/|P_1

/ ≥ Die Antropologie

/von

/Herrn Professor Kant

/in

/Königsberg

/

/

/

/Johann Ernst Dingelstaedt. ≤

/|P_2

/leer

/|P_3

/ ≥ Innhalt
der
Antropologie

/ A Theoretischer Theil

/ Einleitung pag 5.

/ Von Bewustseyn seiner selbst pag 7.

/ Von klaren und dunklen Vorstellungen 9.

/ Von deutlichen Vorstellungen 11.

/ Von der Vollkommenheit der Erkenntniß 12

/ Von der Sinnlichkeit im Gegensatz mit dem Verstande <pag. 15.>

/ Von Leichten und Schweren 17.

/ Von Attention und Abstraction 19.

/ Von Haupt und Neben_Vorstellungen 22.

/ Von der Uerredung und Ueberzeugung 23.

/ Von den Sinnen 24.

/ Von der Art wie unsere Empfindungen können
gestärkt und geschwächt werden. 29.

/ Von der Einbildungs_Kraft und Phantasie 33.

/ Von Witz und Urtheilskraft 36.

/ Von Gedächtniß 41.

/ Von der Vorsehung 43.

/ Von Bezeichnungs_Vermögen 45.

/ Von Dichtungs_Vermögen 47.

/ Von den Krankheiten der menschlichen Er-
kenntnißkraft 53.

/ <Von der oberen Erkenntnißkraft 55.>

/ Von der Zerstreuung und Sammlung des
Gemüths. 59.

/ Von der Majorennität und Minorennität
nicht nach bürgerlichen Rechte. 60.

/ Von den Gemüthsfähigkeiten. 62.

/ Von Gefühl der Lust und Unlust. 66

/ Von Begehrungs_Vermögen 80

/ Von den Einfluß der Seele auf den Körper. 100

/|P_4

/ B.) Practischer Theil

/ Von Character der Personen 101

/ Von Character des Geschlechts 115

/ Von Character der Nationen 120

/ Von Character der Menschengattung 127. ≤

/|P_5

/ ≥ Einleitung
in
die Antropologie

/Man unterscheidet zweierlei Art des
Studirens von einander. Das Studium für
die Schule, und das Studiren für die Welt.
Eine Erkenntniß so ferne sie der Methode der
Schule angemeßen ist, heißt Schulgerecht. Der-
jenige der den Schulgebrauch seiner Kenntniße
zum Weltgebrauch macht nennt man einen
Pedanten. ZB der seine Begriffe durch Kunst-
worte ausdrückt Es ist also nothwendig, daß
wir von unsern erlernten Erkenntnißen
einen populairen Gebrauch machen lernen.
Um hiezu zu gelangen müßen wir die Welt
studiren - Welt ist der Gegenstand unsrer
Zwecke - Man sagt ein Mensch hat Welt
wenn er seine Kenntniße gut an den Mann
zu bringen weiß.

/Unter Weltkenntniß verstehet man
eines Theils die Kenntniß der Natur, aber
in der Sprache des Umgangs heißt es nichts anders
als die Kenntniß der Menschen Es giebt dreierlei
Arten von Lehren die zu unserer Vollkommenheit
auf verschiedene Art beitragen.

/1. Die Lehren der Geschicklichkeit, sie dienen
seine Absichten in Ansehung der Natur
zu erlangen.

/2) Die Lehren der Klugheit durch welche wir
unsere Absicht in Ansehung anderer Menschen
erlangen. Man unterscheidet die Kenntniße
der Dinge, von der Geschicklichkeit von diesen

/|P_6

/Dingen einen für sich vortheilhaften Ge-
brauch zu machen. Die Geschicklichkeit ist
auf Sachen, die Klugheit auf Menschen
gerichtet. Man wird klug

/a) durch eigne Erfahrung zwar gewiß
aber spät und durch seinen Schaden.

/b) durch Erfahrung anderer. d. i. durch
die Kenntniß anderer. Diese ist die
rathsamste.

/3) Die Lehren der Sittlichkeit wodurch wir weise
werden Sie gehet auf den Gebrauch aller unsrer
Kenntniße zu allen gesammten Zwecken.
Diese Lehren sind also entweder scholastisch
oder pragmatisch oder moralisch.

/Antropologie ist eine Menschenkenntniß als
eine Weltkenntniß, so ferne sie jenen entgegen
gesezt ist als Schulwißenschaft. Diese pragmatische
Antropologie ist nöthig den Menschen, die erste
Bildung zum Umgang mit Menschen zu
geben, den man sonst durch Reisen erwirbt.
Wir werden bei Beobachtung des Menschen das
Spiel der menschlichen Handlungen unter Regeln
bringen aber nicht auf die Ursachen derselben
hinaus strecken.

/Die Quellen der Antropologie sind Beobachtung
seiner selbst Umgang und Geschäffte. Sich
selbst kennen, ist leichter als die Menschen, weil
wir die Menschen mit keinem andren ver-
nünftigen Geschöpf vergleichen können. Die
Kenntniß der Menschen ist also eigentlich schwer.
Man kann sich nicht beobachten, wenn die Trieb- 

/|P_7

/federn in Action sind, und wenn sie in Ruhe
sind hat man nichts zu beobachten Andere
Menschen sind schwerer zu beobachten, weil sie
sich verstellen, und je civilisirter der Mensch
ist, desto mehr verstellt er sich. Die Geschichte ist
auch eine Quelle der Antropologie, aber Antropologie
muß schon da seyn. Romane, Comödien, geben
keine richtige Antropologie, sondern sie über-
treiben die Eigenschaften der Menschen. Aus
einer Antropologie können also Romane
und Comödien beurtheilt werden. Die Antro-
pologie dient zu den wichtigsten Zwecken. Sie
giebt uns Anleitungen wahrhafte Entschließungen
in uns hervorzubringen; Sie ist ein Stoff
der Gesellschaft.

/ ≥ Vom
/Bewußt_seyn seiner Selbst

/Ich ist dasjenige was den Menschen von allen
Thieren unterscheidet. Ich bin macht aus
den Menschen eine Person. Ich begleitet alle
unsere Handlungen und Gedanken, und daran
ist uns am meisten gelegen Man nennt den-
jenigen einen Egoisten des Umgangs, der bei
allen Gelegenheiten Triebfedern von sich selbst
zu reden nimmt. Das ist aber ein Mangel der
Conduite.

/Ein moralischer Egoist ist derjenige welcher sich
so verblenden läßt, daß er alles außer sich gering
schäzt Diese Regung der Selbstliebe müßen
wir in Zwang halten daß die Partheilichkeit vor
uns selbst nicht so sehr hervorrage. Ie feiner
ein Mensch ist desto mehr giebt er des andern
Egoismus nach und verläugnet den seinen.

/|P_8

/Das Ich ist von besonderer Art, der eigne
Name eines Menschen weckt jeden aus dem
Tiefsinn. Die Kinder können in den ersten Iahren
noch nicht durch ich reden, sondern statt deßen
sagen sie ihren eignen Namen. Das kommt daher
weil man sie so nennt, und sie ihre Person
nicht anders zu benennen wißen. Wir war
ein Ausdruck der Bescheidenheit bei den Königen
und bedeutet so viel als ich und meine Räthe.

/Der Pluralis in Anreden ist nur bei den
Morgenländern Gebrauch und die Teutschen bei
denen dieses sehr manichfach ist, haben sich den
Umgang dadurch sehr erschwert.

/Das eigentliche Ich in Speculativen Verstande
heißt nur Seele in populairen aber beständig
der Mensch. Das Gemuth bedeutet aber die summe
der Empfindungen Man kann das Bewustseyn
eintheilen in das objective und subjective Ersteres
ist das Bewustseyn anderer Gegenstände, lezteres
ist das Bewustseyn seines eignen Zustandes. Das
Objective ist zu allen Wißenschaften besonders
zur Vernunftwißenschaft nöthig. Beim subjectiven
richtet man es blos auf die eigne Existenz Wenn
dieß zum Geschäfte wird, so ist's unnatürlich, bringt
die Seelenkräfte in Unordnung und erschopft die
Gemüthskräfte. Man darf auch nicht auf den
Zustand seiner Seele sondern nur auf seine
Handlungen sehen.

/Es giebt eine Art von Selbstbeobachtung
die in Gesellschaft fehlerhaft ist, nemlich die

/|P_9

/Affectation und das geniale Wesen. Affectirt
ist ein Mensch wenn er sich bemüht einen schönen
Anstand zu zeigen, und deswegen seine Stellung
verdreht, und dieß ist der Natur zu wider.Genirt
ist Iemand, wenn er besorgt ist in einem schlechten
Anstande zu erscheinen. Dies ist der Leichtigkeit
zu wider.

/Um in der Anständigkeit nicht fehlerhaft
zu seyn, muß man sich in den natürlichen Stellungen
und Gesprächen und dergleichen einen Habitum
und das frühzeitig zu verschafen suchen. Wenn
ein Affectirter Mensch spricht, so sagt man er
hört sich selbst weil er zu sehr mit sich und nicht
mit der Sache von welcher er redet beschäftigt ist.

/Dieser Schwachheit ist die Naivität entgegen
gesezt, das ein Betragen ist, wo die Aufmerk-
samkeit auf den äußersten Anstand nicht her-
vorblickt. Man nennt dieß auch air de
gage. Dieß zu erlangen muß man sich durch
Umgang üben

/ ≥ Von
klaren und dunklen Vorstellungen

/Dieser Unterschied betrift das Object im Be-
wustseyn. Klare Vorstellungen sind die denen
wir uns unmittelbar bewust sind; dunkle
sind die denen wir uns nicht unmittelbar
bewust sind, sondern durch ihre Würkung.
Alles was unser Gedächtniß enthält liegt im
Felde der dunklen Vorstellungen zB in der
Moral setze ich nur die dunklen Vorstellungen
des andern, zum Beispiel von der Gerechtigkeit

/|P_10

/ins klare. Viele bestreiten das Daseyn der dunklen
Vorstellungen überzeugt seyn, wenn wir uns
ihrer nicht bewußt sind. Hierauf antworten wir.
Es ist aber nicht nöthig daß man vermittelst der
Empfindung sich bewust wird, wenn man
durch Schlüße zum Bewustseyn kommen kann. So
erklärten schon zB. die Alten den Schimmer der
Milchstraße als das Licht einer menge Sterne
ob sie gleich diese Sterne in Ermangelung der
Ferngläser nicht sehen konnten.

/Diese dunklen Vorstellungen existiren
wirklich und spielen eine so große Rolle in
den Handlungen der menschlichen Seele, daß wenn
sich ein Mensch allen diesen Vorstellungen auf
einmal bewußt werden könnte, er über den
Vorrath derselben erstaunen mögte. Allein das
Vermögen der Reproduction dieser Vorstellungen
ist so eingeschränkt, daß sie nur einzeln und
bei gewißen Gelegenheiten an den Tag komen. Man
kann sich die menschliche Seele als eine Karte
vorstellen deren illuminirten Theile die klaren,
gewiße besonders hellen Theile, die deutlichen, %und
die unilluminirten Theile die dunklen Vor-
stellungen bedeuten leztere nehmen den größten
Platz ein und liegen auch den klaren zum Grunde.

/Die Menschen werden oft ein Spiel dunkler
Vorstellungen und die Menschen spielen oft
mit dunklen Vorstellungen. Menschen werden
durch dunkle Vorstellungen zu etwas bewegt

/|P_11

/was sie durch die klaren für ungeräumt gehalten
haben würden, und die Untersuchung dieser
Vorstellungen ist eine angenehme Beschäftigung.
Ieder Witz muß anfänglich dunkel seyn, und
plötzlich sich aufklären, sonst ist er wäßerigt.
In der Dunkelheit scheint alles größer als es
wirklich ist. So machens einige Schriftsteller die
ihre Gedanken in eine geheimnißvolle Dunkel
heit einhüllen und dadurch die Leser hintergehen.

/ ≥ Vom deutlichen Vor-
stellungen

/Die Deutlichkeit ist eine Wirkung der Unter-
scheidung und Ordnung. Sie ist entweder scholastisch
bei welcher die Bearbeitung hervorleuchtet, die
da macht, daß die Erkenntniß deutlich werde, oder
populair wo es scheint, als ob sie keine Mühe
gemacht hätte. Eine gar zu große Anhänglichkeit
zur Ordnung verräth einen Pedanten, nicht
zur Deutlichkeit einen leeren Kopf. Beide denken
nur darauf, der Sache eine Form und Methode
zu geben, wenn auch auf Kosten des innern
Gehalts An der teutschen Nation bemerkt man
einen großen Hang zur Ordnung in ihren Sitten
so wohl als in ihren Schrifften. Viele halten das
Faßliche für deutlich und das Unfaßliche für
undeutlich Dieß ist aber falsch. Denn gemeiniglich
findet gerade das Gegentheil statt.; wenn
man eine Sache ganz deutlich machen will
so wird sie eben dadurch unfaßlich. Macht man
sie aber zu faßlich, so wird sie dadurch undeutlich.
Die populaire Deutlichkeit wenn die Ordnung

/|P_12

/nichts verliert ist ein Kunststück. Ordnung
gefällt immer, sie hat aber doch einen Zwang
an sich. Daher der Ausdruck ädle. Nachläßigkeit
angenehme Unordnung das heißt eine Ordnung
die leicht ist, ohne die Mühe deßen zu merken
der sie hervorgebracht hat. zB der Gout de Baro@v@.

/ ≥ Von
der Vollkommenheit der Erkenntniss

/Die Vollkommenheit der Erkenntniß ist ent-
weder objectiv und bestehet in Wahrheit Größe
und Deutlichkeit. Man nennt die Objective Voll-
kommenheit auch logische Vollkommenheit oder
subjectiv wenn sie auf Lebhaftigkeit Leichtigkeit
Intereße beruht. Man nennt sie auch die
ästhetische Vollkommenheit oder in Verhältniß
mit andern sind die Kenntniße vollkommen,
wenn sie Mannigfaltigkeit Ordnung %und Einheit
verrathen.

/Wahrheit ist die größte aller Vollkommen-
heiten aber nur für den Verstand nicht für
die Neigung. Bei dieser wird die Erdichtung der
Wahrheit vorgezogen. Der Wahrheit ist Irrthum
und Unwißenheit entgegengesezt. Unwißenheit
ist ein Mangel der Erkenntniß. Irrthum aber
ist ein positives Hinderniß der Wahrheit, denn
wenn ich den «Wah» Irrthum weggeschaft habe,
so tritt erst Unwißenheit ein; allein ob gleich
die Wahrheit die Unwißenheit nicht hindert, so
befördert sie auch so wenig, daß die Menschen

/|P_13

/nur auf den Wege der Irrthümer zur Wahr-
heit gelangen.

/Die Aufhebung der Irrthümer hat einen negativen
Nutzen. Irrthum entspringt aus dem übereilten
Gebrauch des Verstandes. Unwißenheit aus dem
Nichtgebrauch des Verstandes. Um den Irrthum
zu vermeiden muß man das Urtheil aufschieben
bis man mehr Kenntniß haben wird. Es ist aber
immer beßer auf die Gefahr des Irrthums ein
Urtheil zu wagen, denn ein Nutzen bleibt gewiß,
nemlich die Cultur des Verstandes. Ein mit
Verstand auf die Gefahr des Irrthums gewagtes
Urtheil heißt ein Paradoxon. Die Franzosen nennen
es ein hardies Urtheil, wo sie alles wagen, der
Teutsche ist darinn behutsamer. Alles paradoxe
verwerfen zeigt einen seichten Kopf an. Das
antropologische Criterium der Wahrheit bestehet
in der Bestimmung anderer Es ist ein Trieb
der menschlichen Natur sein Urtheil an anderer
Urtheile anzuhängen. Die Vorsehung hat ge-
wollt, daß das Erkenntniß eines Menschen den
andern mitgetheilt werden soll, damit sie auf
diesem Pfade fortfahren können. Die Ursache
ist, daß unsre Urtheile nicht Irrthümer ent-
halten, sondern durch andere gep«f»rüft werden
sollen. Der Probierstein des Urtheils an andern
Verstande ist ein wirckliches Criterium der
Wahrheit. Es giebt gewiße Wahrheiten wo man
sich auf andere Urtheile als eines Beweißes beruft.

/|P_14

/Dieß ist der Fall in der Jurisprudenz. Der Nutzen
der Erkenntniß ist entweder ein unmittelbarer
Nutzen und das ist die Cultur des Verstandes ZB
Metaphysic So nützen satyrische Schrifften auch
zur Cultur des Geschmacks zur Beßerung in
der Unterscheidung des Schönen und heflen sich
beßer auszudrücken. So gar lose Gedichte haben
einen moralischen Nutzen; denn je mehr
wir lernen an mehr als einem groben Genus
Geschmack zu finden, desto mehr ist das Gemüth
zum Einfluß der moralischen Gründe fähig
Sie befördern also die Cultur der Gemüthskräfte.

/Die Größe der Erkenntniß kann man in
der Menge oder in der Weitlauftigkeit der An-
wendung setzen, und dieß macht ihre Wichtig-
keit aus. Hiezu können wenige Autoren ge-
langen. Deutlichkeit kann man eine logische
Vollkommenheit nennen. Ein Mensch deßen Er-
kenntniß eine große Deutlichkeit hat, heißt
ein heller Kopf. Ein Autor kann deutlich werden,
ob er gleich nichts von der Sache versteht. Oft
halten wir Leichtigkeit für Deutlichkeit, weil
es uns keine Mühe macht. Intereße halten
wir für Wahrheit, wenn die Gedanken des
Autors mit unsern Neigungen Correspondiren.
Das Interesse könnte man eintheilen ins
theoretische und practische.

/Der practische Werth unserer Erkenntniße
ist wenn wir in den Stand gesezt werden unsere

/|P_15

/Zwecke zu erreichen. Sonst haben die Erkenntniße
noch einen ästehtischen Werth und das ist, die
Cultur der Gemüthskräfte. Romane cultiviren
zwar den Geschmack aber nicht die Neigung, weil
sie sie überspannen, und in eine müßige Gemüths
Bewegung versezten die nichts nüzt.

