach Berlin, den König zu besuchen,
und um gleich bei ihrer Ankumft einen Beweis
ihrer Gnade abzulegen, verhinderte sie die Excu-
tion. Sie bath den König ihr eine Bitte zu ge-
währen, er versprach ihr solche, und sie bath

/ um

/Seite 141

/um das Leben des Mißethäters, welches er ihr nicht
mehr abschlagen konnte. Würden solche Ausdeutungen
durch die Chiromantie oder andre Künste für
allgemein angenommen werden, so würden alle unsre
Handlungen nach Gesetzen der Vernumft unnüz seyn,
unsre Vernumft würde bis zur unthätigen Verwir-
rung herunter sinken, und wie könnten wir uns
an die Erfahrung der gesunden Vernumft halten.
Ein Mensch der ein kümftiges Glük gewiß erwartet
bringt sein Geld ohne allen Grund durch und «erw» folgt
nicht der Vernumft. Gesezt die Prophezeihungen
wären gegründet, so sind sie doch auf der andern
Seite sehr schädlich, wenn man sich darnach richtet.
Nur rohe Völker suchen durch die Wahrsagerkunst
ihr Schiksal zu bestimmen; und alte Weiber haben
nur die Kunst zu wahrsagen. Carl_XII fragte
einen Wahrsager, wie lange er wohl leben wür-
de? Dieser, der wohl wußte, daß Carl ein bar-
barischer Herr war und daß diese Frage auf
ihn gemünzt sey, antwortete ganz kurz "Den
Tag weis ich wohl nicht, allein das weis ich zuver-
läßig, daß ich 3 Tage vor Ihro Majestaet Tode ster-
ben werde. Der König dachte es könne wohl
wahr seyn, und ließ ihn leben.

/

/ ≥ De facultate characteristica

/Der Gebrauch der Zeichen ist eine Sache von gro-
ßer Wichtigkeit. Es giebt gewiße Zeichen die
weiter nichts bedeuten sollen, als nur ein Mit-
tel zu seyn, Gedanken hervorzubringen. Es

/ giebt

/Seite 142

/giebt andre, die den Mangel der Begriffe und der
Sachen ersezzen sollen. Zur erstern Gattung gehö-
ren Wörter, durch welche unsre Einbildungskraft
rege gemacht wird, die sonst in ihnen verbundenen
Vorstellungen der Sachen in uns hervorzubringen.
Zur 2ten Gattung gehören die mahlerischen Bilder
der Poeten von Dingen z. B. vom Neide, die Hei-
terkeit der Luft, die Schönheit eines Sommertages,
die Ruhe des Gemüths vorzustellen. Wenn man in
einer andern Sprache die Gemüthsruhe ausdrüken
will, so muß man ein ander Wort brauchen, aber
das Bild davon kann in einer andern Sprache dassel-
be bleiben, so auch das stürmische Meer kann das
Bild eines unsinnigen Menschen seyn. So sind Cha-
raktere und Symbole unterschieden. Eine Vorstel-
lung in deren Stelle eine andre treten kann, heist Sym-
bol. Zur Begleitung unsrer Begriffe haben wir Wör-
ter nöthig. Denn durch die Sinne kann man die
Dinge beßer erkennen.

/

/ ≥ Von den eigentlichen Sinnbildern

/oder

/Symbolis

/Die Menschen sind so sehr von denselben eingenommen,
daß die Kinder durch Sinnbilder frühzeitig zur
Erkenntniß gelangen können. Das Genie der ori-
entalischen Nationen ist bilderreich. Ihre Phi-
losophie besteht in der Wahl guter Bilder, daher
rühren die Hieroglyphen der Egypter her. Bilder
sind Zeichen der Unwißenheit einer Nation, denn da

/ sie

/Seite 143

/sie Sachen noch nicht genug durchgedacht, müssen sie sich
der Bilder bedienen. Die Erhabenheit der orienta-
lischen Schreibart kommt von den Bildern her. Der Ver-
stand würde schwach erkennen, wenn nicht die Vor-
stellung mit Symbolis begleitet wäre. Die Bilder
haben eine große Macht, weil sie die Bilder der Vor-
stellungen selbst liefern. So stellen Titeln, Aemter
Verdienste, Reichthum u. s. w. den Nahmen vor, der
sie besizt. Die Kleider, die Orden sind alles Sym-
bole, die aber nicht selbst das geistige sondern nur
die Bilder davon sind. Allein oft geht es mit die-
sen so weit, daß man zulezt mehr auf die Symbole
als auf die Sache sieht, und zulezt denkt man sich
die Titeln, als die Verdienste, durch welche man
sie erwerben soll. Alle Formalitaeten, Feierlich-
keiten, Aufzüge sind symbolische Vorstellungen
von geheimer Bedeutung, daß der Mensch von an-
dern, die entweder eine große Rolle gespielt
oder sich um sie verdient gemacht Abschied neh-
men «s»zeigen sie durch schwarze Kleider und
Geläute der Gloken an. Iemehr die Sinnbilder
die Sinne einnehmen, desto mehr Verstand gehört
auch dazu, die rechte Sache zu entdecken. Wer
von Menschen und deren Pflichten gegen Gott re-
det, kann sehr bildlich seyn, er kann die Gottheit
mit einem Könige und die Menschen unter seinem
Befehl stehend vergleichen. Diese Vorstellung kann
zwar Ehrerbietung einflößen, es können aber
auch viele Irrthümer entstehn. Sehn wir auf die
Wahl der Sachen, so sind die Zahlen symbolische

/ Vor- 

/Seite 144

/Vorstellungen der Größen. Sollen sie symbolisch seyn,
so muß eine Sache angenommen werden, mit der ich
die Zahl continuire. Wenn man z. B. einem Grönlän-
der einen «M» Begrif von der Menge Menschen in
Deutschland machen will, so mag man ihm immer 1000000
vorsagen, man wird ihm dadurch den Begrif von
der Größe nicht machen können, und ihn in Erstau-
nen setzen. Man sage ihm aber, daß in Dännemark
so viel Leute sind, daß sie zum Frühstük einen Wall-
fisch verzehren, so wird er sich gleich entsetzen.
Wir selbst können keine Zahl recht deutlich einse-
hen, denn wenn wir hören, daß in einer Schlacht,
eine große Anzahl Menschen geblieben sey, so
würden wir uns nicht darüber wundern, sondern
erstaunen, wenn wir es selbst sehen solten. - 
Hasselguist sagt in seiner Beschreibung von Egyp-
ten "er wolle von den Pyramiden nichts sagen,
weil schon so viele solche beschrieben haben. Er
fügt aber hinzu, daß er alle Beschreibungen da-
von gelesen, und nichts neues gefunden, was nicht
schon andre solten gesagt haben. Wie er sie
aber selbst zu Gesicht bekommen "so wäre es
so gut gewesen, als wenn er nie davon gewust
hätte. In ein solch Erstaunen wurde er durch
ihren Anblik gesezt. So sind viele Sachen, wo
das Anschauen weit mehr Eindruk macht, als alle
Beschreibungen. Große Berge, steile Ufer, her-
abhängende Stücke von Felsen, die herüber zu
fallen drohn, große Bäche, weite Seen, machen

/ viel

/Seite 145

/viel lebhaftere Eindrücke durch Anschauen als durch
Schilderungen.

/Cull ein englischer Mathematiker beschrieb die er-
staunliche Theilbarkeit der assa foetica. Er sagt:
wie viel Zimmer mit einem einzigen Gran derselben kön-
nen angefüllt werden und führt eine erstaunlich gro-
ße Zahl an. Um aber die große Theilbarkeit noch
begreiflicher zu machen nimmt er an: daß der
Pico auf der Insel Teneriffa eine deutsche Meile
hoch ist, und hat eine Meile in der Peripherie, und
wenn dieser Berg in lauter Uhrsand und Atomen
aufgelöset wäre, so würden sagt er, 21 solcher Ber-
ge solche Sandkörner enthalten, als aus einem einzi-
gen Gran assa foetica entstehen. Dies Beispiel
ist lebhaft und sezt in Erstaunen. Die symbolische
Erkenntnis muß aufhören und die intuitiue anfan-
gen, wenn ein Nachdruk entstehen soll. Man
muß sich wundern, daß manche von Sachen reden
wollen, die sie weder verstehn noch empfinden, und
doch von andern verstanden werden. Sandson Pro-
fessor zu Cambridge ein Nachfolger Neutons war
blind geboren und lehrte doch die Mathematik
und die Optik ganz deutlich. Er hatte die verschie-
denen Arten der Brechung der Lichstralen von
andern gehört. Er bewies, daß die rothe Farbe
die hellste und stärkste sey, ohne daß man weis,
was «w» für einen Begriff er sich von Licht
und Farbe gemacht hat. Die Stärke des Lichts
bildete er sich ein, wie wir die Stärke des Ein- 

/ druks

/Seite 146

/druks beim Schall. So reden viele gerührt, ohne selbst
gerührt zu seyn, sie haben von der Tugend mit Hoch-
achtung sprechen hören, sich die Empfindungen die
sie mit den Wörtern hervorbringen, eingedrukt
ohne an die Sachen zu denken und sind also ein
bebendiges Ohr.

/Die Ammen machen, daß die Kinder viele Dinge in
die Hände zu nehmen fürchten. Wenn sie beim An-
blik einer Raupe fürchterliche Mienen machen, so
werden die Kinder gewiß die Raupe zufrieden
laßen. Viele, so die Laster tadeln, haben nicht immer
einen Abscheu davor, sondern haben nur übel
davon reden gehört, und diesen Ton ahmen sie
nach und haben einen sympathischen Abscheu
durch die Mienen und Worte eines andern
erlangt, aber sie haben keinen innren Abscheu
davor. Das männliche Geschlecht hat andre Eigen-
schaften als das weibliche. Das Frauenzimmer
schäzt auch erhabne Dinge hoch, aber nicht wegen
ihrer Erhabenheit, sondern weil es andre
hochachten. Sie fragen nur nach dem Urtheil anderer,
nicht nach der Sache selbst. Sie halten eine Sache
werth, nicht weil sie von ihnen so erkannt wird,
sondern sie reden durch Versetzung der Wör-
ter anderer. Oft haben sie bei einigen Wör-
tern besondre Empfindung, nachdem andre
sie gehabt. Man muß von ihnen nichts fordern,
was über die Beschaffenheit ihrer Natur geht.
Sie schätzen die Großmuth hoch, sind aber

/ selbst

/Seite 147

/selbst nicht großmüthig. Freigebigkeit darf man von
ihnen nicht erwarten, da sie selbst kein Vermögen
erwerben, so hat die Natur ihnen eine gewiße
Sparsamkeit beigelegt, welche der öftern Ver-
schwendung des Mannes Schranken sezt. Es können
also auch Worte Empfindungen hervorbringen.
Wenn man eine Stelle aus einem Poeten lieset, wo
eine Menge furchtbarer Dinge fürchterlich vor-
gestellt wird und uns in Schrecken sezt, so sind
eine Menge Bilder da, die sich die Seele ausmahlt.
Zuweilen kommen wunderliche Dinge zusammen
daß man sie sich nicht einmal recht einbilden
kann und man wird doch gerührt. z. B. Im Vir-
gil die Cyklopen die auf einem Ambos, Donner und
Regen schmieden.

/Nicht das Anschauen der Sachen bringt eine Bewe-
gung des Gemüths hervor, sondern die Worte
allein machen in uns eine Erschütterung. Weil
es gewönlich ist, bei fürchterlichen Dingen sol-
che Wörter zu gebrauchen, so erwecken sie
einen Schrek in uns. Daher ein Wort uns in Be-
wegung sezt, ohne daß man an die Sache denkt,
die es sonst bedeutet, weil uns das Wort schon
fürchterlich vorgekommen ist. Will man eine
langdaurende Entschließung bei einem Zuhö-
rer hervorbringen, so muß man die Sache selbst
vortragen. Will man aber auf der Stelle ei-
nen wozu bewegen, so muß man gute Worte
gebrauchen. Iene berühmte Redner wußte
auf eine geschikte Art durch eine bewegliche

/ Rede

/Seite 148

/Rede, indem er dem Volke zugleich den ermorderten Kör-
per des Caesars zeigte, es zur Rache wider seine Mörder
zu bewegen. Ein Prediger rührt seine Zuhörer gleich-
fals nicht durch Sachen sondern durch Worte. Wenn
gleich der Donner der göttlichen Strafe droth, so be-
zeichnet er nur solche Bilder die Schrecken verursachen.
Dies ist nicht zu tadeln, wenn es nur mäßig ge-
schiehet; denn sind die Zuhörer mit dergleichen Bilder
einmal bekannt, so dürfen sie nur wiederhohlt
werden und der Zuhörer wird hinlänglich bewiesen.
Eben so muß man den Dichter beurtheilen. Um z B.
Klopstok zu beurtheilen muß man das Metrum und
die Bilder weglassen und es dann als eine Erzählung
lesen und sehen, ob es noch rührt. Sind die Begrif-
fe deßelben noch wie vorhin und rührt er dennoch, dann
kann man ihn einen Dichter nennen. Muß ich aber
beim Wiederholen den Ton und die Worte eines
Gerührten brauchen, so sag ich: Klopstok ist kein
Dichter von der eigentlichen Art, er nimmt nur
die Stelle eines Gerührten an und ich werde per
Sympathie gerührt. Sonst müßen wenigstens
die Bilder rühren, wenn ich die Worte wegnehmen
das geschieht abr nicht. Er macht zuweilen eine un-
gewönliche Construction, die oft halb polnisch klingt,
man verzeiht es ihm aber gern.

/

/ ≥ Vom Witz und Scharfsinnigkeit. ≤

/Der Witz ist der Urtheilskraft entgegen gesezt.
Zum Erfinden wird Wiz erfordert, zur Anwendung
Urtheilskraft. Die Dinge in Connexion zu brin- 

/ gen

/Seite 149

/gen ist das Unterscheidungsvermögen nötig. Der Witz
ist das Vermögen zu vergleichen. Die Urtheilskraft
ist das Vermögen die Dinge die Dinge zu verknüpfen
und zu trennen. Witzigen Leuten fält immer was
änliches bei. Aenliche Dinge sind darum <noch> nicht «zu»
verknüpft, weil zwischen den Dingen nicht die ge-
ringste Aenlichkeit seyn kann, obgleich die Be-
griffe einerlei sind. Aenlichkeit ist nicht eine Ver-
knüpfung der Dinge, sondern die Vorstellung der
Dinge. Das Vermögen den Unterschied der
Dinge einzusehn gehört nicht eigentlich zum Witz
sondern zur Urtheilskraft. Die Scharfsinnigkeit
ist von beiden das Genus, sie ist die Fähigkeit über-
aus verborgene Kleinigkeiten zu finden. Der auf
eine Rede genau Acht giebt, ist aufmerksam, der
aber bei einem Gemählde einen falschen Schatten
oder andre Kleinigkeiten entdekt, ist scharfsinnig.
Beim Wiz kann auch ein Acumen seyn. Der
Advocat muß Scharfsinn haben, wenn er eine
ungerechte Sache vertheidigen will. Von allen
Menschen kann man nicht Scharfsinn aber doch
etwas Witz erwarten. Ein Mensch ohne Witz
kann sich keine Begriffe machen, und man nennt
ihn einen stumpfen Kopf. Ein Mensch ohne
Urtheilskraft heist Dummkopf.

/Manchen Menschen nennt man einen Dummkopf, der
doch nur ein stumpfer Kopf ist. Klavius ein Ie-
suiter Schüler war so weit gekommen, daß er

/ Ela

/Seite 150

/Elaborationen nämlich Reden und Verse machen sollte,
allein es war ihm nicht möglich auf einen Einfall und
poetische Wendung zu kommen. Die Iesuiten, die
diese Arbeit, Reden zu machen, als den lezten Theil
des Menschen ansahen (sie glaubten, wer dies nicht
könne, sey zu nichts nüze) hielten den Clavius für
einen Dumkopf und schikten ihn zum Grobschmidt.
Allein er fühlte seine Fähigkeit, schafte sich Bücher
an und wurde ein sehr großer Mathema-
tiker Hier ist deutlich zu sehen, daß Clavius
viel Urtheilskraft hatte. Bei vielen lebhaften
Wiz zweifelt man sehr an der Urtheilskraft, in-
dem man glaubt, daß iemand 2 solcher großen
Vermögen nicht auf einmal besitzen könne. Der
Witz ist sehr verführerisch. Steigt einem Poe-
ten einmal ein recht witziger Einfall auf, so möch-
te er lieber gehangen werden, als den Einfall
in seiner Geburth ersticken. Er glaubt, es
sey eine Art von Kindermord, ein so schö-
nes Geschöpf des Verstandes zu vertilgen.
Wer einmal einen Hang zum Witz hat, kann
ihn nicht ausrotten. Spielender Witz ist der,
der nicht mit dem Verhältniß der Dinge über-
einstimmt, der nur vergleicht, ohne einen Grund
der Verknüpfung zu zeigen. Er unterschei-
det sich vom wahren Witz darin, daß er zufäl-
lige Aenlichkeiten für wahre und beständige an-
sieht. z. B. Wenn man Aenlichkeiten der Wörter

/ d.h.

/Seite 151

/d.h. Wortspiele hervorsucht, die gar nicht mit der
Sache stimmen. An dem Pallast des Herzogs Mal-
bourough war ein Hahn und eine Löwe der den
Hahn zerreißt geschildert. Der Hahn solte die
Franzosen bedeuten, man sieht aber wie weit
das hergeholt ist. Der Witz zeigt sich in Worten
und ist eine willkürliche Vergleichung. Es kann ein
falscher und zulezt starker Witz werden. z. B.
der Unterschied Sott und Fou. Kästner in sei-
ner oft beissenden Manier sagt: Sott bedeu-
tet ein Deutscher der nach Frankreich geht, und
Fou den Deutschen, der aus Frankreich kömmt. Er
ist ein Narr, daß er dahin gieng, als wenn er
das in seinem Vaterlande nicht hätte lernen
können; und wenn er zurükkommt, hat er doch nur
was läbsches an sich, weil ein Deutscher nie die
Gelehrsamkeit der Franzosen nachahmen kann.
Das altägliche hat nichts reizendes. Das fade
ist eckelhaft, es ist eine Beschäftigung die zu nichts
taugt.

/Wenn man nichts zu thun bekommt, so kann man es
noch dulden z. B. Wenn ich bei einem guten Freun-
de bin, sizze ganz still und rede mit ihm kein
Wort, bin schon zufrieden, daß ich ihn ansehe.
Will mich aber iemand durch schaalen Wiz be-
lustigen, so wird mir seine Gesellschaft uner-
träglich.

/Der Mensch muß bei allen Beschäftigungen einen

/ Zwek

/Seite 152

/Zwek haben. Kein Mensch wird z. B. eine Gloke ohne
Koppel, dem Körper zur Motion, bewegen, oder
auf sein Steckenpferd reiten, denn diese Be-
schäftigungen laufen auf nichts heraus. Dies ist so
wahr, daß wenn iemand lange spatzieren will,
so geht er weit. Er könnte eben so guth, einen
kurzen Weg etlichemal gehen, weil das aber
auf nichts herauskömmt, so sezt er sich einen
Ort vor, wohin er gehen will. Von den Schiffern
will man bemerkt haben, daß da sie gewohnt
sind, auf ihrem Schiffe hin und her zu gehen
und nach allem zu sehen, sie auch, wenn sie
ans Ufer kommen, auf einem Plaz der so
lang als ihr Schiff ist, umhergehen. Auch wenn
sie sich ein Landgut kaufen spatzieren sie
nur so weit herum. Das Spatzierengehen
wird uns weit angenehmer, wenn wir uns
einen Ort bestimmt haben, als wenn wir nur
ohngefär so weit gehen, als unser Einfall
reicht. Schaler Wiz ist auch ein Wortspiel.
Iemand, der bei einem vornehmen Hern zu
Gaste war, sagte, da ihm der Diener die
Suppe über den Kopf reichte, und das Kleid
begoß, hier <ist> wohl recht summum jus, summa in-
juria. Anfänglich in der Ueberraschung
lacht man wohl über einen solchen Einfall,
nachher will es aber doch nicht gefallen. Wiz

/ und

/Seite 153

/Wiz und Beurtheilungskraft gefallen uns an uns selbst
und an andern. Der Witz belustigt und vergnügt,
die Urtheilskraft beruhigt und macht zufrie-
den. Wir lieben den Wizigen, achten und schäz-
zen aber den hoch, der Beurtheilungskraft be-
sizt. Der Witz bringt die Kräfte in Bewe-
gung, die Urtheilskraft stimmt, und hält den
zügellosen Witz im Zaum. Der «Feld» Wiz eröf-
net ein Feld zu Aussichten, paart die Dinge,
giebt einem Einfall die Kraft, ein Menge
von andern in Bewegung zu setzen und schaft
neue Ideen. Die Urteilskraft soll die unbe-
dachtsame Ausschweifung des Witzes hemmen
und in Ordnung halten.

/Der Wiz belustigt und ist mehr ein Gegenstand
der Liebe als die Urtheilskraft, welche be-
ruhigt und Hochachtung verdient.

/Wiz erfordert Leichtigkeit, dies emphielt ihn. Er muß
nicht lange vorher ausgedacht seyn und leicht lassen,
für die, die ihn hören. Oft witzig scheinende
Leute lachen vorher selbst, um bei den schlechten
Wiz den Ton zum Lachen anzugeben; gewönlich lacht
man aber nicht mit. Wenn man noch etwas thut,
so grunzt man aus Höflichkeit mit. - Bei der
Urtheilskraft erfreut der Anblik der Schwierigkeit
die man überwunden hat z. B. wie Neutons Schrif-
ten. Scheint es ihm noch dazu leicht geworden zu seyn,
so gefällts um desto beßer.

/Man kann den Menschen auf 2 Seiten be- 

/ trach- 

/Seite 154

/trachten. Er braucht sein Gedächtniß und Verstand ent-
weder zum Witz oder zur Urtheilskraft. Der
Wiz hat mehr Nachfolger als der Verstand, und wenn
der Wiz nicht in Schulen eingeschlossen bliebe, sondern
sich über ein ganzes Volk ausbreitet, wie ohnge-
fär vor 100 Iahren in Frankreich, so bringt er eine
Ueberschwemmung von wizzigen Schriften hervor. - 
Die Menschen suchen sich alsdann mehr zu belusti-
gen als zu belehren. Bon mots sind im genauem
Verstande Einfälle die überraschen. Der Witz bringt
Einfälle die Urtheilskraft Einsichten hervor,
wie z. B. bei den Engländern und Franzosen.
Gewiße Wißenschaften lassen sich nicht durch Ein-
fälle traktiren. Bei den Franzosen findet
man Einfälle in allen ihren Schriften. Terrassons
(Philos.) über verschiedene Gegenstände des Verstandes
und Witzes giebt uns ein Beispiel vom Geschma-
ke der Franzosen. Er ist bei ihnen in großem
Ansehen. Man nehme selbst ihre moralische Schrif-
ten und man wird sehen, sie enthalten mehr
Wiz als Einsichten. Selbst Montesquieu ist von der
Art. In den Schriften herrscht schon mehr Verstand
und Einsichten. Es sind auch einige unter ihnen, die
Einfälle loben, man siehts ihnen aber an, daß
sie gezwungen sind. Sie müßen aber überra-
schend seyn, wenn sie gefallen sollen. - Seichte
des Witzes ist von deßen Naivitaet verschieden.

/ Dieje- 

/Seite 155

/Diejenigen, deren Witz frei ist, zeigen Scharfsinnig-
keit an, sie gehn auf kleine unmerkliche Unter-
schiede aus, und sehen nicht so leicht auf die Naivitaet
des Witzes, belustigen aber mehr als die seichten.
Grobe Naivitaet ist ein Donquixodes in den Reden
des Sancho Pansa z. B. in seinen Sprüchwörtern sind
Erklärungen eines irrenden Ritters. Naivitaet
ist das Gesunde das unerwartet woraus entspringt
und mit Witz verbunden ist. Der Wiz ist Veränder-
lich und liebt auch die Veränderung. Er liebt auch
die Neuigkeit und wird ungeduldig wenn er lange
dauren soll. Das Beharren auf einer Stelle ist
ihm zuwider und unerträglich. Er sucht immer Ver-
gleichung und gleiche Aenlichkeit zu erhaschen, darin
zeigt er auch seine Brauchbarkeit. Witzige Leu-
te sind ihrem Naturell nach veränderlich und auch
beständig. Sie haben einen großen Hang ihren
Wiz zu äußern, es sey unwillkürlich oder durch
eine Satyre, oder durch ein Gedicht, oder durch
Nachsicht um einer Gesellschaft etwas zu lachen zu
geben. Er stellt die Sache nicht nur in verschie-
denen Veränderungen vor, sondern ist auch selbst
veränderlich. Dies sieht man an der französischen
Nation. - Die Veränderung ist schon etwas, das
den Menschen vergnügt, denn sie belebt seine Ima-
gination. Wenn aber die Veränderlichkeit ihren Grad
übersteigt, so daß der Mensch nicht lange genug

/ auf

/Seite 156

/auf eine Stelle bleiben kann, so zeigt das einen von
Urtheilskraft leeren Kopf. Er greift nach Hirnge-
spinstern und Phantomen. Es giebt aber auch einen dau-
renden Witz, der Engländer nennt ihn einen Centner
schweren Witz zB. wie Pope. Der englische Wiz ist nicht
so belustigend als der französische; der erste ist
scharfsinnig, wie Hudibras deßen Witz von ganz be-
sondrer Art ist. Die sonst so unnatürliche Sache weiß
er so geschikt zusammen zu paaren, aber dunkel
und schwer.