/Bei der Erkenntniß können wir überhaupt
unterscheiden hypothetische oder Selbstständige und
das Emphatische oder aesthetische. Die Einkleidung,
der Mannigfaltigkeit ist das unterhaltenste bei
der Erkenntniß. «Man nen» Die Einheit «in»im Manich-
faltigen ist das schwerste, aber zugleich ein wichtiger
Zweck aller unserer Erkenntniße. Man warf
die Frage auf. Ist's gut dem gemeinen Mann
alle Irrthümer zu benehmen oder sie ihm zu
laßen, wohl gar bei zu bringen? Antwort. Die
Freyheit Irrthümer auszustreuen zum Nutzen
ist verderblich weil der folgende Schaden den
jetzigen Nutzen über wiegt. Man nennt einen
Menschen einem lichten Kopf, oder man nennt
auch ein lichtes Zeitalter, bei dem die Wahrheit
nicht Hinderniße findet durch zu brechen.

/ ≥ Von der
Sinnlichkeit im Gegensatz mit dem Verstande

/Man beschuldigt die Sinne daß sie den Ver
stand verdunklen und betrügen Wir werden
sie hier vertheidigen und ihnen eine Apologie
halten. Die Sinne betrügen nie; denn sie
urtheilen nicht, sondern sie nehmen nur wahr,
der Verstand aber urtheilt, und wer nicht urtheilt

/|P_16

/kann nicht betrügen. Die Vernachläßigung in
Gebrauch des Verstandes in Ansehung der Sinne ist
Ursache davon.

/Die Sinne verdunklen auch nicht, denn sie
sind noch klärer in ihren Vorstellungen, und
die Klarheit der Begriffe muß der Verstand geben
Die Sinnlichkeit hat so ferne einen Vorzug vor den
Verstande daß sie auch ohne ihn wenigstens in Anschauung
und Empfindung bestehen kann, der Verstand aber
ohne sie nichts wirke, in dem er keine Gegenstände
hätte, worüber er denken könnte Sie müßen also wechsel-
seitig helfen. Die Sinnlichkeit ist in einem Fall dem
Verstande hinderlich in andern kommt sie ihm zu
Hülfe.

/Man rühmt einen sinnlichen Vortrag, wenn man
das was der Verstand lehrt in Beispielen vor Augen
sieht. Die Sinne sind dem Verstand darum hinderlich
weil ihre Vorstellungen einen größern Eindruck
auf die Seele haben als der Verstand. Damit die
Sinnlichkeit den Verstand nicht större, suchen wir
eine Vorstellung der Sinnlichkeit in unser
Intereße zu ziehen. In einem Fall verdient die
Sinnlichkeit lauter Tadel. Sie ist das einzige
in uns, was uns unwillkührlich treibt, und
die erste oberste Regel der menschlichen Voll-
kommenheit ist, daß der Mensch seine Erkenntniß
kräfte in seiner Gewalt habe.

/Dies ist sehr wichtig und man solle den
Menschen in der Iugend zu gewöhnen suchen, daß
er darauf aufmerksam sey. Soferne die Sinnen
unter unserer Gewalt stehen, so ferne gehören sie

/|P_17

/zum obern Erkenntnißvermögen. Man muß
die Sinnlichkeit nicht schwächen sondern cultiviren,
So daß die Sinne die Instrumente des Verstandes
werden. Warum hat die Sinnlichkeit so viel
Stärke? Eine Vorstellung des Verstandes hat
nicht so viel Stärke als ein Antrieb der Sinn-
lichkeit.

/Der Verstand erwägt Gegenstände, die Sinnlich-
keit gehet aber aufs subject, da sie uns unsern
Zustand vorstellt, und hiebei sind wir
intereßirt. Nicht alle Menschen haben einen gleichen
Grad der Sinnlichkeit. Bei Kindern ist die Sinnlich-
keit nicht sehr groß, aber doch cultivirt sie sich ehr
als der Verstand. Beim weiblichen Geschlecht ist sie
stärker als beim männlichen, in der Iugend
stärker als im Alter, weil die Sinnlichkeit ehr
abnimmt als der Verstand. Der Verstand ist zwar
im Alter auch schwach, aber die Sinnlichkeit ist
comparatif noch schwächer, die Urtheilskraft
wächst aber im Alter. Bei den Orientalern über-
wiegt in Erkenntnißen die Sinnlichkeit den
Verstand, weil sie alles auf Bilder reduciren.
Beim Fortgang der Cultur der Sinne wird
auch der Verstand cultivirt, %und wenn daß
ist, so müßen die Sinne disciplinirt werden.

/ ≥ Vom
/Leichten und Schweren. ≤

/Leicht ist eine Handlung welche zu leisten einen
kleinen Grad der Anstrengung des subjectes er-
fordert wird. Es verändert sich also in eben
den Subject beim Wachsthum der Kräfte.

/|P_18

/Das Schwere ist unangenehm, die Ursache hievon
ist, weil es alle unsere Kräfte bindet, %und keine
andere Kraft bleibt etwas anders zu thun. Oefters
gefällt etwas darum, weil es schwer ist. Wenn
das Schwere ein Experiment seyn soll um
den Grad der Kräfte zu bestimmen so gefällts.

/Das Schwere wird von Beschwerlichen
unterschieden Eine beschwerliche Handlung
nennt man läßig. Beschwerlich ist alles was
leer ist und keinen Werth hat. Die Schwürig-
keit von einer Sache zeigen heißt sie nicht
schwer machen, und die Schwierigkeit verhelen
heißt sie nicht leicht machen. Etwas schwer
machen, heißt eine Schwierigkeit zu einer Sache
hinzuthun.

/Die Menschen faßen nach Verschiedenheit ihrer
Temperamente ihre Gedanken leicht oder schwer,
der Sanguinische findet eine Sache beim ersten
Anblick leicht, übernimmt die Ausführung
hitzig, läßt aber eben sobald davon ab. Der
melancholische findet alles schwer, weil er sich
auch die geringste Kleinigkeit als sehr wichtig
vorstellt. Der Pflegmalische findet alles beschwer-
lich, weil er sein Vergnügen in der Gemächlich-
keit sucht.

/Das Leichtmachen kann geschehen in
Wißenschaften durch Methoden, in Künsten
durch Maschinen. Beim Schweren muß man

/|P_19

/die Schwierigkeit zeigen, damit man seichte
Köpfe abschreckt. Wer alles für leicht hält
ist leichtsinnig, wer alles für schwer hält
ist peinlich. Das Schwere erfordert Anstrengung
Eine große Bemühung in kurzer Zeit aus-
zuführen ist ein sicherer Beweiß der Faulheit.
Aemsigkeit ist eine kleine aber anhaltende Bemühung.
Sie «¿¿»schwächt nicht, sondern giebt durch die beständige
Uebung neue Kräfte.

/Einige Leute versprechen leichte weil sie
nicht die Schwürigkeit es zu erfüllen bedenken,
Leichtsinnige sind zu unternehmungen beßer
als peinliche. Das etwas andern leicht läßt ist
den Zuschauern, und dieses leichtlaßende ist
eine große Vollkommenheit im Umgange Colerische
wählen eine mannigfaltige Arbeit. Phlegmalische
eine ämsige, wenn sie gleich langsam ist. Der
Melancholische eine schwere und lange Arbeit.

/Die Gewonheit macht alles leicht denn durch
öftere Uebung wachsen unsere Kräfte, und der
Unmuth nimmt bei der Arbeit durch die Ge-
wonheit ab. Die Gewonheit ist von der An-
gewonheit unterschieden. Gewonheit macht
leicht. Angewonheit aber macht Nothwendigkeit
in den Handlungen. Zb Stammlen. Alle Ange-
wonheit ist ein Fehler und das Gemüth wird
dadurch dependent.

/ ≥ Von
der Attention und Abstraction

/Man nennt das Vermögen, vermöge welchem
wir unsere Vorstellungen klar machen die

/|P_20

/Attention. Und das Vermögen wodurch wir
unsere Vorstellungen willkührlich dunkel machen,
Abstraction. Daß ist das vornehmste Studium
des Gebrauchs des Gemüths. Die Abstraction
ist nichts anders als ein Negativer Gebrauch
der Attention. Sie laufen also beide auf einen
Grund hinaus.

/Die Attention ist eigentlich eine Handlung
des Gemüths wodurch wir das Bewußtseyn einer
Vorstellung vergrößern, die Abstraction wodurch
wir es schwächen. Sie erfordert aber eben so
wohl eine Bemühung als jene, ja sie ist noch
schwerer. Zb beim Begriff des höchsten Weßens müßen
wir von allen Antropomorphismus, das ist
menschenähnlichen Eigenschaften abstrahiren, sie
mengen sich aber unwillkührlich ein.

/Attentiren lernt der Mensch selbst aus Neigung
aber abstrahiren nicht, und wenn auch die
Philosophie es lehrt, so thut sie es doch nur
speculatif nicht practisch.

/Die Aufmerksamkeit ist

/a) intensiv wenn ein großer Grad der
Aufmerksamkeit erfordert wird die
Vorstellung klar zu erhalten.

/b) protensiv das Vermögen eine lange Zeit
eine Vorstellung in sich klar zu erhalten

/c) extensiv wo man die Aufmerksamkeit
auf einmal auf viele Gegenstände
wendet.

/Unangenehme Vorstellungen locken uns
eine unangenehme Attention ab, welches

/|P_21

/unwillkührlich geschieht ZB. wenn man
ein unangenehmes Geschrei auf der Straße
hört, so wartet man, ohnerachtet man
wünscht daß das Geschrei aufhörte und nicht
bald wiederkömmt.

/Die Attention giebt zu einer Reflection
Anlaß weil durch die Abstrahirung Ver-
gleichungen angestellt werden. - Hypochondrische
Leute sind von solcher unwillkührlicher Auf-
merksamkeit sehr geplagt, und können sie
nicht auf andere Gegenstände ablenken. Dieser
unwillkührlichen Aufmerksamkeit wird negativ
entgegengesezt.

/Die Gedankenlosigkeit. Sie bestehet darinn wenn
man keine Aufmerksamkeit anwendet, und
nachher nicht weiß was man gedacht hat.
Man läßt da seine Vorstellungen herumschwärmen
und wendet die Aufmerksamkeit auf keine
Vorstellung ins besondere.

/Die Abstraction ist eine wahrhaftige Handlung
wodurch ich meine Aufmerksamkeit von etwas
abwende, um die Vorstellung davon bei mir zu
verdunklen. Das ist schwer und erfordert An-
strengung. Beim Abstrahiren muß ich wider-
stehen und beim attendiren habe ich blos eine
Vorstellung die ich zu unterhalten suche Die
Abstraction ist so wie die Attention willkührlich
und unwillkührlich.

/Eine unwillkührliche Abstraction heißt %eigentlich
Distraction weil man zerstreut ist, und die Stärke

/|P_22

/der Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände
verwendet wird.

/Empirische Leute, das heißt Leute von Geschäften
die mit Gegenständen die ihnen gegenwärtig sind
zu thun haben abstrahiren zu wenig. speculative
Köpfe abstrahiren zu viel.

/Viele Menschen werden unglücklich dadurch
daß sie zu wenig abstrahiren. Denn von den Wider-
wärtigkeiten des Lebens abstrahiren zu können
ist sehr nothwendig. Von der andern Seite sind
wieder viele unglücklich wenn sie zu wenig attendiren.
ZB einer der zu wenig attendirt, wird nicht so
geschwind sein Glück machen als ein anderer
der mehr attendirt

/Der Stoiker fordert zu seiner Glückseligkeit
eine solche Selbstbeherschung (Autocratie) in
Ansehung der Attention und Abstraction. Diese
Materie bringt uns nun auf eine andere
nemlich auf die Haupt und Nebenvorstellungen
(percept. primariae %.vel complexae et ¿¿»erceptiones
adhaerentes)

/ ≥ Von
Haupt und Nebenvorstellungen

/Die Vorstellungen werden eingetheilt
in perceptiones complexas (Hauptvorstellungen
und adhaerentes (Nebenvorstellungen. Man
muß verhüten daß nicht Nebenvorstellungen
die Hauptvorstellungen verdrängen. ZB Ein Mann
von Wichtigkeit muß kein schönes Kleid haben,
damit nicht die Nebenvorstellung seines Kleides

/|P_23

/die Hauptvorstellung seiner Wichtigkeit verdränge
Mancher staffirt seine Rede durch manche schöne
Ausdrücke aus, so daß der Zuhörer den Zweck der
Rede vermißt.

/Eine Vorstellung so ferne sie Aufmerksamkeit
auf sich ziehen soll, ohne alle Nebenvorstellungen
nennt man trocken. Die Trockenheit ist vielfältig
sehr gut ZB. die Pflichten ohne Empfehlung der-
selben, die aus Bequemlichkeiten hergenommen
werden. Die Naivität ist auch troken. Nützliche
Lehren sollen mit einer natürlichen Einfalt vor-
getragen werden.

/ ≥ Von
der Ueberredung und Ueberzeugung. ≤

/Ueberzeugung ist mit Ueberredung
so verwandt, daß man sie kaum unterscheiden
kann Iene beruht auf objectiven Gründen,
diese auf subjectiven die wir für objectiv halten.
Wir haben bei allen unsern Urtheilen immer
drei Personen in uns, einen der es behauptet,
einen der es verficht, und einen der da richtet.
ZB ob ein Mensch sich beßern soll, oder ob
er sich laster erlauben um künftig Reue darüber
zu tragen. Nun soll die Vernunft als Richter
sprechen, aber öfters vergleichen sich die Advocaten
die ihr Intereße zu sammen zu schmelzen suchen.

/Es ist daher eine angenehme Betrachtung.
Wir müßen uns üben mit wahrer Ueber-
zeugung zu urtheilen, und uns von Neigungen
nicht hintergehen laßen Alle diese Spiele unserer

/|P_24

/Vorstellungen werden in Thätigkeit ver-
sezt durchs Intereße Auch öfters durch Ursachen
die kein Interesse bey sich führen ZB von Music
das Ansehen einer weiten Landschaft, eines Kamin-
feuers.

/Die Abstraction abzuziehen ist öfters
nöthig das Gemüth mit einer andern gewohnten
Vorstellung zu beschäftigen. Die Folge ist diese
das Spiel unserer Vorstellungen zu erhöhen
und zu schwächen

/ ≥ Von
/den Sinnen

/Der Sinn ist ein Vermögen zu empfinden,
das heißt, sich etwas vorzustellen, das uns afficirt
und unsern Zustand verändert. Ich kann mir
Dinge vorstellen die meinen Zustand nicht verändern
und das Vermögen hiezu ist der Verstand.

/Man theilt die Sinnen ein in die äußern
Sinne und in die innern Sinne. Die erstern
empfinden die Veränderungen des Zustandes des
Körpers, die leztern die Veränderung des Zustandes
des Gemüths. Es sind darinn verschiedene äußere
Sinnen, weil verschiedene Organe der Empfindung
im Körper sind. Die äußern Sinne sind zwiefach.
Der Vitalsinn (Sensus vagus) der sich über den
ganzen Körper und das ganze Nervensystem ver-
breitet. Der Organsinn der auf ein Organ einge-
schränkt ist Den Vitalsinn nennt man Gefühl
welches von fühlen zu unterscheiden welcher ein
Organsinn ist.

/Die Nerven sind überhaupt die Werkzeuge der

/|P_25

/Empfindungen. Wo die Nerven sparsam sind, da
ist auch wenig Empfindung. Der Vitalsinn greift
das Leben bei seinen Quellen an. ZB Nicht so bei
Tragödien als in rührenden Romanen, die man für
sich allein ließt und sehr schädlich sind. Solchen Vital-
Empfindungen muß man sich zu enthalten suchen,
ob sie gleich anfänglich das Gemüth zu verfeineren
scheinen.

/Die Organsinne sind entweder objectiv oder
subjectiv. Durch jene nehm ich mehr die Beschaffenheit
des Gegenstandes als die Eindrüke deßelben wahr. Durch
diese aber attendire ich mehr auf die Eindrücke deßelben
als auf den Gegenstand selbst oder einige Sinne sind mehr
Erkenntniß andere mehr Gefühl.

/Unsere Erkenntniße der Objecte fangen von
Fühlen, Hören und Sehen an; die objectiven Sinne
sind also

/Das Fühlen. Dieß ist von vagen Sinn zu unter-
scheiden. Es ist eigentlich die Vorstellung eines Körpers
durch die Berührung Dieser tactus ist ein Sinn
wodurch wir einen Gegenstand unmittelbar wahr-
nehmen. Durchs Gefühl und durchs Gehör empfinden
wir nur einen Zwischenraum Er dient allen übrigen
zur Belehrung. Denn das Gefühl stellt uns die
Dinge nur als Flächen vor und das körperliche kann
nur durchs Gefühl empfunden werden.

/Das Gehör. Er dient nur die Zeichen der
Objecte wahrzunehmen zB wenn ich ein Post-
horn höre, so giebt mir der Schall nicht einen
Begriff von der Gestalt des Posthorns. Das subjective
ist beim Gehör als das subjective beim Gefühl. ZB.
Die Music kann uns stärken auch schwächen.

/|P_26

/Das Gesicht Es stellt uns die Gegenstände
vor, daß wir die Veränderung im Organ
fast gar nicht merken, er ist also ganz objectiv
Er hat ein Analogon mit dem Gefühl so ferne
er ein Objectiver Sinn ist, so ferne er aber ein
subjectiver Sinn ist hat er Analogon mit dem
Gehör. Das Vergnügen bei der Veränderung der
Farben ist mit dem Vergnügen bei Veränderung
der Töne analogisch.

/Die subjectiven Sinne sind Geruch und
Geschmack. Sie sind mittelbar denn wir riechen
nur einen entfernten Gegenstand durch die Dunst
partikeln die aus ihm zu unserer Nase kommen
und wir schmecken nur durch die Salze die durch
die Säfte des Mundes aufgelöset werden Wir
riechen durch die flüchtigen Salze, und schmecken
durch die fixen Salze. Sie haben das besondere
daß der Geruch nur in der Entfernung der Geschmack
nur durch die Berührung wahrnimmt. Hören
und Sehen wirkt nur in gerader Linie. Riechen
und Schmecken wirkt nach allen Richtungen.
Wir können solche mannichfaltige Empfindungen
nicht wahrnehmen beim Riechen und Schmecken als
beim Hören und Sehen.

/Der Einfluß der Sinne ist entweder mechanisch
oder chimisch. Ersterer ist der Einfluß durch Druck
und Stoß, lezterer durch Auflösung Riechen
und Schmecken sind chimische Sinne denn alles
was wir riechen und schmecken löset sich erst auf
und wird mit den Säften des Körpers vereinigt.

/|P_27

/Gröbere Sinne sind die, bei welchen wir die
Gegenstände berühren. Ferner die durch welche
wir diese Gegenstände in der Entfernung wahr-
nehmen können.