/So sagt er z. B. zu einem Schulmeister, der ihm an-
vertraut hatte, er hätte einer Wittwe versprochen, wie-
der zu kommen, das Gewißen sey gleichsam ein Rich-
ter. Hume und Voltaire wollen behaupten, es
sey das witzigste Gedicht, was man in der Welt
gesehn. Iede Zeile ist vom Witz gleichsam zusammenge-
drungen, es ist ein Auszug der tiefsten Kenntniß.
Dieser Wiz belustigt aber nicht sehr. Mancher Witz
gefällt im Nachgeschmak. Ein Wiz der keiner Erklä-
rung bedarf, sondern anfangs dunkel scheint, hernach
sich aber durch ein Paar Worte aufdekt, erhällt
iederzeit Beifall. Nicht ieder Wiz macht zu lachen,
manche können auch ohne Wiz zu lachen machen, dann
geschiehts auf ihre Kosten. Einiger Wiz ist ernst-
haft, wie der Wiz der Ausleger und auch oft der
heiligen Scribenten. Solcher Wiz sezt aber eben
nicht viel Talent voraus, denn man kann dabei

/ viel

/Seite 157

/viel m«t»uthmassen. Er zeigt sich ferner bei Erfindung der
Hypothesen. Daher gehts dem Menschen schwerer von
Herzen einen Einfall zu ersticken, der ihm viel Mühe
gekostet. - 

/Die Menschen lieben nichts in der Welt so sehr als einen
witzigen Einfall. Darum können sie ihn auch nicht
bei sich behalten, ja wenn manche ihn nicht unter ihrem
Nahmen der Welt bekannt machen können, so thun sie
es unter einem fremden. Der, welcher das Lachen er-
regt und Laune erhällt, den <nennt> man drolligt oder lau-
nicht. Dies geschieht, wenn die Sache in einem ernst-
haften Ton gestimmt ist, aber doch so abgemessen
fortgeht, daß sie ins lächerliche ausschlägt, wie
Hudibras. Die Engländer sind voll davon, die
Franzosen aber nicht, man findet bei ihnen nicht
die ernsthafte Manier der Engländer.

/Tristram Schandi ist voll Laune, und ein sehr or-
dentliches Buch, accurat als wenn iemand etwas
ernsthaftes erzält und hernach zum Lachen macht.
Das launigte ist eben das, was nicht die Absicht
zu haben scheint, ein Lachen zu erregen. Die Vor-
stellung vom Glük und Unglük kömmt nicht von den
Dingen der Welt her, sondern von der Gemüthsart
des Menschen, und wie sie sich gewöhnt haben, Ein-
drücke anzunehmen. Man kann eine gewiße Art
misantropischer oder hypochondrischer Laune ha-
ben, wenn einem alles widrig ist, und alle Freunde
als Heuchler vorkommen. Gesezt aber der Mensch kön-
ne sich eine Gemüthsart geben, die sich über alles hin- 

/ weg- 

/Seite 158

/wegsezt, welches doch angeht, wenn man den Menschen
in ihrem eitlen Wahne den sie haben betrachtet, daß
sie Mitleiden und nicht Haß verdienen, so würde man
dabei vollkommen glüklich seyn. Die Welt kommt einem
alsdann sehr erträglich, ja wohl sehr verschönert
vor, man wird lustiger und findet allendhalben Ver-
gnügen. Solche Naturelle giebts wirklich. Die Men-
schen sehen die Dinge immer sehr verschieden an,
ist z. B. dem einem, einer im Amte vorgezogen, so
kann ers für ein widrig Schiksal ansehen, und
es kann ihm nach gehen. Ein anderer würde daher
Gelegenheit nehmen, seinen Witz anzubringen, wenn
es sich ohne dem etwa zutrüge, daß der ihm
vorgezogene ein offenbar dummer Mensch sey.
Ist also iemand im Stande sich eine lustige und launigte
Lebensart zu geben, so wird er sich sehr wohl da-
bei befinden. Wer das im Stande ist, hat auch die Ge-
schiklichkeit so zu schreiben, nur muß es nicht aus
Nachahmung geschehen.

/

/ ≥ Vom Lachen ≤

/Es ist eine sonderbare Erscheinung, alle Menschen lachen
gerne, sogar der Hypochondriste. Einem kleinen
dikken fetten Kerl steht das Lachen gut, daher
man auf dem Theater zu einer lächerlichen Rolle
einen kleinen und dikken Mann wählt, indem er
schon durch seine Statur per Sympathio zum La-
chen reizet.

/Fette Leute lachen sonderlich beim Essen gerne. Ue-
berhaupt sucht man bei der Tafel nicht Gelehrsamkeit

/ aus- 

/Seite 159

/auszukramen, sondern gern lustig Zeug auf die Bahn
zu bringen.

/Gegenstände des Lachens. Bei allem was Lachen er-
regt findet man, daß es unerwartet kömmt, wenigstens
in der Vorstellung. Es kommt ein Contrast nach, den
man nicht vermuthet hat. In Frankreich hatte die
Baukomission eine Brücke über einen Fluß bauen
lassen, da sie nun fertig war, wollte sie solche
besehen, es wurde daher ohnweit derselben eine
Mahlzeit bestellt, und sie fuhren dahin. Wie sie über
dem Essen waren gieng ein Gasconier an die Brücke
hin und her. Man sahe ihn zu, bis einer aus der
Gesellschaft auf den Gedanken gerieth, er müße von
ihrem Metie seyn. Sie beschloßen daher, ihn zur
Mahlzeit einzuladen, er kam und ließ es sich gut
schmecken. Unterm Essen wurde von der Brücke
disputirt. Der Gasconier aß fort und sagte kein
Wort. Als die andern sahen, daß er satt war,
fragten sie ihn um seine Meinung, in Ansehung
der Brücke, die er so lange betrachtet hatte:
Ich dächte sagt er: ihr habts recht gut gemacht,
daß ihr die Brücke quer über dem Fluß ge-
schlagen. Denn hättet ihr sie in die Länge bau-
en wollen so wäret ihr nie zu Ende gekommen.

/Alle witzige Einfälle haben dies Merkmal, daß man sich
in der Erwartung betrogen. Das Gemüth wird durch
eine andre Direction der Ideen zurükgebracht.
Woher bringen aber die Ideen solche Körperliche I-
deen hervor? wie kömmts, daß das Lachen ein sol- 

/ ches

/Seite 160

/ches Vergnügen machen kann? Daß wir es fürs beste
Mittel für Hypochondristen, Melancholiker und Trüb-
sinnige ansehen, da es doch keine Nahrung für
den Verstand hat, ja wohl oft Ungereimtheiten die
Ursache sind? Man hat die ersten Principien
der Affecten noch nicht genau kennen gelernt.

/Bei allem, was lächerlich ist wird ein großer Wi-
derspruch gefunden. Das Auslachen ist ein Merk-
mal einer Gemüthsart, die nicht die beste ist. Es ist
eine Bosheit dabei verborgen. Viele lachen alsdann
aus Gutherzigkeit auch mit. Das Lachen muß so be-
schaffen seyn, daß ieder daran Antheil nehmen
kann. Wer aber ausgelacht wird, kann ia nicht mit-
lachen. Das Auslachen hat nicht die feine Lustigkeit
sondern etwas tückisches zum Grunde. Man sieht
dem an, der auf Kosten eines andern lacht, daß er
sich bewust ist, es sey unrecht. Ieder lacht gerne
wenn einer fält und sich nicht Schaden thut. Doch
giebts auch viele, die darüber nicht lachen, sie den-
ken, der gefallene kann doch nicht mitlachen. Das
Lachen muß unschuldig seyn, es muß eine Fröhlichkeit
seyn, die sich allen Dingen communicirt. Wir können
lachen, aber ohne iemanden auszulachen. Oft geschiehts,
daß iemand aus Distraction Ungereimtheiten be-
geht, worüber er hernach selbst lacht, wenn er es
erfährt. So schrieb einer an einen Grafen und an
einen Pächter, wechselt aber die Couverte um, und
schrieb am Grafen: mein lieber Johann und den

/ Pächter

/Seite 161

/Pächter nennt er: Hochwohlgeborner Herr: hier lacht man
mit. Wenn iemand viel Umstände und Ceremonien macht,
und es zeigt sich das Gegentheil, man sieht die Armse-
ligkeit aus allen Winkeln hervorgucken, so lacht man
von Herzen darüber, so daß er sich durch seine
Eitelkeit bestraft. Wenn ein Railleur wieder rail-
lirt wird, so lacht man ganz laut mit, denn dadurch
daß er gepuzt und verspottet wird, geschiehet
gleichsam der ganzen Gesellschaft Satisfaction.
Macht iemand eine pathetische Rede der er konnt
überhoben seyn, so lachen wir. Ein Kandidat der
zum erstenmal predigt und stecken bleibt, erregt
uns per Sympathie ein Mitleiden.

/Materie des Lachens. Außer den angefürten Wider-
sprüchen und was in die Augen fallend ist, wo oft
vielfältig aus wunderbaren Widersprüchen ein Lachen
entspringt, ohne daß Witz oder Geschichte durchfloch-
ten sind. Ein Gasconier sagte, da er eine Ehren-
pforte sah, wo ein Genius eine Krone über ein Ge-
mälde hielt. Man sieht nicht, ob er sie aufsezt oder
abnimmt. Man lacht sehr über eine Kleidung, beson-
ders wo es nicht Armseeligkeit, sondern eine Art
von Eitelkeit anzeigt. Man lacht auch zuweilen über
den Putz. Die Weiber der Hottentotten und ihre
Schönen mahlen sich, wenn sie zu ihren Liebhabern
gehen, 6 Striche über das Gesicht, und glauben so
mit Liebespfeilen ausgerüstet zu seyn, wodurch
sie leicht iemanden verwunden können. Man hat
gesehen, daß beim Lachen ein Widerspruch

/ seyn

/Seite 162

/seyn muß, und diesen hat man ungereimt genannt, wenn
er plözlich kömmt und Lachen verursacht. Wie kann aber
ein Widerspruch eine solche Fröhlichkeit verursachen,
daß man sie kaum vergessen kann, und darüber
vor sich noch lächeln muß, wie wohl solches eine Schwä-
che über sich selbst verräth. Solten wir wohl über
die Thorheiten anderer lachen? es würde wenig Ver-
stand anzeigen, und wenig Ursache zur Freude seyn
daß man nicht so dumm und einfältig sey, als an-
dere«n». Schwer ist es einzusehen wie die Fröh-
lichkeit einen Widerspruch erregen kann, und eben
so schwer die Ursache des Lachens durch den Wi-
derspruch einzusehn. Heinrich_III sahe einmal ei-
nen Edelman mit einer trotzigen Miene auf
und nieder gehen; es schien, daß er eben vom Dor-
fe kam, wo er der Vornehmste war. Der König,
welcher schlecht angezogen war, fragte ihn@:@ wem
dienen Sie? Keinem, antwortete der Edel-
mann, ich bin mein eigner Herr. Das bedaure
ich, sagte der König, «daß» <denn> sie haben einen rechten
Flegel zum Hern. Der Widerspruch stekt hier
darinnen, daß er beim Bedauren etwas gutes
im Sinn zu haben schien und gerade das Gegen-
theil meinte. Eine Sammlung von witzigen %.lächerlichen
und naiven Einfällen ist auch gut. Ein Indianer
war bei einem vornehmen englischen Herrn, auf
der Insel Sourate in der Faktorei. Sein Herr
traktirte einmal, und als er den Pfroffen aus
der Bouteille zog, gieng der Champagner in die

/ Luft

/Seite 163

/Luft. Der Indianer erstaunte. Der Herr sagte "wun-
dert euch nicht so sehr. Der Indianer antwortete,
ich wundre mich nicht, wie er herausgekommen ist, son-
dern wie ihr ihn hereinbekommen habt. - Ein Lachen
wird auch erregt, wenn das Gemüth gleichsam wie
ein Ball zurükprallt. Es kömmt unverhoft und der
Mensch geräth in einem schwankenden Zustand. Die
wahre Fröhlichkeit des Lachens ist die melancholische.

/Das melancholische des Lachens. Hiedurch werden wir
viele andere Dinge erklären können z. B. warum
wir genau in einer Tragoedie gehen um zu weinen
das melancholische Lachen wird bei dem Menschen
leicht excitirt, besonders bei denen, die küzlich
sind, dies ist ein unwillkürliches Lachen, es ist ihnen
widrig und sie werden ungeduldig: Das Küzzeln
ist ihnen Reizung der Fasern und Nerwen. Das
Zwergfell das den ganzen Leib umgiebt, wird bei
einer Erwartung zusammengezogen, es geräth
in eine schwankende Bewegung, die durch die un-
erwartete Dinge ver<ur>sacht wird, diese Bewe-
gung stekt die Lunge an, und sezt sie gleichfals
in Bewegung, die durch das Aus- und Einziehen der
Luft stoßweise den Ausbruch der Freude oder
das Lachen hervorbringt. - Der Gedanke der
beim Lachen ist, macht nicht frölich, sondern die innere
Bewegung durchs Lachen. Es ist eine beßere Be-
wegung als Holzsagen und Reiten, das unmäßige
Lachen ist aber schädlich, denn die Nerwen und
Fasern werden dadurch schwach. Man pflegt zu

/ sagen

/Seite 164

/sagen, Leute die viel gelacht haben, sind wie auf die Na-
se geschlagen. Die Medici sollten bei ihren Patien-
ten auf diese innere Motion sehen. Beim Spatzie-
renfahren, sollten Unpäßliche eine lustige Gesell-
schaft haben, das würde dem Kranken erträg-
licher seyn als alle Arznei. Unsere Seele denkt nie-
mals allein, sondern im Laboratirio des Körpers.
Es ist immer eine Harmonie zwischen diesen beiden.
So wie die Seele denkt, bewegt sich der Körper mit.
Die Bewegungen des Körpers gehen weiter fort,
daher das Abspringen uns sehr frappirt.

/Heinrich_III sollte von einem Magistrat bewill-
kommt werden, der Magistrat gieng ihm also eine
Meile entgegen. Sie hatten Maulesel genommen, ihre
Sachen zu tragen. Da nun einer von ihnen sein Com-
pliment abstattete, wieherte der Esel. O ihr
Herrn MagistratsPersonen rief der König,
redet doch nicht alle auf einmal.

/Ungereimtheit macht eigentlich kein Vergnügen. Wür-
de man das ungereimte nicht ernsthaft erzählen,
so würde die Ungereimtheit bleiben, oder das Lachen
wegfallen. Das Gemüth muß treuherzig einen
solchen Weg geführt werden, daher einer, der zu
lachen machen will, sich's nicht muß merken lassen.
Am besten ists, wenn er die Ungereimtheit in die
lezte Zeile bringen kann. Da das Lachen gesund ist,
so vergnügt es auch sehr. In der Gesellschaft mag
ieder gerne etwas erzählen, und wartet daher
begierig, bis der andre aufhört. Das Erzählen ist

/ auch

/Seite 165

/auch eine gute Motion. Eine tragische Vorstellung ver-
ursacht auch Bewegung, besonders wenn allerlei Affek-
ten, als Zorn Mitleid, Hofnung, Grosmuth, darinnen
Läsion en.

/Läsion gewiße Theile des Körpers die eine Ergie-
Läsion des Bluts bedürfen, damit die Gefässe nachdem
Läsion thig ausgedehnt oder zusammengezogen werden
können. Der Mensch geht in einer Komoedie um
zu lachen und beßer zu transspiriren. Die in einer
Tragoedie gehen, wollen die Gefässe excitiren, aus
denen die Träume kommen; dies ist eben so gut als
ließe er sich schröpfen. Denn das Weinen erleichtert.
Schämt man sich gleich bei Tragoedien zu weinen,
so sind doch alle Bewegungen zum Weinen da ge-
wesen. Daher man gern so etwas trauriges
sieht, es müßen nur nicht eigne Angelegenheiten seyn.
Viele Aerzte haben ihre Kranken mit Fleiß zum
Zorn gereizt, aber so daß sich iemand ihnen
im Ernste widersezte, und sie nur recht auspol-
tern konnten, um sich zu ärgern. Das hat ihnen
zur Gesundheit gedienet; besonders aber solche
Affekten, wo man seine ganze Beredsamkeit aus-
schütten kann.

/ ≥ Von den obern ErkentnißKräften

/der

/menschlichen Seele. ≤

/Verstand und Vernumft sind die obern Kräfte
der Seele. Verstand ist das Vermögen Regeln
einzusehen; er urtheilt a posteriori, die Vernumft
aber a priori. Verstand hat seine Benennung

/ von

/Seite 166

/von verstehen. Gehörig zu verstehen, was eine Sache sey,
dazu gehört viel. Das Verstehen fält oft in vielen
Stücken z. B. bei Sprüchwörtern. Die Definition von
Sachen dienen zum Verstehen. Gegen keine Gemüths-
kraft sind wir so eifersüchtig, als gegen den Ver-
stand, so daß wir nicht allein keinen Mangel am
Verstande haben wollen, sondern wir lassen uns auch
in Ansehung des gesunden Verstandes und guten
Herzens keinen andern nachsetzen. Was die andre
Gemüthskraft z. B. Gedächtniß, Wiz betrift, so
sind wir nachgebend, aber einen gesunden Ver-
stand eignen wir uns alle zu, wir machen auf
ihn so viel Ansprüche als auf die Menschheit.

/Vorzüge des Verstandes. Der Verstand dirigirt alle
Gemüthskräfte und wacht über alle Talente. Die
gröste Schärfe der Sinne, Stärke des Witzes,
gut Gedächtniß, würden die Menschen noch mehr
herab sezzen, als wenn sie alle schlechter wären.
Die übel disponirte Proportion der Erkentniskräf-
te, macht das schlechte aus. Wenn alles in gehö-
riger Proportion ist, so ist ein kleiner Verstand
deswegen nicht zu verwerfen, wenn nur alles an-
dre darnach proportionirt ist. Es ist dies gleichsam
ein Mensch auf dem vergnügten Maßstabe. Die
Disharmonie und die Disproportion macht die
Häßlichkeit aus z. B. ein stark Gedächtniß
ohne Witz und Verstand. Solche Menschen sind
in Gesellschaft unerträglich. Sie reden von al-
lem was sie nicht verstehen. Xerxes wurde von

/ einem

/Seite 167

/einem Schreihals gelobt und am Ende fügte er hinzu:
Xerxes bestelle dir einen Bedienten, der dir zuruft:
daß du ein Mensch seyst. Xerexes antwortete "be-
stelle du dir einen, der dir zuruft, daß du ein
Narr seyst. Auch um nur ein Narr zu seyn, muß
man viele Motiuen haben.

/Mancherlei Gattungen des Verstandes. Wir können uns
einen empirischen Verstand denken, der genugsam Ur-
theilskraft in Ansehung der Erfahrung hat. Ein Mensch
der ihn hat, attendirt auf das, was in die Sinne fält
und wird durch Erfahrung klug. Diejenigen, die für
scharfsinnig angesehen werden und es auch sind, haben
wenig empirischen Verstand. Man sagt oft von ei-
nem Medico, daß er ein guter Practicus sey. Das
kommt daher, einige Menschen haben einen guten em-
pirischen Kopf, sie können gute Regeln auf ei-
nen gewißen Fall geben. Sie haben aber keinen
speculatiuen Verstand. Sie können ihre Regeln
nicht allgemein machen. So giebt es auch theore-
tische Köpfe. Ein theoretischer Kopf ist der, der
alles auf allgemeine Säze anwendet. Hier heists
lateinische Wörter taugen nichts. Es giebt einen
Verstand, den man Talent und einen andern, den
man Verdienst nennt. Talent hat man, wenn man
Dinge, die uns vorgelegt werden, erkennen, ver-
stehen und beurtheilen kann. Nun gehört noch ein
Verstand dazu, der das überlegt. Wozu der
untergeordnete Verstand gut, sieht der Verstand
aufs Ganze, so ist der dirigirende Verstand, denn

/ er

/Seite 168

/er geht vom Ganzen auf die Theile, der unterge-
ordnete aber von den Theilen aufs Ganze. Der diri-
girende Verstand geht von den allgemeinen zu den
besondern Theilen fort, beurtheilt die Sachen und
macht sie mit seinem Plan einstimmig. Die Königin
Christina hatte viele Talente und Verstand, besaß
große Geschiklichkeit ihre Sachen auszuführen aber
in der Wahl ihrer Zwecke und Projekte fehlte
sie immer, es mangelte ihr der dirigirende Verstand.
Was sie redete, waren lauter verständige Sachen,
was sie aber that, lauter närrisches Zeug.

/Der dirigerende Verstand sizt am Ruder, dieser
muß alle zusammennehmen und fragen, wozu soll
dies dienen, was soll nun mein Zwek seyn? Eini-
ge machen Entwürfe und Plane, andre führen sie
aus. wie beim Bau eines Hauses, einer Stadt. Der
eine macht den Riß, der andre baut, so verhält
es sich auch mit der Komoedie.

/Goldoni ist im Komischen vortreflich z. B. der Diener
2er Herren, allein komm ich ans Ende, laufe ich das
Stük durch, so finde ich keinen Zweck.

/So viel Wiz Lessing auch immer zeigt z. B. im Freigeist,
wo Theophon viele gute Dinge sagt, so weiß man
doch nicht, warum er ihm eben die Rolle gegeben.
Man darf sich nicht wundern, wenn von einem Men-
schen gesagt wird "er habe viel gelesen und doch
wenig Verstand, da andre mit eben der Gewißheit
das Gegentheil behaupten. Das kommt daher, daß
er die Talente aber nicht die Verdienste des Verstan-
des besizt.

/ Der

/Seite 169

/Der Verstand, in so weit er ein Talent ist, kommt sehr
frühzeitig und junge Leute können ihn im höchsten Gra-
de haben, aber vom verdienstlichen Verstand, den
allgemeinen und verhältnißmäßigen Werth der Dinge
zu schäzzen und zu betrachten, heist es mit Recht, Ver-
stand kommt nicht vor Iahren. Ia er verspätet sich wohl
und kommt erst mit dem 40sten Iahre. Man solte
kaum glauben, daß mit einem, eine solche Palingeni-
sis vorgehe.

/Die wichtigsten Beweise, die in jüngern Iahren un-
widersprechend scheinen, sind nachgehends beim reifern
Verstande von gar keiner Bedeutung. Der Verstand wird
der richtige, der gesunde, durchdringende, ausgebrei-
tete und tiefe genannt.

/Der richtige Verstand ist derienige, der nicht durch
den Witz den Gaukler der Seele verdorben und
irre gemacht ist. Er besteht darin, daß man nichts
zuläßt, was nicht mit der abgemeßensten Wahrheit
genau paßt. Wir finden keine Nation, wo mehr
Richtigkeit des Verstandes ist als bei den Eng-
ländern, sie ist nicht so schön aber ordentlicher
als bei den Franzosen. Ein richtiger Verstand
ist nicht immer lebhaft, er ist langsam. Daher solche
Leute öfters für unfähig gehalten werden.
Dieser langsame Fortgang wird aber durch die
Richtigkeit ersezt. Manche haben viel Verstand
und geben doch lauter Zweklose alberne Dinge an.
Dies thun die, die keinen dirigirenden Verstand
haben: Frauenzimmer können oft ihre Absichten ge-
schikter ausführen, aber gute Zwecke können

/ sie

/Seite 170

/sie nicht wählen, alles läuft bei ihnen auf Tändelei her
aus. Den Werth der Dinge zu schätzen ist mehr für
den Mann. Es geht hier so zu, wie auf dem Schiff
wo alle Matrosen ihre Arbeit wißen, aber einer
muß sie dirigiren. Einige Köpfe sind technisch, die
in einigen Stücken sich vortreflich zeigen und sehr
subtil sind, aber keinen Blik aufs Ganze werfen
können. Sie wißen von iedem Ort etwas zu erzäh-
len, aber sie haben keinen Begrif vom ganzen
Lande und seiner Verbindung. Manche Mahler mah-
len gute Füße aber nicht proportionirt im Ganzen.
Es giebt viele Wißenschaften, wo man vorher das
ganze wißen muß, ehe man zu den Theilen kömmt.
Dies ist der Fall bei der Geographie und Betrach-
tung des Weltgebäudes. Menschen die von Leiden-
schaften regiert werden, sinnen blos auf die
Befriedigung ihrer Sinne und vergeßen, sie mit der
Summe aller übrigen zu vergleichen. Pyrrus König
von Macedonien Nachfolger Alexanders hatte
den Kopf voll Thaten. Er wolte nach Italien ge-
hen und sagte seinem Hauptman Cyrus "er wollte
die Römer schlagen und nach Sicilien gehen. Wenn
dies geschehen wäre, nach klein Asien, die %.kleinen Völker
zu demüthigen und dann nach Syrien u. s. w. Als
er endlich aufhörte, fragte ihn Cyrus, was er nach
allen Eroberungen thun wollte? Dann wollen wir,
sagte er, in Ruh ein Glas Wein trinken. Ei sagte
sein Hauptman, denn wollen wir lieber iezt an-
fangen zu trinken, wer weiß, wie viel Un- 

/ ge- 

/Seite 171

/gemächlichkeiten auf dich warten. Hier ists klar, daß
die Menschen nicht aufs Ganze und den Zusammenhang
sehen. Der Man hat dirigirenden Verstand, der vom
dem erfinderischen wizzigen Verstand der Frauenzim-
mer, die die Plane exerciren sollen, so sehr unterschie-
den, daß ein Mann gegen die Frau, wie ein Kloz
seyn kann. Daher die Frauen oft nicht begreifen
können, woher sich die Männer die Herrschaft an-
massen. Sie glauben selbst herrschen zu können, und
wißen nicht, daß ihnen der dirigirende Verstand fehlt.
Solcher technische Frauenzimmer Verstand ist den Lei-
denschaften zinnsbar, es wird durch sie verdunkelt
und muß ihnen als ein Sklav folgen. Wunderbar
ist's, wenn eine Frau die Herrschaft gehabt, der Mann
ihr gefolgt ist, und es geht durch ihre Schuld unglük-
lich; so weint sie und sagt: Der Mann hätte klüger
seyn sollen. Sie gesteht dadurch den Mangel des
dirigirenden Verstandes. Der Mann mag noch so
dumm seyn, wenn er nur nicht gestört wird, so ists
doch beßer, daß er das Regiment führt. Es
können aber doch Fälle seyn, wo die Frau mehr
Verstand hat, als der Mann, aber solche Frauen
die einen mänlichen Verstand haben (Viragines)
sind auch nicht umgänglich. Man kann aber den
Frauen diesen Verstand nicht begreiflich machen.
Milton ein eifriger Verfechter des Königs zur
Zeit Cromvells sagte zu seiner Frau, und die ihn
bereden wollte, die ihm angetragene Secretair
Stelle anzunehmen, weil sich doch die Zeiten geändert
und viele brave Männer anders Sinnes gewor- 

/ den

/Seite 172

/den "ach sie haben ganz recht, sie und die ihres Geschlechts
wollen gerne in Kutschen fahren, ich will aber gern
ein ehrlicher Mann bleiben. Er konnte hier ihr seine Ver-
legenheit gar nicht begreiflich machen. Sie sah es nur
für eine Kleinigkeit an, nach Gelegenheit der Um-
stände von seiner vorigen Meinung abzugehen,
ohne darauf zu sehn, ob man auch seinem Ge-
wißen oder der Würde des Menschen gemäß gehan-
delt habe. Ein witziger und verständiger Mann sind
ganz verschieden. Der Verstand ist daurend, der
Wiz flatterhaft. Wer Wiz ohne Verstand hat, ist
ein Wizling. Der Witz muß dem Verstande Mate-
rie liefern. Ein Verständiger ist zu Einsichten der
witzige zu Einfälle aufgelegt. Bei den Franzo-
sen bestehen alle Wißenschaften, Politik, Moral, Me-
taphysic nur die Mathematik ausgenommen in Einfäl-
le. Triblet Barral haben sie geschrieben. Einfälle
gefallen dann am besten, wenn sie überraschen,
und dem, der sie vorträgt, unerwartet kommen. Die
schönsten französischen Schriftsteller selbst Mon-
tesquieu sind daraus zusammengesezt, viele aber
ganz außer Zusammenhang. Dem Leser sind sie
so gehäuft nicht angenehm. Wir deutsche sind be-
stimmt, verständig zu schreiben. Es wird auch wohl
wizzig geschrieben, aber es fehlt uns die Lebhaf-
tigkeit des Franzosen. Engländer haben auch viel
wizziges, es ist aber so schwer, so überlegt,
so ausgesonnen, daß man eine gute Weile stu- 

/ dieren

/Seite 173

/dieren muß, um den verstekten Wiz zu finden.
Aller Geschmak kömmt aus Frankreich. Keine Nation,
wo nicht etwa die griechische ist so geschmaksvoll. Itali-
ener liefern den Geschmak der Sinne, in Bildhau-
erei, Dichterei und Musik. Die Franzosen aber im ide-
alischen der Schriften.