/Bei allen unsern Sinnen ist eine vital
Empfindung und die mehrste scheint beim Geruch
zu seyn, als denn beym Geschmack den dritten Grad
hat das Gehör. Es giebt Nationen bei welchen der
Vitalsinn sehr stumpf i@st@. Ie weniger die Sinne
lehren, desto mehr afficiren sie. Der Sinn des Riechens
und Schmeckens afficirt mehr wie die andern.

/Der Sinn des Geruchs scheint am entbehrlichsten
zu seyn. Er ist nicht sehr belehrend. Scheint aber mehr
ein Sinn der Warnung als des Vergnügens zu
seyn zB beim faulenden Aas warnt er durch
Eckel vor Schaden, den dieses in Körper hervor-
bringen kann. Welcher Sinn kostet am meisten
zu unterhalten, und scheint den Körper am wenigsten
zu nützen? Der Sinn des Geschmaks; er scheint beym
eßen gröber zu seyn als beym trinken, weil dieser
gesellschaftlich ist. Süße Sachen schmecken beßer
in Vorschmack, saure im Nachschmack. Der
Geruch ist ein Sinn des Wahns und der Einbildung.

/Welcher Sinn ist wichtiger das Gehör
oder das Gesicht? Sie haben den Namen der edlen
Sinne, weil sie gemeinschaftlich sind. Man
kann sie lange beschäftigt halten, ohne daß sie
ermüden, weil sie durch luft und licht beschäftigt
werden, und der Eindruck nicht so «sinnlich» inniglich ist.

/|P_28

/Der Sinn des Hörens ist aber wichtiger als des
Gefühls, weil er das Organ der Gemeinschaft
unserer Gedanken ist. Er ist in Absicht der @Un@t-
erhaltung wichtiger als das Gesicht. Gesicht
und Gehör sind die Organe des Schönen Denn
die andern Sinne können es nicht ausmachen.
Alles angenehme wird der Mensch überdrüßig.
Es wird also etwas Herbes erfordert, welches
dadurch, daß es gleich vergehet, etwas angenehmes
bey sich führt. Dies nennt man picant. ZB
der Toback. Die Grobheit und Feinheit der
Sinne beruht theils auf die Natur theils auf
die Cultur. Alles Anstrengen des Sinnes schwächt
den Organ.

/Die Irrthümer die man den Sinnen zur
Last legt sind Betrug und Illusion. Illusion
ist eine Anreitzung zu einem falschen Urtheil,
wovon wir aber wissen, das «ist» es falsch ist.
Betrug ist ein Schein, der Irrthum hervorbringt,
so bald man ihn aber bemerkt, vergehet er,
zB eine schöne Kleidung ist Illusion, Schminken
ist Betrug. Illusion lieben wir, aber Betrug
haßen wir. Selbst beim Bewustseyn «die»der Unwahr-
heit lieben wir die Illusion. Ein guter Anstand
ist ein äußerer Schein, der Achtung einflößt.
Die Sittsamkeit ist <ein> Schein wodurch wir Achtung
für die Verdienste anderer blicken laßen. Dieß
sind Illusionen sie sind aber Mittel zur Cultur.

/Es giebt Illusionen des innern Scheins zB

/|P_29

/Hypochondrische Leute können auch oft durch
Krankheiten zur Behauptung bewegt werden.
Einbildungen können öfters durch Einbildungen
geheilt werden. Es giebt eine Art von Rigoristen
die alles, was der Schein sagt, verdammen. Man
muß nicht sehr hinter den Schein forschen, um
die nachtheilige Eigenschaften aus zu spähen.
Denn es giebt feindseelige Gesinnungen. Hier-
aus ist die Misantropie entstanden. Antrophobus
ist ein solcher, der Menschen fürchtet, er ist nicht
ein Menschenfeind, nur er glaubt nicht Redlich-
keit unter ihnen zu finden. Der gute Schein ist eine
Triebfeder zum Guten; denn wenn wir lauter
Beispiele zum Guten sehen, wird unser Gemüth
zulezt auch gut, aber den Schein seiner eignen
Empfindungen muß man auf zu decken suchen,
weil sie uns schaden können.

/ ≥ Von der Art
wie unsere Empfindungen können
gestärket und geschwaecht werden

/Gestärkt werden unsere Empfindungen

/a) durch die Abstechung oder Contrast. Er ist
verschieden vom Widerspruch welcher un-
angenehm ist zB die Armuth läßt sich
leichter ertragen unter andern armen Mit-
brüdern als unter reichen Verschwendern.
Diese Abstechung wird sehr geliebt. Die
Empfindung am Ende einer Reihe ist stärker
als die vorher. ZB einen Menschen der fast

/|P_30

/die ganze Zeit seines Lebens glücklich
gewesen und nun zulezt einen kleinen
Theil deßelben unglücklich ist, wird für
sehr unglücklich gehalten

/b) durch die Neuigkeit. Sie erfreut dadurch
daß das Gemüth Hofnung bekommt einen
neuen Erwerb zu machen. ZB so ist der
Morgen angenehm. Oft ist sie allein der
Bewegungsgrund. Die Franzosen lieben
dies sehr. Der Hang zur Neuigkeit sezt
eine Gemüthsart voraus, die sehr veränderlich
ist, und nicht lange in einerlei Stärke
bei einem Gegenstand beharren wird. Die
Vorbereitung der Neuigkeit schwächt sehr
den Eindruk derselben, weil die erste Idee
stärker ist als die folgende, und das
menschliche Gemüth immer mehr er-
wartet, als in der Empfehlung:

/c) durch den Wechsel wenn eine Vorstellung
lange dauert so wird man unempfindlich
zB. So können wir nicht beständig
ruhen, sondern nur die Ruhe ist nur
in Intervallen angenehm. Das vornehmste
beim Wechsel ist, daß die Vorstellung nicht
mit ebenderselben Stärke aufeinander
folgt sondern immer durch schwächere
Zwischen Vorstellungen muß abge-
wechselt werden.

/Geschwächt werden unsere Empfindungen.

/$a$) durch den Trunk. Er bringt zwar Schläfrig- 

/|P_31

/keit hervor, aber er belebt auch unsere
Empfindungen. Die Trunkenheit macht
eine eingebildete Glückseligkeit und die
Sorgen fliehen alsdenn Das Trinken scheint
ein Mittel der Geselligkeit zu seyn und
in dieser Absicht verdient es Nachsicht, daher
ist der Rausch ohne Gesellschaft schädlich Bei
den Orientalern ist das Opium bei den Occiden-
talern der Wein und und der Brandwein
die Mittel des Rausches. Von dieser gesell-
schaftlichen Trunkenheit muß man die
Besofenheit unterscheiden, eine Leidenschaft
welche schändlich ist. Im nüchternen Zustand
sind die Menschen sehr zurückhaltend, ver-
hehlen ihre Fehler und sind mistrauisch in
ihren Urtheilen. Der Mensch hat einen un
widerstehlichen Trieb sich zu verbergen, und
beym Trunk vergehet dies Mistrauen auf
sich selbst, und jeder äußert eine gewiße
Freimüthigkeit welche er öfters im nüchtern
Muth bereuet. Weil aber dieß von allen
in der Gesellschaft gilt, so ist es paralell
daher sehen es Leute die den Trunk lieben,
nicht gerne wenn jemand in der Gesellschaft
nüchtern bleibt. Weil Niemand gerne
einen Richter haben mag. Im ganzen sind
die Menschen in diesem Zustande beßer
sie trauen sich einander mehr zu. Die
menschliche Natur hat die fehlerhafte

/|P_32

/Eigenschaft daß sie im nüchternen Zustand
nicht gesellig ist. Der Trunck muß aber
nicht so weit getrieben werden, daß er für
die Gesellschaft schädlich werde sondern er
muß um desto schicklicher für sie werden.
Es ist besonders daß die Trunkenheit dem %weiblichen
Geschlecht übler ansteht als den männlichen.
Dieß kommt daher weil bei diesem Geschlecht
eine besondere Achtsamkeit auf sich selbst
nöthig ist. Wir finden daß bei gewißen
Völkern und in gewißen Zeiten das Vermögen
viel zu vertragen zur Ehre angerechnet würde.
ZB bei den Griechen. Tacitus sagt von den
Teutschen sie faßen ihre Anschläge beym
Wein des Muths wegen, und führten sie
nüchtern aus. Es entstehen bei vielen Menschen
beim Trunk vielerlei Phänomene. ZB einige
werden andächtig, patriotisch pp Eigentlich
scheint der Trunk nichts anders als die
Empfindungen des gegenwärtigen Zu-
standes zu veringern.

/$b$) durch den Schlaf. Der Ueberfluß des
Schlafes ist wie alle Unmäßigkeit schädlich
Wer in der Iugend zu viel schläft schläft
im Alter weniger. Bei vielen Völkern
wird der Schlaf zu Mittag für schädlich
gehalten Es ist auch ungesund; denn
er muß nicht in Intervallen geschehen.

/|P_33

/Durch zu vielen Schlaf werden die Nerven
geschwächt. Die Denkungsart des Menschen
an Morgen ist verschieden von der des Abends,
weil als denn die Einbildungskraft schwärmt.
Der Morgen ist die Zeit der reifern Urtheilskraft
weil man alsdenn alles kaltblütig beurtheilt.

/$c$) Durch den Tod. Er ist ein unwillkührlicher
Zustand der Schwächung der Empfindungen.
Es ist möglich daß der Mensch Tod scheinen
kann Hievon sind viele Beispiele. Wenn
die Vorstellungen des Menschen %unwillkührlich
geschwächt werden, so sagt man entweder
er ist nicht bei sich selbst, oder er ist außer
sich. Man sagt von einem Menschen er ist
perplex (verklüst) wenn er von einer
Empfindung so überrascht wird, daß er alle
andern nicht in seiner Gewalt hat. Immer
in seiner Faßung zu seyn, sezt ein ziemlich
starkes Gemüth oder eine lange Uebung
voraus. Ecstase bedeutet, wenn ein Mensch
durch eine innere Vorstellung außer den
Bewußtseyn seines äußern Zustandes ver-
sezt wird. Schwärmer haben solche Ecstasen.

/ ≥ Von der
Einbildungs_Kraft und Phantasie

/Das Bildungsvermögen (Immaginatio) ist das
Vermögen Bilder von Gegenständen, unabhängig
von der Gegenwart derselben sich vorzustellen. Das
Vermögen diese Bilder zu vergleichen, heißt sinnliche
Urtheilskraft. Das Vermögen sie zu verknüpfen
ist das Bezeichungsvermögen, vermittelst einer

/|P_34

/Vorstellung welche die Stelle der gegebenen ver-
tritt. Wir müßen Einbildungskraft und Phantasie
unterscheiden. Sie können wohl in allgemeinen
Redegebrauch für einerlei gehalten werden, aber
nicht um einige feine Unterschiede zu bemerken.
Die Immagination ist ein willkührliches Vermögen.
Die Phantasie ist aber unwillkührlich. Sie scheint
also mehr ein Antrieb zu seyn. Was in uns un-
willkührlich vorgeht, glauben wir, daß die Ursachen
deßelben gar nicht in uns liegen, und es ist schwer
zu beobachten, weil wir die Ursachen nicht gewahr
werden. Wir nennen einen Menschen einen Phantasten
der solchen unwillkührlichen Vorstellungen Platz
giebt, und die Vernunft nicht zu Rathe zieht.
Die Frage wie solches unwillkührliche Spiel unserer
Vorstellungen kömmt, ist nicht zu bestimmen.
Die Phantasie folgt immer dem Gesetz der Association
der Begriffe. Die Immagination, wenn sie will-
kührlich ins Spiel gesezt wird, beruht auch auf
diesem Gesezt, aber das Gesetz des Verstandes ist
doch nöthig und man muß die Immagination
seiner Willkühr unterwerfen.

/Die Einbildungskraft ist schlüpferisch;
der Verstand ordnet aber. Sie ist daher sehr wichtig
und wir müßen sie cultiviren. Obgleich die
Phantasie unwillkührlich ist, so ist sie doch nicht
ganz wider die Willkühr und dient zur Ruhe
des Gemüths, und wir können sie auf Gegen-
stände lenken, die uns lehrreich und angenehm sind.

/|P_35

/Die Immagination enthält Wahrheit, die Phantasie
aber Betrug. ZB. Selbst bei gegenwärtigen Dingen
flößt uns die Phantasie Schrecken ein. Die Immagination
verschönert oft einen Gegenstand über seine wirklichen
Werth Die Phantasie wirkt zu Gunsten einer
Vorstellung der Iugend. Die Immagination bringt
Mienen hervor und man ahmt bei der Erzählung
eines andern seine Mienen nach. Man muß seiner
Phantasie den Hang benehmen, uns auf Gegenstände
zu führen von denen wir Ursache haben uns zu
entfernen Dieß muß besonders in der Iugend
geschehen. Laster entspringen oft nicht aus der
Gegenwart des Gegenstandes sondern aus der
Phantasie. Die Phantasie vergrößert ofters Leiden-
schaften durch die Entfernung. ZB die Entfernung
von einem Gegenstande der Liebe ist kein Mittel
wider die Liebe denn die Immagination macht
ihn dadurch noch liebenswürdiger, weil sie die
Fehler wegläßt, die wir bei seiner Gegenwart
bemerken würden.

/Die Einbildungskraft ist bey den %orientalischen
Völkern stärker als bei den occidentalischen. Wenn
die Phantasie in Ansehung ihrer Cultur fehler-
haft ist, so ist sie entweder zügellos (effrenis)
oder regellos (perversa) Zügellos ist sie, so ferne
sie dem «»Gesetze des Verstandes zu wider ist. Man könnte
sagen Zügellose Phantasie schwärmt, regellose faßelt.
Die Zügellosigkeit zeigt eine Stärke an; letzere ist Ver-
wirrung und ist schädlicher. Die Phantasie pflegt
bei großen Köpfen angetroffen zu werden. Die Phantasie

/|P_36

/ist abends stärker als des Morgens daher ist es
beßer, daß man die Abendstunden den Schlaf widmet
und den Morgen so früh als möglich hascht. - Es ist
etwas wohlthätiges in der Phantasie, uns selbst
in Wachen eine Welt zu schafen. Dieß beugt vielen
Uebeln vor durch die Einbildung der Empfindung.

/Wenn wir aber dieser Einbildung den Ziegel zu sehr
schießen laßen, so werden wir Träumer %und für die
wirkliche Welt unnütz. Das Sprüchwort mundus
vult regi opinionibus ist nicht so wohl ein Spott
über den gemeinen Mann als eine Regel für Fürsten.
Die bloßen Meinungen verädlen oft das Gemüth ZB
die Meinung von Freiheit, die bloße Meinung von
Wichtigkeit macht ofters wichtig. In der Phantasie kann
auch Originalität seyn.

/ ≥ Vom
Witz und Urtheilskraft

/Der Gebrauch der Einbildungskraft ist, daß wir die
Bilder derselben vergleichen,

/a) um die Uebereinstimmung derselben zu erkennen

/b) um die Verschiedenheit derselben zu erkennen.

/Ersteres ist der Witz, lezteres die Urtheilskraft. Der
Witz ist positiv oder er dient sich Vorstellungen zu
machen - Urtheilskraft ist negativ um die Irrthümer
von unsern Begriffen abzuhalten. Begriffe entstehen
also eigentlich durch den Witz, die Urtheilskraft aber
ordnet sie. Der Witz ist also beliebter. Oefters kann
er aber fehlerhaft seyn, er findet oft Dinge ähnlich
die doch nur einer Absicht ähnlich sind. Alsdenn muß
die Urtheilskraft dazu kommen, die den Witz von Irrthümern

/|P_37

/abhält. Sie thut den Witz aber Abbruch. Der Witz
ist beliebter, die Urtheilskraft hat aber mehr Achtung
Sie unterhält uns nicht, sie warnt nur %und schränkt
die Thätigkeit des Verstandes ein. Der Witz belebt
die Urtheilskraft aber schränkt diese Belebung auf
die Regeln der Behutsamkeit ein. Witz ohne Urtheils-
kraft ist weniger Werth, als Urtheilskraft und
wenig Witz. Man sagt von einem Mann der Witz
hat er ist aufgeweckt, von einem der Urtheilskraft
hat er ist gesezt. Der Witz ist für die Iugend, die
Urtheilskraft fürs Alter. Mann nennt eine Erkennt-
niß worinn der Witz hervorleuchtet sinnreich,
wo Urtheilskraft hervorsticht scharfsinnig. Witz ist
die Quelle der Einfälle, Urtheilskraft der Einsichten.
Einfälle sind gleichsam die Embrionen der Ein-
sichten. Zu Einsichten wird Aemsigkeit zu Einfällen
Leichtigkeit erfordert.

/Man findet Nationen bei welchen Ein-
fälle mehr Werth sind als Einsichten. ZB Die
Franzosen. Woher kommt dieß? Eines theils ist der
Witz leicht und darum beliebt, die Urtheilskraft
aber schwer; andern Theils giebt der Witz Ver-
muthung von Folgen, die aus den Einfällen könnten
gezogen werden. Einfälle versprechen viel und
darum unterhalten sie. Die bons mots sind so
zusagen ein currenter Witz und ein currenter
Verstand. Wenn aber die Einfalle die Einsichten
verdrängen, so ist der Verfall derselben offen bar.
Daher hat's zu allen Zeiten Censoren der Bücher gegeben
die den Einfällen den Eingang ins Gebiet der Wißen-
schaften versperrten. Witz thut das zur Einsicht

/|P_38

/hinzu, was sie beliebt macht, aber auf die
Iagdt der witzigen Einfalle zu gehen, ist verweichtlich
Wer von Witz Profession macht, nennt man
einen Witzling, wer von der Urtheilskraft
Profeßion macht heißt ein Klügling. Im Grund
ist die Klugheit lästiger, weil sie keine Unter-
haltung bey sich führt. Bei jungen Leuten kann
man den Witz, aber nicht wohl das Klügeln leiden.

/Zu Moden wird Witz erfordert, wenn aber
die Mode durch Urtheilskraft bestätigt wird, so
wird sie Gebrauch Alles hört auf Mode zu
bleiben durch die Zeit. Es ist besonders daß es eine
Nation giebt die modische Leidenschaft zu haben
scheint, und nicht leiden kann, daß etwas modisch
wird. Dieß ist die französische, die das Urbild und
die Erfinderin der Moden ist. Das modische erstreckt
sich so gar auf Sentimens und Sprache.