/Seichter, ungründlicher Verstand. Ma«ht»ncher Kopf ist von
Natur seicht (Superficiel) ein anderer leichtsinnig
und gründlich. In der Erziehung muß man sich in Acht
nehmen mit der Redekunst den Anfang zu machen,
lieber mit der Mathematik. In allen Sachen die in
England gemacht werden ist Gründlichkeit; die Sachen
nämlich sind adaequat der Idee die man von der
Sache hat. Gründlichkeit und Richtigkeit des Verstan-
des scheint darauf zu beruhn, daß iemand die Sache
complet bis auf die ersten Gründe untersucht.
Es giebt einen anhaltenden und einen flüchtigen
Verstand, einen ordentlichen, tumultuarischen und
hitzigen Verstand. Verstand ist das Vermögen zu
urtheilen, Vernumft das Vermögen a priori von der
Erfahrung zu erkennen. Vernumft a priori erken-
nen heist schlüssen. Wenn ein Mensch etwas hätte
voraussehen können, so pflegt man zu sagen, der
Mensch hätte doch so viel Verstand haben sollen.
z. B. daß ihn der Iude betrügen würde. Sachen
die schon in der Erfahrung sind zu erkennen und
zu beurtheilen, dazu gehört Verstand, was aber
noch nicht in der Erfahrung liegt, erfordert Ver- 

/ numft

/Seite 174

/Vernumft. - In der Kultur muß man erst vom
Verstande anfangen, man suche erst eine Sache zu
verstehn. Es giebt Leute die Zeit ihres Lebens sich
einiger Wörter bedienen, ohne sich die Mühe zu
geben, sie zu verstehen. Daher entstehn die Strei-
tigkeiten unter einander, die Streitfragen der
Philosophen, Sprüchwörter, Sentenzen, Canons pp.
Man kann oft in eine große Verlegenheit kom-
men, wenn man eigentlich sagen soll, was das
Wort bedeutet. So gehts oft den Aerzten, sie
verbieten den Kranken alle sichtige Speisen
ohne zu wißen, was sichtig ist, sie gerathen da-
her oft in Verlegenheit. So auch das Wort Gift.
Dies hat einen so weitläuftigen Begrif; daß
man endlich nicht weiß; was Gift ist. Denn es
giebt auch nüzliche Gifte die in der Arznei
gebraucht werden und vom großen Nutzen sind.
Erklärts man aber so: Gift ist das, was kein
Nahrungsmittel, kein Bestandteil des Lebens
werden kann, so ist der Begrif deutlich. So
ist Queksilber, Arsenik, alle Arten von ei-
gentlichem Gift, Kaffee, gebratene Butter,
China, keine Nahrungsmittel. Gift heist in den
alten Zeiten eine Dosis und zeigte nichts schlimmes
an, daher zu gift so viel als Zugabe, und vene-
num kommt her von venum dare. Man suche erst
ein Wort einer Sache zu verstehen, und dann
raisonnire man.

/ Die

/Seite 175

/Die Menschen bedürfen des Verstandes mehr als der
Vernumft. Wie soll man seinen Verstand excoliren? Um
es bei Kindern zu thun, muß man bei gebräuchlichen Wör-
tern bleiben, die sie oft hören und sie darauf lei-
ten, die Worte recht zu verstehn, bis sie in die Ge-
wohnheit kommen und nichts annehmen, was sie nicht ver-
stehen. Sie dürfen nicht die Quellen und Gründe der
Dinge entdecken, sondern nur blos das verstehn
was ihnen beigebracht wird. Alle moralische Be-
griffe sind Verstandesbegriffe, sie entsprin-
gen aus dem Verstande und nicht aus den Sinnen.
Wir werden an allen Orten Gegenstände da-
von finden. Was ist Recht? Wir stuzen bei der
Frage und es ist wunderbar, daß man nach 2000
Iahren sich zu fragen besinnt, was man im An-
fange vergeßen und doch so oft darüber gestrit-
ten hat, was recht sey? Eben so was ist Ge-
schmak? Auch dies wußte man nicht, und doch
sind so viele Bücher davon geschrieben.

/Der Verstand ist lebhaft, scharf, ausgebreitet und
tief genannt. Diese Gattungen stehen dem na-
türlichen Verstande nach. Man glaubt zwar, daß
der Mensch am wenigsten wünsche, wenn er um den-
selben bitte, allein wenn er hieran krank
ist, so ist das eine Verwirrung der Zufrieden-
heit mit dem höchsten Grade der Glükseeligkeit.
Alle andre Arten des Verstandes, als Gründlich-
keit, Schärfe u. s. w. kann man nicht mit Recht bitten.

/ Der

/Seite 176

/Der gesunde Verstand ist nicht eine Sache der Kunst.
Er liegt im Naturell und wird vom Menschen nur
gefordert, daß er richtig sey. Eben so wie zur
Gesundheit nicht erfordert würde, daß man tan-
zen und springen kann, sondern nur die Congru-
ens mit den wesentlichen Handlungen. Diogenes
sagte vom Plato, der ihm 2mal mehr gab, als
warum er ihn bat: Plato ist immer ein Schwä-
zer, er giebt mehr als man haben will. Der
gesunde Verstand ist derjenige der a priori ge-
braucht werden kann, der in concreto oder der
im besondern Falle <durch> Erfahrung Wahrheiten erken-
nen kann. Der in abstracto Wahrheiten erkennt,
ist der subtile Verstand. Eine Rechtsfrage kann
einem Iuristen, auch wenn er nur gesunden Ver-
stand hat, vorgeleget werden z. B. Bin ich ver-
bunden, den Schaden zu repariren, den mein
Eigenthum dem Eigenthum anderer, ohne mein
Verschulden, verursacht? Der gesunde Verstand
braucht dabei wenig Bedenkzeit, sich einen Fall in
concreto zu denken. Er urtheilt nicht in ab-
stracto; dies ist der gemeine Verstand, und in
so fern er richtig ist, der gesunde. In einer
kleinen Stadt im Kirchenstaate besteht der
Rath aus 4 Personen, weil sie bei Leuten die
schreiben können viele Ränke und wenig Gu-
tes vermuthen. Um also ehrliche Leute im Rathe
zu haben, laßen sie den, der die Rathsstelle
verlangt, schwören, daß er nicht schreiben kön- 

/ ne

/Seite 177

/ne. Bei uns giebt es auch solche Gerichte blos von Schul-
zen die auch nicht schreiben können und nur gesunden
Verstand haben und dabei unvergleichlich urtheilen. Sie
urtheilen nur in concreto, auf ieden Fall wißen sie
etwas zu antworten niemals aber in abstracto. Der
gesunde Verstand ist ein praktischer Verstand. Der
subtile oder abstrahirende ist der, der in allgemei-
nen Regeln erkennt, nach denen besondre Fällen
soll gehandelt werden. Iedes Urtheil in abstracto
ist als eine Regel anzusehn. Nur durch den gesun-
den Verstand können wir einen Fall unter einer all-
gemeiner Regel subsumiren. Kein geschikter, kein
gelehrter Verstand kann das thun, wenn ihm der
gesunde fehlt. Nur blos durch den gesunden Ver-
stand kann man etwas erkennen, man kann nicht
wider eine Regel handeln, die das anzeigt, wie mann
einen gewißen Fall unter einer Regel subsumiren
kann. Ein Lehrling muß also einen gesunden Ver-
stand haben, einen Fall unter eine allgemeine Re-
gel zu bringen. Dies kann man ihm nicht beibrin-
gen z. B. die Complimente, die ein Frauenzimmer
in einer Gesellschaft machen soll, zu untersu-
chen und zu unterscheiden. Dies kann man ihn
nicht lehren, wenn man ihm die Regel der Ar-
tigkeit gegeben, so überläßt man die Anwen-
dung derselben ihm selbst und seinem gesunden
Verstande. Der gesunde Verstand ist also das Ver-
mögen in concreto zu urtheilen. Dies Vermögen
kann allein nicht erlernt werden, es ist aber un-
möglich, es einem beizubringen. Es ist eine Sub

/ sum

/Seite 178

/sumtion, ein Casus datus sub regula certa. Ob der
gegebene Fall derjenige ist, wo die Regel soll an-
gewandt werden, muß der gesunde Verstand ent-
scheiden, er ist die minor propositio im syllogismo
practico. Dumme Leute verfahren immer nach Regeln
die man ihnen genau vorgeschrieben. Narren kann
man durch Regeln leiten aber nicht vernümftige
Menschen. Daher es oft gesagt wird, er hat sich
das zur Regel gemacht. z. B. nichts dem andern
auf sein Wort zu trauen. Man läuft dabei oft
übel an, da man durch die Abweichung der Re-
geln sich großen Nutzen schaffen könnte. Es ist
zuweilen guth, Regeln zu allgemeinen Gesetzen
zu machen, weil man oft nicht subsumiren kann.
Beim Heirathen und den Bewegungsgründen dazu
verhält es sich oft so, wo es im Ganzen beßer
ist darnach zu verfahren, um zu Leben zu haben.
Daher sehen viele nicht auf die Gemüthseigen-
schaften, sondern insbesondre in der Iugend auf
Schönheit und Geld. Man beruft sich dabei auf
das dumme Sprüchwort, die Liebe wird sich schon
finden. Wenn ein Mensch einen gesunden Verstand
hat, so darf er sich nicht an Regeln binden. Ei-
nige nennen den gesunden Verstand, den schlichten
geraden und einfältigen Verstand. Denn gesun-
den Verstand kann man von iedem verlangen.
Bei denselben ist die Einsicht und Richtigkeit zu mer-
ken. Die Einsicht ist der kleinste Grad des Ver-
standes. Bei den Forderungen des gesunden Ver- 

/ stan- 

/Seite 179

/standes ist auch die Forderung der Richtigkeit billig, und
die findet sich gerne bei der Einsicht. Das Künstliche
ist eher dem Betruge unterworfen. Die Gesundheit
ist nicht eine Sache der Kunst. Wer viele Arzneien braucht
sucht eine Krankheit nach der andern zu unterdrücken
und wer sich dadurch erhalten kann, ist nicht gesund.
Wir finden beim Menschen überhaupt manches, das
sich nicht durch Kunst verschaffen läßt.

/Genauer beschrieben ist der gesunde Verstand das Ver-
mögen zu urtheilen in concreto, der feinere urtheilt
in abstracto. Eine Regel z. B. Casus sentit dominus.
Im allgemeinen kann der blos gesunde Verstand
nicht erkennen. Man sieht wohl der gesunde Verstand
ist sehr empirisch, er formirt seine Urtheile durch
Erfahrung. Die moralischen Gesetze der Philoso-
phie und der gemeinen Leute sind blos darin ver-
schieden, daß der gemeine Verstand nicht die Regel
einsieht. Er übt den gesunden Verstand bei den
Gegenständen der Sinne aus.

/

/ ≥ Von der gesunden Vernumft ≤

/Sie ist das Vermögen a priori zu erkennen d. h. oh-
ne es aus der Erfahrung abzuleiten. Man braucht
Verstand um etwas anbefohlnes auszurichten. Man
braucht aber Vernumft um etwas auszuführen, ohne
daß es befohlen ist. Man muß wißen was
der andre wohl würde geurtheilt haben, wenn
ihm der Umstand bekannt gewesen wäre.

/Alles Vorhersehen, Muthmassen geschieht aus der Ver-
numft allein, wenn wir nicht aus Aenlichkeit schliessen,
sondern aus Gründen. Sie zeigt sich darin, daß

/ wir

/Seite 180

/wir die Dinge ohne gegebene Fälle erkennen. Ge-
sunde Vernumft ist diejenige, die aus Erfahrungs-
grundsätzen a priori urtheilt. Die Vernumft schließet
daher man sie auch das Vermögen zu schließen nennt.
Vernumft schließt in majori propositione, Verstand
in minori, beide in conclusione. z. B. Alles verän-
derliche hat eine Ursache, ist ein allgemeiner Saz,
durch den ich viel erkennen kann. Ein Mensch ist ver-
änderlich, erkenn ich durch den Verstand. Ueber-
haupt die Anwendung der Regel beruht nur auf
den Verstand Z. B. im Rechnen. Der Lehrer muß
da seinen Schülern überlassen einen Fall unter
eine Regel zu bringen. Dies kann auch durch Re-
geln erkannt werden und zwar durch Uebung.
Der gesunde Verstand dient zur Application der
Vernumft, Regeln ad casum datum. Der Wiz ist
ein veränderliches Wesen, dies ist schon aus dem
gemeinen Verstande wahr. Es findet sich, daß
dieienigen, die gesunde Vernumft haben, ein allge-
meines Gesez zu erkennen, oft nicht das Ver-
mögen haben, die Regeln auf den gegebenen
Fall zu appliciren, um zu sehen, ob das eben
der Fall sey, den die Regel anzeigt. Diesem
fehlt der gesunde Verstand. Aller Unterricht
der nicht blos eine Nachahmung seyn soll, geschieht
dadurch, daß gewiße Sätze gesaagt werden
wie in der mathematischen Philosophie, um diese
nachher anzuwenden. Die Vernumft kann da-
durch excolirt werden.

/ Die

/Seite 181

/Die Schulen können nicht den gesunden Verstand geben, aber
wohl durch viele vorgelegte Fälle excoliren. Der gesun-
den Vernumft ist am meisten entgegen die Nachahmung.
Die ist ihr Tod, sie wirkt in der Iugend am meisten.
Nachahmung ist die erste Art der Erlernung bei allem
bei Wissenschaften u. s. w. Wenn der Mensch nicht eine
philosophische Wiedergeburth erleidet, wenn er etwa
zu Verstand gekommen, so bleibt das Verdorbne bis
ins Alter. Die Nachahmung ist der Vernumft deswe-
gen so gefärlich, weil man bei derselben nicht ein-
mal a priori sondern auch nicht einmal aus der
Erfahrung urtheilt. Man braucht dann nicht seinen
Verstand, sondern den Verstand anderer. Wo der
eine Zaubereien sieht, bemerkt der andre Betrug.
Wo einer Antipathie und Sympathie findet, da fin-
det der andre Einbildung. Wo der eine Schiksal sieht,
erblikt der andre eigne Schuld. Ueber die Dinge der
Welt läßt sich nur urtheilen, wenn sich die Gesetze
der Natur deutlich zeigen. Iedes Ding ist dem Ge-
brauch der Vernumft entgegen, was es nach den
Gesezzen der Natur oder was es in Ansehung der
Erkenntnisse der Ordnung der Welt unmöglich macht.
So gehts bei Zaubereien, wo ein mächtiges altes
Weib durch mächtige Worte und Herbeiziehung eines
höhern Wesens, die Gesetze und Ordnung der Natur
umkehren will. Wenn solche Vorurtheile bei einem
Volke gegründet sind, so thun sie der Vernumft
großen Abbruch. Es ist aber sehr bequem die
Vernumft ruhen zu lassen. Obgleich uns die Ver- 

/ numft

/Seite 182

/Vernumft kein Mißvergnügen verursacht, da wir die
Dinge a priori erkennen können, ohne auf Erfah-
rung zu sehen, so ist man doch insgeheim froh, wenn
man von derselben befreit ist. Es ist immer etwas
mühsames beim Gebrauch der Vernumft, man muß
Scharfsinnigkeit dabei gebrauchen, das Spiel des Wiz-
zes dabei unterscheiden; daher sieht man gerne
Wunder, d. h. solche Dinge, die nicht durch die Ver-
numft zu begreifen sind. Sie befreien uns
von der Vernumft, und diese bekömmt dadurch Fe-
rien. Wir hören gern Wunderdinge. Dergleichen
Erzählungen sind angenehm, weil wir dadurch von
den Beschwerungen der Vernumft freigesprochen
werden. Wir würden es uns immer vorwerfen, wenn
wir bei begriflichen Dingen unsre Vernumft nicht
gebraucht hätten. Aber ietzo dürfen wir uns
keine Vorwürfe machen, da die Sache über un-
sre Vernumft geht. Es giebt mancherlei Arten
von Wunderdinge.

/1) Träume und ihre Deutung

/2) Einbildung schwangerer Weiber, und der ver-
meinte Einfluß auf die Frucht.

/3) Einflüße des Mondes und der Gestirne.

/4) Erscheinungen der Geister und Gespenster.

/5) Antipathie und Sympathie.

/6) Wünschelruthen.

/

/Der Wahn in Ansehung schwangerer Weiber wird
noch lange fortdauren, obgleich er zur Gnüge durch
medizinische Gründe widerlegt ist, weil er ein
Wahn weiblichen Geschlechts ist. Dieses nimmt, wie

/ be- 

/Seite 183

/bekannt, eher einen Wahn an, als das Männliche, dies
macht die Gemächlichkeit in welcher sie leben. Dieser
Wahn ist ihnen überdem noch sehr nüzlich und es ist
eine für sie nicht geringe Freude, daß ihre Ein-
bildung einen so wichtigen Einfluß hat, und wenn
die Kinder hernach Fremden ähnlicher als ihren Män-
nern sind, so schreiben sie solches füglich auf ihre
Einbildungskraft, als der Schöpferin dieser
Aenlichkeit, - und die Männer müßen ihnen glauben.
Noch mehr Vortheil verschaft ihnen dieser Einfluß
die Männer zu allerlei Ausgaben zu nöthigen um
ihren Appetit zu stillen, die ihnen selbige aus
Furcht eine Mißgeburth stat eines Kindes zu be-
kommen, gutwillig gewähren müssen. Man lese
hierüber Rikmanns Buch von der Einbildungs-
kraft.

/Die Wünschelruthe wird den Bergleuten zuge-
standen. Man würde diese gewiß, durch Behauptung
der Falschheit dieses Glaubens gegen sich aufbrin-
gen. Ia Valerius, der gröste schwedische Naturalien-
kenner ist selbst der Meinung. Einige vernümftige-
re Verfechter dieser Meinung, denen nach dem et-
was abergläubisches zu seyn scheint, ließen man-
cherlei Umstände dabei weg. Sonst hieß es "muß
man einen Zweig vom Hasselbaum in der Iohannis-
nacht schneiden, daß der Stok auswerts gekehrt sey.
Kömmt man nun an eine Stelle wo Metall ist, so
soll sich der Stok zur Erde neigen und sich hin
und her drehen. Um diese Meinung aber etwas
vernümftiger und wahrscheinlicher zu machen, sag- 

/ ten

/Seite 184

/ten einige "er dürfe nicht in der Iohannisnacht ge-
schnitten seyn, andre schränkten es noch mehr ein
und sagten: es wäre gleich viel, ob er von Holz
oder Metall sey, es käme nur auf die Person
an. Diese sezten die Ursache der Bewegung
der Wünschelruthe in die elektrische Wirkung
die die mineralischen Theile auf den Leib ma-
chen.

/Mondeinflüße. Der Mond verursacht daß die See
2 mal in 24 Stunden durch Ebbe und Fluth bewegt wird.
Daraus wollte man allerlei schließen, ob die Erbsen
guth blühen werden, ob der Mond nicht auch Einflus auf
Menschen und Bäume hätte. Ferner wollte man hie-
raus die Zeit die Bäume zu fällen errathen. Indeß
ist dies noch ein Gegenstand, der einiges Nachden-
kens würdig ist.

/Die Geschichte der Geistererscheinungen, die Aus-
deutungen der Träume scheinen aus den Erbsen
ihren Ursprung genommen zu haben. Die Mönche
führten im Kloster ein commodes Leben, ihnen
kam der Abend nie lang vor, weil sie sich immer
neue Erdichtungen und Märchen erzählten. Woll-
te sich nun einer darüber den Kopf zerbre-
chen und es durch seine Vernumft zu erklären su-
chen, so erzälte ein anderer, ein hundertmal
ärgeres Stük. Sie machten eine ordentliche Wißen-
schaft daraus, theilten die Geister in Cubos
und Subcubos ein, ohne daß sie einen gesehen
hätte. (siehe Kants Träume eines Geisterse-
hers erläutert durch die Träume der Metaphysik)

/ Dies

/Seite 185

/Dies gab also ein freies Feld zu Erdichtungen ab.
Man empfindet doch immer einen Widerwillen bei sich
wenn man dergleichen Zeug anhören muß, so
wie ein artiger Mensch einen Abscheu empfindet,
wenn er etwas niederträchtiges thun soll. Wir
fühlen bei Anhörung solcher Dinge immer einen
Zuruf in uns, der uns sagt: gebrauche deine
Vernumft; Denn fällt diese weg, so haben
wir nur einen thierischen Instinkt, die Verglei-
chung durch Wiz und die Einbildungskraft übrig.

/

/ ≥ Von der Gemüthsfähigkeit ≤

/Die Erkenntnißvermögen sammelt man alle in dem
Kopf. Die Begierden verweiset man ins Herz. Man
giebt einen Menschen einen solchen Nahmen, der
von dem Vermögen, wozu er ins besondre instigirt,
entlehnt ist. Es giebt verschiedene Köpfe in Anse-
hung der Erkentniß und Verstandesfähigkeit. Es
giebt wizzige, judicioese und zerstreute Köp-
fe. In Ansehung der Wißenschaften giebt es
empirische, mathematische und philosophische Köp-
fe. Diese Benennungen sind alle vom Ob-
jekt entlehnt.

/Es ist alles werth zu untersuchen, was für Ge-
müthskrankheit erfordert werden, einen Kopf
oder eine Fähigkeit zu machen. Was gehört nicht
dazu, einen Beobachtungsgeist zu haben. Ein noth-
wendiges Stük der Medicin ist ein empiri-
scher Kopf. Dazu gehört nicht Seichtheit der
Vernumft in abstracto zu urtheilen, welches
wohl seinen guten Nutzen haben kann. Vor-
züglich muß der Medicus alle Umstände und Ver- 

/ knüp- 

/Seite 186

/knüpfungen bemerken, um auf die Spur zu kommen,
was der Patient für eine Krankheit hat. Als Carl_VI
gestorben war, stritten noch die Medici darum
was er wohl für eine Krankheit möchte gehabt ha-
ben.

/Nicht blos gute Sinne gehören zum empirischen Kopf
sondern auch das Vermögen zu vergleichen. Also ein
ausgebreiteter sensitiuer intuitus, sich der vorigen
Umstände erinnern zu können, und sich auf viele
andre änliche Fälle zu bes«etzen»<innen>. Das Magdeburg-
sche Magazin erzählt, daß ein Bauer eine be-
sondre Krankheit gehabt habe. Er vertroknete
nämlich, und war so, daß wenn er gieng, ihm
alle Gebeine am Leibe klapperten. Die Aerzte
untersuchten die Krankheit und bedienten sich einiger
Mittel, solche zu heben. Sie glaubten das Glie-
derwasser sey zwischen den Gelenken vertrok-
net, und kamen auf den Gedanken, da sie das
Queksilber mit dem Speichel vermischten, daß
dies dazu dienen könnte, das Gliederwasser wie-
derzuschaffen. Man applicirte Mercurial Salbe
und es half.