/Der Witz ist hardis, die Urtheilskraft
aber bedenklich unschlüßig aber behutsam. Die
Franzosen lieben den erstern die Teutschen den leztern,
Urtheile sind deswegen kühn weil sie neu und un-
erwartet sind, wenn man sich aber daran gewöhnt
findet man nichts besonders. Kühn ist nicht etwas
wenn es ohne Grund behauptet wird, daß ist wag-
hälsig; Es stehet aber mit der gemeinen Meinung
in Contraste, daß eine gewiße Künheit erfordert
wird, um damit ins Publicum zu treten.

/Den Witz nennt man schaal wenn
er nichts für den Verstand enthält. Diesen ist
eine pedantische Urtheilskraft entgegengesezt ZB

/|P_39

/scholastische Distinctionen Dieß nennt man
das grüblerische micrologische Einem würde man
einen Laffen den andern einen Geck nennen.

/Leichtigkeit kann nicht nachgeahmt werden
Witz ist das Antheil des Franzosen, Urtheilskraft
des Teutschen der Witz belebt die Gesellschaft durch
Schertz aber ohne damit verbundene Urtheilskraft
wird er abgeschmakt. Witz ist gleichsam wie das
Gewürz für den Verstand. Beim Witz kann eine
Eigenschaft seyn die man Laune nennt, dieß findet
nicht bei der Urtheilskraft statt. Ein solcher Witz
ist Original. ZB beym Swift findet man die
größte Originalität im satyrischen Witz«,» so auch
in Budlers Hudibras. Die Franzosen haben populairen
die Engländer originellen Witz «»Beim Pope und Young
findet man schweren Witz. Der französische Witz
ist ein Witz der Conversation, der englische kann
mehr mit dem Interesse vergliechen werden.

/Man kann den Witz des gemeinen
Mannes in Sprüchwörter ausdrüken. Dergleichen
Sentenzen werden daher geliebt, wenn man sie
examinirt, so findet man immer etwas zwei-
deutiges darinn, und sie sind die Sprache des Pöbels
Sie müßen nicht einmal in Gesprächen, vielweniger
in einer Rede vorkommen Wißenschaften beruhen
nicht auf Witz sondern auf Urtheilskraft. Denn
jenen ist Spiel diesen ist Geschäfte.

/Witz muß immer mit Urtheilskraft
gepart seyn Urtheilskraft ohne Witz ist troken. Ge-
suchter Witz ist der der ein mühsames Geschäfte zu
seyn scheint und ist eckelhaft. Naivität ist eine
Kunst, die aber doch Natur zu seyn scheint, sie ist

/|P_40

/dem Gesuchten entgegengesezt und ein solcher Witz
der naiv, gefällt sehr. Voltaire scheint hierinn
am vorzüglichsten zu seyn. Oefters hält man einen
dummen Menschen für naiv.

/Beim Witz erhellt sich der Geist, bei der
Urtheilskraft aber ermüdet er. Aehnlichkeiten findet
man bald, aber Unterschiede entwischen leicht. Daher
heißt eine Urtheilskraft scharfsinnig, die auch kleine
Unterschiede bemerkt. Man nennt einen Menschen
der die Unterschiede bemerkt die der Bemerkung
nicht werth sind micrologisch. Etwas leere
Spitzfindigkeit zu nennen, weil man glaubt
man könne sie entbehren ist nicht rathsam, denn
alles ist in gewißer Art brauchbar.

/Witz und Urtheilskraft unterscheiden sich
auch dadurch der Witz urtheilt en gros Die
Urtheilskraft gehet ins detaille Man muß
nie en gros sondern en detaile urtheilen.
Der Witz wenn er hervorsticht thut öfters
der Schätzung des Werths einer Sache Abbruch
ZB eine Predigt wo Witz hervorsticht.

/Zum falschen Witz gehören die Wortspiele. Der
Mangel der Urtheilskraft mit Witz heißt Albern-
heit Der Mangel der Urtheilskraft ohne Witz
heißt Dummheit. Beim Begriff der Dummheit
scheint dieser Mangel der Urtheilskraft mit
einer starken @Persuasion@ als habe man Ur-
theilskraft verbunden zu seyn Daher ist die Dumm-
heit dreist. Der Eigendünkel bei einem Mangel
an Urtheilskraft ist also eigentlich Dummheit. Der

/|P_41

/Hochmuth ist also dumm: denn er läßt die
Absicht blicken einem Vorzug über andere
zu haben. Einen Mangel an Urtheilskraft ohne
diesen Eigendünkel ist Einfalt.

/Der Mangel an Urtheilskraft muß
bei der Dummheit practisch seyn. Der bloße Mangel
an Urtheilskraft macht, daß man sagt, der Mensch
ist nicht gescheid. Wer also practische Urtheilskraft
hat, ist gesund, wer mit dieser Witz verbindet
ist gesund nicht nur aber auch klug. Urtheilskraft
ist also nur das negative der Klugheit. Wer durch
Schaden klug geworden ist heißt gewizzigt. Abge-
witzt nennt man den, der andere Menschen ge-
schickt hintergehen kann und hat er noch eine
Neigung dazu, so ist er abgefeimt. Durchtrieben
ist der welcher unter der Miene der Einfalt einen
bittern Spott verbirgt, dieß gefällt. Voltaire
ist sehr stark darinn«, m». Man unterscheidet einen
stumpfen Kopf von einem Dummkopf. Ein stumpfer
Kopf ist der welcher keine behende Begriffe hat. Ein
Dummkopf der keine auch nicht die geringsten Begriffe
hat.

/ ≥ Vom
/Gedächtniss

/Das Gedächtniß verknüpft mit Bewustseyn
die gegenwärtige Zeit mit der vergangenen;
oder es ist das Vermögen Reproduction unserer
Vorstellungen der vergangenen Zeit Es ist ein Unter-
schied zwischen den Ausdrüken, sich etwas errinnern
und sich etwas besinnen. Ersteres ist schon die Re-
production, lezteres erfordert aber erst eine An-
strengung des Gemüths, und ich sage ich entsinne

/|P_42

/mich. Es giebt drei Arten von Vollkommenheiten
des Gedächtnißes worinn die Menschen verschieden
sind Es ist entweder Capax, wenn man etwas
bald faßt; tenax wenn man etwas lange
behält; Behände, wenn man sich leicht errinnert,
und noch eine logische Vollkommenheit wenn
es treu ist. Es ist die Frage ob schwache Urtheilskraft
und schwaches Gedächtniß verbunden sind.

/ Man unterscheidet dreierlei Arten zu memoriren

/1.) mechanisch. Durch die öftere Wiederholung
der Sache die man erhalten soll ZB wie das
Einmal_eins. Bei Verstandeskenntnißen sollte
man es ganz weg laßen weil dem Verstande
dadurch alles Mitwirken genomen und
er paßiv gemacht wird, zB in Religions
sachen.

/2.) Iudiciös, wenn ich das was ich behalten
will an andere Vorstellungen knüpfe
durch eine gewiße Verbindung der Ver-
nunft. Das Gedächtniß ist öfters schwach
weil es nicht geübt ist. Das mechanische
memoriren ist eine unentbehrliche Art
bei Belehrung der Iugend ZB in historischen
Dingen. Das judiciöse ist aber viel
nützlicher.

/3.) Das Ingeniöse Memoriren Durch eine ge-
wißes Spiel des Witzes ist das schlechteste
unter allen, weil der Witz sehr ver-
änderlich ist, dieß ist auch der Urtheilskraft
sehr nachtheilig ZB Bünaus Bilderhistorie

/|P_43

/Es ist auch vergeblich, weil es statt zu erleichtern
sehr erschwert. Einer von den Alten sagt; die
Bücher haben das Gedachtniß zu Grunde gerichtet
das ist wahr, denn wenn man ein Buch selbst
besitzet so verläßt man sich darauf. Man lernt
also aus einem geliehenen Buch mehr als aus
Seinen eignen.

/Man findet Leute die nicht schreiben können, und
doch ein starkes Gedächtniß haben, das Schreiben
kommt den Gedächtniß sehr zu Hülfe bleibt aber
dabei uncultivirt Das ungetreue Gedächtniß
ist nicht die Vergeßlichkeit, aber es errinnert falsch.
Dieß ist die Folge eines Witzes der statt der %eigentlichen
Sache eine ähnliche producirt. Dieß findet auch
bei denen statt die die Wahrheit nicht lieben.

/Sanguinische haben ein behendes aber untreues
Gedächtniß. Phlegmatische kein behendes aber
dauerhaftes. Cholerische haben ein treues aber
nicht dauerhaftes und die Melancholischen
ein «r»festes. Die Italiäner haben das stärkste Ge-
dächtniß.

/ ≥ Von
der Vorhersehung. ≤

/Die Vermögen des menschlichen Gemüths die auf
Zeitveränderung sind gerichtet beruhen auf die
Sinne.

/Der Sinn ist das Vermögen der gegenwärtigen
Zeit, das Gedächtniß der Vergangenen und die
Vorhersehung des Zukünftigen. Wir haben kein
Vermögen wo unser Verlangen daßelbe uns
zu bedienen nicht das Vermögen selbst übersteigt,

/|P_44

/was die Natur uns gegeben hat. Da ist die Be-
gierde das Zukünftige zu wißen. Die Ursache ist
diese. Im gegenwärtigen Augenblick genieße ich
das Vergangene habe ich in Nachschmack das Zu-
künftige im Vorschmack und diese vergnügt doch
nur allein, oder doch am meisten.

/Das Vorhersehen ist eigentlich das was intereßirt
Das Gegenwärtige und Vergangene intereßirt
uns nicht mehr. Wir geben daher aller Thorheit
Gehör, um so viel möglich, von der Zukunft zu
entdecken. ZB Ahndungen. «¿»Leute die auf diese
bauen sind wahre Phantasten. Wir befragen in
Ansehung des zukünftigen auch Träume. Das
hat zwar schon ziemlich abgenommen, aber ist
doch sehr stark gewesen, besonders wenn sie sehr
deutlich sind. Selbst bei den Wilden ist dieß so, daß
wenn ihnen etwas in der Nacht träumt, sie es den
Tag darauf ausüben. Die Träume werden immer
eine Wichtigkeit behalten. Sie könnten etwas be-
deuten, wenn ihre Ursachen wirklich empfunden
würden. Es fängt öfters eine Dispositon in
Schlafe an, die in Wachen fortfährt. Es können
jemanden Krankheiten träumen, die wirklich nach-
her eintreffen, weil er die Ursachen davon in Schlafe
schon dunkel fühlt. Die Menschen würden auf
Träume gar nicht achten, wenn die Zukunft
sie nicht so sehr intereßirte.

/Ferner die Wahrsagung aus den Sternen
ist zwar jezt aus Europa ganz abgeschaft,
aber bei den orientalischen Völkern ist sie noch

/|P_45

/und im vorigten Iahrhundert war es auch noch
in Europa. Es giebt auch Handwahrs«g»agerinn
Waßerwahrsagerinn. Wahrsagerey aus den Ge-
sichtszügen. Es glauben noch viele Menschen an
die Wahrsagerey. Dieß beweiset öfters nicht die
schwache Einsicht, sondern den Hang das zukünftige
zu wißen.

/Einen Mantis nannte man den, der die Reden
eines Verrückten auslegte Denn man hielt einen
Verrückten für einen Abgesandten des Himmels
der die künftigen Schicksale verkündigte. In
Ansehung des künftigen worauf Furcht und
Hofnung ziehen, können eine Menge Thorheiten
aus einander folgen. Die Anstalt in Ansehung
des künftigen ist Sorge in so ferne es in unserer
Gewalt ist, ists Fürsorge. Wir müßen Fürsorge
aber nicht Sorge in Ansehung des künftigen
haben. Es giebt Menschen die sich mit Hofung
nähren können, andere die sich mit Sorgen
quälen. Bei den Römern hielt man dafür daß
die Aussicht ins Künftige einen gewißen furor
voraussetze.

/ ≥ Vom
Bezeichnungsvermögen

/Das Bezeichnungsvermögen ist ein Vermögen
durch gewiße Zeichen Vorstellungen zu verbinden,
daß das eine das Mittel des andern werde.
Es giebt zweierlei Zeichen einige sind begleitende

/|P_46

/Zeichen ZB. Wörter in der Sprache. Andere sind
stellvertretende Zeichen ZB Bilder.

/Die Sprache ist ein nothwendiges und wesentliches
Stück des Gebrauchs des Verstandes. Denn durch
solche Zeichen setz ich mich in den Stand die Vor-
stellungen des Verstandes zu unterscheiden. Die
Kunst Taub und Stumm gebohrnen sprechen
zu lehren ist neuerlich sehr cultivirt und man
hat in Sachsen einen solchen Lehrer der schon viele
Unterrichtet hat.

/Es giebt naturliche und willkührliche Zeichen
Zur leztern Claße gehört die Sprache zur erstern
die Mienen, die unsere Affecten begleiten. Die
Zeichen heißen demonstrative welche die Wirk-
lichkeit des Gegenstandes anzeigen. ZB der Rauch
zeigt die Gegenwart des Feuers an. Einige
Zeichen sind rememorative, die nicht das gegen-
wärtige, sondern das vergangene anzeigen. ZB
ein Grab zeigt an daß ein Mensch da begraben
sey. In der Natur giebt es viele dergleichen Zeichen
ZB Muscheln auf der Erde zeigen daß das
Meer vorher an diesem Orte gewesen sey.
Prognostische Zeichen sind solche die das zukünftige
bedeuten ZB beim Wetter. Bei den Aerzten heißt
ein gewißer Zustand des Gesichts facies hypocrati@ca\on@
welches den Tod anzeigt.

/Mystische Zeichen sind Symbola und Hieroglyphen
wo das Zeichen etwas analogisches bedeuten soll.

/|P_47

/ZB eine Schlange die den Schwanz im Munde
hat bedeutet ein Iahr. Es ist oft daß der gleichen
Zeichen für Sachen selbst genommen werden, und
es scheint auch daher, als wenn der Thierdienst der
Aegypter nur ist misverstanden worden. Symbola
sind Zahlen und die Methode ist nichts anders
als eine Art des Gebrauchs der Symbolen die
Größen genau zu erkennen. ZB Dutzend Mandel

/Der Mensch ist geneigt einen wirklichen
Werth in die Zahlen zu legen ZB es ist ein ge-
meiner Aberglaube daß wenn dreyzehn Gäste
an einem Orte sind einer davon stirbt Die
Ursache scheint zu seyn Zwölffe war die Zahl der
Dreyzehnte wäre der Delinquent. Die Chinesen
halten auf die Zahl 9 wir auf 7. Daher hat
der Kaiser von China 9999 Schiffe

/ ≥ Vom
Dichtungsvermögen

/Wenn die Gegenstände die Ursachen der Vorstellungen
sind, so gehören sie zu den Sinnen, sind wir
aber Ursache der Vorstellungen so gehören sie zum
Dichtungsvermögen Der Wortgebrauch des Aus-
druks Einbildungskraft ist zweifach.

/a) Reproductio. Diese reproductive Einbildungs
kraft ist die, welche dem Gedächtniße zu Grunde
liegt und ist von derselben in weiter nichts
unterschieden als daß das Bewustseyn hinzu

/|P_48

/kommen muß, und dann wird sie Gedächtniß
Sie bringt nichts hervor sondern widerholt
nur

/b) Productio das productive Vermögen der Ein-
bildungskraft ist eigentlich das Dichtungs
Vermögen, und der lezte Name ist beßer
als der erstere.

/Schöpferisch ist das Dichtungsvermögen nicht
sondern nur bildend. Hieraus entspringt nun
eine reiche Quelle der Unterhaltung der Menschen
Das Dichtungsvermögen ist ein großes Geschenk
der Natur wider die Mühseligkeiten des Lebens
um die leeren Augenblicke deßelben auszufüllen.
Diese träumerische Denkart ist aber doch reich-
haltig und sie wird schwärmerisch chimärisch
und romanenhaft. Am besten ist es sich mit
Arbeit zu beschäftigen Aber im Nothfall ist es
eine Wohlthat. Oefters brauchen wir doch
auch Ideale in der wirklichen Welt zB ein guter
Regent, ein guter Mensch. Die Idee eines Weisen.
Das Ideal ist ein Figment das seinen Grund
in der Vernunft hat. Solche Ideale giebt es
nicht aber wir brauchen sie doch als Muster.

/Wir bedienen uns verschiedner Wörter
wenn wir neue Vorstellungen erfinden. Entdecken
und erfinden. Beim ersten ist die Sache wirklich
da, aber verborgen; beim leztern ist sie nicht
da. ZB die Erfindung einer Schifsuhr. Amerika

/|P_49

/kann man nicht sagen, ist erfunden, sondern
entdeckt worden. Ein Geschichtschreiber muß nicht
erfinden sondern entdecken. Ausfindig machen,
hier weiß man daß eine Sache da ist, aber nicht
wo sie ist. Wer sie findet hat sie ausfindig ge-
macht Erdenken und ausdenken. Beim erste«¿»ren
find ich etwas das blos sein Daseyn in Gedanken
hat ZB eine Fabel. Beim leztern bedarf ich
etwas was doch nur durch meine Gedanken
möglich ist ZB Handwerkszeuge.

/Erdichten ist etwas erdenken wider die Wahrheit
oder etwas ihr hinderliches. Das Lügen ist ein
wirklich Dichten soferne man es für Wahr-
heit ausgiebt. Oefters liegts in einer corrupten
Einbildungskraft, daß es manchen Menschen
Mühe kostet nicht zu lügen. Hiemit kommt man
in die Verwandtschaft der Dichter. Die Künste schön
zu denken sind Beredsamkeit und Dichtkunst und
in beiden äußert sich die productive Einbildungs
kraft, Vorzüglich in der lezten.

/In jedem Product der Einbildungskraft ist
ein primarium und adhaerens. Bei der Beredsam-
keit ist der Hauptgenstand der Verstand, das ad-
haerens ist die Sinnlichkeit. Ist der Verstand mit
der Sinnlichkeit geschickt verbunden, so wirds Be-
redsamkeit. In der Dichtkunst ist die primar
perception die Belebung der Sinnlichkeit und
das adhaerens ist der Verstand. Man hat gewiße

/|P_50

/Ausdrüke die der Beredsamkeit nahe kommen.

/Redseeligkeit ist ein Trieb viel zu reden, ohne
daß es andere intereßirt. Es scheint dieß ein
Natur instinct zu seyn, und es ist beim weiblichen
Geschlecht oft anzutreffen. Von dieser ist ver-
schieden Beredsamkeit welche eine Vollkommen-
heit ist besonders beim Frauenzimer ist. Dieß
kann man aus ihren Briefen sehen. Zeigt sich
diese Eigenschaft beim männlichen Geschlecht
zu früh, so sind's mehrenteils schaale
Köpfe. Beredsamkeit ist die Kunst zu bereden
oder den Schein für Wahrheit zu verkaufen.
Hievon ist zu unterscheiden

/Die Wohlredenheit bei welcher man die Sinnlich
keit mit dem Verstande geschickt verbindet.
Bei der Poesie ist die Hauptabsicht die Belebung
der Sinnlichkeit und der Verstand ist nur das
Mittel dazu. Der Verstand kann ohne Sinnlich
keit nichts denken. Den ein Begriff ohne die
ihm correspondierende Anschauung ist nichts.
Alle Urtheile der Klugheit, Sittlichkeit er-
fordern Beispiele, das heißt, daß man das,
was man in Abstracto gedacht hat in
Concreto geben kann. Die Sinnlichkeit kann
sich auch eben so wenig ohne den Verstand be-
helfen. Beide müßen in allen Werken der
Kunst verbunden seyn nur in der einen ist

/|P_51

/das eine stärker als das andere. Der Verstand
muß immer den Plan machen.

/Dem Dichter gelingts beßer Ideale als
die Natur zu schildern. Der Dichter stellt die Tugend
in die Idee nicht, dieß thut der Philosoph,
sondern er stellt alles was Menschen rühren
kann, in der Apparatur vor. Wir können auch
in Prosa dichten. Die Poesie liebt aber das
Silbenmaaß. Die Ursache ist, weil unsere Ein-
bildungskraft dadurch an gewiße Regeln ge-
bunden wird, und das tactmäßige wirkt
mehr auf unsern Geist. Das Sylbenmaaß schickt
sich nicht für den Redner, denn er ist wider die
Würde deßelben und misfällt.

/Der Reim ist eine Gewonheit der
nördischen Völker. Er kann nicht abgeschafft
werden weil in der teutschen Sprache das Silben-
maaß nicht bestimmt ist, wie bei den orientalischen
Völkern. Warum haben Poeten mehr Freiheit
als Redner? Weil sie auch mehr unterm Zwange
sind, und nicht den Verstand sondern die Sinne
vergnügen sollen. Woher kommts daß man Sentenzen
gerne in Versen hört? Die Ursache ist, weil
der Vers ein bloßes Mittel ist die in den
Sentenzen enthaltene Sittenlehren beliebt
zu machen, und es ist auch leichter fürs Ge-
dächtniß. Woher sind wir nachgiebiger wenn

/|P_52

/ein Redner etwas mittelmäßiges sagt, als
ein Poet? Weil der Poet uns so zu sagen mit-
nöthigt zum Tanzen. Wir werden auch schon
durch das Hohlklingende was das Silbenmaaß
an und vor sich selbst hat in eine gewiße Er-
wartung gesezt. Woher war bei den Volckern
eher Poesie als Pros@e@? Die Ursache ist, die «Ursache»
Sprache war nicht reich genug an allgemeinen
Ausdrüken, und der Poet ergänzte diese Armuth
durch Bilder. Die ersten griechischen Philosophen
trugen ihre Lehren immer in Versen vor. und
Heraclit fieng zuerst an in Poesie zu philosophiren.

/Das Zeitalter in welchem die Beredsamkeit
hochstieg war zugleich der Verfall des Staats,
Sie ist die Kunst sich die Schwäche anderer zu
ihren Nachtheil und seinen eignen Vortheil
zu bedienen. In Frankreich herrscht noch die
Beredsamkeit in den Gerichtshöfen und die Rechts
pflege ist in Verfall weil man nicht Wahrheit
sondern auch Scheingründe braucht.

/In unsern Zeitalter herrscht Wohlreden-
heit, Poesie ist die größte Cultur unserer
sinnlichen Erkenntniß und der Verstand ist nur
das Mittel das Spiel ihrer Vorstellungen in
Ordnung zu bringen Warum haben bei allen
Nationen die Dichter die Redner im Nachruhm
übertroffen? In der Dichtkunst ist mehr Product
der Natur, beim Redner aber ist mehr Betrug

/|P_53

/Es läßt eher sich durch Nachahmung ein Redner
als ein Dichter werden denn in der Dichtkunst ist
Originalitaet. Es ist bei der Dichtkunst mehr
Genie, Beredsamkeit laßt sich aber lernen. Die
Dichtkunst verschwindet mit dem Alter andere Wißen-
schaften bekommen alsdenn ihre Reife. Ein didactisches
Gedicht schickt sich mehr für's Alter als ein
episches

/ ≥ Von den
Krankheiten der menschlichen Er-
kenntniskraft. ≤

/Blödsinnigkeit ist der Mangel des Witzes
und der Urtheilskraft, die Sinne und die Einbildungs
kraft sind aber in Ordnung Gestört ist der, deßen Ge-
müthskräfte thätig sind, aber in Unordnung. Bescheiden
nennt man ihn auch blöde. Phantast ist der, mit dem
die Einbildungskraft spielt, der «¿»keine Willkühr über
sich hat. Die Phantasie dient auch dazu um unsern
Verstand durch ihre Bilder Leben und Stärke zu
geben. Ein Phantast ist also der die Ideen der Einbildungs
kraft zu wirklichen Dingen macht. ZB die Idee der Freund-
schaft Es giebt daher Phantasten die es darum sind, weil
sie gute Begriffe der Vernunft haben ZB Phantasten der
Tugend und diese nennt man Enthusiasten.

/Es giebt eine Art der Phantasie, indem man
den Dingen einen Werth giebt der den wirklichen Werth
derselben übersteigt oder zu niedrig ist und dieß ist
Thorheit. Wer aber seinen eignen Werth zu hoch an- 

/|P_54

/schlägt ist ein Narr, diesem haßen wir. Die
Thorheit beruht auf Unerfahrenheit und kann
mit großem Verstande verbunden seyn. Sie
nimmt bei zunehmenden Iahren beim Wachsthum
der Urtheilskraft ab, die Narrheit wächst aber mit
den Iahren.

/Ein Phantast wird ein Schwärmer wenn sein
Verstand und seine Einbildungskraft in Unordnung
ist dieß kommt schon dem Delirio nah. Diese
Krankheit wegzuschaffen gehört mehr für den Arzt
als Philosophen Es ist aber doch ein des Nachdenkens
würdiger Zustand. Delirium ist eigentlich ein Traum
des Wachenden. Woher entspringt das Delirium?
Meistentheils sind Hochmuth und Liebe, ein großer
Verdacht auf andern Menschen, die Ursache davon.
Am öfter«s»n ists erblich und entweder Liebe oder
Hochmuth sind nachher Würkungen davon. Beim
Delirio glaubt ein Mensch vieles zu sehen und
zu hören, was Niemand sehet oder hört, und
doch hat er Vernunft, die Ursache ist das Delirium
greift die Sinne nicht die Vernunft an. Bei einem
Kinde nimmt man niemals Spuren einer Stöhrung
wahr Veränderung des Clima ist auch nie die
Ursache davon. Oefters sind Menschen nie bei
einem Object in Verwirrung und übrigens haben
sie gute Vernunft, wenn man sie aber recht
untersucht hat, so hat man doch immer eine
Verwirrung an ihnen wahrgenommen. Unsere
Wahrnehmungen der Sinne halten wir nicht

/|P_55

/gleich für wahr, sondern wir verbinden
sie mit andern und dann wirds Erfahrung
und ein Mensch der diesen Grundsatz hat, hat
gesunde Vernunft, wenn er aber seine Wahrnehmung
gleich für Wahr hält, so ist er schon auf dem Wege
zum Delirio.

/Die Hypochondrie grenzt sehr an Delirio
Es ist nöthig, daß wir uns mit Sachen beschäftigen
um dadurch Affecten zu verhüten. Es ist unter
den Menschen mehr Thorheit als Bosheit. Es giebt
zweierlei Arten die Laster als Thorheit vorzu-
stellen, entweder daß man sie haßenswürdig
oder als lachenswerth und ungeräumt vorstellt,
Welche Art ist beßer? Wir scheuen mehr die Ver-
achtung als den Haß. Es könnte eine Lehre der
Tugend mit guter Laune geben, da wir die
Laster von der lachenswerthen Seite darstellen.
Die lezte Art ist die beste, denn wenn ich etwas
haße, so halt ich es doch etwas werth, wenn ich
es aber verlache und verspotte, so halte ich es
für nichts werth und dieß ist der menschlichen
Natur am meisten gemäß.

/ ≥ Von der
obern Erkenntniskraft

/Die obere Erkenntnißkraft ist eigentlich das Ver-
mögen zu denken Sie reducirt sich auf drey
Vermögen; Verstand, Urtheilskraft und Vernunft
diese steigen den Grad nach. Der Verstand zeigt

/|P_56

/die Regel, die Urtheilskraft die subsumtion
gewißer Fälle unter diese Regeln, die Vernunft
ist aber das Vermögen nach Regeln Principien
herzuleiten. ZB. Ein «D»Richter braucht Verstand
und Urtheilskraft, ein Gesetzgeber aber Ver-
nunft; denn er muß die Gesetze nach Principien
geben. Daher kann oft Iemand eine gute Rede
halten, und doch keinen vernünftigen Discour führen.
Urtheilskraft wird nie gelernt, sondern geübt.
Verstand kann man lernen, und jenen ubt man
durch Umgang mit Menschen und Erfahrung.
Denn Regeln der Urtheilskraft kann man nicht
geben aber wohl Regeln des Verstandes. Daher kann
ein Mann bei vieler Gelehrsamkeit dumm seyn
die Klugheit beruht auf Urtheilskraft.

/Vieles wird der Empfindung zugerechnet
was dem Verstande gehört und wieder umgekehrt
Viele Menschen wollen von Wißenschafften und
ihren Gegenständen urtheilen und berufen sich
dabei auf ihr Gefühl und Empfindung. Dieß
kann wohl bei Gegenständen der Sinne geschehen, aber
bei Gegenständen des Verstandes muß man sich auf
Begriffe berufen. Urtheile des Verstandes können
nicht empfunden werden.

/Wir können uns einen speculativen und
practischen Verstand denken: ersterer ist der, welcher
blos denkt, lezterer macht seine Verstandes
Begriffe in seinen Handlungen wirksam, dieser
bedarf Erfahrung jener nicht. Das Sprüchwort

/|P_57

/Verstand kommt nicht vor den Iahren gilt %eigentlich
von der Urtheilskraft.

/Man unterscheidet den gemeinen und gesunden
Verstand. Der gemeine ist nicht vulgaris sondern
Comunis, nicht der bei jedem Menschen angetroffen
wird, sondern der gemeinschaftlich ist. Der Sensus
comunis ist eigentlich der welcher so beschaffen ist,
wie der gesammte menschliche Verstand. Der gemeine
Verstand dient zum Maasstabe. Zum Maasstabe
der Dinge haben wir Ideen der Vernunft, aber für
den Verstand haben wir keinen andern Maasstab,
als der Verstand selbst. Daher ist's unmöglich daß
ein Mensch mit seinem Verstande unzufrieden sey
denn zur Beurtheilung des Verstandes können
wir keine Idee brauchen, daher nehmen wir zur
Beurtheilung deßelben den mittlern Verstand
aller Menschen zum Maasstabe an.

/Die Art des Verstandes ist sehr verschieden. Ein
behender Verstand ist von gründlichen Verstand
unterschieden. Iener beurtheilt alles aus der
Oberfläche, dieser aber aus der ganzen Beschaffenheit.
Iener ist gemeinhin seicht. Der Franzose hat einen
besondern Begrif und bleibt dabei. Einen behenden
Verstand sezt man den richtigen entgegen. Dieser
will nicht viel, aber mit Richtigkeit wißen. Es
giebt eine Arglist ohne Verstand, die Betrüger
sind oft dümmer als die Betrogenen. Denn der
Kluge und «¿»Rechtschafne betrachtet die Menschen nicht
als Spitzbuben. Man muß nicht denken, daß Ver-
stand mit Bosheit vermischt sey und die Ehrlichkeit
von der Dummheit herkomme. Denn Ehrlichkeit sezt
Grundsätze voraus, und zu diesen wird ein gesunder

/|P_58

/Verstand erfordert und ohne dießelbe ists nur
Einfalt. Man kann bei einen Menschen den Schein
der Ehrlichkeit antreffen, der aber Dummheit ist, und
von Be@lehr\lohn@ung von einem Betrüger leicht corrumpirt
wird. Ehrlichkeit könnte wohl bei der Dummheit statt
finden aber nicht Redlichkeit, denn diese beruht
eigentlich auf Grundsätzen der Ehrlichkeit.

/Menschen zeigen oft viel Verstand aber
nicht Vernunft, sie sind vermögend Regeln
aufzufinden, aber die Principien worauf sich
diese Regeln gründen, können sie nicht bemerken.
Es giebt Köpfe, die in kleinen grübeln, aber
ihre Erkenntniße können sie nicht erweitern. Es
kann Iemand feine aber nicht erweiterte Be-
griffe haben. Die Vernunft ist eigentlich das
Vermögen erweiterter Begriffe. Man könnte
sagen ist nicht über den Verstand noch ein höherer
Verstand nöthig, der jenem die Regeln des
Gebrauchs vorschreibt? Um die Vernunft zu
beßern muß man sich bis zu den Principien
hinausstrecken.

/Das Vernunft Talent kann cultivirt
werden. Der größte Zweck der Philosophie ist
die practische Vernunft zu cultiviren. Der Verstand
kann sich mit Erfahrungsdingen beschäftigen. Die
Vernunft aber beschäftigt sich mit dem Verstande
und nicht mit den Gegenständen deßelben.

/Die obern Erkenntniß_Vermögen können

/|P_59

/geschwächt und in Unordnung gebracht werden
Blödsinnig nennt man den der auch die gewöhnlichen
Vermögen des Verstandes nicht zeigt ZB die Cretenses
sind Leute die mit Kröpfen gebohren werden, und
wenig Verstand zeigen.

/Wahnsinn und Wahnwitzig. Ersterer gehört zu den
Sinnen lezteres zum Verstande. Er hat andere
Principien des Gebrauchs derselben. Von erstern
sagt man er schließt richtig aus falschen Grund
sätzen, lezterer schließt falsch aus wahren Grund-
sätzen. Die größte Ursache der Verrückung ist der
Eigendünkel.

/Der Laffe bewundert alles, der Geck wird leicht
betrogen Studiren kann nie eine Ursache der Störung
seyn sondern eine Störung des Kopfes muß
schon zum Grunde liegen. Aber Principien die
eine verkehrte Denkart einflößen können Köpfe
verdrehen.

/ ≥ Von der
Zerstreuung und Sammlung des
Gemüths

/Man bedient sich zweier Ausdrücke wenn unsere
Aufmerksamkeit nachläßt.

/1. Man dißipirt sich. Dieß ist willkührlich
und um sich zu dißipiren, gehet man in
Gesellschaften in Schauspiele Music. Man
läßt eigentlich seine Vorstellungen unter
allerlei Gegenständen herumgehen. Dieß
muß immer nach angestrengter Auf-
merksamkeit folgen. Man muß sich
frühzeitig über unangenehme und

/|P_60

/verabscheuungswerthe Gedanken zu ver-
scheuchen, und wir können hierinn eine
große Gewalt über uns erlangen. Ofters
entspringt Wahnsinn aus langer Heftung
der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand

/2) Man dißtrahirt sich wenn die Aufmerk-
samkeit unwillkührlich von einem Gegen-
stand abgewandt wird. Diese Distraction
ist zu nichts nütze es giebt zu vielen Un-
gereimtheiten Anlaß. Ia sie ist so gar Ieder-
zeit eine Krankheit. Wenn die Distraction
bei gemeinen Leuten angetroffen wird,
so sind's gemeinhin Schelme. Frauenzimmer
sind weniger zerstreut als Mannsper-
sonen und es ist auch für sie unschicklich
Wenn man durch Arbeit erschopft wird
so ist man lange Zeit hernach zerstreuet.
Männern die sich mit Geistesarbeiten
beschäftigen ists zu verzeihen.

/Dieses Zerstreuungs«vermögen»vertreiben heißt sich,
sammlen. Man nennts lateinisch Collectio
animi. Man kann sich sammlen von einer will-
kuhrlichen und unwillkührlichen Zerstreuung.
Nach @den@ lezten ist das Gemüth schwach und
zum Denken nicht aufgelegt.

/ ≥ Von der
Majorennitaet und Minorennitaet nicht
nach dem bürgerlichen Rechte. ≤

/Das Vermögen sich seines Verstandes ohne Leitung

/|P_61

/eines andern zu bedienen nennt man Unmündig-
keit. Viele sind Zeitlebens unmündig. Das Talent
ist mehrentheils dem Geschäfte des Lebens nicht an-
gemeßen. Man nimmt aber doch eine Zeit
an da Menschen sich ihres Verstandes bedienen
können Denn der Iugend ist der Betrug der Welt
nicht bekannt, und ihnen fehlt die Cultur der
Erfahrung.

/Die Zeit der Majorennität ist in verschiedenen
Ländern auch verschieden In einigen in 20igsten
in einigen in 22igsten Iahr. Frauenzimmer kommen
zu dem Verstande der ihrem Character ange-
meßen ist, früher als Mannspersonen. Dem
ohngeachtet gelangt das Frauenzimmer in bürger-
lichen Leben niemals zur Mündigkeit, und wenn
sie es auch könnten so schickt es sich für ihr
Geschlecht nicht.

/Wenn wir aber die Unmündigkeit in weiterer
Bedeutung nehmen, so finden wir daß Menschen
unmündiger sind als sie es denken. ZB Könige
behandlen ihre Unterthanen als Unmündige
als Kinder. Bürger in gemeinen Wesen konnen in
Ansehung ihrer Wahl mündig seyn ob sie gleich
einen Beherrscher brauchen, so bedürfen sie doch keinen
Vater Daher ist der Name Vater dem Könige nicht
angemeßen. Oefters machen Geistliche ihre Ge-
meine unmündig.