/Ein Arzt, zu dem ich Zutrauen habe, muß erfah-
ren seyn, (nicht von der Struktur des Leibes darf
er erfahren seyn) denn die ist sehr klein und
die Erkenntniß eingeschränkt, so hoch sie die Aer-
zte auch treiben) sondern von vielen Krankheiten
und und von denen sich dabei befindenden Heil-
mittel, und von der Wirkung derselben auf die
Krankheit. Hippokrates der unter den Aerzten
oben an steht, wußte nichts von der Cirkulie- 

/ rung

/Seite 187

/rung des Bluts, gleichwol war er in seiner Praxis
sehr glüklich. Nur gute historische Kentniß kann, nebst
einer sorgfältigen Beobachtung mehr dienen als a pri-
ori nach einem System zu kuriren. Wo der menschli-
che Körper sich nach dem System des Arztes, was er
im Kopfe hat, richten soll. Zum Mathematiker wird
ein ganz anderer Kopf erfordert als zum Philoso-
phen. Zwischen beiden Wißenschaften ist ein großer
Unterschied. Philosophie ist mehr Wißenschaft des
Genies. Die Mathematik hingegen mehr eine Kunst.
Man kann sie als ein Handwerk erlernen und sehr
hoch bringen, wenn man auch in derselben nichts
neues erfindet. Man darf sich nur lange Zeit mit
dieser Wißenschaft beschäftigen, aufmerksam seyn,
dabei ein gut Gedächtnis haben, das die Aufgaben
behält. In der Philosophie kann man sich nicht da-
rauf verlassen, was der andre erfunden und
gesagt hat. Zum philosophischen Kopf gehört ein
gewißer Wiz, daß man die Stellung einer Sa-
che verändern kann, und dann auf die Folgen sieht.
In der Mathematik sind die einfachsten Erkenntnisse
die leichtesten, in der Philosophie die schwersten.
In der Philosophie kann ich mir keinen Fall in ab-
stracto denken, ich muß erst einen Fall in concre-
to annehmen. z. B. Billigkeit. Ich habe in einer Sache
mehr Arbeit gehabt, als ich vorher glaubte, ich
habe mehr verdient, als ich mit den andern ver-
dungen habe. Er darf mir nicht mehr geben, nur
aus Billigkeit wird ers thun können. In der

/ Ma- 

/Seite 188

/Mathematik ists umgekehrt, ich kann die Sache nicht
in concreto sondern in abstracto betrachten. z. B.
um einen Berg zu messen muß ich mir eine grade
Linie vorstellen, und sie messen. Ein poetischer Kopf
ist gar künstlich, besonders organisirter und schöp-
ferischer Kopf. Wenn die Menschen schaffen, so
muß etwas herauskommen, was mit der ersten
Schöpfung gar nicht stimmt. Man lese Milton in
der Reise des Engels. Es wird die Manier, Art
und Weise der Sache beim Poeten vor kommen, aber
nicht die Sache selbst nur ihre Schattenbilder. Er
ahmt die Stimme eines Tugendhaften nach ohne
selbst tugendhaft zu seyn. Er spricht in dem Tone
eines Helden und hat kein Herz, wie ienes Thier
das alles im Walde in Schrecken setzte, da es sich
in eine Löwenhaut eingehüllt hatte, aber durch
seine natürlich lange Ohren bald kenntlich wur-
de. Ein Poet wird selbst keinen Charakter haben
aber er ist sehr geschikt den Charakter aller
nachzuahmen, und von allen nur den Schein anzu-
nehmen. Er muß Wiz oder Leichtigkeit haben, seine
eigne Denkungsart umzuwandlen, und sich in die
Stelle eines andern zu setzen. Man hat bemerkt,
daß wenn ein Poet recht dichten und den Cha-
rakter recht nachahmen will, so muß er auch die
Miene dessen annehmen, den er schildert, welches
auch nicht ganz unrecht ist. Man sagt von Pro-
fessor Pinot, daß er Reitstiefeln anzog und

/ im

/Seite 189

/im Garten herumgieng, um einen Helden desto beßer
zu charakterisiren. Es scheint daß ein Mensch
sich nicht so recht in die Stelle eines andern ver-
setzen kann, wenn er nicht auch die Miene eines an-
dern annimt. Man sieht dies an Leuten, die et-
was erzählen.

/Mechanischer Kopf. Einige sind von Kindheit auf
mit Schnitzeln beschäftigt. So giebt es auch einen
musikalischen Kopf. Es würde sehr nüzlich seyn
zu untersuchen, was zu iedem erfordert wird.
Man könnte alsdann einem jungen Mann a priori
sagen, zu welcher Materie er sich schickte. Es ist
nicht gut, daß iunge Leute sich selbst ein Metier
wählen, denn sie wählen aus unrechten Bewe-
gungsgründen. So will mancher ein Medicus wer-
den, weil er spatzieren gehen und dabei sei-
ne Patienten besuchen kann. Einem andern
gefält der geistige Stand, weil ihm das patheti-
sche gefällt, und alles um den Prediger still
ist, der allein reden kann. Das ärgste ist, daß
der Mensch dazu Lust hat, wo er nicht die ge-
ringste Fähigkeit besizt. So dichten viele, ohne
daß es iemand lieset, und viele Klimpern ohne
Aufhören auf dem Klavier, wagen wohl gar
zu componiren und kein Mensch hört sie. Sie
vernachläßigen das, wozu sie von Natur
Lust haben, und geben sich mit Dingen ab, wo-
zu sie von der Natur mit keinen Kräften aus-
gerüstet sind. Sie wollen sich selbst Zwecke ma- 

/ chen

/Seite 190

/chen und glauben diejenigen zu seyn, die nach dem
Prometeus die Zwecke der Schöpfung bestimmen
können. Das Studium der Köpfe ist von großer
Wichtigkeit, die Departements der Künste und Wißen-
schaften werden izt nur durch den Zufall besezt, nicht
durch Neigung geschieht es, oft aus Zwang, und
noch öfters durch Wahn. Daher kömmts, daß kein
Mensch in seine rechte Stelle geräth. Es würde ge-
wiß ein lustiger Plan seyn, wenn man iedem «an»
seinen Plaz anweisen sollte. Mancher schlechte
Iurist würde gewiß ein guter Holzhauer werden.
Die menschliche Freiheit macht diese Verwirrung,
daß sich Menschen fremde Stellen wählen. Vieleicht
macht auch diese Verwirrung die bewunderns-
würdige Mannigfaltigkeit unter den Menschen. Ob-
gleich sie sich öfters so verwirren, daß sie nicht
wieder herauskommen. Endlich fliest hieraus die
allgemeine Idee vom

/

/ ≥ Genie

/Genie bedeutet einen Originalgeist. Man bedient
sich des Worts Geist in vielen Fällen z. B. von einer
Gesellschaft, von Gemählden. Macht sagt, der Dis-
cour ist ohne Geist, es fehlt ihm das beleben-
de. Originalgeist ist nicht der Geist der Nachah-
mung. Wir haben bisher die Erkentniskraft
des Menschen erwogen, iezt gehen wir zum

/

/ ≥ Gefühl der Lust und Unlust, ≤

/und ziehen seine Gründe zur Thätigkeit in Er«zie»<wä>- 

/ «h»gung

/Seite 191

/gung. Die 3 Ausdrücke sind sehr verschieden, und
oft entgegen gesezt 1) es vergnügt 2) es gefällt
3) es wird gebilligt. Was in der Erscheinung gefält
ist schön. Was gebilligt wird, ist das Gute. Das schmerz-
liche ist also sehr vom bösen verschieden. Lust und
Unlust in Beziehung auf die Empfindungen ist das
angenehme und der Schmerz. In Beziehung auf
Geschmak nach den Gegenständen, das Schöne oder
Häßliche. In Beziehung auf die reine Vernumft
gut oder böse. Die Tugend wird als das höch-
ste Guth gebilligt und gefält überalles, denn
alles außer ihr gefällt blos zur Annehmlichkeit
aber leide«t»r sie vergnügt uns in uns selber
nicht. Gefühl der Lust und Unlust ist verschie-
den vom Geschmak. Wenn wir alle Fälle die
uns Lust und Unlust machen, vergleichen, so fin-
den wir allgemein, daß alles was in uns zusam-
menstimmt, uns unser Leben fühlbar zu ma-
chen: das macht uns Lust. Und alles was unsre Le-
bensfähigkeit bindet, - Unlust. Das Princip al-
ler Unlust und Lust liegt in der Begünstigung
und Bildung unsrer Lebensfähigkeit z. B. unser
Auge empfindet das gröste Vergnügen, wenn es
von Gegenständen in die möglich gröste Aktivi-
taet gesezt wird. Wenn aber der Anblik von
Gegenständen so beschaffen ist, daß unser Au-
ge gezerret wird und ein Eindruk den andern
hebt, oder hat es gar keine Eindrücke, so em-
pfindet es Unlust, wenn nicht ein andrer Sinn

/ in

/Seite 192

/der Zeit vergnügt, oder in Aktivitaet gesezt wird.
Was auf unsre Geschmaksdrüsen den grösten Ein-
druk macht, schmekt am besten. Die Musik giebt un-
serm Ohr gleichzeitige Eindrücke und diese brin-
gen das Organ in die gröste Erschütterung. Aber
könnte man hier sagen, die Menschen finden doch an
Ausschweifungen und Handlungen ein Vergnügen
die auch ihr Leben verkürzen. Es ist wahr, aber
das was uns vergnügt befördert auch nicht un-
ser Leben, sondern läßt uns nur unser Leben
fühlen. Alle Räusche lassen uns unsre Thätig-
keit fühlen, außerdem, daß sie unsre Geschmaks-
drüsen reizen. Was unsre Sinne verlezt macht
Schmerz. Verlezzung der Glieder des Leibes macht
heftigern Schmerz, wenn diese Glieder klein, als
groß sind z. B. Zahnschmerzen ist der empfindlich-
ste Schmerz und doch ist keiner daran gestorben.
Alle Lungenkrankheiten fühlt man nicht, dies kommt
daher, weil die Nerwen nur allein uns Gefühle
geben und die Lunge hat keine. Außer dem Ver-
gnügen an der Thätigkeit eines Sinnes giebts
noch ein Gefühl aus dem Gefühl des gesammten Le-
bens. Wenn nämlich einerlei die Lebenskanäle ge-
speist sind und man nichts zu verlangen hat. Der
lustige Abt der nach einer guten Mahlzeit den
weichen Polster drükt, fühlt das Vergnügen
in der Zufriedenheit. Sein ganzer Zustand be-
steht aus einer sinnlichen Empfindung, wo nie
eine vor der andern hervordringt. Gesund-
heit läßt nicht das gesammte Leben fühlen. Kinder

/ wenn

/Seite 193

/wenn sie recht gesund sind, sind in einer bestän-
digen Unruhe. Es giebt Menschen, denen weder Ver-
gnügungen noch Schmerz bis an ihr Gemüth reicht, da
ihnen doch das Leben überhaupt gefällt. Man
kann viele Dinge erlangen und doch dabei zufrie-
den seyn, weil man dieselben blos als Mittel zur
Vergrößerung seiner Zufriedenheit ansieht. Wer
sie als Bedürfnisse zur Befriedigung ansieht,
der ist unzufrieden

/Schmerz und Niedergeschlagenheit sind verschie-
den. Das gesezte Gemüth bewundert ieder, wenn
es gleich keine Annehmlichkeit hat, so hat es doch auch
keine Traurigkeit. Ieder wünscht sich nichts lie-
ber als immer Freude. Die ist aber höchst unsicher, denn
es darf sich im geringsten nichts ändern, sonst
ist's mit der Lustigkeit aus. Der gesezte Man
hängt vom Zustande nicht ab. Der Schmerz ist eine
wahre Hinderung des Lebensgefühl. Wenn die
Hinderung des Lebensgefühls weggeräumt wird
so sind wir zufrieden. Die Zufriedenheit ist
ein positiues Vergnügen. Der Schmerz ist eben-
fals was positiues. Was mit meiner Zufrieden-
heit zusammenstimmt, erfreut mich nicht allein. - 
Epicur behauptete, daß die Glükseeligkeit
deren ein Mensch theilhaftig werden kann, das
frölich und zufriedene Herz sey, wo die Zufrie-
denheit aus uns selbst quillt.

/Wir müßen unterscheiden den Hang zur Fröhlichkeit
und Zufriedenheit. Vom Hange zur Lustigkeit und
von der Neigung alle Vorfälle zum launichten Spaß
zu kehren. Die ganze Zufriedenheit beruht nicht

/ auf

/Seite 194

/auf Vorfälle und Gegenstände, sondern auf die Art
wie der Mensch die Dinge aufnehmen soll, und
von welcher Seite wir sie ansehen. Das große Kunst-
stük dazu zu gelangen ist, daß man den Dingen in
der Welt die Wichtigkeit nimmt, dann ist uns alles
gleichgültig. Das eine afficirt uns so wenig als
das andre. Kein Unglük kann einen solchen Men-
schen niederschlagen, er wird immer Ursach haben
vergnügt zu seyn, wird er an einem Orte nicht
gelitten, so geht er an einen andern. O glükliche
Gemüthsart, wenn der Mensch den Dingen, die ihm
begegnen, ihre Wichtigkeit nimmt; Er wird dadurch
nicht fühllos. Er fühlt den Schmerz und alles was
ihm begegnet, allein der Schmerz wird seiner nie-
mals mächtig. Ein Mensch zu seyn ist wirklich eine
unrichtige Sache, aber eins ist ihm wichtig, die Recht-
schaffenheit, daß er sein gegebenes Wort halte. - 
Wohlleben, einige Iahre langer leben ist so was,
was vorzüglich den Wahn und die Eitelkeit begün-
stigt. Wir müßen nicht eine Wichtigkeit daraus
machen, weil's andre thun. Die Betrachtung der
Kürze des Lebens kann uns am besten zur Ge-
müthsruh und Zufriedenheit helfen. Genaue
Befolgung deßen was uns die Moral vorschreibt,
damit uns das Gewißen nichts vorwerfe ist
mit ein Kräftiges Mittel zur Zufriedenheit.
Was können wir davor, daß die Dinge in der
Welt nicht nach unserm Wunsche gehen, unsre
Zufriedenheit sollen sie uns doch nicht rauben.
August fragte bei seinem Ableben: meint

/ ihr

/Seite 195

/ihr, daß ich meine Rolle in der Welt gut gespielt
habe? ia sagten die Zuschauer. Nun so zieht den
Vorhang zu und klatschet. Was hilft mir das am
Ende des Lebens? daß ich so viel und gut ge-
schmauset habe? Der moralische Charakter des Men-
schen ist das einzig Wichtige an ihm. Diesen soll
er unbeflekt erhalten. Dies macht seine wahre
Zufriedenheit und Vergnügen aus, und ihn auch nicht
unwürdig, auf was beßeres in die Zukumft zu
hoffen.

/ ≥ Von der Lustigkeit

/und

/Traurigkeit ≤

/Die Lustigkeit scheint mehr als Zufriedenheit zu seyn.
Der Lustige und Vergnügte soll der nicht beßer
dran seyn, als der blos Fröhliche? - Wer mehr
Mittel hat als zur Glükseeligkeit hinreichend sind,
ist der glüklicher als derjenige, der so viel hat
als er braucht? Ein Leben ohne Vergnügen scheint
des Menschen nicht angemessen zu seyn. Wenn
man sich alles Vergnügen entbehrlich macht, aller
Anhänglichkeit an dieselben entsagt, so empfindt
man kein Vergnügen. Sie tragen also nichts zur
Glükseeligkeit bei. Aus Gewohnheit allein macht
man sich so viele Dinge entbehrlich. Ich kann
zufrieden seyn und doch der Vergnügungen ent-
behren, sie tragen also nichts zur Glükseeligkeit
bei. Einer Seits kann ich durchs Vergnügen ge-
winnen, verliere aber auf der andern Seite z. B.
Ich gehe in die Komedie, hätt ich stat deßen

/ nicht

/Seite 196

/nicht ein gutes Buch lesen und einen guten Freund be-
suchen können? Alle Menschen suchen Reichthum.
Denn dieser giebt ihnen souveraine Gewalt über
alles, was in der Macht der Menschen steht. Er
vermehrt die Begierden, die wir haben, uns Ver-
gnügen zu machen. Man glaubt vor Geld alles ha-
ben zu können, sogar Gesundheit, und ein ruhi-
ges Gewißen. Man wollte nicht gerne ein unbe-
schränktes Hülfsmittel in Händen zu haben, um
iede Begierde stillen zu können? Aber ob das
Geld wirklich glüklich macht, ist eine andre Frage.
Hat man gleich die Mittel in Händen, so ist es doch
noch nicht der Genuß selbst. Behält man das Geld
nur immer als ein Mittel zur Befriedigung seiner
Neigungen in Händen, so ist das Kargheit. Sucht
man noch mehr damit zu verdienen, so sieht man
das Geld nur als Mittel an, um Mittel zu ver-
dienen, und das ist der eigentliche Geiz. Eine
sonderbare Art sich des Geldes zu bedienen!!
Solche Leute werden sich mit der Imagination
sehr ruhig in die Komoedie fahren lassen. Sie
freuen sich, daß es nur auf sie ankömmt, sich
iedes Vergnügen zu verschaffen und alles mit-
zumachen. Sie sehen ihren Geldkasten an und
finden alles darin Lustörter, Redouten, Oper,
Kutschen, Bälle u. s. w. ohne daß es ihnen ei-
nen Schilling kostet. Er ist gleichsam ein opti-
scher Kasten; eine zauberische Macht, die alles
hervorbringen kann, und einer Allmacht gleicht.
Obgleich es ein Vergnügen ist, sich blos mächtig

/ zu

/Seite 197

/zu fühlen, ohne wirklich zu geniessen, so verschaft uns
doch die Macht keinen Zusaz zur Glükseeligkeit.

/Wenn wir nun aber Vergnügen geniessen, vergrö-
ßern sie unsre Glükseeligkeit? Einige wenige, aber
auch die nur im Anfange. Das Vergnügen nuzt
sich selbst ab, es hat kein Mittel sie zu renoui-
ren. Dem nur die Lustigkeit der Grad der Ver-
größerung des Lebens gefühllos ist, der etwas
positives hat und der nicht blos Zufriedenheit son-
dern auch ein größeres Gefühl des Lebens ver-
schaft, so ist der Mensch bei der Lustigkeit nicht
im Gleichgewicht, das Gemüth stimmt nicht überein
Das Glük des Menschen besteht nicht in der Ab-
wesenheit des Schmerzes mit der Fröhlichkeit in
einem Vergleich. Wenn in Frankreich über der
Tafel Concerte angestellt werden, und zulezt
alles zu singen anfängt und lustig ist, sind diese
vergnügter als die, welche sich mit frölichen Dis-
coursen unterhalten? - Lustigkeit ist erschöpfe-
risch, räuberisch und zerstörend. Man kann nie-
mals bei einem lustigen Menschen lange ver-
gnügt seyn, es erfolget nach Erschöpfung der
Kräfte Traurigkeit.

/Die Laune Houmour. Es ist vorauszusetzen, daß ie-
der Mensch in der Welt das Vermögen hat, die
Dinge der Welt aus einem Gesichtspunkt anzu-
sehn, wie er solche will, entweder als wichtig oder
als lächerlich. Der eine sieht einen Aufzug für
sehr gravitaetisch und ernsthaft an, der dem
andern poßierlich vorkömmt, wo er allenfals auch

/ was

/Seite 198

/das zu lachen findet. Wir nehmen niemalen die rechte
Seite der Sache. Auf 2 Stücke kömmts hier an:

/1) wie die Sache in ihrem rechten Lichte erscheint

/2) wie sie der Beschaffenheit meiner Seele am
heilsamsten ist.

/Man sieht im menschlichen Leben lauter Thorhei-
ten. Der Thorheit hängen wir aus Neigung nach,
der Ernsthaftigkeit und wichtigen Geschäften aus
Zwek. Ernsthaftigkeit gränzt immer an Kum-
mer. Thomas Morus war glüklich, die launichte Ge-
müthsdisposition zu haben. Wenn ihm eine Sache
widrig seyn wollte, so sahe er, ob er sie nicht
etwa zum Spaß gebrauchen könte, aber nicht
zum schaalem Wiz. Mancher Mensch hat von Natur
die Disposition, wie er den Dingen der Welt die
Wichtigkeit nehmen kann. Die Lustigkeit ist ein
positiuer Grund des Vergnügens, sie ist räube-
risch, da sie uns andre Vergnügungen benimmt,
indem wir dem einem nachhängen. Sie verschwen-
det die grösten Kräfte der Seele, daher
kommts daß wir lustige Leute ohne irgend eine
Ursache auf einmal traurig sehn. Wir unter-
scheiden nicht iederzeit das Vergnügen und den
Schmerz von der Freude oder Traurigkeit
über das Vergnügen oder den Schmerz.

/Die Traurigkeit ist das Urtheil über das E-
lend des Zustandes und kommt von der falschen Schä-
zung her. Wir finden daß wir gar nicht lei-
den können, daher wir uns von einem trau-
rigen entfernen, wenn wir auch bisweilen bei

/ ihm

/Seite 199

/ihm verweilen, um nur nicht den Nahmen, eines kal-
ten Menschen zu hören. Doch in der Gesellschaft
desienigen der zwar den Schmerz fühlt, ihn aber
großmüthig unterdrükt bleiben wir gerne. Wir
leiden nicht gerne einen übertriebenen lustigen
Menschen theils weil wir ihn verächtlich finden, theils
weil wir sehn, daß ein Schmerz, der ihm von ohn-
gefär zugestoßen seyn würde, ihn eben so trost-
los machen würde als er überaus vergnügt ist
und dann auch, weil wir bei seiner überaus gro-
ßen Heiterkeit neidisch zu werden anfangen. Der
Schmerz sowohl als die Freude müßen in Communi-
cation seyn, das geschieht, wenn sie das Mittel-
maaß nicht überschreiten und in der Empfindung
stehen. In einem solchen Zustand sich zu versetzen
ist es möglich, wenn man sich von Iugend auf übt,
von angenehmen und unangenehmen Gegenständen
sogleich seine Gedanken wegzuwenden, denn das
Gegentheil verschlimmert so gleich den Charakter.
Die Traurigkeit und das Vergnügen bringen nicht
allein die gegenwärtige Empfindung hervor
sondern auch das Vorhersehen, daß es kümftig
ärger oder beßer werden könne. Es ist doch be-
sonders daß die Alten den Tod als ein Mittel
zur Aufmunterung brauchten, weswegen auch der
Schluß ihrer Grabschriften so lautete: sey
vergnügt und brauche dieses Leben, weil du
im Kurzen das wirst, was dieser Todte
ist. Die Alten waren nicht so wie wir izt, uns
durch die Todesfurcht Schrecken zu erwecken.

/ Ei- 

/Seite 200

/Einige von den alten Völkern verbranten ihre Tod-
ten, z. B. die Römer. Andre balsam«s»irten sie ein
wie die Aegypter. Beide standen in der Mei-
nung, dem Leichnahm dadurch einen Gefallen zu thun.
Die erstern glaubten durchs Verbrennen, die See-
le ganz vom Leibe zu trennen, die leztern aber
durchs Balsamiren die Gemeinschaft der Seele
mit dem Körper desto länger zu erhalten. Der
Geschmak ist von der Empfindung dadurch un-
terschieden, daß die Empfindung über meinen
eignen veränderten Zustand die Lust ist, der
Geschmak ist aber eine Lust in der veränder-
ten Anschauung die wir vom Obiekt haben. In
einigen Organen haben wir mehr Erscheinung
als Empfindung, in andern wieder mehr Empfin-
dung als Erscheinung. Im Gefühl ist gleich viel
Erscheinung als Empfindung. Eine gar zu gro-
ße Empfindung hindert das Urtheil und die
Aufmerksamkeit auf das Obiekt. Wenn wir
auf einmal aus einem finstern Keller ins Licht
kommen, oder in den Schnee, so können wir
die herumliegende Obiekte nicht bemerken.
Ein Grund der Lust der in der Erscheinung liegt
heist das Schöne. Der Grund der Unlust heist
das häßliche.

/Eine Lust aus der Anschauung gekommen vergrö-
ßert unsre Glükseeligkeit nicht im geringsten
und ist weiter nichts als das Verhältniß unsrer
Erkenntniß zum Obiekt. Wenn aber die Schön-
heit unser Wohlbefinden vermehrt, so daß wir

/ den

/Seite 201

/den Gegenstand auf einmal zu sehen wünschen, so
ist sie schon mit einem Reiz verknüpft

/

/ ≥ Bedingungen des Geschmaks. ≤

/Schönheit gefält unmittelbar. Wir können sagen,
daß etwas unmittelbar (als ein Mittel) angenehm
ist z. B. eine Erbschaft. Man kann auch sagen,
daß etwas unmittelbar guth ist, aber etwas
unmittelbar schön zu nennen geht nicht an. Sind
die Wißenschaften mittelbar oder unmittelbar
guth? vergrößern sie die Vollkommenheiten der
Menschen an sich selbst, oder tragen sie nur et-
was dazu bei?

/Ob eine Person schön oder häßlich sey, sieht man
durch die Anschauung. Die schlechten Züge von ei-
nem häßlichen Gesicht können durch keinen Geld-
schaz verschönert werden. Schönheit betrift das Ur-
theil über die Anschauung, und Anschauung ist et-
was unmittelbares. Die Schönheit ist nur immer
etwas zufälliges und nicht leicht zu entbehren. Es
kann aber doch seyn, daß wenn die Schönheit sich
mit dem Nutzen vereinigt, das Gefallen daran
desto größer und dauerhafter wird. Indeßen
bleibt die reine Schönheit, die blos für den Ge-
schmak ist und ein gewißes reines Vergnügen
gewährt, von allem Nutzen leer. Es gefält uns immer
wenn wir unsre gesammte Thätigkeit in Lebhaftig-
keit versetzen. Aber es ist ein nicht apartes Ver-
gnügen, wenn man die Thätigkeit ins Spiel sezt.
Wir mögen gern alles rein haben z. B. das Ver- 

/ gnü- 

/Seite 202

/gnügen an der Mathematik, eben so als wenn der
Geschmak soll satisficirt werden, so muß man auf
das Schöne allein und nicht auf den Nutzen sehn. Wenn
man daher den Geschmak rein und mit sich ver-
einigen will, so muß bei den Gegenständen kein
Nutzen hervorleuchten. Eine silberne Dose gefält
wohl, weil sie immer einen Werth hat, aber eine
emaillirte ist beßer. Bei einer emaillirten goldnen
Dose scheint man das Gold nicht zu achten. Die
Nichtachtung des Werths ist bei der Schönheit in der
Wirkung des Vergnügens darüber ein Haupt-
ingredienz. Der Geschmak an Porzellain Servi-
sen ist feiner als an Silberzeug. Die Aufsätze
von Brabanter Kanten die, wenn sie einen Riß
bekommen, nichts mehr taugen, sind schön

/Geschmak ist ein sinnliches Urtheil, aber nicht eine
Urtheilskraft der Sinne und der Empfindung, son-
dern der Anschauung und der Vergleichung, Lust und
Unlust zu bekommen. Eine Wahl zu treffen ohne
auf den Nutzen zu reflectiren, das mögen wir
gerne untersuchen excoliren und verfeinern. Ia
dies trägt auch zur Vollkommenheit des Menschen
vieles bei. Wenn ich einen Bauer sehe, der ein
schön Gemählde kauft, wofür er eine gute Kuh
hatte kaufen können, so halt ich ihn zwar nicht
für den besten Wirth, aber ich denke doch "der
Kerl muß Geschmak haben. Schönheit und Ge-
schmak ist Anschauung. Nutzen und Einsicht ist
Reflection. Wir werden hernach betrachten, was
die Schönheit oder das Vergnügen in der An- 

/ schau

/Seite 203

/schauung zur Vollkommenheit des Menschen beiträgt.
Wir müssen den Geschmak vom Gefühl unterscheiden. Es
ist nicht die Empfindung sondern nur die Vorstellung
von der Sache, nicht in so fern ich sie empfinde, son-
dern in so fern sie mir erscheint. Oder eigent-
lich "der Geschmak ist vom Sinn darin unterschieden,
daß man das Princip des Vergnügens an der
blossen Vorstellung hat. Der Geschmak giebt das
Vorgefühl das aus dem Instinkt entsteht. Wir
sind bei dem Vergnügen wirksam und thätig, beim
Gefühl sind wir aber leidend. Der Geschmak be-
steht nicht in dem Vergnügen das mir die Sachen macht.
Ich kann ein Haus schön nennen, und werde doch
Bedenken tragen, Geld dafür zu geben. Durch
den Geschmak erlangen wir einen Wohlgefallen
der Anschauung, wenn ich ein häßlich Haus sehe, so
verursacht mir das keinen Schmerz. Beim An-
schauen fühl ich nichts, ich vergleiche die Dinge nur
mit meinem Gefühl, ohne Eindrücke darauf gesche-
hen zu lassen. Kurz Schönheit wirkt nicht auf das
Empfindungsvermögen. Ich bin nicht leidend dabei.
Ich recipire nur Empfindungen und Vorstellun-
gen und vergleiche Sie mit dem Empfindungsver-
mögen. Einige sind mehr für das Gefühl, an-
dre mehr für Erscheinungen.