/Um etwas zu lernen braucht man Gedächtniß
und Verstand. Das gelernte anzuwenden braucht
man Urtheilskraft und Vernunft. Die Rußen

/|P_62

/ziehen bei sich keine Lehrer. Ein Lehrer zu werden
gehört Vernunft. Zu historischen Dingen kann
der Lernende nicht Gelehrter werden als der Lehrer.
aber wohl in Vernunftwißenschaften. Vernunft
gehört zur Weisheit. Oefters ein kluger und ge-
schickter Mann hat nicht Weisheit genug die Absicht
dazu zu wählen; lernen, das Gelernte brauchen, und
die Endabsicht wißen sind die drey Actus, Verstand,
Urtheilskraft, Vernunft. Man sagt von einem Menschen
er ist bornirt, das heißt er bleibt beim Gelernten
stehen, und kann nicht über die Principien deßelben
raisoniren. ZB mehrentheils Iuristen.

/Vernünfteln heißt den Folgerungen aus gelernten
Principien nachhängen. Dieß ist leicht. Bücherge-
lehrsamkeit erweitert nicht Begriffe sondern ver-
mehrt sie nur. Der Philosoph ist Gesetzgeber der
Vernunft. Mathematiker und Physiker sind nur
Vernunftkünstler.

/Gescheidt, verschlagen, verschmitzt, klug, weise
abgewitzt, bei allen diesen Ausdrüken liegt der
Begriff des gemeinen Menschenverstandes zum
Grunde.

/ ≥ Von den
Gemüthsfaehigkeiten

/Naturell Talent und Genie. Der Schüler
bedarf Naturell, der Lehrer Talent der Erfinder
Genie. Man theilt das characteristische des
Menschen ein in Kopf und Herz Im eigentlichen
Verstande verstehet man durch Kopf Verstand
durchs Herz Willen. Es kommt nicht beim Menschen
darauf an, daß er viel Talente in Besitz habe

/|P_63

/sondern die Verhältniß der Gemüthskräfte muß
gleich seyn. So muß Witz ohne Urtheilskraft nicht
cultivirt werden, und umgekehrt. Mancher Mensch
ist fabelhaft nicht weil sein Verstand zu klein ist.
Das Wort Genie kommt nicht aus den französischen
sondern von den lateinischen Wort Genius, welches
so viel als Geist bedeutet her. Genie ist die Origina-
litaet des Talents Er hat Genie das heißt er
hat etwas an sich selbst, sein eigener Geist hat
es ihm eingegeben. Unter Genie verstehet man
nicht alle Originalitaet sondern nur eine solche,
die nachahmungswerth ist. Genie ist die Freiheit
vom Zwange der Regel. Es ist aber nicht regellos
sondern es ist der Urheber mancher Regeln.

/Wenn man beständig nach den vorgeschriebenen
Regeln verfahren müßte, so würde es keine
Genies geben Genisten suchen Originalität, sie sehen
aber nicht auf Originalwürdigkeit.

/Dem Genie ist der Mechanismus entgegengesezt
Er liegt bei allen Menschen zum Grunde das Maschinen
mäßige muß aber doch mit Behutsamkeit ge-
braucht werden, damit nicht alle Genies ausgerottet
werden. Bei Armen ist der Mechanismus sehr
nützlich große Thaten auszuführen. Der mechanische
Kopf ist brauchbarer als das Genie der leztere
kommt nie zur Epoche. Genie scheint eine Dis-
proportion in den Erkenntnißkräften zum Grund
zu haben. Man kann das Genie von Virtuosen
unterscheiden. Ein Virtuose ist, der ein Talent nach-
ahmen kann. Wer blos Einfälle hat ist noch kein
Genie; denn dieß öfnet einen neuen Weg zu
einer Kunst. Ein Mathematisches und philosophisches

/|P_64

/Genie können einander hervorbringen, aber
ein practisches nicht. Die Mathematic bedarf nicht
soviel Genie als die Poesie, ja nicht soviel als
Philosophie. Das Genie ist mehrentheils roh und
nur ein Virtuose hat das Genie cultivirt. Zum
Genie gehört Sinnlichkeit, Urtheilskraft, Geist
Geschmack. - 

/Zur Sinnlichkeit gehört Einbildungs
kraft und diese ist oft zügellos, daher muß die
Urtheilskraft dazu kommen, welche aus den Vorrath
der Sinnlichkeit nur die zweckmäßigen wählt
und die Einbildungskraft einschränkt.

/Geist ist das Vermögen, die Belebung aller
Gemüthskräfte und wird besonders zum Genie
erfordert Man bedient sich dieses Worts oft
ZB man sagt; Ein Buch ist ohne Geist, das heißt,
es hat nichts belehrendes. Geist ist immer eine
Einheit des Princips im Product.

/Geschmack ist das was beim Genie den untersten
Werth hat. Die Reife deßelben sezt viel Erfahrung
voraus Geschmack ist eine Art von Behutsamkeit
in der Wahl deßen was allgemein gefällt. Es ist
oft verzärtelt und dem Genie bisweilen sehr
gefährlich, aber der Einfluß auf die Gesellschaft
wird dadurch vergrößert.

/Das Genie schießt entweder in die Wurzel
Dies ist Urtheilskraft, oder in die Crone das ist
Sinnlichkeit oder in die Blüte das ist der Geschmack
oder in die Frucht das ist der Geist Bei den Teutschen
schießt das Genie in die Wurzel, das heißt, sie

/|P_65

/besitzen viel Urtheilskraft in ihrem Genie.
Bei den Franzosen in die Blüte, das heißt sie
haben viel Geschmack im Genie. Bei den Engländern
in die Frucht, das heißt, ihnen ist in den Genies
das sie zeigen viel Geisteignes; Bei den Italiänern
in die Krone, das heißt sie laßen sich beim Genie
durch ihre Sinnlichkeit hinreißen.

/Ein Geist der Oberfläche kann ein großer
Geist zu seyn scheinen. Ein allgemeiner Kopf
ist der, der zu allen Wißenschaften aufgelegt ist
deren giebt es nur wenige Nur Aristoteles und
Leibnitz können dahin gerechnet werden. Auch
Leonhard_de_Vinci war ein großer Mahler Bau
meister und Musicus. Der Geist der Allgemeinheit
ist der auf den Nutzen in Großen und in Ganzen
sieht. Er kann ein System produciren Dieß könnte
man auch den architectischen Geist nennen.

/Unter Talent verstehet man gemeinhin alle
Geistesgaben oder auch wohl unsere Fähigkeiten
überhaupt. Legt die Natur einen Hang zu gewißen
Künsten und Wißenschaften in den Menschen? Dieß
ist schwer zu bestimmen Denn die Naturbestimmung
ist schwer ausfindig zu machen. Aus den Hang
der Iugend kann man nicht bestimmen. Denn
die Naturbestimmung ist schwer ausfindig zu
machen. Aus den Hang der Iugend kann man nicht
bestimmen wo zu Iemand Talent hat. Die Kinder finden
oft ein Metiée gut, ohne es zu kennen. Von verschiednen
Personen sagt man daß sie frühzeitige Köpfe sind. Der-
gleichen findet man in der Schweitz.

/|P_66

/Naturalisten einer Wißenschaft, sind die, welche
ohne Anweisung Wißenschaften erlernt haben.
Es findet hirbei doch immer ein Mangel des Fundaments
statt. Diese nennt man auch Autodidacti. Die
frühere Fähigkeiten der Kinder können nicht
zu Genies gerechnet werden. Es giebt von solchen
frühen Fahigkeiten viele Beispiele. Man findet
daß große Köpfe in der Iugend nicht viel versprochen
haben ZB Fontenelle. Man könnte einen Gelehrten
der viele Wißenschaften ohne Philosophie kennt und
weiß, einen Cyclopen nennen. Von der Art sind
gemeinhin die Polyhistores.

/Der Mensch hat eine dreifaches Vermögen nemlich
das Erkenntnißvermögen, das Vermögen des Gefühls
der Lust und Unlust und das Begehrungsver-
mögen. Von erstern ist bis jezt gehandelt worden,
nun kommt also das zweite Stück.

/ ≥ Vom
Gefühl der Lust und Unlust. ≤

/Alles Gefühl der Lust und Unlust ist zwiefach
entweder die Lust oder Unlust an unsern Zustande
und das ist subjectiv oder an andern Gegenständen,
und denn ist's objectiv das erste heißt das Ver-
gnügen, und das was die Ursache deßelben ist,
heißt angenehm, das lezte heißt Wohlgefallen
und man sagt blos von dem es gefällt, was
nicht auf unsern Zustand gehet ZB man sagt
nicht , das Haus ist mir angenehm, sondern es
gefällt mir. Das Objective oder Wohlgefallen

/|P_67

/ist entweder ein Wohlgefallen der Sinne, und
das ist das Schöne, oder des Verstandes und das ist
das Gute. Angenehm ist das, was in der Empfindung
gefällt; das objective Wohlgefallen aber ist ein Wohl-
gefallen der Beurtheilung.

/Dem Vergnügen ist der Schmerz entgegen-
gesezt. Der Schmerz ist das Misfallen einer Sache.
Vergnügen ist das Gefühl von der Beförderung des
Lebens. Der Schmerz von der Hinderniß des Lebens.
Im Schmerz fühlen wir unser Leben mehr als
im Vergnügen. Nicht die Vergroßerung der
Hinderniße des Lebens vergrößert den Schmerz
sondern die Vergroßerung des Gefühls von der Hinder
niß des Lebens. Das Hinderniß kann klein seyn,
und das Gefühl davon groß. Ist das Vergnügen ein
positiver Genuß oder ist es nur etwas negatives
nemlich eine Aufhebung des Schmerzes. Das Ver-
gnügen ist nichts positives sondern nur eine
Stillung des Schmerzes. Es müßen also Ver-
gnügen und Schmerz beständig abwechseln und das
Vergnügen bestehet nur darinn, daß wir die Hinder-
niße des Lebens gehoben fühlen. Wo Vergnügen ist
muß auch beständig noch mehr fast Schmerz seyn;
Ersteres bestehet nicht ohne das leztere dieß beweiset
man schon in gemeinen Leben, wenn man «d»nach
durchlebten Tag und Abend sagt, ich freue mich,
daß mir heute die Zeit so kurz geworden, und
so vergnügt verfloßen. Ich freue mich da in ge-
wißer Art daß ich die Zeit loß geworden bin;

/|P_68

/Ueber das aber was Vergnügen geschaft hat freuet
man sich nicht, das es vorbei ist vielmehr verdrießt
es einen, daß es nicht länger gedauert hat, es muß
also ohne daß ich's weiß, ein gewißer Schmerz ge-
worden seyn, über den man sich nun freuet, daß
er vorüber ist. Wenn wir den Menschen in Ansehung
seines Thuns und Laßens seines Wohl und Uebel-
standes betrachten, so finden wir, daß die Natur
den Menschen den Schmerz zum Sporn der Thätigkeit
gegeben ZB Wenn wir getrieben werden etwas zu
thun so werden wir getrieben aus unsern Zustand
herauszugehen und in einem andern zu treten
Das was uns nöthigt aus meinen Zustand heraus-
zugehen ist der Schmerz. Dieß ist der Zustand in
welchen wir nicht bleiben wollen, um in einen
andern zugehen, der diesen aufhebt, und dieß
ist das Vergnügen. Wir beklagen uns öfters über
lange Weile und freuen uns über die Verkürzung
der Zeit.

/Nur in Schmerz fühlen wir unser Daseyn
in Vergnügen laßen wir einen Theil unsers Lebens
ohne Bewußtseyn vorübergehen der Verdruß beym
Verlust einer Sache ist immer größer als das
Vergnügen beim gewinnst.

/Zufriedenheit ist nur nach der Arbeit
möglich. Beschaftigung die an sich selbst vergnügt
ist Unterhaltung wenn sie aber wegen des Zwecks
angenehm ist, so ists Arbeit. Iede Arbeit ist be- 

/|P_69

/schwerlich. Faulheit ist der Zweck aller unserer
Arbeiten, um einmal Ruhe zu bekommen. Wo-
her dient Arbeit dazu um uns das Leben nicht
zur Last zu machen? Weil auf den Schmerz der
Arbeit Vergnügen und auf welches wiederum eine
neue Arbeit folgt. Wenn die Anstrengung unserer
Kräfte gelungen so haben wir immer Ver-
gnügen. Die Glükseligkeit bestehet nicht im Ge-
nuß sondern in der Hofnung. Graf von Veri
merkt an; die schönen Künste und Wißenschafften
sind nur gewiße Gegenmittel gegen die nam-
losen Schmerzen welche die Menschen unter dem
Titel der langen Weile quälen Er theilt auch
daher das Vergnügen ein in physisches und Idealisches
Ersteres das aus den Genuß entspringt. Lezteres
das in der Einbildung besteht. Ie mehr ein Mensch
den Idealischen Vergnügen ergeben ist, desto mehr
Mittel hat er sich der langen Weile zu entledigen,
aber desto mehr braucht er sie auch. Die wahre Zufrieden-
heit ist die Zufriedenheit mit sich selber, mit seinen
Thaten und mit seinem Zustande. Der Schmerz ist
nur ein Uebel, das Laster aber ist das Böse.

/Einem jeden Vergnügen muß Schmerz
vorgehen. Denn das Vergnügen bestehet in der Hebung
des Schmerzes Gleichgültigkeit ist der Zustand, da
man weder Vergnügen noch Schmerz stark em-
pfindet. Komt die Gleichgültigkeit aus Mangel
des Gefühls so ist sie Schwäche. Gleichgültigkeit

/|P_70

/ist der Zustand da man weder Vergnügen noch
Schmerz stark empfindet. Kommt die Gleich-
gültigkeit aus Mangel des Gefühls so ist sie
Schwäche. Gleichgültigkeit aus Grundsätzen zeigt
eine große Seele an; da der Mensch genießen und
entbehren kann. Diesen Zustand nennt man Gleich-
müthigkeit; weil das erstere eine Empfindungs
losigkeit anzeigt. Die erstere suchten die Stoiker.

/Der Gleichmüthigkeit sezt man die launische
Disposition entgegen. Sie ist der Zustand da der
Mensch nach verschiedenen Empfindungen, ohne
daß er es selbst weiß ganz unwillkührlich
zur Freude und zum Schmerz gestimmt ist.
Launigt ist der, der in der Disposition eines be-
ständigen Originalen Scherzes ist.

/Zum Genuß des Vergnügens gehört Empfind-
samkeit. Sie ist von der Empfindlichkeit verschieden,
da man statt vernünftigen Reflectionen Em-
pfindungen herrschen läßt. Empfindsamkeit
ist das Vermögen so wohl das angenehme als un-
angenehme zu genießen Empfindlichkeit ist aber
die Schwäche der Organe der Empfindung, wo
der Mensch durch äußere Einflüße wider
seinen Willen beherrscht wird. Die erstere kann
oft männlich seyn; die leztere aber ist immer
weibisch. Ueberhaupt muß man sich nicht
kindisch freuen auch nicht weibisch betrüben.
Thränen des Mannes müßen aus Theilnehmung

/|P_71

/nicht aber eigner aus eignen schlechten Zu-
stand geweint werden. Das Herz des Mannes
muß wacker seyn, das heißt, es muß fertig
zur Thätigkeit seyn und wo es nichts helfen
kann, da muß es sein Gemüth nicht in Be-
wegung setzen.

/Zu den beharrlichen Zustand gehört die gute
Laune, die weder immer zur Freude noch
immer zur Traurigkeit gestimmt ist. Auch
im Tadel des Lasters muß die gute Laune
herrschen, und es ist beßer die Laster lächerlich
und verachtungswerth als haßenswerth
darzustellen. Denn wenn man das Laster haßt
so haßt man auch bald den Lasterhaften, welches
doch nicht recht ist. So ist die Frömigkeit mit
guter Laune die beste Frömmigkeit. Der
menschlichen Natur scheint in keinem Fall
Gravität und Ernst angemeßen zu seyn.
Denn nur aus gewißen Zwang arbeitet der
Mensch, aus Neigung spielt er, und ein
großer Theil seiner Zufriedenheit beruhet
auf Kleinigkeiten. Die Neigung zu Kleinigkeiten
leitet auch wirklich zu allen Guten Man
muß daher das Gemüth zu guter Laune zu
stimmen suchen.

/Sich etwas zu Gemüthe ziehen heißt sich den Schmerz
so überlaßen daß er herrschend wird, und wir das

/|P_72

/Leben für Unglück ansehen, oder etwas als
wesentlich ansehen zur Glückseligkeit, ohne daß es
Triebfeder der Handlung ist ZB der Verlust des
Vermögens. Man muß sich nichts zu Gemüthe
ziehen Es wird als denn nur Gegenstand der Em-
pfindung und die Empfindung soll doch nur
Triebfeder der Handlungen seyn. Wir müßen
aber zu Herzen nehmen, wenn etwas Triebfeder
der Handlung ist ZB die Leiden unsers Nächsten
müßen wir uns nicht zu Gemüthe ziehen, sondern
zu Herzen nehmen, so ferne wir ihn helfen können,
sonst ist es eine müßige Empfindung ein müßiger
Schmerz Leiden ziehet man sich zu «g»Gemüthe, in so
ferne sie nicht Sporn zur Thätigkeit sind. Auch
verübte Laster müßen wir uns nicht zu Gemüthe
ziehen sondern zu Herzen nehmen, so ferne dieß
Triebfeder zur Beßerung seyn kann Weil man
das geschehene doch nicht zu ändern im Stande ist.
Allen Vergnügungen müßen wir steuern
können; denn kein Vergnügen in der Gegenwart
vergnügt recht und besonders das Ende des
Vergnügens gefällt. Wir haben ein dreifaches
Vergnügen in Vorschmack, in der Empfindung,
im Nachschmack. Das Vergnügen im «vor»Nach-
schmack ist täuschend im Nachschmack dauer-
haft.

/Die Natur hat gewollt, daß wir uns durch

/|P_73

/jeden Schmerz abhärten sollen Denn der kann
nur das Vergnügen recht genießen der es ent-
behren gelernt hat. Einige Vergnügen sind zu
gleich Cultur, das heißt sie machen uns fahig
noch mehreren zu genießen und sie sind zugleich
dauerhaft, andre nützen ab. Sie sind alle Ver-
gnügungen des Genußes. Durch die Cultur der Talente
werde ich zu mehrern Vergnügen fähig Hiezu gehört
Gesellschaft besonders der Umgang mit Frauenzimer
Ferner der Luxus. Er ist der entbehrliche Aufwand
mit Geschmak und giebt durch die Cultur Ent-
schuldigung, daß er auf's Entbehrliche verwandt
ist weil sein Nutzen dauernd ist. Er ist von den
Luxuries verschieden. Sie gehet nur auf die Menge
und ist der Aufwand ohne Geschmak dagegen
der Luxus gehet auf die Art der Dinge, es
wird aber dadurch viel den Bedürfniß entzogen.
Die Luxuries ist immer sehr schädlich Das
angenehme so ferne es weichlich macht ist luxus
sagt Hume. Daher werden die Engländer nicht
in Luxus verfallen.

/Alle Vergnügen sind gefährlicher als die
Ungemächlichkeiten denn erstere schwächen die
Lebenskräfte, leztere fordern sie zur Stärke
auf. Beim Vergnügen ist der Mensch leidend
beim Schmerz aber thätig Bei der Freude über-
läßt er sich den Affect. Beim Schmerz streitet
er darwider. Oft kann uns ein Gegenstand

/|P_74

/angenehm seyn, und das Vergnügen davon
doch misfallen ZB. der Tod eines Freundes der
uns sein Vermögen hinter läßt. Oft ist uns
ein Gegenstand unangenehm und der Schmerz
gefällt. ZB der Schmerz einer Gattin. Man
nennt diesen Schmerz einem süßen Schmerz,
daher wollen sich solche Personen nicht trösten
laßen. Wenn der Schmerz aus guter Denck-
art entspringt so gefällt er ums, den Schmerz
aus Eigennutz aber tadelt man ZB über den
Verlust des Vermögens.

/Der Schmerz über Vergehungen wird von
den Menschen selbst gebilligt, und auch ein
solcher Schmerz aus moralischer Denkart ist
zu nichts nütze, er schwächt die Seele und hält
sie von Thätigkeit ab Eine solche Selbstqual
hat keinen Vortheil wenn nicht die Bemühung
zur Beßerung damit verbunden ist. Es
kann ein Vergnügen außer der Empfindung
nach dem Verstande gefallen ZB der Geschmack
wohl zu thun Es kann ein Schmerz außer der
Empfindung nach dem Verstande misfallen
ZB der Mord.

/Selbst erworbene Vergnügen gefallen um
so mehr, weil sie auch der Verstand billigt, und
ein Schmerz woran man selbst Schuld ist schmerzt
vielmehr. Unschuldiges Leiden entrüstet, schuldiges

/|P_75

/schlägt nieder. Vergnügen wächst durch Ver-
gleichung mit anderer Menschen Leiden und Schmerz
mit anderer Menschen Freuden.

/Ein Schmerz wird erleichtert durch die
Vorstellung, daß er hätte größer seyn können.
Im Unglück verzagt werden, vermehrt das Un-
glück, und in Freuden weichlich werden ver-
mindert die Freude und legt wieder den Grund
zum Unglück.

/Alles Wohlgefallen ist zwiefach entweder
mittelbar was zu andern Zwecken als Mittel ge-
fällt oder unmittelbar. Die Gegenstände des
unmittelbaren Wohlgefallens sind das Angenehme,
Schöne und Gute Das Gegentheil ist unangenehme
häßliche und böse. Zur Unterscheidung des Ange-
nehmen gehört Gefühl; Zur Unterscheidung des
Schönen, Geschmack; des Guten, Denkungsart,
Das angenehme gefällt in der Empfindung
und ist ein Privatwohlgefallen. Hier gefällt
mir mein eigner durch Gegenstände afficirter
Zustand; das Schöne aber muß allgemein ge-
fallen. Das Wohlgefallen so ferne es sich auf
Gefühl und Beziehung bezieht, heißt der
Reiz. Beim Schönen ist der Reiz nicht eine Haupt-
sache sondern eine Nebensache.

/Der Sinn unterscheidet nur das Angenehme

/|P_76

/zur Empfindung des Schönen aber gehört
Urtheilskraft, und diese sinnliche Urtheils-
kraft ist der Geschmak. Wer blos für seine
Sinne wählt, wählt nach Appetit, wer auch
«vor»für andere Sinnen wählt hat Geschmak. E«s»r
ist das Vermögen gesellschaftlich zu wählen, oder
das Vermögen zu urtheilen nach Iedermanns
Sinn. Das Sprüchwort jeder hat seinen Ge-
schmak ist falsch; denn er hat keinen Geschmack
wenn «n»er nicht unterscheiden kann was Ieder-
mann gefällt. Der Geschmak ist eine Urtheils
kraft über das was cultivirt und genoßen
wird. Es sind nur zwei Sinne für welche die
Gegenstände des Geschmaks gehören Gesicht
Gehör ZB Malerei, ein Garten, Music sind
Gegenstände des Geschmaks, nicht des Genußes.
Es können hierüber viele auf einmal ver-
gnügt werden, sie sind daher gesellig. Bei
den andern Sinn kann aber nur einer em-
pfinden. Das Schöne muß sich nicht auf-
dringen; jeder Genuß aber ist aufdringend.
Woher ist der Ausdruk für die Beurtheilung
des Schönen von Sinn des Geschmaks herge-
nommen? Weil die Mahlzeit ein Mittel der
Gesellschaft ist und zur Wahl einer geselligen
Mahlzeit Geschmak gehört. In der Gesellschaft

/|P_77

/hat das Schöne einen großen Werth als das
nützliche. Die Geschmacksneigung wird größer
wenn der Hang zur Gesellschaft größer ist
ZB bei den Franzosen.

/Der Hang zum Wohlleben mit Geschmak ist
der Luxus Wohlleben ist die Empfindung des
Vergnügens welche das Maas übersteigt den
Geschmak gereicht zur Ehre so wie alles was
gesellschaftlich ist, der Geschmak civilisirt
das heißt, er macht die Gesellschaft mehr
angemeßen, die groben Neigungen werden
durch ihn gemäßigt und grobe Laster hören
nicht so viel durch Moralität, als durch
Cultur des Geschmaks auf.

/Der gute Geschmak verhütet die Luxuries
welche doppelt schädlich ist, so ferne sie arm
und krank macht. Das Urtheil anderer was aus
der Natur der Sache gefällt wird, ist der wahre
Geschmak was aber blos um der Nachahmung
geschieht ist Nachäffung. So ferne etwas dauer-
haft ist und ein Gegenstand der Nachahmung
ist, ists Gebrauch, aber der Anfang der Nach-
ahmung ist Mode, und wenn etwas aufhört
Mode zu seyn, so ists Gebrauch. Man muß Mode
nachahmen, weil sie eine Kleinigkeit ist, daß

/|P_78

/es nicht scheine, als ob man in Kleinigkeiten
eine Wichtigkeit suche, %und weil sie eine Einheit
in der Gesellschaft macht. Das Störische zeigt
wider die Mode, entweder einen Sonderling
an, oder einen Pedanten, und der Hang zur
Mode eine große Eitelkeit das ist, daß man
eine Sache nicht wegen ihres Werthes sondern
wegen der meisten Stimmen schätzt Der Geschmack
muß nicht nach der Mode sondern diese nach
jenen eingerichtet werden.

/Man muß noch von der Schönheit den Reitz
unterscheiden. Schönheit bestehet in der Harmonie
des Objects mit dem Verstande und den Sinnen.
Reitz bestehet aber blos in der Empfindung
Bloße Empfindungen cultiviren nicht In
Ansehung des Geschlechts findet keine rechte
Schönheit statt denn hier kommt immer Reitz
ins Spiel. Die Alten sagten wahre Schönheit
ist männlich weil hier aller Reitz wegfällt
In Ansehung der Größe des Körpers und des
Verhältniß der Glieder ist immer die mittlere
Proportionalzahl zwischen dem größten und
kleinsten was man schön nennt.

/Das Schöne wird von Guten unterschieden
Die Schönheit liegt in den Organen der Sinnen
das Gute aber in den Dingen selbst. Das nützliche
ist das mittelbare Gute und unmittelbar

/|P_79

/Gut ist nur ein guter Wille. Wir finden daß
das Nützliche die Schönheit vermehrt, und die
Verbindung beider ist das wesentliche Schöne.
Das Intereße der Denkungsart ist das Gute. - 

/Man sagt oft ein Mensch ist ein guter Mensch
der nicht schädlich ist aber dieß beruht nicht auf
der Denkungsart. Einen großen Mann nennt
man den der das Vermögen hat gutes zu thun
Dieß betrift aber nur sein Talent, und er
hat auch ein Vermögen eben so böses zu thun.
Maximen werden angenommen nicht ange-
bohren. Ein Mensch kann gut gebohren seyn
dann ist's aber nur ein gutartiger Instinct

/Reitz und Rührung ist das was die Lebenskraft
vermehrt, Rührung was die Lebenskraft schnell
hemmt, daß sie darauf destomehr überströmen
könne. Lezterer scheint inniglicher zu rühren
als der erstere denn die Lebenskraft empfindet
man weit mehr, wenn sie vorher gehemmt
werden.

/Das Gute gefällt nur aus objectiven Gründen.
das Schöne aus subjectiven und objectiven
zugleich; das Angenehme nur aus subjectiven
daher läßt sich das Schöne mit den Guten füglich
vergleichen das angenehme aber nicht. So läßt
sich die Tugend gut und schon schildern aber ohne Reitzungen.

/|P_80

/ ≥ Vom
Begehrungsvermögen. ≤

/Wir haben viele Begierden aber nur einen Willen.
Etwas zu begehren stehet nicht in unserer Gewalt,
aber etwas zu wollen. Die Begierden gehen un-
willkürlich auf den Gegenstand der gefällt und wir
können von ihnen nicht Rechenschaft geben. Der
Wille gehet aber nicht auf einzelne Objecte unserer
Empfindung sondern aufs Ganze und dann fallen
viele Begierden weg.

/Es giebt zweierlei Arten der Begierden.

/a) müßige von denen uns bewußt ist, daß der
Gegenstand nicht in unserer Gewalt ist

/b) Thätige deren Gegenstand entweder wirklich
oder doch wenigstens nach unsern Vorstellungen
in unserer Gewalt ist. Alle Begierden
sind «¿»in uns von «¿¿»der Natur zur Thätig-
keit gelegt.

/Die müßigen Begierden müßen nur kurz dauern
und es muß Reflexion dazukommen, ob der
Gegenstand in unserer Gewalt ist. Einige Be-
gierden wovon wir wißen daß der Gegenstand
nicht in unserer Willkühr ist, zu unterhalten ist
thöricht, und dann heißt sie eigentlich müßig.
Daher die pia desideria Reue und Traume.

/Unbestimmte Begierden die keinen be-
stimmten Gegenstand haben, sie sind eine Sehnsucht
aus dem gegenwärtigen Zustand herauszugehen

/|P_81

/und in einem andern «zu» bestimmten Zustand
zu treten der nicht ein Gegenstand unserer Begierde
ist. Diese haben den Namen der langen Weile. Sie
bestehet in der Gewonheit des Gennußes und nicht
der Thätigkeit und ist meistentheils eine Wirkung
des Luxus. Daher trift die lange Weile nie die
Wilden und alten Leute. Beim weiblichen Geschlecht
bringt die lange Weile vapeurs; beim männlichen
Grillen auch Laster hervor. Das Mittel dawider
ist die frühe Gewonheit an Thätigkeit und Arbeit.
Die Arbeit stellt uns den Genuß in der Ent-
fernung vor und diese nuzt nicht ab sie giebt
uns das Gefühl unserer Lebenskraft, nur sie
scheint die Zeit recht auszufüllen, und zwar
nicht allein die gegenwärtige sondern auch die
künftige. Das Geschäfte muß aber nur ein
Zweck und Interesse haben. So müßen wir ZB.
beim Bücherlesen immer etwas lernen. Das
Gefühl der Ruhe nach Arbeit ist viel vor-
züglicher als nach dem Genuß, und sie macht uns
noch fähiger zu weit größern Arbeiten. Man
nimmt gewöhnlich bei der langen Weile seine Zu-
flucht zum Toback, Spiel und starken Getränken,
weil dabei viel Wechsel der Empfindung ist. Es
ist daher nicht gut den Kindern bei der Erziehung
alles spielend zu machen denn der Mensch muß
sich früh zur Arbeit gewöhnen. Rüstig ist der
welcher mit Muthigkeit ist, und ohne Aufschub

/|P_82

/die Arbeit thut.

/Begehren scheint eben so viel zu seyn als be-
dürfen, doch finden wir eine Art von Begierden
die aus dem Genuß zu kommen scheinen: So sind
alle moralische Entschließungen ZB das Wohl-
thun. Wir sind uns des Vergnügens bewußt
etwas gutes zu thun. Wenn wir bei den Gegen-
ständen unserer Begierden die Entbehrlichkeit bei-
behalten können so geben sie uns wahre Zufrieden-
heit. Wir begehren immer das am stärksten
was nicht in unserer Gewalt ist.

/Zum Begehrungs_Vermögen gehört

/a) Hang. Ist keine Begierde sondern nur eine
Disposition zum Begehren, nur die Möglich-
keit der Entstehung der Begierden und gehet
vor der Kenntniß des Gegenstandes den wir
begehren vorher. Man kann bei Kindern
durch analogische Schlüße und Versuche
den Hang probieren. Der Mensch hat einen
Hang zum Geitz im Alter. So kann man
sagen der Mensch ist nicht böse sondern er
hat einen Hang zum bösen.

/b) Instinct Ist eine wirkliche Begierde aber
auch ohne klare Vorstellung des Gegen-
standes Es ist eigentlich Naturtrieb, und
kann nicht blos sinnlicher Antrieb heißen
Die Anlage liegt in der Natur, und weil
diese uns keine Kenntniß gegeben, so ist

/|P_83

/der Gegenstand unbekannt. Er unterscheidet
sich aber dadurch von Hang, daß er eine wirkliche
Begierde ist, den Gegenstand aufzusuchen. Die
Menschen haben nicht viel Instincte, und sie
zeigen sich nur gelegentlich und sie sind
gut, nur der Verstand muß sie beherrschen.

/c) Neigung ist eine bestimmte habitüelle
Begierde so ferne sie dauernd und mit
der Kenntniß des Gegenstandes verbunden
ist. Sie macht den Menschen nicht glücklich
weil sie anhaltendes Bedürfniß ist. Hätte
der Mensch aber nicht Neigung, so hätte
er auch keine Thätigkeit. Oft können Neigungen
wirklich mit der Pflicht übereinstimmen, wir
müßen uns doch aber auf die Pflicht fußen.
Denn ein Mensch der aus Pflicht Gutes thut
ist frei, wer's aber aus Neigung thut ist
gebunden.

/d) Leidenschaft wird eine Neigung wenn die
Begierde herrschend ist und nicht den Sinnen
aller Neigungen angemeßen ist. Aus
Neigung liebt man, aus Leidenschaft ist
man verliebt. Die Vernunft sehet auf
die Vergleichung einer Neigung mit den
gesammten Neigungen.

/Zum Gefühl gehört

/$a$) Empfindsamkeit

/$b$) Gefühl

/$d$) Gemüthsbewegung ist das Gefühl der Lust oder

/|P_84

/Unlust was unsere ganze Aufmerksam-
keit auf sich zieht.

/$g$) Affect. Ist eine Gemüths_Bewegung die uns
außer Faßung sezt.

/Diese Vier Stücke sind den ersten Vier corre-
spondirend. Was der Affect nicht geschwind
thut, thut er gar nicht, die Leidenschaft aber
mit der Zeit. Wo mehr Affect ist, ist immer
weniger Leidenschaft, und umgekehrt ZB
beim Geitz. Der Affect gehet wie ein Rausch
vorüber. Leidenschaft ist aber ein dauernder
Wahnsinn. Der Weisheit stehet die affectlosigkeit
an, welche auch Phlegma heißt. Sie ist aber nicht
Fühllosigkeit sondern eigentlich die Apathie
der Stoiker, oder Herrschaft über sich selbst. Einige
Affecten treffen blos den Sinn, andere dringen
ins Gemüth, ob sie diese sind; so ist Zorn und
Aergerniß. Aergerniß oder sich ärgern heißt
bis zur Kränkung unwillig werden und trift
das Gemüth Den Zorn trift aber die Empfindung
Menschen wünschen sich wohl Affecten aber nie
Leidenschaften. Denn diese sind immer eine Last.
Erstere aber vergehen bald Man muß von Affect
die Lebhaftigkeit unterscheiden Die Franzosen sind lebhaft
die Italiäner voll Affect.

/Die Seele muß in Bewegung das Gemüth in Ruhe
seyn Die Seele kann durch Empfindung in Bewegung
seyn aber das Gemüth muß in Ruhe bleiben. Es
kann Iemand große Schmerzen empfinden, ohne sich's

/|P_85

/zu Gemüthe zu ziehen. Wir tadlen uns selbst
wenn wir es haben zum Affect kommen laßen;
denn ein Mensch in Affect verliert die Direction
seiner Selbst, als eines klugen Mannes ZB im
Zorn. Der Mensch erreicht durch Affect nie seine
Absicht, sondern sie wird dadurch verhindert ZB
die Furcht. Die Menschen rechnen sich einige Affecten
zur schon Affect läßt sich nicht verhelen. Leiden-
schaft aber verheelt sich mehrentheils: Denn diese
ist überlegend, jene aber stürmisch. Leute die
zum Verhelen gewohnt sind, haben auch nicht affect
Man macht den Einwurff, die Natur hat die
Affecten in uns gelegt, warum sollen wir ohne
Affect zu seyn uns bemühen? Antwort. Die
Natur hat zwar die Anlage zu Affecten in uns
gelegt aber nur im thierischen Zustande, und
nach der Ausbildung der Vernunft bedürfen wir
ihrer nicht. Der Mensch ist auch bestimmt die
Menschheit zu entwickeln und dann hört der
Zweck der Affecten auf.

/Dem Affect ist entgegengesetzt

/a) Gleichmüthigkeit. Wenn sie von Natur
ist heißt sie Phlegma oder eine erworbene
Gleichmüthigkeit. Ist Gemüthsstärke die
auf Maximen beruht.

/b) das Vermögen sich zu faßen. Die Leidenschaft
ist das Vermögen sich zu beherrschen entgegenge-
sezt. Wir haben angenehme und unangenehme

/|P_86

/Affecten Aber doch kommen wir ehr zu den
unangenehmen.

/Die Affecten nehmen immer ihre Gegenstände
aus der Zukunft und man kann sie durch
den Gedanken an die Kürze des Lebens mäßigen
Auch denjenigen der nur in die Nahe und nicht
in die ferne Zukunft sieht, können Affecten nicht
so sehr angreifen.