/Der Anblik eines schönen Gegenstandes kann
Vergnügen machen, wenn man ihn zum erstenmal
sieht, aber nur deswegen, weil man sich freut,
es andern wiedererzählen zu können. Allein von

/ der

/Seite 204

/der Schönheit selbst, blos als Schönheit urtheile ich nicht
gern nach dem Gefühl, sondern nach der Erscheinung
mit dem Gefühl verbunden. Zum Gefühl gehört Sinn, zum
Geschmak Urtheilskraft. Gefühl ist also sehr leicht
zu haben, denn dazu gehört nur Sinn. Geschmak aber
ist rahr, denn dazu gehört Urtheilskraft. In An-
sehung der idealischen Dinge kann man Gefühl ha-
ben z. B. Wenn sich iemand eine Sache lebhaft vor-
stellt, wenn iemand eine lebhafte Einbildungskraft
hat. Man empfindet eine Sache bei Bildern der Ima-
gination so lebhaft, wie man sie beim wirklichen
Daseyn empfinden würde. Ein solcher kann gleich-
wohl keinen richtigen Geschmak haben. - Gefühl hat
der, der z. B. durch eine lebhafte Schilderung
gleich gerührt wird. Zum Gefühl gehört also Reiz-
barkeit und Rührung. Reize und Rührungen ent-
springen blos aus dem Gefühl, Schönheit und Häß-
lichkeit aus dem Geschmak. Im Gefühl kann man
sich üben, Geschmak muß man förmlich lernen.
Keiner hat ihn von Natur. Alle Künste die viel
fürs Gefühl arbeiten, zerstören den Geschmak
und gefühllfolle Personen sind geschmaklos.
Der Geschmak ist kalt und ruhig, das Gefühl macht
mich aber gleichsam zum Instrument, worauf ie-
der, dem es gefällt, sich vergnügt, wo man bald
hie bald da die Seiten der Empfindung zwikt, wo
ich ganz leidend und ein Spiel der Eindrüke bin.
Bei geschmakvollen Schriften entsteht in mir ein
ruhiges Vergessen. - Wo wir uns aufs Gefühl
berufen, da hört alle Gerichtsbarkeit des Ver- 

/ stan

/Seite 205

/standes hört auf. Was nach Geschmak seyn soll,
muß allgemein gefallen, doch das Urtheil des Ge-
schmaks soll nicht gefällt seyn nach der priuat
Beschaffenheit meines Subiekts, von einem Gegen-
stande mit Lust afficirt zu werden, sondern nach
den Regeln des allgemeinen Gefallens. Die Koch-
kunst muß auch allgemeine Regeln haben. Geschmak-
volle Leute wissen guth zu treffen was allgemein
oder doch mehrenteils gefällt. Es ist hier dieser
Unterschied. In Ansehung des wirklichen Geschmaks
muß sich das Urtheil was allgemein gefällt aus
der Erfahrung, in Ansehung des idealischen Ge-
schmaks, kann man es a priori fällen. Der
Geschmak ist das Princip wodurch der Mensch
ein allgemein gesellschaftliches Vergnügen genie-
ßen kann. Ein Mensch in der Einöde sorgt
nicht für den Geschmak, alles Schöne sucht und
liebt man blos für die Gesellschaft. Es ist wahr-
scheinlich, daß der Man die «Ma» Frau nicht nach der
Schönheit sondern nach Gesundheit und Stärcke
wählen würde. Daß man izt aus Schönheit wählt
thut man aus Liebe für die Gesellschaft, denn
man hat ein besondres Vergnügen daran, wenn
man was besizt, was andern gefält. Das Wohl-
gefallen kann klein seyn im Verhältnis fürs
Vergnügen, aber die Annehmlichkeit des Wohl-
gefallens hebt es wieder, und man schäzt
einen Menschen von Geschmak hoch, weil seine
Wahl eine Gültigkeit für viele hat. Ein Gar-
ten gefällt uns, wenn wir in Gesellschaft sind,
sind wir aber allein, so gefält es uns im
Walde beßer. Die ganze Schönheit der Na- 

/ tur

/Seite 206

/tur wäre dem Einsamen verborgen. Er reflec-
tirt nicht darauf. Ungesellige Menschen haben kei-
nen Geschmak. Wenn man aber einwenden möch-
te, daß wenn man immer ausspähen muß, was
allgemein gefällt, so hat der Geschmak keine
veste Regel. - Er hat sie allerdings, denn der
Geschmak ist gegründet in der %Menschheit. Man kann
aber darauf nur durch Erfahrung kommen. Der
modische Geschmak ist kein Geschmak. Wer aus
Mode wählt, wählt, wenn er sie fürs Princip
der Schönheit hält, aus Eitelkeit nicht aus Ge-
schmak. Der Mann von Geschmak richtet sich
auch nach der Mode, aber nach Principium des
Geschmaks. Das Frauenzimmer ist ebenfals mo-
disch, sogar im Urtheile, da der Mann doch ge-
wönlich nach Principien urtheilt. Der Geschmak
ist allgemein, er zeigt eine gewißer Ueberein-
stimmung. Wenn man disputirt, will man bewei-
sen, daß unser Urtheil von Geschmak auch bei
andern gelten soll, über dem Geschmak strei-
tet man nicht, weil im Geschmak kann verlangt
werden, dem Urtheil eines andern zu fol-
gen. Wenn im Geschmak nichts wäre, was allen
gefällt, so wär es ein Gefühl. Ueber den
wahren Geschmak muß sich streiten laßen
sonst ist es kein Geschmak. De gustu non est
disputandum ist ein Saz der Unwissenden und
ungeselligen. Ein ieder nach seinem Geschmak
ein ieder genießt also sein Vergnügen allein
daraus folgt, daß ieder für sich bleiben soll.

/ Wenn

/Seite 207

/Wenn iemand gute Freunde zu sich bittet, wird er
sich gewiß nicht nach eines ieden Geschmak erkundi-
gen, er richtet sich vielmehr nach dem Allgemeinen.
Es ist in den Principien des Geschmaks vieles em-
pirisch, aber die Gründe der Beurtheilung sind
nicht blos aus der Erfahrung extrahirt, sondern
sie liegen in dem Menschen. - Die Untersuchung
des Geschmaks, wo sie durch das Urtheil des
Verstandes begleitet ist, da ist das Urtheil nicht
priuat, dann haben die Menschen allgemeine Re-
geln der Beurtheilung des Geschmaks. Wegen
der Thätigkeit der priuat Urtheile merke
man, wenn einem in einer Stube zu warm, dem
andern zu kalt ist, so haben sie beide recht. Ihre
Urtheile sind entgegengesezt, das widerspricht
sich aber nicht. Denn es sind 2erlei Subiekte
ieder urtheilt für sich wie er afficirt wird.
Die Luft ist einerlei, nur sie bringt in verschiede-
nen Subjecten verschiedene Wirkungen hervor.
Eben so wenn iemand dies Gericht fürs beste
hällt, dem andern schmekt aber ein andres,
so haben beide Recht, denn sie reden nicht vom Ob-
iekt des Essens, sondern nur von sich, als dem
Subject, wie sie afficirt werden. Hier kann man
wohl sagen de gustu non est disputandum , man
kann dem andre seine Empfindungen nicht ab-
streiten, die Menschen nehmen oft ihre subjectiue
Urtheile für objectiue. Einer sagt von einer
Person, daß sie häßlich sey, dem andern kömmt
sie schon leidlich vor, und ein dritter findet schon
Annehmlichkeit an ihr. Diese alle urtheilen nicht

/ von

/Seite 208

/von ihrer Person sondern von ihren Empfindun-
gen, sie urtheilen nicht objectiu sondern subjectiu über
die Art wie sie afficirt werden. Vom angenehmen
oder unangenehmen muß man nicht streiten, dies
ist ein Streit übers Subiekt. Gut und Böse ist die
Sache des Objekts. Sage ich: die Sache ist guth oder
böse, so urtheile ich vom Obiekt. Urtheile von
Schönheit und Häßlichkeit ist ebenfals eine Sache
des Obiekts, aber nicht nach Regeln des Verstan-
des sondern der Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit hat
sowohl ihre Regeln als der Verstand. Gewiße
Principien des Geschmaks müßen allgemein
seyn und gelten. Es giebt also gewiße Regeln
der Aestetik. Reitze und Rührung müßen
wir nicht dabei bei Seite sezzen.

/Die Vorstellung der Gestalt oder Figur der
Dinge, soll nach Gesetzen der Sinnlichkeit gemacht
werden. Alle Menschen haben gewiße einstimmige
Gesetze, wodurch sie sich die Gegenstände formi-
ren, dies sind Gesetze der Vorstellung. Was
die sinnliche Anschauung erleutert, gefält und
ist schön. Es ist den subiectiuen Gesezen der Sinn-
lichkeit gemäß, es befördert das innerliche
Leben, da es die Erkentnißkräften in Thätig-
keit sezt. Die Erleichterung geschieht durch Raum
und Zeit. Veränderung im Raum ist Figur, in
der Zeit blos Spiel. Das Spiel der Verände-
rung wird erleichtert, durch die Proportion in
den Theilen.

/ Simmetrie

/Seite 209

/Simmetrie erleichtert die Begriflichkeit, und ist das
Verhältniß der Sinnlichkeit. Bei einem disproporti-
onirten Hause kann ich mir schwer das Ganze vor-
stellen, bei einem wohlgebauten Hause hingegen
sehe ich Gleichheit von beiden Seiten. Gleichheit der
Theile befördert meine sinnliche Vorstellung, er-
leichtert die Anschauung, vermehrt das Leben der
Thätigkeit und begünstigt sie, daher muß mir das
Ganze gefallen, aber um deßwillen auch allen, denn
diese Regel liegt bei allen zum Grunde. Verän-
derung der Zeit heist Spiel, in der Musik ist
das vornehmste Stük der Takt, oder die Be-
stimmung der Gleichheit der Zeit. Ieder Ton ist gleich-
zeitig und unterscheidet sich durch die gleich för-
migen Schläge vom Schall. Zwischen den Tönen
muß ein Proportion und Simmetrie seyn, wenn
es gefallen soll und es sind die Accande. Es
erleichtert die sinnliche Begreiflichkeit. Alle
Menschen haben Bedingungen unter denen sie nichts
großes mannigfaltiges erstatten können. Daher
man auch ein ausgefürtes Thema hat, welches
aus obigen Ursachen allen gefallen muß. Mu-
sici heißen Spieler, wir könnten Tänzer Spieler-
gestalten nennen, so wie bei den Pantominen. Beim
Garten find ich Schönheit durch Begreiflichkeit
Ist keine Ordnung darinnen, so kann ich mir da-
von kein Bild machen, ich sehe zuviel auf einmal.
Wenn ich einen Garten ansehe, so bin ich beim
ersten Anblik ernsthaft, und suche Proportion

/ und

/Seite 210

/und Simmetrie, er gefält mir daher, wenn ich ihn
mir gemächlich vorstellen kann. Es gefält etwas
nicht allen.

/1. Weil dazu eine Kenntniß gehört, ohne die ich
etwas nicht verstehen kann, kann ich es auch
nicht für schön finden.

/2. Weil wir noch etwas beßeres kennen. Wür-
den wir das Beßere vergeßen haben, so würde
uns die Sache gefallen, aber sie gefält uns doch
wirklich. Alle selbst schöne Mannspersonen sehen
in Frauenzimmerkleider sehr frech aus. Biele-
feld sagt: ein Man wird wegen seinen Poken-
narben für häßlich gehalten, man stellt ihm
ein altes abgelebtes Weib entgegen, die sah
aber nicht so schlecht aus wie er, da er sich
in Frauenskleider kleidete, denn nun verglich
man ihn mit dem Weibe. Die alten Weiber
sind also gegen Mannspersonen noch immer rei-
zende Geschöpfe, sie verlieren nur dadurch, daß
sie mit iungen Mädchen verglichen werden.
So kann der eine etwas häßlich nennen, was
der andre gut und schön findet, es ist hier et-
was comparatiues. Ein wahrer Beweis von der
Weisheit der Vorsicht ist es, daß sie solche Grün-
de des Geschmaks in dem Menschen gelegt
hat. Ein Geschmak wo der Grund der Glük-
seeligkeit beim Menschen statt findet.

/Schöne Vorstellungen von Gegenständen sind
von den schönen Gegenständen selbst zu un-
terscheiden. Wir können von häßlichen Gegen- 

/ stän

/Seite 211

/ständen schöne Vorstellungen haben. Eine wohlgemahl-
te häßliche Person kann uns gefallen, einige Thiere
mißfallen uns, sind sie aber in Marmor wohl abge-
bildet, so gefällt uns das Bild wegen der Ueberein-
stimmung mit dem Gegenstande. Wir haben schöne
Vorstellungen von Gegenständen, die an sich gar
keine Schönheit haben z. b. mathematische Figuren
sind nicht schön, geometrische Demonstrationen kön-
nen durch ihre Kürze eine Schönheit haben, wegen
der Vollständigkeit, des natürlichen Lichts und leichter
Faßlichkeit. Das Wohlgefallen an der Erleichte-
rung an Beweisen macht ihre Schönheit aus. Es
ist hier eine Uebereinstimmung mit den subiectiuen
Gesetzen des Verstandes, so daß ich etwas sehr
leicht einsehen kann. Die logischen Sätze zeigen
wie zur richtigen Erkentniß der Sachen zu gelan-
gen sey, es sey doch Schwierigkeit oder Leichtig-
keit. Wenn die Aestetik Wischenschaft wäre, wenn
aestetische Sätze existirten, so würden diese
zeigen wie eine Demonstration leicht faßlich
@naiu@ und durch ein natürlich Licht klar zu machen
sey. Voltair hat das an sich, daß er die schwer-
sten Sachen leicht macht, daß man sich zulezt wun-
dert bei solchen Sachen Schwierigkeiten gefun-
den zu haben. Bei aller Schönheit des Geschmaks
muß man sehen, daß man ihn nicht mit Reiz ver-
mischt. Was ohne Reiz gefält ist hübsch. So mag
pulcher und venustus unterschieden seyn, das
lezte findet da stat, wenn Schönheit noch mit
Reiz verbunden ist. Was schön oder wohlge- 

/ reimt

/Seite 212

/reimt ist, belustigt, läßt uns aber kalt. In einer
Gesellschaft heists sie hat etwas todtes d.h. sie hat
keine Reize. Es giebt Personen die Reize haben
ohne hübsch zu seyn. Dieser Reiz kömmt überhaupt
von Geschlechter Neigung her. Der Reiz beruht nicht
auf Anschauung sondern Empfindung, z. B. die
Züge der Sanftmuth stimmen mit den sanften Em-
pfindungen und machen Reiz. Die Munterkeit stimmt
mit der Delicatesse der Höflichkeit und liebt die
Leichtigkeit im Umgange.

/Der Reiz ist entweder körperlich i e. gros oder
idealisch. Dieser läuft auf etwas moralisches
heraus. Reiz in der Musik ist in dem, was
meine Affekten in Bewegung sezt. Ein nach al-
len Regeln der Musik componirtes Stük, kann
schön seyn, kann gefallen und doch keinen Reiz
haben, es läßt uns ungerührt und wir approbi-
ren nur. Es sind oft Nebenumstände, die eine
Sache reizbar machen z. B. Wenn ich eine Sache
zum erstenmal sehe, oder weil ich sie allein
sehe, oder weil sie mir und meinen Anver-
wandten gehört. Eine Gegend ist schön und hat
einen besondern Reiz für mich, weil ich sie aus
meinem Zimmer sehen kann. Die Menschen sind
sehr eigen dabei, sie suchen aus den elen-
desten Dingen Reitze hervor. Dies sind indi-
recte Reitze oder Rührungen. Gewiße Dinge
werden sinnliche Anschauung, die machen Ideen
diese wirken auf den Leib und bringen Bewe-
gungen hervor, worauf eine Empfindung folgt
die uns in ihren Folgen gefällt d. i. das La- 

/ chen

/Seite 213

/chen. Was Lachen erregt, vergnügt. Woher kommt das? wes-
wegen gefällt das, was Lachen erregt? Das Vergnügen
kömmt nicht von der Sache her, worüber man lacht. Denn
dies sind meistens schlechte alberne Dinge. Es ist nicht
die Schönheit des Gegenstandes auch nicht die Eigen-
liebe Ursach davon, solt ich mich wohl darüber freun,
daß ich beßer bin als ein anderer? die eigentliche
Ursach ist eine unerwartete Umkehrung der Ide-
en, eine Vorstellung einer Sache, die mich nicht in-
teressirt, sonst ist es Ernst. Die Sache muß über-
haupt gleichgültig seyn. Kein vernümftiger Mann
wird über einen andern lachen, wenn es dem andern
keine Kleinigkeit sondern interessant ist. Beim
Lachen ist eine Art von Kontrast, eine Widerkehr
der Idee. So z. B. wenn iemand in einem Schnee-
gestöber ausfährt, und wenn er lang genug ge-
fahren ist, sich unvermuthet vor seinem Hause
erblikt, dies befremdende und unerwartete
giebt uns zu lachen. Die Ideen gerathen in eine
tumultuarische Bewegung, die feinsten Nerwen
des Körpers werden gezwikt. Das Zwicken
verbreitet sich bis in einem Zwergfell und durch
diese Empfindung entsteht das Lachen. Das Lächer-
liche vergnügt «s» nicht in der Idee sondern
in der Bewegung. Die Empfindung, die durch
die Idee entspringt macht das Wohlgefallen
des Lachens und einen Witz aus. Man muß nicht
in der Geschichte über die man lacht, Schönheiten
suchen. Das durch die Ideen in Bewegung ge-
brachte Zwergfell macht das angenehme. Woher
kommt aber das Vergnügen, da wir schaudernd

/ ver- 

/Seite 214

/vergnügt sind? - Woher erwekt das melancholische durch
die Beklemmung der Brust ein Vergnügen? - Das
kommt alles daher, weil der Gegenstand nicht interessant
ist, und uns nichts angeht, denn interessirt uns was
denn hört aller Spaß auf. Das Vergnügen dabei
entsteht daher, weil eine ernsthafte Idee, die wir
uns von dem Unglük eines andern machen kön-
nen nachlassen kann, wenn wir wollen. Durch
unsre Willkühr bringen wir unsern Körper in
Bewegung, die kein Medicin schaffen kann. Alles
kommt wieder in ein aequilibrium, wenn wir uns
satt gewei<n>t haben, da vorher die Nerwen subtil
erschüttert wurden. Es giebt einige Organe
im menschlichen Körper, die durch verschiedene Stel-
lungen nicht in Bewegung gebracht werden kön-
nen. Die Vorsicht hat es so eingerichtet, daß die
Ideen der Menschen auf die Empfindungen wür-
ken, doch würden auf eine andre Weise einige
Nerwen werden zusammengezogen, andre dela-
mirt und dadurch wird der Körper durchge-
arbeitet. Es ist gewiß, daß manche Menschen
deswegen gesund werden, es ist eine gute Mo-
tion für sie, nur müßen gegen einen poltern,
der sich nicht wehren kann oder nicht wehr«d»en will.
Es ist eine gute Reparation des menschlichen Kör-
pers, die aufs innere geht, die Vorsicht hat es
selbst so weislich geordnet, wir können nicht sehen
hören u. s. w. ohne Empfindung dabei zu haben.
Der Alte mag gerne lachen. Die Iugend, die sonst
weit öfterer lacht, sieht gerne Tragoedien. Der
Leichtsinn der Iugend findet durch die Schwer-
muth und Beklemmung des Herzens etwas ent- 

/ ge

/Seite 215

/gegengeseztes, welches bald aufhört. Bei den Alten
haben aber die Vorfälle der Tragaedie mehr Eindruk
gemacht, die dauerhafter sind. Bei jungen Leuten
hören die traurigen Vorstellungen bald auf, bei den
Alten haften sie länger, und dann hört auch das Ver-
gnügen auf. Das Vergnügen also daß man an
den Comoedien und Tragoedien hat, liegt nicht in der
Idee sondern im Magen, daher kommts daß einem
ein Stük nicht tragisch genug vorkommt, vor dem an-
dern aber zu viel traurige Auftritte hat. Der
wahre Geschmak ist von dem allen unterschieden. Die
wahre Schönheit ist ernsthaft und gelassen. Das wahre
Schöne besteht nicht im Lachen. Das Lachen gehört
zum indirecten Witz. Das Lachen oder die Nei-
gung alles ins Lächerliche zu ziehn, stimmt mit dem
gesunden Verstand sehr völlig überein. Es zeigt
eine weite Einsicht an. Etwas im Ernst zu neh-
men ist keine Kunst und zeiget vom wenigen
Genie z. B. Wenn man bei Geschäften eine gravitae-
tische Miene annimt, beßer ists etwas bei gu-
ter Laune zu verrichten. Die schwierigsten Sachen
lassen sich auf die Art ohne Verdruß und Un-
muth in ein helleres Licht setzen, und der Mensch
wird dabei in seiner Fröhlichkeit erhalten. Es
ist viel beßer das Laster von seiner «ernsthaf-» <lächer>
als von seiner schändlichen Seite darzustellen.

/ ≥ Vom Nutzen
der
Kultur des Geschmaks. ≤

/Es besteht im folgenden:

/ 1)

/Seite 216

/1) Die Kultur des Geschmaks verfeinert den Menschen
überhaupt, und macht daß er ein idealisch Vergnü-
gen zu geniessen fähig wird. Der Genuß von den
mehresten Dingen ist ein Verbrauch derselben und
ist also nicht eine Theilnehmung vieler. Aber die Ver-
gnügungen des Geschmaks sind ädler. Sie sind theil-
nehmend und darin stekt eben das feine. Der
Geschmak hat etwas feineres etwas mit der
Moralitaet analogisches. Der Geschmak richtet
alle Vergnügungen so ein, daß er zum Vergnü-
gen anderer beiträgt. So können eine Musik
1000 Menschen anhören.

/2) Der Geschmak macht uns gefällig. Die Verfei-
nerung sogar des sinnlichen Urtheils macht den
Menschen fähig nicht blos an Eindrücken zu hangen,
sondern selbst Schöpfer seiner Vergnügungen zu
seyn. Alle idealischen Vergnügungen sind mehr
aus der Reflection als aus dem Genusse der
Sachen genommen. Ein Mensch ist glüklich, wenn er
sich ein idealisches Vergnügen machen kann.
Sein Geschmak ist verfeinert und er ist eo ipso
desto beßer geworden. Hume behauptet gegen
Rousseau, daß die alten rauhen Sitten, die Men-
schen auch unter einander ungesellig und der
Moralitaet unfähig gemacht haben, und daß die
Verfeinerung des Geschmaks uns, wo nicht ganz,
doch unvermerkt beßert. Verfeinerung ist
von der Verzärtelung des Geschmaks zu unter-
scheiden. Die Empfindung gehört zur Beurthei-
lung, aber empfindlich zu seyn gegen Ver-
gnügen ist Schwäche. Wer einen verfeiner- 

/ ten

/Seite 217

/ten Geschmak hat, der findet bald eine Beleidigung
wo sie sti«e»cht aber er kann sie großmüthig ertra-
gen und braucht seine Kentniß dazu, daß er sich
andre zu beleidigen hütet. Die verzärtelten Perso-
nen hingegen sind empfindlich sie nehmen die kleinsten
Beleidigungen sehr übel auf. An einer Mannsper-
son ist dies eine Schwäche, an einer Frauensper-
son leiden wir es wegen der Empfindlichkeit ihres
Geschlechts. Wir halten die Zärtlichkeit an ihnen hoch,
und ein dräustes Frauenzimmer ist uns eben so
sehr zuwider als ein weibischer Kerl. Ein Man
muß empfindsam und zärtlich seyn aber nicht
empfindlich und verzärtelt. Empfindsam heist:
daß man die kleinsten Beleidigungen gleich merkt
sie aber standhaft erträgt und sich sorgfältig
hütet dieselben einem andern anzuthun. Ein zärt-
licher EheMann und Liebhaber ist der, der in
der Wahl der Wörter behutsam und delicat
ist; und aufs sorgfältigste alles, was Belei-
digung ist, abhällt. Hierzu gehört ein feiner
Geschmak i. q. emollit mores u. s. w. die Wißen-
schaften gewöhnen den Menschen nur zum reflecti-
ren und können auch dadurch den Geschmak ver-
feinern. Unser Gefühl in Ansehung der Rei-
zungen und Rührungen ist vom Geschmak sehr
unterschieden. Es kann nicht der Geschmak ver-
gesellschaftet werden. Wer immer Reize und
Rührungen verlangt hat keinen Geschmak. In
Schriften, Gedichten und allen Werken des
Witzes können Rührungen sehr schön angebracht

/ wer- 

/Seite 218

/werden, allein es muß erst das Thema oder der
Gegenstand schön ausgemahlt werden. Man muß
erst ein häßliches Bild von einer Sache geben. Die
Rührungen werden vermengt und dienen zur
Theilnehmung einer Sache.

/Das Wesentliche des Geschmaks an einem Hau-
se ist, daß es regulair und nach der Simmetrie
gebaut sey. Marmor und Farbe sind Reitze
dabei und lassen sich nicht füglich anbringen, wo-
fern nicht erst der Geschmak zum Grunde liegt
Reiz ohne Geschmak ist ein blinder Reiz.
Pralerei und Pracht sind dem wahren Geschmak
entgegen. Durch Verschwendung verliert der
Geschmak viel, wenn er gleich dabei zu finden ist.
Denn er besteht eben darin, durch Sparsam-
keit mit wenigen Kosten etwas schön zu machen.
So sagte ein Mahler von der Venus eines an-
dern: da du sie nicht hast beßer mahlen kön-
nen, so mahlst du sie reich. Er hatte sie nämlich
mit Iouwelen behangen. Eine Person mit vie-
len Reichthümern behangen gefällt uns nicht.
Das sanfte ist nicht kostbar und gefält, es ist
simpel und geschmaksvoll. Die Pracht bezieht sich
auf Ehrbegierde, nichts will gefallen was
prächtig und gezwungen läßt. Ein Kleid muß
commode zu seyn scheinen. Die izzigen Zuk-
kerhüte Mode der Frisuren sind offenbar
wi«e»der den Geschmak. Beim Geschmak muß
etwas @lecheures@ seyn z. B. Wenn ich an ei-
nem Ort zu Tische bin und die Freu läuft mit

/ den

/Seite 219

/den Bedienten das ganze Haus um, mich zu bewir-
then, so gefält mir die ganze Aufnahme nicht,
die Speisen mögen auch noch so schön und nied-
lich zubereitet seyn. Beim Verg«@zeh@»<gnü>gen muß alles commo-
de scheinen, es muß gleichsam wie durch eine Zauber-
kraft herbeifliegen. Es ist was abendtheuerliches
dem Vergnügen mühsam nachzulaufen, nur die
Nahrung sucht man mit vieler Mühe. Die Mode thut
viel beim Geschmak. Ein junger Man dem alles
läßt bringt durch die Zauberkunst des Schneiders
neue Moden auf. Es ist ganz natürlich, daß die
Franzosen die Erfinder der Moden sind, denn
sie haben vor allen Nationen den Anstand und
die Leichtigkeit sich in alles wohl zu schicken. Mo-
disch seyn, in dem was nach Regeln der sinnlichen
Beurtheilung kann beurtheilt werden, zeigt ei-
nen Menschen ohne Geschmak und Genie an. So
werden Versarten Mode, so Lieder nach Klopstok.
Eine allgemeine Regel der Sitten braucht man nicht
zu suchen, die haben wir. In Ansehung des Ge-
schmaks müßen wir festgesezte Urbilder
haben, sonst wird die Mode alles zerstören. Der
griechische und lateinische Geschmak hat sich am
längsten erhalten und dient zum Muster. Wür-
den die griechischen und lateinischen Dichter ver-
loren gehen, so würde der Geschmak eine gro-
ße Revolution erleiden. Iezt haben wir noch
dauerhafte Muster, würden diese fehlen, so wür-
de der Geschmak wanken und nach 50 Iahren
völlig gestorben seyn. Iezt haben wir noch vor- 

/ tref- 

/Seite 220

/trefliche Urbilder, Homer, Virgil, Horaz dienen uns
zu Mustern. Aber von unsern iezzigen Dichtern kann
keiner ein Muster seyn. Pope und Milton sind of-
fenbar beßer als Homer. Es muß eine todte Spra-
che seyn, sonst ändern sich Wörter und Ausdrüke.
Der Reinecke Fuchs war vor 200 Iahren ein sinn-
reiches Gedicht auch in den damaligen besten Ver-
sen abgefaßt, izt wird es lächerlich. Die Fran-
zosen tragen izt viel zum Verfall des Geschmaks
bei, denn alle «Franzo»<latein>ische und griechische Bücher
werden von ihnen ins französische übersezt. Die
Antiquen in Baukunst, Bildhauerkunst, Musik
und Redekunst dienen zum Muster. Hörten
die auf, so würden die Menschen auf vielerlei an-
dere Empfindungen kommen. Es muß also ein
Muster seyn, wenn etwas bleiben soll. Der
Delicatesse des Gewißens und deßen was zur
Freundschaft gehört, ist das nur fähig, was
seine sinnliche Urtheilskraft geschärft und
der Geschmak hat. Der Geschmak bringt dem
Menschen auf das was allgemein gefällt, und
praeparirt ihn zu dem geselligen Leben. Der
Mann von Geschmak wählt nicht, was ihm sondern
was allgemein gefällt, es sieht die Dinge aus
einem gemeinschaftlichen Gesichtspunkt an. Er
muß aber aus natürlichen Quellen, aus inne-
rer Beschaffenheit des Geschmaks nicht aus Mode
wählen. Das sehr modische nachäffen, ver-
räth einen Menschen von wenig Grundsätzen
Der Mensch der alles nachmacht ist modisch; Mo- 

/ de

/Seite 221

/de und Gebrauch sind verschieden. Daß etwas anfängt
allgemein zu gefallen ist Mode. In Kleidungen kann
man sich nach dem Gebrauch richten, aber in Grund-
sätzen modisch zu seyn ist albern.

/Man findet indeßen doch viel modisches in Grundsätzen.
Modisch seyn im Geschmak zeigt an, daß der Mensch
keinen hat. In Ansehung der Schreibart waren in
Deuschland verschiedene Moden. Zu einer Zeit herrschte
die Gewohnheit mit Iouwelen und Perlen, Donner
Bliz Sturm u. s. w. die Geschichte anzufüllen. Da-
rauf kommen die Tändeleien auf, man wollte witzig
seyn und es entstand was schlechtes. Man woll-
te die Munterkeit der Franzosen nachahmen. Hie-
rauf kam ein gewißes Spiel des Witzes in An-
tithesen vor. Man kann es der Schreiart anse-
hen wenn sie nach einem gewißen Leisten gemacht
ist. Eine Schreibart muß nicht gezwungen seyn, sie
muß keine Mühe gekostet zu haben scheinen.
Solte es gut geschrieben seyn, so müste man
dies nicht einmal bemerken, als nur nachher in
der Folge. Der Verstand ist etwas, was in der
Länge hin beschwerlich wird. Daher ist alles was die
Stelle des Verstandes betrift und seine Function
mit mehrerer Leichtigkeit verwaltet, das ist der
Geschmak, der stellt uns Fälle in concreto vor.
Hier ist noch der Vortheil, er macht daß wir uns
gerne mit dem Verstande beschäftigen. Man
beschäftigt sich nicht mit dem Verstande aus Nei-
gung sondern aus Nothwendigkeit. Der Ge-
schmak aber gefällt allgemein, er mag Nutzen

/ haben

/Seite 222

/haben oder nicht, man nennt manche Sache wesent-
lich selbständig schön. In allen Sachen in allen Din-
gen die nichts selbstständiges haben, da ist der Reiz
nichts selbständig schönes z. B. Das modische ist
kein selbstständig schönes. Ieder Mensch will
gern ein Original seyn, diese Idee emphielt
ihm, eine Mode sich zu wählen, da er sich vor-
stellt, daß ihm viele folgen werden.

/Eine Idee muß immer seyn, die bei einer Sache
zum Grunde liegt. Ehr können wir nichts schön
nennen, bis wir die Sache selbst kennen, und
was sie schön macht und eine Sache kann im ver-
schiedenem Verhältnis schön oder nicht schön ge-
nannt werden z. B. ein gemahlter Kopf kann
als Mann schön als Frau häßlich seyn. Ich muß
auch wißen was die Sache seyn soll, wenn
ich ihren Werth bestimmen soll. Mitlere nimmt
man bei vielen Varietaeten als das Original des
Schönen an. So z. B. ein Originalmaß oder
Größe unter allgemeine Menschen. Das Muster
der Schönheit der Dinge der Natur scheint
wirklich im Mitlern der Dinge zu liegen. Dies
ist so zu sagen das Grundmaß.

/Die Uebereinstimmung der Rührung des
mannigfaltigen in den Ideen ist das vor-
nehmste. Es kann mir z B. eine Uhr nicht
gefallen, wenn ich ihren Zwek nicht weiß.
Materialien der Schönheit müßen von der
Schönheit selbst unterschieden seyn. Die Materi- 

/ alien

/Seite 223

/alien machen nicht die Schönheit aus, sondern zugleich die
Zusammenschmelzung und die Form. Ich muß den Be-
grif der Sache erst haben. Die Schönheit wird als ein Ac-
cidenz bei einem Dinge angesehen und was der
Absicht der Sache widerstreitet ist der Schönheit zu-
wider und kann nicht lange gefallen z. B. Ein Kleid
das zu eng ist kann nicht lange gefallen, denn es
widerstreitet der Absicht der Commoditaet. Die
Moden scheinen darum nicht dauerhaft zu seyn
weil es Mühe kostet sie einzuführen. In einem
Gedicht oder in einer Rede besteht das Selbststän-
dige in der Schönheit, Wahrheit und Reinlichkeit. Die
logische Vollkommenheit macht das selbstständige
schöne aus. Die schönsten Mahlereien sind in einem
schlechten Zimmer unnüz und übel angebracht. Der Ver-
stand muß die Grundlage machen und die Schönheit
kann darüber verbreitet werden. Wird Schönheit
dem Verstande sekundirt, so entsteht was dauer-
haftes. Man muß gründliche Kenntnisse haben um etwas
in den schönen Wißenschaften zu leisten. Schönheit
und Farben setzen eine Substanz voraus, worauf
sie angebracht werden sollen. Kein Schriftsteller
der dies selbstständige nicht hat, ist lange in sei-
nem Geschmak bewundert worden. Schönheit ist
dauerhaft man findet daher keinen beßern Histo-
riker als Hume. Der englische Zuschauer ist die
beste Wochenschrift. Man weiß selbst nicht, ob
man die Schönheit oder Gründlichkeit der Ge-
danken bewundern soll. Schönheit kann man
von keinem Muster lernen, wenn man keine

/ Gründ- 

/Seite 224

/Gründlichkeit von der Sache hat. Die Lehre des Geschmaks
Aestetik genannt, kann also keine Doctrin sondern
nur eine Kritik seyn. Man kann nur gewiße Pro-
dukte kritisiren und den Geschmak üben. Die Kri-
tik ist eine Unterscheidung des Werths im gege-
benen Obiekt. Doctrin ist eine Unterweisung, wie
man das schöne hervorbringen kann. Wäre die
Aestetik eine Doktrin, so müßte man lernen
können wie man witzig seyn und Einfälle haben
kann. Das Sylbenmaß und Reimen kann man
wohl lernen, eben so gut wie Drechseln, aber
Dichten, Neuigkeit der Gedanken, lebhafte Bilder
Abstechungen machen, Bewunderung erregen, dies
ist nicht zu erlangen. Durch viel fältige Kultur
der Kritik anderer, wird man in der Uebung
und Fertigkeit gesezt, sich selbst zu kritisiren, und
wird entweder nichts, oder wenn man schreibt, et-
was schönes schreiben. Die Kritik lehrt uns
den Vorrath, den wir an Erkenntniß haben, wohl
anbringen. Was gefält ist den ästetischen Regeln
gemäß. Aber nicht was nach ästetischen Regeln
abgefaßt ist, gefällt. Die Regel der Aeste-
tik ist nur darum recht, weil etwas gefält
weils so ist, ist aber ein Fall der unter eine
Regel steht nicht nach Geschmak und gefält
nicht, so ist die Regel nicht der Geschmak
falsch. Die aestetische Regel kann nicht a prio-
ri sondern durch Beispiele aus der Erfah-
rung bewiesen werden. Es ist daher sehr übel
daß «wenn» man glaubt, wenn man die Aestetik
lernt und dadurch nur gut scheinen dürfte. Das

/ ge- 

/Seite 225

/geschieht leider in den Schulen.

/Der Mangel an Genies unserer Zeit rührt wirklich aus
der Schule her. Bei den alten Griechen wurden die Au-
toren nur kritisirt und dadurch die Genies excitirt.
Der Geschmak scheint nichts wesentliches zu seyn.
Das Wohlgefallen des Verstandes ist ganz was
anders als die Sinnlichkeit. Das erste heist gut, das
andre heist schön. Bei beiden kommt es auf Sinn-
lichkeit an. Sollen alle unsre Urtheile des Ver-
standes praktisch werden, so müßen sie bis zur
Sinnlichkeit kommen. Der Verstand allein ist nicht hin-
reichend. Die Sinnlichkeit muß aber «nicht» dem Verstan-
de und nicht der Verstand der Sinnlichkeit unter-
geordnet seyn. Der Compas zeigt die Weltgegen-
den und giebt zur Richtung des Schiffes Anlaß. Die
Menschen müßen Geschmak haben in Sittlichkeit, die
Politesse Artigkeit sind tugendhafte Verhalten
(oft im hohen Grad) auf kleine Gegenstände ange-
wandt. Die Höflichkeit die man dem Frauenzim-
mer erweiset und die Distinction mit der man
ihnen begegnet ist die nicht aus der Großmuth
entsprungen? Würde dies nicht geschehen, wie tief
würden sie in ihrer Schwäche sinken? so erwar-
ten alle Menschen von der Großmuth anderer Ach-
tung. Will man den Werth kennen so merke man,
wer den untersten Plaz am Tische einnimmt, wer
den lezten Teller bekommt, wer alle aufzumuntern
sucht, wer am mehresten sieht wo etwas fehlt,
ist das nicht Politesse. Der Geschmak ist eine be-
ständige Kultur der Tugend. Von dem was sich
schikt im Anstande ist der Geschmak das Augen- 

/ maß

/Seite 226

/maß. Die Tugend nimmt uns nicht ein durch den Ge-
brauch, sondern in so fern uns solche gefält. Auf
solche Weise arbeitet der Geschmak der Tugend
vor. Der Geschmak ist eine Analogie der Vollkom-
menheit. Er ist das in der Anschauung was Sitt-
lichkeit in der Vernumft ist. Das Studium des
Geschmaks ist also sehr notwendig. Wie studiert
man aber den Geschmak? Man muß ihn lernen.
Hume sagt: auch Tugend muß gelernt werden.
Durch Erlernung kann man den Geschmak zwar
nicht erzeugen, aber doch ein natürliches Talent
excoliren. Welches ist nun die Art der Erler-
nung, wie man zum richtigen und gesunden Ge-
schmak kommen kann? Nach Regeln geschiehts
nicht, denn der Geschmak unterwirft sich keiner
Regel, sondern nur den Anschauungen der
Beispiele in der Sache selbst und dem unmit-
telbaren Anschauen, welches in mir die Sache
selbst hervorbringt.

/

/ ≥ Vom
Wohlgefallen und Mißfallen in Ansehung der
Gegenstände in so fern sie gut oder böse sind. ≤

/Was der Erscheinung gefällt ist schon, was
im Begrif gefällt ist gut. Die Gründe des Wohl-
gefallens des Schönen sind subiectiu, des Guten
aber obiectiu. Wenn dem einem etwas schön
vorkömmt, dem andern aber nicht z B. der eine
reitet, der andre fährt gern, so beziehen sie
sich nur auf das, wie sie afficirt werden. Hier
urtheilt man nicht vom Obiekt. Das Urtheil

/ ob

/Seite 227

/ob etwas gut oder böse sey, geht nicht auf die Art wie die
Sache, wie sie von mir empfunden wird, sondern wie die
Sache an sich selbst ist. Gefällt mir etwas in der Erschei-
nung oder sinnlichen Anschauung, so ist der Grund
des Wohlgefallens zum Theil obiectiu aber nur nach
Regeln der Sinnlichkeit. Wenn iemand sagt, das
schmerzt sehr, so beschreibt er nicht das Obiekt son-
dern die Veränderung die er dabei hat, wenn er
aber sagt, das Gemählde ist schön, so redet er von
der Farbe und der Beschaffenheit der Sache. Die
Sachen erscheinen zwar nicht alle auf einerlei Art, es
giebt aber doch Gesetze die von allen gelten. Alle
Beurtheilungen des Gegenstandes in Ansehung
des Wohlgefallens und Mißfallens der Sinnlich-
keit sind auch obiectiu und haben auch allgemei-
ne gültige Gesetze. Das Urtheil ist nicht für
mich allein, sondern es gilt auch für andre.
Hierunter wird der wahre Geschmak ver-
standen. Reiten und Rührung gehören fürs
Gefühl, also sind sie subiectiu. Wenn ein Gedicht
sehr reizend ist, so ist das Urtheil eines Einzi-
gen vom Reiz nicht nothwendig allgemein gültig
und stimmt man mit andern in der Empfin-
dung überein z. B. Zucker. Es kommt dabei immer
auf Beschaffenheit des Subiekts an, denn
ie nachdem die Nerwen beschaffen sind, kann
etwas einen mehr als den andern rühren.
Stumpfe Nerwen können nicht so leicht durch etwas
gerührt werden, was hingegen andern reizbar
ist, scheint ihnen zuwider. Das Süsse ist doch fast

/ all- 

/Seite 228

/allgemein angenehm, allein es beruht auf unbekante
Gründe. Es giebt aber gewiße allgemeine Gesetze
die ich a priori durch die Vernumft ohne Erfah-
rung erkenne. Gestalten und Spiele sind Gegenstän-
de der sinnlichen Anschauung. Die Töne sind ein
Spiel der Empfindungen. Hier kommts darauf an, wie
viel Empfindung darauf folgt. Nur die Musik ist
allein im Stande ein Vergnügen in uns durch das
Spiel der Empfindungen in uns zu erregen. Bei
der Musik kommts auf «an» das Klopfen der Luft
auf unsre Ohrdrommel an. Eine einzige Empfin-
dung hat kein Vergnügen z. B. ein Schall. Ein Ton
hat schon etwas vergnügendes, denn da ist schon
etwas auf einander folgendes, da ist schon ein
Spiel von Empfindungen, weil eine Menge Zit-
terungen sind. Die Empfindungen gefallen uns
nicht, sondern das Spiel derselben. Die Musik
besteht in einer Mannigfaltigkeit der Töne.
Die Menge der Schälle in einer gewißen Pro-
portion vergnügt

/Im Traum gefällt die Gestalt i e Qualitaet in der
Einschränkung des Traums. Größe Gefält nicht im
Traum gefält sie so gehört sie zum Erhabnen
und kommt von der Rührung her. Schön bleibt
schön, aber erhaben bleibt nicht erhaben, wenn
ich's gewohnt bin. Die Menschen können sich mit
Recht in Ansehung des Erhabnen nicht widerspre-
chen, aber in Ansehung des Schönen, nicht daß
einer Unrecht hat, denn das schöne kann
man schön nennen, ohne dadurch gerührt

/ zu

/Seite 229

/zu werden. Die Urtheile über Schönheit sind allgemein für
Menschen. Die Urtheile übers Gute sind allgemein für
vernümftige Wesen, sie mögen sein was sie seyn
wollen. Engel oder vernümftige Geschöpfe in andern
Planeten. Einiges ist in Hinsicht auf uns erhaben
und zwar so daß es uns erschüttern kann z. B.
das Wort Orian, System, wo sich so viele Millionen
Sonnen und Welten drehn. Beim Erhabnen kommts
nicht auf Proportion an. Es kommt nicht aufs Ge-
fallen sondern auf die Größe des Affects. Was
wohl gefallen kann, ohne daß es allgemeinen Re-
geln untergeordnet ist, das muß nicht nach all-
gemeinen Gesetzen gefallen. Alles Urtheil des
Erhabnen gehört also zum subiectiuen. Ein Englän-
der sagt "lange Linien, weiter Umfang z. B. der
Ocean ist erhaben, eine Höhe noch mehr, ein Fels
eine große Tiefe ist am erhabensten. Bei
Felsen kömmts nicht auf Verhältnis an, son-
dern auf den lezten Effekt, den ich dabei habe. Der
Ocean ist zulezt für einen Seefahrer nicht er-
haben. Das Schöne wird man zwar gewohnt, a-
ber es ist uns niemalen gleichgültig. Wir sagen
aber noch immer die Sache ist schön, ob wir nichts
daraus machen. Wo mehr Ordnung, Ebenmaß mit
Mannigfaltigkeit verbunden, wo mehr Abstechung
der Vorstellung ist, da wird das Spiel der Sinn-
lichkeit erleichtert, obgleich hier allgemeine Re-
geln sind, so sind wir doch nicht alle scharfsinnig
genug sie auszuklauben.

/Gefällt mir etwas, einem andern nicht, so halt ichs
für keine Eigenschaft des Obiekts sondern mei- 

/ nes

/Seite 230

/nes Subiekts. Man würde gewiß keine Veränderung
des Obiekts für wahr halten, wenn andre nicht mit
mir übereinstimmten. Klingt mir etwas in den
Ohren, der andre sagt es wird gelautet, so halt
ich meine Empfindung für wahr.

/ ≥ Bemerkungen über den
Geschmak. ≤

/

/Diejenigen Leute, denen es an einer Art von
Geschmak fehlt, denen fehlt gemeiniglich Ge-
schmak in aller Art. Unter Geschmak versteht
man hier die Fähigkeit zu wählen was ieder-
man nothwendig gefällt. Am Umgang, an Klei-
dung kann man den Geschmak leicht erkennen.
Wer die Musik nicht liebt, dem fehlts an Harmo-
nie, Glanz und Leichtigkeit der Schreibart
ist fühllos gegen die meisten Reize der Na-
tur. Aus der bloßen Schreibart kann man se-
hen, wie der Autor geht, wie er in der Ge-
sellschaft ist u. s. w.

/Aus der Wahl der Gesellschaft kann man erken-
nen ob iemand geschmakvoll ist. Im Geschmak
offenbaren sich die Züge des Menschen sehr
deutlich. Ob iemand Heuchler, falsch, aufrichtig
gesellig oder ungesellig seyn, kann man schon
aus einem Briefe«r» ersehen Gefällt einem
etwas nicht, so sagt man, er versteht es nicht
freilich um zu urtheilen ob die Sache schön sey
oder nicht, muß man wißen was die Sache sey
oder nicht. Der Geschmak am künstlichen, so wie
am wahren ist gar kein Geschmak. Geschmak

/ ist

/Seite 231

/ist sparsam und unhold der Pracht. Aber das Spiel in
Gesellschaft ist dem Geschmak angenehm, eigentlich
wohl nicht, es kann aber als Episode dienen, die Ge-
sellschaft beßer zu machen. Spiel ist eine Art von
Krieg, bringt allerhand Leidenschaften hervor und
ist eine Motion des Gemüths. Höflichkeit und stren-
ger Eigennuz, wie wohl nicht eigentlich nach Geld,
sind hier mit einander verbunden. Eine Gesell-
schaft ist nicht Komplett, wenn Frauenzimmer feh-
len, diese müßen als Richterinnen in Erscheinung
des Schönen angesehen werden. Die Schule des
Geschmaks für den Menschen ist der Umgang mit
Frauenzimmer. Ein Frauenzimmer puzt sich nicht für
den Man, sondern nur für ihres gleichen. Unter
allen Völkern unterscheiden sich als Muster des
Geschmaks die Franzosen schon seit Caesars Zeiten.
Aus dem alten Griechenland scheint man noch mehr
als Geschmak haben zu können. In Frankreich
hat die Prinzeßin und die Tochter des Hand-
werkers einerlei Conduite, in Frankreich ist
man gegen Fremde höflich, giebt ihnen aber
nichts. In Deutschland herrscht Gastfreiheit im
wahren Sinn, sie sind aber Nachahmer. Der
Geist der Disposition, die Methode, Ordnung Ge-
nauigkeit haben sie vor allen andern Völkern
voraus, aber sie erschöpfen sich daran und laßen
es ohne Schönheit. Es ist nicht nothwendig, daß
der Geschmak mit der größten Reinlichkeit ver-
bunden sey. Italien hat den Ruhm des wahren
hohen Geschmaks, die Reinlichkeit wird da, wie in
einigen Gegenden Frankreichs aufs höchste ge- 

/ trie

/Seite 232

/trieben. Holland hat keinen Geschmak ist aber am rein-
lichsten.

/Die Engländer zeigen viel Sentiment, dies drükt
eine Schönheit aus, die ganz von der Vernumft her-
kommt. Sentiment kann eine vernümftige Urtheilskraft
anzeigen, in der Wahl deßen, was allgemein nach der
Vernumft gefällt. In eines Menschen Reden, in einer
Predigt kann wenig Sentiment, Geschmak aber Reiz
seyn. Sentiment ist gleichsam das Augenmaß
über das, was nach der Vernumft gefällt. Senti-
ment hat mehr Reiz als Verstand allein. Denn
die Sentiments sind Urtheile die aber intellectuell
scheinen, und so gefällt werden, wie die Ur-
theile durchs Gefül. z. B. Wenn ich einem dürf-
tigen Geld borge, und mir vornehme es nie wie-
der abzufordern, und wenn iener gleich zu
Vermögen kömmt doch mein Wort halte, als wenn
ich es ihm laut gegeben hätte. Man ist oft gleich-
gültig gegen das, was man für guth erkennt
selbst gegen Personen die sie für gut halten
und zwar darum weil kein Gefühl die Ur-
theile der reinen Vernumft über das was
gut und böse ist, begleitet. Wie das zugeht,
daß die Billigung des Guten und die Mißbilli-
gung des Bösen mit Gefühl begleitet ist, mag
daher kommen, daß wir uns in die Person des
guten Menschen setzen und dann die Billigung
des Guten auf uns appliciren. Alles Vergnü-
gen am Menschen ist körperlich, sagt Epicur. Ein
Mensch vom moralischen Gefühl hat Sentiment. Die
Engländer haben keinen Geschmak, sondern ein A-
nalogon des Geschmaks und Sentiments. Sie ge- 

/ hen

/Seite 233

/hen immer auf die Bonitaet auf die Vollkommenheit
und das zwekmäßige der sinnlichen Gegenstände.
Ihre astronomische Instrumenten und Arbeiten
haben die gröste Richtigkeit. So viel Gustus haben
sie nicht wie wir, ob wir gleich alle unsre Sachen
verpfuschen. In Italien findet man den soge-
nannten ädlen Geschmak, der auf Empfindung geht.
In der Mahlerei und Bildhauerkunst haben sie un-
nachahmlich die Empfindung ausgedrükt, auch in der
Musik. Im französischen Geschmak herrscht
nicht so viel Empfindung z B. ihre Musik, so
ist ihr Umgang. England hat die besten Gär-
ten. Die Engländer haben viel Empfindung.

/Die Perser sind die Franzosen von Asien. Die
Türken haben keinen Geschmak, keine Empfindung
ihre Musik ist traurig. Die Frauen tanzen
nur bei ihnen, sie lieben Gaukelspiele und sind
des feinern Geschmaks unfähig. Die Perser sind
gute Dichter besonders in Fabeln, sie sind witzig
scherzhaft, satyrisch und gegen die Religion so
leichtsinnig als die Franzosen. Ihre Verse sollen
sehr gut klingen, wenn man sie auch nicht ver-
steht, sie sind so gravitaetisch wie die Türken.
Bei den andern asiatischen Völkern ist kein Ge-
schmak. Doch hat China einen Priwatgeschmak, der
immer alsdenn gefällt, wenn man sich eine Weile
da aufgehalten hat. Die Meister des alten un-
wandelbaren Geschmaks sind die Griechen, von
denen wir alles ableiten müßen. Die Indier
von Indostan scheinen die ersten gewesen zu
seyn, durch welche Kunst und Wißenschaft aus
der rohen Natur hervorgezogen wurde die
Griechen brachten alles, was zum Geschmak

/ ge- 

/Seite 234

/gehört zur Vollkommenheit. Die Musik haben sie zuerst
theoretisch vorgetragen, aber die Römer ihre
Schüler, sind ihnen nie darin gleichgekommen. Die
Bildhauerkunst, welche die Griechen aus Egypten
so unvollkommen bekamen, brachten sie aufs höchste.
Die Idee trafen sie wirklich vortreflich, so daß
wenn ein Gesicht einer Bildsäule geändert wurde
es entweder zu fett oder zu mager sey. Die
Gelegenheit zur Kultur dieser Kunst gab ihnen
ihre mytologische Religion. Ueberhaupt giebt
eine bildreiche Relig@ion@ wie Urtheile zu Künste
und deren Beförderung Anlaß. Sie hatten vie-
le Götter, mithin auch viele Urbilder, einen Iupi-
ter, einen Bacchus, eine Bellona, Minerva,
Iuno und Venus u. s. w. Wi«r»e verschieden sind
nicht deren Charaktere, die idealisch ausgedrukt
und vorgestellt werden mußten. Von einem
recht guten Bildhauer und Mahler muß man
sich in Wahrheit eine gute Idee machen.

/Man sagt zwar, die Barbaren hätten den Ge-
schmak verwüstet, er war es aber schon vor-
her. Der orientalische Geschmak ist ganz anders
man muß ihn auch nicht im Schreiben nachahmen.
Die vielen Bilder in einer Sprache zeigen ihre
Unwißenheit an. Ie länger eine Nation in
einem Zustande ist, ie bildreicher ist sie, denn
sie le«h»rnen nicht abstrahiren. Die Wilden reden
in lauter Bilder. Ein Bild das einen Begrif be-
gleitet und anschauen macht und mit der Idee
übereinstimmt giebt der Sache einen Nachdruk
und ist die Sinnlichkeit in Ansehung der Ver-
numft. Richtige Vergleichungen sind vortreflich.

/ Wie

/Seite 235

/Wie gefallen die Fabeln nicht, wenn gute Reflektionen
dabei sind, aber in der Stelle der Vernumft die
Sinnlichkeit zu setzen ist schädlich.

/

/ ≥ Von der vernümftigen
Urtheilskraft. ≤

/Der Verstand urtheilt was gut und böse ist. Die
Beurtheilung durch den Verstand ist allgemein gül-
tig. Wenn ich sage, ettwas ist gut, so müßen
entweder alle einstimmen, oder ich urtheile falsch.
Denn hier sagt ein ieder, wie die Sache ist. Vom
guten und Bösen wird man Principia der Be-
urtheilung a priori geben können. Vollkommen oder
gut ist etwas, entweder beziehungsweise auf
gewiße Zwecke d. i. «un» mittelbar, oder es ist
an sich selbst d. h. unmittelbar gut und voll-
kommen. Ein solches Ding hat einen innern Werth.
Das erstere heist nüzlich. Die Tugend ist zu al-
len Dingen nüzlich. Die Ehrlichkeit wird dem
Menschen zulezt viel Vorteil bringen, wenn sie
ihm gleich vorher geschadet hat. Im ganzen ge-
nommen ist die Tugend nüzlicher als das Laster,
sie hat einen innern Werth und ist an sich
achtungswürdig. Die Dinge außer dem Menschen
sind nur mittelbar gut. Das Gute das wir
beurtheilen sollen kann gut seyn, entweder
nach logischen d h. wahr, oder nach praktischen
Regeln d. i. brauchbar. Es dient zur Vollkom-
menheit. Dieweil unsre Vernumft würksam
ist, wir uns auch nicht der Wirkung bewust
sind, so geschiehts, daß wir bisweilen durch
die Vernumft urtheilen, wo wir durch Sinnlich- 

/ keit

/Seite 236

/keit geurtheilt zu haben glauben, das nennt man Sen-
timents. Geht ein Poet blos auf das Spiel der
Reizung, so fehlt ihm Sentiment. Von Dichtern for-
dert man ein«en» Urtheil, das neben der Sinnlichkeit
steht. Sentiment ist dasienige, was einen guten
Gout und eine Abstechung des Schönen hat. Die
Fra«uenzimmer»<nzosen> haben auch Sentiment aber nicht so
viel als die Engländer. Sentiment gehört aber
nicht zur Vollkommenheit des Geschmaks.

/

/ ≥ Vom BegehrungsVermögen ≤

/Wir befinden uns oft in einem Zustande, in dem
wir gar nichts begehren, und wo wir gegen al-
les gleichgültig sind. Es giebt Charaktere, die so
geartet sind, daß sie den ganzen Tag vor dem
Fenster stehn und so ihr Leben zu bringen, ohne
sich des Lebens bewust zu seyn. Es giebt wieder
andre, die vorzüglich den Reichen eigen sind, die
v«a»oller Sehnsucht, Unruhe und Verdruß sind, ohne
zu wißen was sie begehren, sie sind beständig
in Grillen. Den Zustand der üblen Laune nennt
man beim Frauenzimmer Vapeurs. Einige sind schon
so, daß sie sich an Einförmigkeit, andre an Wech-
sel, andre an dem Genuß gewöhnen. Es ist immer
eine Krankheit, wenn man sich wornach sehnt und
uns nicht einfällt, was uns wohl gefällt. Die despe-
ratestesten Selbstmorde sind Verirrungen dieses
übellaunichten sehnsuchtsvollen Zustandes gewesen,
da Menschen sich das Leben genommen, weil ihre
Fähigkeit zu genießen, ohnerachtet alles Vergnü-
gens sich einen Genuß zu verschaffen, stumpf
geworden. Eine solche Krankheit ist durch nichts
als durch Geschäfte zu heben, die man mit Zwang

/ thut.

/Seite 237

/thut. Das Lesen füllt bei weitem den Raum nicht
aus, wenn man keine Absicht dabei hat. Wer sich
selbst Arbeit auflegt, der arbeit nichts, so wie
die Flagelanten, die sich selbst kasteien aber nicht
zu hitzig auf sich lospeitschen, sondern zeitig auf-
hören, wenn sie fühlen. Es ist nur eine occupatio
in otio aber keine eigentliche Arbeit. Wir müßen
im Zwange stehn, keine andre Bemühung kann uns
zufrieden stellen, als eine beschwerliche. Kaufleu-
ten ist kein Tag angenehmer als der Posttag.
Wer den Vormittag gut angewandt hat, wird
den Nachmittag sich vergnügt fühlen. Der Mensch
mag studieren wie er will, er kann nicht ver-
gnügt seyn, wenn er nicht zwangsmäßige Ar-
beit hat. Das Begehren ist zwiefach:

/1) Das mäßige Begehren oder Wünschen, wobei wir
sehen, daß wir nicht Kraft dazu haben, was
wir begehren.

/2) Das thätigere Begehren. Diese leztere wol-
len da erstere nur wünschen. Das Romanenle-
sen flößt nur die Sehnsucht ein, und disponirt
uns auch zu dergleichen Grillen.

/Der Unterschied zwischen thätigen und mäßigen
Begierden ist sehr wichtig. Es ist fürs erste
bemerkbar, daß man oft eine große Meinung
vor sich hat, wenn man nur bloße Wünsche nach
etwas gutes nährt. Man hält gute Wünsche
für guten thätigen Willen, da doch gute Wün-
sche nur ein Verlangen nach guten Willen sind.
Das Wollen bringt sehr viele leere Wün-
sche hervor. In der Welt geht nichts nach un-
serm Willen, man ist über nichts so sehr
aufgebracht, als über einen Menschen, dem

/ wir

/Seite 238

/wir nicht schaden können. Wir müssen nichts begeh-
ren, als was in unserm Vermögen steht. Be-
gierden sind die ersten Regungen nach denen wir
uns vorstellen.

/Einen Menschen nennt man zufrieden, der nichts be-
gehrt. Aber ohngeachtet ich einen Gegenstand
begehre, wenn ich ihn nur für entbehrlich halte,
so kann ich bei einem solchen Begehren doch zu-
frieden seyn. Begierden sind entweder sinnlich
die entweder aus dem an- oder unangeneh-
men entspringen, deren Grund in unsrer Sinn-
lichen Receptivitaet liegt, oder intellectual
die aus der Vorstellung vom guten und Bösen
entspringen. Die Begierden sind unwillkür-
lich und heißen Triebe. Hang ist keine wirk-
liche Begierde, sondern ein Grund, warum
beim Menschen eine Begierde entsteht. Eine Be-
gierde nach einem Gegenstande den wir kennen
heist Neigung. Begierde nach einem uns un-
bekannten Gegenstande heist Instinkt. So
haben alle Wilde einen Hang zur Traurigkeit
und das weibliche Geschlecht einen Hang zu herr-
schen, obgleich keine Neigung da ist. Man
darf sie aber nur in solche Umstände versez-
zen so wird der Hang zur Neigung. Hang
rechnet man zum Temperament.

/Den natürlichen Hang zurükzuhalten und wovon
abzubringen geht an. Instinkt ist der Grund
der Begierden, die der Kentniß des Gegen-
standes vorausgeht. Neigung ist ein dauerhafter
Antrieb oder Grund zu Begierden. Daß
Menschen Instinkte haben, daran sind sie nicht

/ Schuld.

/Seite 239

/schuld. Aber die Neigung betreffend haben sie sich zu
beklagen. Alle Neigungen setzen uns in Sklaverei.
Um ihnen zu widerstehn, haben wir alle Hände
voll zu thun. Triebe werden nicht zur Neigung
als <nur> durch unsre Nachsicht und Mangel des Widerstan-
des. Selbst zum Guten muß man nicht Neigungen he-
gen, man muß dem Urtheil der Verstand folgen
und nicht den Neigungen. Einige Menschen sind
sehr behend aus Trieben Neigungen zu machen, aber
diese haben auch eben so bald wieder Abneigung.
Laßt uns doch nicht mit Neigungen an Sachen kle-
ben. Sie schaden immer, sie mögen auf Gutes o-
der Böses gerichtet seyn.

/Der Mensch heist unempfindlich, auf den Gegen-
stände keinen Eindruk machen. Wir können die
Begierden eintheilen

/1) Hang

/2. Triebe

/3. Neigungen

/4) Affekten und

/5. Leidenschaften.

/Der Hang ist die Receptivitaet zur Neigung. Es
fehlt ihm blos Gelegenheit. Iedes Geschlecht hat
einen natürlichen Hang zum andern, auch sogar
Kinder, doch haben die noch keine Neigung. Man
sagt, die Menschen haben eine Neigung zu allem
Bösen, lieber solte man sagen sie haben einen
Hang, denn wenn demselben vorgebeugt wür-
de, so könnten die Neigungen oft abgehalten
werden. Dies will so viel sagen, es kömmt blos da-
rauf an, in welcher Lage wir den Menschen setzen,

/ und

/Seite 240

/und was für Gelegenheiten wir ihm geben, seine Nei-
gung zu entwicklen. So können eben so gut die
grösten Tugenden gestürzt als die grösten Laster
in ihnen erweckt werden. Man nehme den Men-
schen das Glük der Erziehung, so wird ihm eben so
gut was Gutes als Böses beizumeßen seyn. Mit
recht bedauert man einen Mißethäter der zum
Galgen gefürt wird. Vieleicht würde er eben die
Begriffe von Ehre und Grosmuth haben, als ein
anderer, wenn er eben solche Gelegenheit gehabt
seine Neigungen dahin einzulenken: Der Mensch
hat einen Hang zum Bösen. Der erste Hang
ist thierisch.

/Die Wilden und Grönlander haben einen Hang
zum Tabakrauchen und Besaufen. Der Grund des
Ursprungs einer sinnlichen Begierde heist Trieb
Stimulus. Hier empfinde ich schon was, begehre
aber noch nichts. Die Gründe von den Begier-
den sind subiectiu. Der Mensch simpatisirt
mit andern sein Leben, fält einer, so fühlts
der andre auch, hebt einer was schweres, so
fühlt der andre mit. Die Triebe sind an sich
blind, sie sind keine Disposition zum Denken, sie
müßen unter der Regierung der Vernumft ste-
hen. Die Aeltern haben Triebe zu ihren Kin-
dern aber nicht die Kinder zu ihren Aeltern.
Die Hochachtung die Kinder zu ihren Aeltern ha-
ben lehrt sie nur die Reception. Man siehts
am Vieh, wie es für seine Iungen sorgt. Die
Natur hat uns keinen Trieb der Zärtlichkeit
für unsre Aeltern gegeben, denn sie hat die
Erhaltung der menschlichen Geschlechtsart zu ih- 

/ rem

/Seite 241

/rem höchsten Zwek. Die Großältern haben ihre
großkinder darum so lieb, denn sie sind, sagt man,
Feinde ihrer Freunde. Neigung ist ein Habitus der
Begierde. Eine Begierde zu etwas ist ein Be-
dürfniß d. h. deßen Mangel uns unzufrieden
macht. Die Menschen lassen sich regieren und
wählen nach vernümftigen Bewegungsgründen,
nicht durch Neigungen getrieben. Die Neigungen
sind die Receptivitaeten des Schmerzes. Eine
Frau verlangt von ihrem Mann, daß er sie mit
Affekten liebt. Sie verlangt eine blinde Neigung
denn wer nach Vernumftgründen urtheilt, be-
merkt bald die Fehler und Unvollkommenheiten.
Der Scharfsichtige ist nicht so gut zu regieren,
als der durch Neigung blind ist. Die Neigung
geht nicht aufs Gute, aber wohl aufs Böse. Das
Gute erkenne ich durch den Verstand. Es ist sehr
v«era»<u>nderlich wenn Moralisten auch eine Nei-
gung zum Guten annehmen. Beim guten muß
man gute vernümftige Grundsätze voraussetzen.
Wir sind zwar vernümftige Wesen aber wir
ersticken sehr oft die Bewegungsgründe durch
die Neigung. Die Neigung ganz von Erkent-
niß entblößt ist blind, Appetitus brutalis. Die
Menschen haben ein Vermögen ihren Neigungen
zuwider zu handlen, über ihre Neigungen zu
urtheilen und zu reflectiren, auch sich beßere
Neigungen zu wünschen. Die Neigungen sind nicht
des menschlichen Begehrungsvermögens, wohl
aber des thierischen.

/Die Charaktere der Menschen sind verschie-
den, einige folgen den Bewegungsgründen der

/ Ver- 

/Seite 242

/Vernumft, andre den Neigungen. Neigungen er-
wachsen aus den Trieben, sie entdekecken den Hang
der Kinder. Das Kind muß gar keine Neigun-
gen haben, alle Neigungen haben das schädliche, daß
sie die Freiheit einschränken, die Vernumft Be-
griffe und die Gründe des Verstandes schwä-
chen. Fallen die Neigungen auf das, was ich
durch den Verstand gut heiße, so ist es zwar
gut aber ich verliere doch die Zügel, die ich in
der Hand hatte. Sachen machen den Menschen nicht
unzufrieden, sondern Neigungen. Ein Kind muß
keine Neigung zum Eßen haben, das erhält man
in ihnen dadurch, daß man ihnen bald das beste
bald das schlechste vorsezt. - 

/Eine Begierde die so groß ist, daß sie uns
unvermögend macht, den Gegenstand unsrer Begier-
den mit der Summe aller Vergnügungen zu
vergleichen heist ein Affekt. - Unser Wohlbe-
finden ist aus vielen Gefühlen zusammenge-
sezt, die alle befriedigt werden müßen.
Es giebt eine Liebe, wobei man nicht ver-
liebt seyn darf. Schon in dem Begrif eines
Verliebten liegt die Thorheit deßelben. Es
giebt eine Rachbegierde die kein Affekt ist, wo
man dabei Ueberlegungen anstellt, ob man
nicht selbst in Gefahr kommen könne. Der Af-
fekt widerstreitet der Klugheit, Neigung
aber der Weisheit und Sittlichkeit. Denn da
man zu allen sittlichen Handlungen nur
durch Sittlichkeit angespornt wird, so sind wir
immer mehr gebunden, ie sinnlicher wir sind.
Deswegen verordneten auch die Griechen, daß

/ ihre

/Seite 243

/ihre Areopagiten oder Richter im Finstern urthei-
len solten, da einmal eine schöne verurtheilte
Wittwe durch Abnehmung ihres Schleiers Recht er-
hielt. Neigungen sind Schreihälse. Ueberhaupt
ist es unklug, Bedürfniße sich notwendig zu
machen und zu übernehmen, ehe man noch auf
Mittel gedacht dieselbigen zu befriedigen. Da
die Klugheit eine Fähigkeit ist, unsre Glüksee-
ligkeit als die Summe aller Neigungen zu befrie-
digen, so widerstreitet ihr alles, was uns blind
macht und folglich auch der Affekt. Man scheint
durch den Affekt in den Zustand der Stupidi-
taet versezt zu seyn, von solcher Art ist
auch die Liebe, die dem Menschen allein hinter-
geht.

/Die Leidenschaft ist eine Begierde, die uns
unfähig macht auf die Summe unsrer Begierden
zu sehen. Der Affekt ist aber ein Gefühl, das
uns unfähig macht die Summe aller Gefüle zu
rathe zu ziehen. Es ist nichts absurders als eine
Tafelmusik. Es giebt bei Tische Vergnügun-
gen von ganz feinerer Art.

/Ein Affekt ist eine Neigung, die so wächst, daß
sie alle andre Neigungen vertilget, folglich die
Glükseeligkeit die in der Summe aller Neigun-
gen bestehet, vernichtet. Auch vernümftige
Leute geben sich oft den Affekten preis, so
sehr auch die Vernumft dagegen reden mag.
Man muß nicht erst die Neigungen in sich ent-
stehen lassen und darnach handlen, nein erst
durch die Vernumft Grundsätze fassen, und dann

/ hand- 

/Seite 244

/handlen. Durch die öftere Wiederholung der Ver-
numftideen werden sie uns so geläufig, daß sie
uns selbst im dunkeln anwandlen und denn nennen
wir die Kette dunkler hurtig folgender Ideen,
Empfindungen. Man glaubt nicht ehr, daß der an-
dre etwas im «Affe» Ernste meine, als bis wir
ihn im Affekt sehen.

/Durch die Heirath gewinnt die Frau Freiheit
der Mann hingegen verliert sehr viel von seiner
Freiheit. Die fromme heilige Hitze ist die dolste
unter allen. Die Natur hat uns Keime zu
Leidenschaften gegeben, um den großen Zwek
des Menschen dadurch zu befördern. Zorn ist
eine Vertheidigungsneigung. Neigungen werden
dadurch zu Affekten, «auf» daß das Gemüth auf
eine mehr als auf alle andre aufmerksam ist.
Man entschuldige auch die Affekten nicht dadurch,
daß man der Natur schuld giebt, die in uns
die Keime gelegt hat. Die Natur konnte ihre
Hauptzwecke die Erhaltung des Lebens und
die Fortpflanzung der Art nicht der Vernumft
diesem unzuverläßigen Führer der Men-
schen anvertrauen. Die Natur hatte die Ab-
sicht gleich in der zarten Kindheit, die Menschen
zu ihren Zwecken zu führen. Dies konnte
durch die erst angehende Vernumft nicht ge-
schehen, sondern durch Keime der Affekten.
Wird aber die Neigung reif, so muß der
Mensch den Affekten kein Gehör geben, als
nur in so fern, daß er sich von ihm an die
Zwecke des Lebens erinnern läßt. Die India- 

/ ner

/Seite 245

/ner haben alle die Affekten, die die Europäer
haben, aber sie laßen keinen zum Ausbruch
kommen, wegen ihrer Freihet. Geiz ist der Haupt-
Affekt.

/Wir können die Neigungen eintheilen

/1) nach der allgemeinen Bedingung aller Neigungen, dies ist
die Form

/2) nach dem Obiekte aller Neigungen.

/Die allgemeine Bedingung aller Neigungen ist Frei-
heit und Vermögen. Ich kann nicht hoffen, daß mein Zu-
stand, der Neigung gemäß, möglich sey, wenn
ich nicht frei bin. Die Neigung nach Freiheit ist
die allerstärkste, weil sie die Bedingung aller
Neigung ist. Das ist der schreklichste Zustand des
Menschen, wenn ein anderer immer seinen Zustand
bestimmt und für sein Glük nach seiner eignen
Neigung sorget. Zum Vergnügen gehört

/1.) Ansehen unter den Menschen

/2) Gesundheit, Geschiklichkeit oder Talente

/3. Geld, dies ist ein Mittel alles, was Menschen
möglich ist, sich zu verschaffen.

/Menschen haben große Lust immer über andre zu
siegen, es sey wie es wolle. Tapferkeit ist bei
allen rohen Nationen die gröste Tugend. Dräustig-
keit ist ein ädles Vermögen, wenn sie aus ei-
nem Selbstbewustseyn entspringet. Kein Mensch
kann dräuster werden, als er es von Natur
ist, und ieder der es ist, mißbraucht diese Eigen-
schaft oft. Die Blödigkeit macht schwach, und
die dummdreisten sind die zaghaftesten. Eine
trotzige dräustige Miene ist sehr zuwider. Die
Blöden sind, wenn die Gefahr da ist, die unter-
nehmensten. Menschen schätzen oft das Vermö-
gen sich glüklich zu machen, nicht seine Neigung
zu Vergnügen höher, als die Befriedigung der

/ Nei- 

/Seite 246

/Neigung selbst. Geschiklichkeiten werden oft höher
geschäzt als die Zwecke derselben, am klärsten
fält das beim Geld in die Augen. Wie kommts
daß die Geitzigen ein unmittelbares Vergnü-
gen am Gelde empfinden und Verzicht auf alle
andre Zwecke des Lebens thun? - Vieleicht aus
Gewonheit, indem er bei der Menge seines Gel-
des alles genüßen zu konnen glaubt, aber wirk-
lich nichts genüßt, sondern auf allen Genuß
renoncirt, und in der Beschauung seiner
«¿»Schätze Vergnügen und Wonne findet. Er befreut
sich blos mit seinem idealischen Genuß seines
Vergnügens, und es ist vor ihm schon Befriedi-
gung genug, alles was nur menschlichen Ver-
gnügungen änlich ist, zu genüßen, wenn er
will. Man kann hier nachrechnen die Neigung
zur Gemächlichkeit.

/Die gröste Ungemächlichkeit auf der Welt
ist der Zwang, und Befehlshaberei eines Men-
schen besonders wenn er den Naturgaben nach
noch unter uns steht, wir ihn zwar verach-
ten aber doch gehorchen müßen. Alle Wil-
den finden in der Unabhängigkeit die Ersez-
zung alles ihres Ungemachs. Gemächlichkeit
begleitet fast alle Begierden. Einige Per-
sonen scheinen immer darnach zu streben.
Alle Werke der Kunst, die Schwierigkeit und
Peinlichkeit zeigen, mißfallen.

/ ≥ Gegenstände unsrer Affekten
und Leidenschaften. ≤

/

/Der Autor theilt sie nach der An- und Unannehm-
lichkeit ein. Unangenehme Affekten kanns wol ge- 

/ ben

/Seite 247

/ben aber Leidenschaften nicht, weil iene Gefühle, dies
aber Begierden sind. Iene angenehme Affekten
nennen wir Freude, eine unangenehme Traurig-
keit. Es muß aber die Annehmlichkeit bis zum Grade
des Affekts steigen, um Freude zu heißen. Die
Fähigkeit da man alle Dinge von der Seite an-
sieht, daß wir daraus Ruhe und Freude schöp-
fen, diese glükliche Laune das Princip des
Epicurs ist das gröste Geschenk auf der
Welt. Kein Schmerz muß in unser Gemüth
dringen als der Schmerz übertretener
@Pfli@chten. Auch Freude soll man nicht bis zum Ge-
müth kommen lassen.

/Der Qualitaet <nach> sind alle Affekten entweder
Freude oder Betrübniß.

/Was den Grad betrift so gehört zum Affekt
daß eine Neigung so hoch steigt, daß sie von
allen andern verdunkelt und vertilgt wird. Man
verachtet alle Menschen die im Affekt sind, den
ädlen Zorn ausgenommen. Wenn iemand über
einen, der unschuldige unterdrükt zornig wird,
dem verdenkts man nicht. Im Affekt ist der Mensch
nicht mehr sein eigner Herr, die obere Will-
kühr disponirt nicht mehr. Ausgelaßene Freude
ist kindisch. Wenn man sich über ein allgemeines
Glük freut das vielen wiederfährt, so ist der
Affekt der Freude noch zu entschuldigen. Alle
Thiere sind der «un»angenehmen Empfindungen
fähig, nur nicht der Freude darüber, der unan-
genehmen Empfindungen aber nicht der Trau-
rigkeit darüber. Vom Affekt ist noch die so ge-
nannte S¿¿cht unterschieden, welche in einer con

/ ti

/Seite 248

/tinuirlichen auf einander von Gegenständen han-
gende Begierde besteht, ohne daß sie ungestüm
wird. So wie ein Ersüchtiger selbst vom Narren
will gelobt werden. Bei den Affekten spürt
man eine große Reizbarkeit welche in dem
baldigen Ursprung einer Begierde besteht und
vor der Empfindsamkeit die blos zum Ur-
theilen dient, weit unterschieden ist. Iemand
kann ein zart Gefühl oder Delicatesse der
Ehre haben d. h. durch den geringsten Umstand
beleidigt werden. Die zarte Empfindung ist
erlaubt, aber das Gefühl muß nicht zart
seyn, oder die Empfindsamkeit muß nicht in
eine Begierde erweckt werden. Ein Mann
muß nicht weibisch seyn

/Die Frauenzimmer halten viel auf ihre Vergnü-
gen und sind in Ansehung des Ranges und
der Ehre sehr delicat. Man kann allgemein
annehmen, daß man auf einen Punkt, über den
noch gestritten wird sehr hällt, und auf einen
Vorzug desto verpichter sey, ie zweideutiger
er ist. Die Frauenzimmer haben keinen ei-
gentlichen Vorzug, weder durch Gelehrsamkeit
noch durch StaatsMaxime, keine rechte Ver-
dienste haben sie, vor denen man Hochachtung
haben solte, und daher sind sie so eifer-
süchtig auf ihre Ehre. Die Höflichkeit beruht
auf Ueberraschung und nicht auf den Grad
des Affekts. Feige Leute haben starke Leiden-
schaften ohne Heftigkeit und Ungestüm, sie
laßen sie nicht ausbrechen, weil sie ihr Unver- 

/ mö- 

/Seite 249

/mögen ihnen zu satisfaciren kennen. Zorn und Haß
haben das gemein, daß sie beide auf den Unwil-
len gegen iemand ihre Beziehung haben. Ihr Un-
terschied besteht wieder darin, daß der Zorn
überraschend, der Haß aber dauerhaft ist. Alle
Neigungen gehen entweder auf Menschen oder Sa-
chen, die leztern sind blos Mittel unsre Verhält-
niße gegen die erstern zu erhöhn, weil die
Sachen an und vor sich keine Wichtigkeit haben
oder zu haben scheinen, sondern dieselben nur
Menschen und dem Zustand derselben widmen.

/Wir bemerken daß der Zustand des Menschen
iederzeit ein Grund der Simpathie für uns
in Ansehung der Empfindung ist. Die Simpathie
ist eine Regemachung einer Menge von Empfin-
dungen, die den Affekt hervorbringen. Die
Menschen haben einen Hang zur Gemeinheit.
Ieder will immer, daß dem andern das auch
gefalle was andern gefält. Es giebt ferner un-
ter den Menschen eine gewaltige Rechtsliebe
so wohl in Ansehung der Sachen als der Per-
sonen, im leztern Fall ist die Rechtsliebe am
heftigsten. Sie entsteht aus dem moralischen
Gefül, wir gerathen in Affekt nicht weil uns
ein großes Uebel sondern weil uns Unrecht
geschiehet. Entweder wird unser Recht an den
Sachen angegriffen, oder es ist eine unmittel-
bare Beleidigung unserer Person, dies lezte-
re wird vorzüglich mit der grösten Empfin-
dung aufgenommen. Zorn gehört nicht zum Haß,
sondern zur Heftigkeit der Empfindungen, die
im Uebergewicht bestehn. Wir lieben und ent- 

/ schul- 

/Seite 250

/schuldigen keinen Zorn, und das darum, weil er
ohne Ueberlegung geschieht, ob er gleich vorüber-
gehend ist. Wir nennen ein solches Naturell ein
hitziges Temperament. Wenn dieser Zorn habitu-
ell wird, so ist er ganz unerträglich, denn man
ist für ihn keinen Augenblik sicher. Bitterkeit
und Haß ist fast einerley. Bitterkeit ist
ein dauerhafter Haß. Der Zorn kann noch durch
eine unbewußte Ueberlegung des Menschen ent-
schuldigt werden. Aber der Iachzorn, das auf-
fahrende und hitzige Gemüth läßt sich durch
nichts entschuldigen. Was hilfts mir, daß ein
solche abbittet, ich bin doch keinen Augenblick für
ihn sicher. Die Ursach liegt in der Erziehung, wenn
solche Kinder in der Iugend nicht genug Wi-
derstand gefunden haben. Man kann sich die
Heftigkeit leicht angewöhnen. Der Ursprung
des Hasses kann vieleicht aus folgenden Bei-
spielen erläutert werden. Fast alle Geogra-
phen beschreiben die Croaten als stolze eigen-
sinnige und zum Zorn geneigte Leute. Ein
neuer Geograph versichert aber, daß sie
sanftmüthig und von guter Gemüthsart sind.
Gesteht aber doch, daß sie in manchen Stücken
unerträglich sind. Er schreibt dies ihrer Er-
ziehung zu und giebt folgende Ursachen an.
Sie sind nämlich von Iugend auf mit lauter Skla-
ven umgeben, die ieden Wink ihres Hern au-
genbliklich erfüllen müßen, denn der geringste
Ungehorsam kann ihnen sogleich eine gute Por-
tion Prügel zu Wege bringen. Weil sie sich

/ nun

/Seite 251

/nun an dies Verfahren gewöhnt, so muß es ihnen
freilich sehr wunderbar vorkommen, wenn sie beim
Erwachsenen Alter sehr viele Hindernisse an-
treffen. So kann es auch bei uns junge Herren
geben die durch ihr gebieterisches Wesen end-
lich zu Croaten werden.

/

/ ≥ Vom Charakter des Menschen. ≤

/Wir können die Menschen betrachten

/1) in Ansehung seines Körpers, das ist seine Com-
plexion

/2. In Ansehung der Verbindung des Körpers
mit der Seele, die ist das Temperament.

/3. In Ansehung der Gemüthskräfte und der
Anwendung deßelben d. i. sein Charakter.

/Die Betrachtung der Complexion gehört zur
Medizin. Indeßen hört man nichts öfterer als
dies sagen, der Mensch ist von einer starken, trok-
nen p Complexion.

/Beim Temperament erwägen wir blos die Ge-
müthsbeschaffenheit, im Verhältnis auf die Com-
plexion des Menschen, imgleichen die Neigungen
die aus der Complexion des Menschen entsprin-
gen.

/Die Temperamente werden in 4 wir wollen sie
aber in 2 Gattungen und iedes wiederum in 2
andre abtheilen

/1) In Ansehung des Gefühls sind sie entweder

/I) sanguinisch oder

/II) melancholisch.

/Diese haben ihre Beziehung auf die Summe der An- 
und Unannehmlichkeiten die iemand aus einem
Gegenstande zu ziehen, geneigt ist. Es beruht näm-
lich immer auf den Mann wie er die Welt an-
sehen will, mit Beifall oder Verachtung. Trau- 

/ rig- 

/Seite 252

/Traurigkeit und Freude stehen beständig unter sei-
ner Disposition. Das sanguinische Temperament
ist leichtsinnig, das melancholische hingegen bleibt
bei seinem Vorsaz hartnäkig. Es enthält Quellen
der Dauerhaftigkeit, Schwierigkeit und Verbin-
dung, alles zu übernehmen und das Uebernom-
mene aus zuführen. Dem Melancholischen ist über-
haupt der Haß, die Feindschaft und der Un-
willen gegen andren schwerer zu vertilgen. Eine
iede Achtung die sich ein Mensch erwirbt, be-
ruht stark auf einen Zusaz von Melancholie.
Einen patriotischen Eifer und große Vorsätze
erfordern Ernsthaftigkeit und bezeichnen ei-
nen Unwillen über eignes Unvermögen, sie
hervorzubringen. Ueberhaupt zeigen die, wel-
che das Amt und die Function ein Mensch zu
seyn, für wichtig halten, einen starken Zug
von Melancholie, selbst bei der Geschlechter-
Neigung ist die am stärksten die mit einer
Art von Melancholie verbunden ist. Aus dieser
Beschaffenheit entsteht die Lust oder Unlust.

/2) In Ansehung der thätigen Begierden theilt
man die Temperamente ein:

/a) Kolerische und

/b) phlegmatische.

/Das Cholerische kann man das Temperament der
Thätigkeit nennen. Von dieser Eintheilung kann
man behaupten, daß sie in der Natur der Sa-
che gegründet sey. Bei den Cholerischen erblikt
man eine völlige Gesundheit, eine Receptiuitaet
zu allen Empfindungen, welches ihnen ein immer-
wärendes Vergnügen verschaft. Er muß be-
ständig was zu thun haben, er läuft der Ar- 

/ beit

/Seite 253

/beit nach, nicht wegen des Vergnügens, sondern um
etwas zu «zu» thun zu haben. Hieraus folgt, daß er
eine Neigung zur Ehre habe, denn derienige hat
den grösten Antrieb nötig, der davon, was der
Empfindung am wenigsten nahe geht, bewegt
wird. Von der Ehre gilt das am meisten und
der Cholerikus wird dazu am geneigtesten
seyn. Die Ehre kann überdem am leichtesten
erhalten werden. Ein Ehrgeitziger kann so zu
sagen allendhalben seinen Entzwek ausstecken.
Beim Pflegmatikus entscheidet die Ungemäch-
lichkeit alles und die Anstrengung seiner Kräf-
te erwekt bei ihm den grösten Widerwillen
daß ein solches Pflegma öfters eine Ursache
habe, die im Körper stekt und die Fähigkeiten
deßelben bindet, sehen wir an manchen Thieren
die gar keine Lust haben, ihre Kräfte an-
zustrengen z. B. beim Faulthier.

/Ein Pflegmatikus genießt wenn er nichts thun
darf sich selbst. Im gelinden Sinne bedeutet Pfleg-
ma den Mangel der Reizbarkeit und dient
dem Ursprung der Sinnlichkeit von der Ueber-
legung der Vernumft zu hemmen. Da eine sehr
große Reizbarkeit immer eine Reue nach sich
zieht. Von einem großen General fordert
man Pflegma, von einem Soldaten aber cho-
lerisches Feuer. Bei einem Frauenzimmer ist
Pflegma und vorzüglich bei einem Mädchen
kein großer Lobspruch. Bei den Seeleuten
findet sich wegen der langen Seereisen ein
Pflegma, ihr Temperament mag beschaffen seyn
wie es wolle. Der enge Raum auf ihrem Schif-
fe verbietet ihnen Abwechselung und öfters

/ müßen

/Seite 254

/müßen sie auch wichtige Ueberlegungen an-
stellen. Man will bemerkt haben, daß ein See-
fahrer wenn er sich in Ruhe begiebt und sich
etwa ein Landgut kauft auf seinen Prome-
naden nie weiter spatziert, als die Länge sei-
nes Schiffes beträgt. Das Seefahren ist für
den Cholericus eine rechte Schule.

/Die Braminen sagen in ihrer Theologie, daß der
Gott Brama den Menschen die 4 Temperamente
folgender gestalt mitgetheilt haben. Dem Geist-
lichen gab er ein melancholisches Temperament
den Handwerkern ein sanguinisches den Soldaten
ein colerisches und den Kaufleuten ein pfleg-
matisches. Ueberhaupt kann man behaup-
ten, daß ie mehr der Mensch Anlaß habe
seine Leidenschaften zu unterdrücken, desto
mehr Besorgnisse entstehen, weil sie alles für
wichtig ansehen, hingegen sind dieienigen am
lustigsten, denen es leicht wird, ihre Nahrung
zu finden

/Man findet nach der obigen Einteilung bei ie-
dem Menschen «4»2 Temperamente, %folglich sind auch nur
4 Zusammensetzungen möglich.

/1) Colerico-sanguinicus

/2) Phlegmatico-Sanguinicus., welches ganz
und gar der Wollust ergeben ist, es thut
weder gutes noch Böses, beides incommodirt
sie.

/3. das colerico-melancolicus ist ebenfals der
Wollust ergeben, wird in England angetrof-
fen, und giebt zu so vielen Revolutionen
und Schwärmereien Anlaß.

/4. phlegmatico-melancolicus.

/Endlich wenn man das sanguinische mit dem

/ me- 

/Seite 255

/melancholischen vermischt, so scheint es zwar ein
Widerspruch zu seyn, allein es will nur soviel sagen
daß sie gemäßigt sind und alle Temperamente sehr
an einander grenzen können. Dieienigen die den
Unterschied der Temperamente von der Beschaf-
fenheit des Bluts herleiten, glauben, daß das melan-
cholische ein schwarzes Blut habe. Dies ist aber
irrig. Denn das physikalische des Temperaments
ist uns noch sehr unbekannt und der Unterschied
kann eher von den festen als flüßigen Teilen
hergeleitet werden, weil diese vermittelst iener
bewegt werden. Die es aber von der Neigung
herleiten wollen, haben ein unrechtes Obiekt ge-
wählt. Was den Punkt der Ehre betrift, so ver-
dient dieses nach Verschiedenheit der Länder und
Temperamente verschiedene Anmerkungen. In
Frankreich hält man es für die gröste Eh-
re am Hofe gewesen zu seyn, in England hin-
gegen macht man sich daraus nichts. Ein Fran-
zose will in Gesellschaft nichts lieber als für
einen Mann von guten Ton gehalten wer-
den. Ein iedes Temperament kann Ehre be-
sitzen. In Religions Sachen unterscheiden sie
sich aber auf folgende Art.

/Das Melancholische ist zur Schwärmerei geneigt
weil es alle Sachen von einer gefärlichen Seite
ansieht. Bei der Schwärmerei liegt immer eine
heilige Kühnheit zum Grunde, und hat mit der
Blasphemie sehr viele Aenlichkeit, daher man
mehrenteils blasphemische Wörter die, die Ehrer-
bietigkeit gegen Gott aus den Augen setzen
und eine Vertraulichkeit mit diesem Wesen an-
zeigen sollen, dabei anbetrift, ob sie gleich
aus einem verkehrten Grunde ihren Ursprung

/ nimmt

/Seite 256

/nimmt. Der Sanguinicus inclinirt zur Freigeiste-
rei, welches eine Ungeduld anzeigt sich an ge-
wiße Regeln zu binden, dies ist ganz was
anders als wenn man aus Grundsätze von
einer Religion abgeht. So ist z. B. der mo-
ralische Freigeist derienige, der sich aus
Grundsätze von den Vorschriften der Religi-
on loszumachen sucht. Der Sanguinicus hält
die Religion nur für eine Mode des Landes
und dergleichen Freigeister giebt es in Frank-
reich viele. Der Cholericus ist der Orthodox die-
ses rührt bei ihm von der Herrschaft her.
Ein Geistlicher ist ein Colericus, mischt sich gerne
in fremde Händel, und sucht Aemter wo er
welche erhaschen kann. Orthodoxie ist nichts an-
ders als eine gewiße Strenge der Obseruancen
andre und sich selbst an eine Regel zu binden.
Der Flegmatikus ist abergläubisch, ist bestän-
dig in einer pöbelhaften Unthätigkeit die
vorgetragene Dinge zu exami ren und gerne
Erzählungen anzuhören. Der Zustand der alten
Mönche in den Klöstern, die sich blos ihrer
Einbildungskraft überließen, war von der
Art.

/In der Schreibart ist der melancholische tief-
sinnig, der Sanguinicus nett artig und schön. Bei
den teuschen findet man in allen Stücken das
methodische und zwar in einem solchem Grad,
daß zulezt alles schulmäßig zu seyn scheint
das kommt wohl von ihren cholerischen Tempera-
mente her, indem der cholericus beständig
auf Ordnung hält. Ueberhaupt incliniren al-
le nordische Nationen zum Pflegma, welches

/ zu

/Seite 257

/zuweilen auch wohl was gutes hervorbringen
kann z. B. in Ansehung des äußern Anstandes
bringts eine gewiße Sittsamkeit hervor. Ver-
schiedene französische Schriftsteller behaupten
von ihren Frauenzimmern, daß es das freund-
schaftlichste Herz gegen Mannspersonen habe
selbst mit denen sie in keine vertraute Con-
versation haben. In Frankreich findet man in
Ansehung der Conduite unter dem Vornehmen
und gemeinen Mann keinen Unterschied. Von
dem englischen Pöbel kann man wieder behaup-
ten, daß sich in keinem Lande die Gelehrsam-
keit auf dem Pöbel erstrekt als hier. Eng-
lische Acteurs sollen Lustspiele, französische
aber «Lust»<Trauer>spiele gut vorstellen.

/ ≥ Vom Naturell. ≤

/Naturell sind die Gemüthskräfte oder Vermö-
gen, die iemanden zu einem oder den an-
dern Stücke geschikt machen. Daher sagt man,
ein sanftes ein gelehriges Naturell, welches
sich in der Neigung und Wißbegierde von andern
etwas zu lernen, äußert, und ein demüthi-
ges danken von sich selbst anzeigt. Ein ro-
hes Naturell ist dasienige, das immer in Wi-
derspruch ausbricht. Eigentlich gehören alle an-
geborne Fähigkeiten des Kopfes zum Natu-
rell. Von den Russen hat man überhaupt an-
gemerkt, daß sie ein sehr gelehriges Natu-
rell haben und emsige Nachahmer sind, aber
kein Genie besitzen. Dieses ist auch die Ursache
warum sie so viele Gelehrte in ihr Land ziehen
denn ein rechter Gelehrter muß notwendig
Genie haben. Der kann niemalen gut leh- 

/ ren

/Seite 258

/ren, der die Wahrheit so vorträgt, wie er sie
gelernt hat. Fähigkeiten in Ansehung des Kop-
fes heißen Talente in Ansehung des Verstandes
und Gedächtnißes. Genie hingegen ist ein eigentüm-
licher Geist. Das Wort Geist wird hier eigent-
lich in der Bedeutung genommen, in der es im Um-
fange der Materei gilt. Wir nennen die Bü-
cher in denen die Sachen zwar gründlich vor«t»ge-
tragen werden aber alltäglich sind, ohne
Geist. Hieraus sehen wir, daß man das ieni-
ge darunter versteht, was unserm Leben gleich-
sam einen Stoß giebt, oder alles das, was un-
sre GemüthsKräfte durch große Aussichten, Abste-
chung, Neuigkeit pp in Bewegung bringen kann.
Das Genie ahmt nicht nach und obgleich man nicht
in einigen Wißenschaften ohne Genie fort-
kommen kann, wie z B. in der Philosophie, so
sind Genies doch sehr hoch zu schätzen, weil sie
selten sind.

/In England und Italien giebt es wohl die meisten
Genies, weil ihre Regierungsform so beschaffen
ist, daß es keiner für notwendig hällt sich dem
Hofe der Vornehmern oder irgend einem andern
zu accommodiren. Wenn wir aber untersu-
chen, woher der Mangel des Genies eigentlich «ge-»
entsteht so müßen wir gestehen daß die Schu-
len eigentlich die Ursache davon ist. Die gegen-
wärtigen Anstalten darin alles zum Nachahmen
gezwungen wird, verhindern die Auswiklun-
gen des Genies. In keinem Lande ist der Schul-
zwang nötiger als in Deutschland. In England
treibt man die Kinder nicht zum Lernen
an, aber bei ieder Gelegenheit zeigt man ihnen
wo was zu profitiren sey.

/Seite 259

/ ≥ Vom Charakter. ≤

/Charaktere sind nichts anders als das eigenthüm-
liche der Obernfähigkeiten. In iedem Menschen
liegen zwar große Triebfeder und Zurüstun-
gen zu allerhand Thätigkeiten, allein es liegt
noch ein oberes Principium in ihm, aller der
Fähigkeiten und Triebfedern sich zu bedienen,
Empfindungen aufzufordern und sie zu hemmen
pp. Die Beschaffenheit dieser obern Kräfte
macht den Charakter aus. Man sagt also auch
nicht wenn man das Wort Charakter «über-»
«sezt» <braucht>, was der Mensch für Fähigkeiten habe
sondern wie er sich derselben bedienen und
was er thun werde. Man muß alle die Zwecke
wißen, die die Handlungen der Menschen diri-
giren wenn man ihren Charakter bestim-
men will. Es ist schwer die Charaktere kennen
zu lernen. In den Iugendjahren weiß man
sie gar nicht zu bestimmen, indem sie noch nicht kent-
lich genug sind und man nicht Fälle vor sich hat
sie auszuforschen, so wie auch nicht vor dem 16ten
und 17ten Iahre wißen kann, wie der Mensch
aussehen werde, da er sich iederzeit verändert
und auswächst. Der Mensch kann sich keinen an-
dern Charakter geben, als den er hat und alles
was er thun kann ist; daß schlimme zu mildern.
Zum Guten müßen Keime vorhanden seyn
und man kann bald sehen, welche sind.

/ ≥ Von der Physionomie ≤

/Die Menschen haben eine erstaunende Begierde
iemanden kennen zu lernen, von dem sie ei-
ne Beschreibung gehört haben. Ueberhaupt

/ wol- 

/Seite 260

/wollen sie dem Menschen das Außerordentliche
gleich an den Augen ansehen, und ehe sie sich noch
kennen wißen, was sie thun werden. Die Er-
fahrung lehrt, daß man einem Fremden starr
in die Augen sieht, und um ihn kennen zu ler-
nen, von unten und oben betrachtet. Aus der
Ursache sind wir auch begierig einen Delinquen-
ten sprechen zu hören. Kurz wir wollen einen
Menschen der wichtig ist voraus kennen lernen
und trauen seinem Kümftigen Betragen
viel weniger zu, als seinen Gesichtszügen

/ ≥ Vom NationalCharakter. ≤

/Giebt es wohl Nationalcharaktere? Diese Frage
ist zu verneinen, wenn man behaupten wollte
daß iedes einzelne Subiekt von einem und dem-
selben Volke einerlei Charakter haben müßte
welches der berühmte Hume in einer seiner
Abhandlungen gleichfals zu verneinen scheint.
Wenn indeßen nur die Charaktere das Herz
und die Gesinnungen angehen, so muß man doch
gestehn daß die Keime immer auf Complexion an-
kommen. Es ist gleich kein Wunder, wenn ein Mensch
der eine Trägheit seiner Organe fühlt in al-
len Handlungen eine <Gleich>Gültigkeit beweiset. Noch
weniger können wir leugnen, daß die Blut
mischung die Festigkeit und Spannung der Fa-
sern die treibende Kraft derselben in Anse-
hung der Körper, bei Völkern in verschiedenen
Climatibus verschieden seyn könne. «Die» Ein
Engländer behauptet in seinem Buch von den
Krankheiten der Europäer in andern Welt-
teilen: daß die Neger die sie häufig gekauft
und nach americanischen Plantagen gebracht

/ wer- 

/Seite 261

/werden, dum oder witzig faul, oder lebhaft
seyn, je nachdem sie entweder an sumpfichten
oder Anhöhen gezogen sind. Alle Amerikaner
haben eine große Gleichgültigkeit in ihrem Cha-
rakter, so daß selbst die Cheroten daran
participiren. Sie können am längsten in tie-
fen Gedanken stehen, sie thun entweder gar
nichts oder legen sich aufs Glük und Waage
Spiel. An den Negern in Afrika hingegen
erblikt man, ob es gleich mit America fast
unter einem Klima steht, eine große Empfind-
samkeit oder läppisches Naturell, es fehlt
ihnen an Standhaftigkeit und sie sind zu allem
ungeschikt, was ihnen auferlegt wird. Kurz
sie haben keinen %.eigentlichen Charakter. Sie sind
zum Tanzen geneigt und plaudern Nächte hin-
durch wenn sie gleich am Tage die schwersten
Arbeiten verrichtet haben. Die Ostindier sind
zurükhaltend und sehen alle wie Philosophen
aus. Da hingegen die Europäer gemeiniglich
ungestüm aufgelegt sind.

/Wenn man rußische Armeen gesehen, so muß
man doch gestehen daß sie einen Zug haben der
ihnen allgemein ist. Einen Franzosen kennt man
immer und in Hogarts Kupferstichen kann man
gleich ein französisches Gesicht erkennen. Von
den Preußen kann man wegen ihrer Vermi-
schung mit andern Völkern nichts gewißes fest-
setzen, doch will man bemerkt haben, daß sie
durchgehends falsch sind. Welches auch immer seine
Richtigkeit haben mag. Weil die %Zurükhaltung
gewönlich sich da einfindet, wo die Familien
nicht so ausgebreitet sind, und die Regierung
auswärts gefürt wird.

/ Vom

/Seite 262

/ ≥ Vom Charakter der Geschlechter ≤

/Das weibliche Geschlecht hat die gröste Schwäche
und deßen Ornigosition den wenigsten Nachdruk
Seine Bestimmung ist %.eigentlich den Mann zu regie-
ren und daher muß es auch künstlich einge-
richtet seyn. Der Mangel der Dauerhaftig-
keit beim %.weiblichen Geschlecht wird durch die Kunst
ersezt und dies macht die Vereinigung zwi-
schen Mann und Frau innig und unzertren-
lich. Wenn die Männer die Weiber kritisiren
es muß aber nur im Scherz geschehen, so hö-
ren sie es gern, denn das sind eben die
Fäden womit sie nachher die Männer ver-
wicklen. Mänliche Eigenschaften am Weibe
sind eben so unschiklich als weibliche an einem
Manne. Betrachten wir die Schrek und
Furchtsamkeit der Weiber, so sieht man daß
es bei ihnen etwas schönes ist, daher sie
auch oft Schwachheiten affectiren, um den
Männern Gelegenheit zu geben, ihre Stärke
und Großmuth, indem sie sie beschützen, zu
zeigen.

/Der Mann ist in Ansehung seines Weibes phy-
sicalisch stark und practisch schwach. Der Mann
hat eine besondre Schwäche gegen das Weib
die das Weib gegen den Mann nicht hat. Das
Frauenzimmer ist immer geschikter sich in alle
Ränke zu schicken als der Mann, es sey
denn daß sie aus einem niedern Stande
in einem höhern gestiegen ist, alsdenn wür-
de sie durch ihre zu große Höflichkeit ihre
niedere Herkumft verrathen. Die Natur
hat die Absicht gehabt, eine Jalousie unter

/ die- 

/Seite 263

/diesem Geschlechte zu erwecken, wäre dies nicht,
so würden sie durch ihre Verbindung die Herr-
schaft der Männer zweifelhaft machen. Frauen
sind kärger als die Männer, weil sie keine
Verbindlichkeiten gegen andre erkennen, und alles
was ihnen zu gefallen geschieht, als Pflicht und
Schuldigkeit ansehen.

/Die beiden Stücke, Geschmak und Schmeichelei
sind die gefärlichsten Klippen für die Frau-
enzimmer. Das Frauenzimmer schäzt die Verdien-
ste nicht unmittelbar sondern nach dem sie eine
Beziehung auf sie haben. So wollen nicht selbst
die Eigenschaften haben, sondern nur den
Mann der sie besizt z B. Wenn sie Roma-
nenlesen.

/Ohne Neigung der Männer wäre dies Geschlecht
nichts, und dennoch sind sie stolz. Diesen Stolz
und Sprödigkeit sehen die Männer gerne.
Die Kentniß davon hat im Umgange, im
ehelichen Stande und in der Erziehung den
beträchtlichsten Nutzen.

/Schnörkel

/Ende_der_Photos