/Furcht und Hofnung sind beide nie ohne ein
ander Bei jeder Hoffnung ist immer Furcht und
vice versa. Die Furcht ist nicht immer Affect,
und kann auch bei einem gelaßenen Gemüthe
statt finden. Affecten sind sie aber dann wenn das
Gemüth kein Mittel wider diese Furcht treffen
kann Es giebt Menschen die sich leicht mit Hoffnungen
unterhalten können, und man hält sie für
glücklich, sie pflegen es aber auch so mit andern
zu machen. Traurigkeit ohne Hoffnung ist ver-
zweiflung.

/Traurigkeit kann mit zweifacher Hoffnung
verbunden seyn, entweder daß es bald auf-
hören werde, oder daß man es gewohnt werden
wird. Lezteres heißt Geduld, und ist eine
wirkliche Tugend. Der beste Zustand ist der
ohne Hofnung und Furcht. Man kann be-
trübt und nicht traurig seyn. Traurigkeit
gehet auf den ganzen Zustand und afficirt
das Gemüth; Betrübniß aber nur auf den
gegenwärtigen Fall.

/|P_87

/Niedergeschlagenheit ist eine Betrübniß die
sich nicht aufrichten kann. Der Mensch muß
nie niedergeschlagen seyn. Denn es bleibt doch
die Zufriedenheit aus Wohlverhalten übrig.
Die Verzweiflung ist entweder eine schwer-
müthige oder wilde. Diese entstehet aus Ent-
rüstung und Zorn; jene aus Gram. Es ist
verachtlich in eine zaghafte Verzweiflung zu
fallen. Die aus Entrüstung, ob sie gleich mürrisch
ist, so zeigt sie doch eine gewiße Stärke an.

/Der Schreck beziehet sich auf eine Gefahr
von der man keinen Begrif hat. Bei der Furcht
aber ist der Begrif von Gefahr verbunden. Dem
Schreck ist die Herzhaftigkeit, der Furcht ist Muth
entgegengesezt. Herzhaftigkeit ist die Eigenschaft
durch keine Gefahr im ersten Augenblick er-
schreckt zu werden. Muth aber ist Stärke, das
Uebel zu ertragen. Es beruht auf Grundsätzen
ersterer auf Temperament, und sezt wirklich
eine gewiße Einrichtung der Organe der Muskeln,
der Lunge voraus. Sie ist glänzender als der Muth,
obgleich diese mehr Achtung verdient. Der Schreck
vergeht mit der Kenntniß der Gefahr, aber die
Furcht wächst mit ihr. Herzhaftigkeit vergeht auch
mit der Kenntniß der Gefahr. Muth aber nicht.
Unter rohen Nationen bestimmt die Herzhaftig-
keit den Rang. Eine gewiße Herzhaftigkeit
nennt man Tollkünheit wo keine Aussicht ist
aus der Gefahr herauszukommen. Zu einem Treffen

/|P_88

/gehört Herz, zum Tod auf dem Sterbebette ge-
hört Muth. Es ist besonders, daß die jenigen Menschen
die die mehrsten Verdienste haben, am herzhaftesten
sind ihr Leben zu wagen, und der deßen Leben, den
wenigsten Werth hat, es am mehrsten achtet.

/Feigheit ist eine ehrlose Verzagtheit. Selbst-
mord ist nicht immer Mangel des Muths, sondern
immer eine gewiße Stärke. Ein Muth ohne
Affect ist Phlegma; und dieß ist der Muth eines
Helden. Muth im Duell ist verschieden von den
Muth eines Soldaten. Ein Wohldenkender und
Ehrliebender hat mehr Muth als Soldat, als im
Duell. Das Leben hat bei allen Menschen den mehrsten
Werth wenn es aber mit «¿»Schimpf beladen ist, so hat
es keinen Werth. Es gehört aber viel Reflection
dazu, um das Leben für weniger zu halten, als
die Ehre.

/Man sagt ein Mensch ist verklüst (perplex) oder
er kommt außer Faßung. Dieß ist der erste
Ueberfall von einer Furcht und löset sich mehren-
theils in Entschloßenheit auf. Es ist also nicht
Verzagtheit. Grade der Furcht sind Bangigkeit,
Angst, Grausen, Entsetzen. Mit dem Schreck ist
verbunden Zorn Bewunderung, Schaam. Zorn aus
Beleidigung Bewunderung aus Ueberraschung
Schaam aus plötzlicher Besorgniß der Verachtung
anderer.

/Zorn ist eine rüstige Gemüthsbewegung und ist
beßer als der Haß der schon Leidenschaft ist. Ersterer
ist vorübergehend, Der Zorn ist nicht allein der
Gegenstand deßelben, sondern auch andern ge- 

/|P_89

/fährlich. Daher können wir mit anderer Traurigkeit
sympathisiren, aber nicht mit ihren Zorn

/Die Bewunderung ist eine plötzliche Erhebung
auf einen Gegenstand der unsere Erwartung über-
trift. Ie weniger man vermuthet desto größer
ist die Bewunderung. Sie ist verschieden von Ver-
wunderung. Iene sezt eine Vortreflichkeit, diese blos
jedes auffallende voraus. Das Erstaunen ist keine
unangenehme Gemüthsbewegung es ist eigentlich
eine Bemühung des Gemüths einen Gegenstand
zu erkennen, der über seine Grenzen hinaus ist.
ZB von der Art ist «des»die Achtung fürs höchste Wesen.

/Die Schaam ist ein plötzlicher Eindruck aus Furcht
vor Verachtung. In Gegenwart anderer heißt
sie Blödigkeit. Sie ist eigentlich eine Furcht in
Ansehung des Urtheils andrer zu verliehren oder
weniger Werth zu haben. Daher weiß ein blöder
Mensch nicht, wo er Hände und Füße laßen soll
er glaubt durch jede Stellung in den Augen
anderer zu verliehren, oder weniger Werth zu
haben. Es ist also nicht gut zu einem jungen Kind
zu sagen; schäme dich, wenn es etwa unan-
ständige Stellungen macht. Man macht dadurch
aus ihm einen blöden Menschen im Alter. Nur
wegen Lügen muß man sich schämen. Die Schaam
ist aber eigentlich eine Verlegenheit aus den
Bewußtseyn seiner Blödigkeit.

/Dieser Blödigkeit ist entgegengesezt die Freimüthig-
keit nicht aber die Dreistigkeit. Freimüthigkeit
ist das Bewußtseyn meines Werths im Urtheil
anderer. Die Dreistigkeit aber verlangt Ueber- 

/|P_90

/legenheit und ist also grob. Ihr ist die Bescheiden-
heit oder Mäßigung in Ansprüchen entgegenge-
sezt Bescheidenheit in der Miene ist immer mit
Freimüthigkeit verbunden Bescheidenheit in der
Manier betrift die Conduite. Dumdreistigkeit
ist eine solche die sich anderen Beifall aufdringen
will. Die Schaam scheint die Vorsehung nur zur
Verrathung der Lügen in den Menschen gelegt
zu haben.

/Den Neid kann man nicht zu den Affecten
zählen. Denn er ist schon ein Hang, und beruht
mehrentheils auf der Furcht von anderer Glück
verdunkelt zu werden Die Geringschätzung kann
bis zum Affect steigen. Verachtung ist eine Ge-
ringschätzung, denn sie erniedrigt den Werth des
andern. Wenn sie Affect wird, so ist sie Eckel. Er
ist der Zustand, wo alle Lebenskräfte abgespannt
werden. Der Eckel kann nicht geschildert werden,
ohne daß er unangenhem ist. Der schaale Witz
ist eckelhaft. Der philosophische Eckel beruhet aber
immer auf der Einbildung.

/Dankbarkeit, Liebe, Mitleid können bis zum
Affect steigen und mit den allgemeinen Namen
Sympatie beleget werden. Das Lachen entspringt
aus einer plötzlichen aber nicht schädlichen Um-
kehrung der Erwartung. Es bestehet in einer
plötzlichen Umschwenkung der Muskeln und
macht wechselseitige Bebungen. Diese Erschütterung
des Zwergfells ist eben das wohlthätige beim
Lachen. Das hämische Lachen oder wenn andere nicht

/|P_91

/mitlachen können, ist immer boshaft. Leicht
lachen ist läppisch, aber gerne lachen findet man
bei Männern von Geist.

/Das Weinen ist mit den Seufzen verbunden
Es ist ein Ton der Einathmung, das Lachen der Aus-
athmung. Das Weinen ist eigentlich eine Execretion
das Lachen aber nicht Doch lacht man auch zuweilen
bis zu Thränen Oft <hat> das Weinen auch seine An-
nehmlichkeit, wenn es die Ergießung zärtlicher
Empfindungen bei Auflösung des Schmerzens ist.
Schmerz in der Theilnehmung nicht in der Em-
pfindung rührt bis zu Thränen. Wir weinen
wenn der andere nicht weint über seinen Zu
stand und lachen wenn der andere nicht lacht
über seinen Scherz Ein Frauenzimmer weint
aus Zorn, weil sie sich ihrer Ohnmacht bewust
ist, aber ein Mann muß nie aus Zorn
weinen. Großmuth bringt den Beleidiger zu
Thränen weil er sich unvermögend fühlt, sie
zu erwiedern. Das Seufzen zeigt schon eine Wehmuth
an; dann der, der nicht weint, greift den Schmerz
mehr an.

/Die Abneigung andere zu er-
zürnen ist Gelindigkeit; andere nicht zu kräncken
ist Sanftmuth; die Gleichmüthigkeit andere zu
erzürnen ist Grobheit; die Neigung andere zu
kränken ist Bosheit; der Muthwille andere zu
beschämen ist Spottsucht; zu kränken ist Schmäh-
sucht; durch Beschämung kann schon Iemand ge-
kränkt werden. Eine Vorsicht der geringsten Em- 

/|P_92

/pfindlichkeit vorzubeugen ist Delicatesse. Sie ist
eine Eigenschaft für den Mann, diese Hoflichkeit
zu empfinden ist für die Frau. Dieß ist die em-
pfindliche Zärtlichkeit und ist Schwäche, jene die
empfindsame Zärtlichkeit.

/Alle Neigungen können eingetheilt werden
in Materielle die ihre bestimmten Gegenstände
haben und formale, deren Gegenstände nicht
bestimmt sind, und nur auf die Art der Be-
dingung gehen unter der wir überhaupt unsere Neigung
befriedigen. Die formale Neigungen sind Freiheit,
und Vermögen. Diese formale Neigungen sind
die stärksten, weil sie auf die bloße Idee der Be-
friedigung der wirklichen Neigungen und auf
alle Objecte ohne Unterschied gehen und daher
gleichsam unendlich sind.

/Die Freiheit ist die negative Bedingung der Be-
friedigung unserer Neigungen und bestehet
in der Entfernung des Widerstands, sich nach
seinen eignen Neigungen zu bestimmen Freiheit
wird von Iedermann für das höchste Gut ge-
halten. Sie läßt sich nicht fühlen sondern nur durch
Vergleichung mit anderer Zustand oder durch
Beraubung derselben empfinden. Aller Hoffnung
und Glückseligkeit liegt die Freiheit zum Grunde
und jeder schüzt die Glückseligkeit nur nach
seiner Neigung. Die Freiheit ist zweifach.
Die unter Gesetzen oder bürgerliche und die
ohne Gesetze oder barbarische. Diese findet bei

/|P_93

/denen statt, die noch wenig Schritte in der Ent-
wicklung der Menschheit gemacht haben, und
noch fast in thierischen Zustand sind, in ihrer
Meinung sind sie glücklich. Die Freiheit be-
stehet auch nur in der Meinung von Freiheit,
sie ist aber deswegen nicht geringschätzig. Alle
Menschen haben einen Hang sich in Freiheit zu
setzen, und verstehen oft darunter sich zu isoliren.
Die Meinung von Freiheit verädelt Nationen
und macht sie glücklich die rohe Freiheit macht
Hochmüthig, und der Hochmuth faul. Viele
Völker setzen die Freiheit darinn, daß sie nicht
arbeiten dürfen ZB die Tungasen.

/Die zweite formelle Neigung ist die positive
Bedingung der Befriedigung unserer Neigungen
und bestehet in den Besitz der Mittel seine Neigungen
zu befriedigen Durch dies Mittel haben wir
einen Einfluß auf Menschen welcher dreyfach
ist@.@ Durch Ehre oder Achtung die sie uns schuldig
sind; durch Gewalt oder vermittelst ihrer Furcht
und durch Geld oder vermittelst ihres eignen
Interesse. Dieser leztere Einfluß ist der sicherste
denn er beruhet auf ihren eignen Nutzen Auf
die erstern kann man nicht so gewiß rechnen.
Achtung ist ein willkührlicher Zoll und be-
ruhet oft auf den Wahne. Der Gewalt wird
aber doch immer Gewalt entgegengesezt. Diese
drey Vermögen correspondiren 3 Neigungen

/|P_94

/Ehrsucht, Herrsucht und Habsucht.

/Ehrsucht ist von der Ehrliebe unterschieden.
Ersterer sezt keinen unmittelbaren Werth in
die Achtung anderer sondern braucht sie nur
als Mittel zu ihren Zwecken, sie ist daher ver-
stellt Ehrliebe hat einen unmittelbaren Werth
und gründet sich auf Bescheidenheit, die Ehrsucht
wird Hochmuth, welcher niederträchtig ist, weil
er andern zu muthet, daß sie sich geringer schätzen
sollen; er muthet also andren eine Nieder-
trächtigkeit zu, und muß daher selbst nieder-
trächtig seyn. Denn man muthet einen andern
nichts zu, was man nicht selbst thut. Er ist
immer verhaßt, weil man durch solche Zu-
muthungen beleidigt wird. Die Ehrsucht findet
daher immer Widerstand. Der Hochmüthige kriegt
für den der Höher ist als er. Der Homuth ist
dumm, weil er die schlechtesten Mittel wählt.
Die Achtung anderer zu erwerben, nemlich
daß er seine Verachtung merken läßt.
Personen von hohen Rang sind desto herab-
laßender, weil sich Niemand mit ihnen ver-
gleichen kann. Wenn der Rang aber zweideutig
ist, so zeigt sich der Hochmuth.

/Stolz ist die Selbstschätzung wodurch wir
anderer Hochmuth widerstehen und die das
Verhältniß der Gleichheit zum Grunde hat
Diesen Stolz kann man nicht ablegen, am

/|P_95

/besten ists wenn man sich seines wirklichen
Werths bewust ist. Wenn man sagt der Mensch
ist ohne Gewißen und Ehre, so scheint das Ge-
wißen das vornehmste zu seyn, allein es ist die
Ehre, weil man ihn durch die Ehre auf die Moralität
zurückführen kann, wenn er auch kein Gewißen
hat. In neuern Zeiten hat man noch einen
Ehrbegriff gehabt, der den Alten nicht bekannt
war, nemlich das Point d'honneur. Es ist
aber schwer zu bestimmen.

/Herrsucht ist den Menschen sehr eigen und wenn
sie mit Gewalt verbunden ist, so ist sie unge-
recht und findet daher Widerstand. Sie gründet
sich auf Furcht Denn der Mensch will immer das
Gleichgewicht erhalten, daher traut kein Mensch
den andern. Dieß scheint eine Ursache zu seyn,
warum die Menschen auf der ganzen Erde
zerstreut sind.

/Haabsucht. Neigungen die blos den Werth
in die Mittel setzen, ohne den Gebrauch derselben
zu gewißen Zwecken sind Neigungen des
Wahns. ZB Religions_Wahn, der den Werth
in die Mittel sezt. Die Menschen finden am
Besitz des Vermögens ein Vergnügen, so ists mit
dem Gelde. Es kann nicht gebraucht ohne verbraucht
zu werden Da es aber vor den Gebrauch zu allen
möglichen Zwecken brauchbar ist, so sezt die Imma-
gination schon hierinn den Werth deßelben.
Denn der Mensch will lieben durch die Einbildungs

/|P_96

/Kraft und Vorstellung des mannichfaltigen Ver-
gnügens wozu er das Vermögen hat sich ergötzen als
das Geld für einzelne Sachen verbrauchen, besonders
ist das Alter dazu geneigt. Der Geitz ist ein Reichthum
im Wahn, denn er ist eben so arm weil er sich Be-
dürfniße erzieht: Es ist aber eine freiwillige Ar-
muth. Der karge Geitz kann nie gebeßert werden,
besonders im Alter, denn die Vernunft kann nicht
helfen, wenn sie es auch einseht. Denn er findet
immer Vergnügen in der Einbildungskraft.

/Die materiellen Neigungen sind entweder
natürliche oder erworbene. Die natürlichen sind
die Neigung zum Leben wodurch die Natur ihre
Individua und die Neigung zum Geschlecht wodurch
sie ihre Art erhält Wenn sie Leidenschaft werden
so werden sie verächtlich, besonders die erstern, den
für die Vernunft hat das Leben keinen Werth
sondern nur so ferne sich der Mensch durch seine
Handlungen des Lebens würdig macht. Ie älter
der Mensch wird, je mehr wächst die Liebe zum
langen leben, und dieß scheint ein Beweiß von
einen gut geführten Leben zu seyn. So ist's auch mit
der Liebe zum Geschlecht man sieht es für
herrisch an sich über diese Neigung wegzusetzen.
es ist aber der Natur zu wider und zwar mehr
als ersteres Denn hiedurch vergiebt der Mensch
nur der Dauer etwas, durch lezteres aber seiner
Bestimmung.

/Das Leben können wir eintheilen in Wohlleben
und Gemächlichkeit. Ersteres gehört zum Genuß
lezteres zur Ersparung der Beschwerde. In den

/|P_97

/mittlern und jungen Iahren hat man zum
Wohlleben Neigung, Gemächlichkeit aber im
Prospect. Beschäftigung in Spiel rechnen wir
zum Wohlleben. Arbeit ist aber unangenehm
und kann nur durch den Zweck gefallen. Die
Neigung zum Geschlecht ist eigentlich nicht
Leidenschaft, sondern sie wird's nur durch die
Phantasie und ist immer Leidenschaft des
Wahns Diese Neigung wird Liebe genannt,
sie ists aber nicht sondern nur thierischer Appetit,
und kann nur dann Liebe heißen wenn sie mit
Wohlwollen für den Gegenstand verbunden ist.
Die Liebe zum Geschlecht macht Ehre, aber die
Liebe zum Leben macht Verachtung, denn sie
zeigt immer eine Schwäche an jene eine Stärke.
Die Natur hat gewollt daß wir den Neigungen
nicht blind folgen sollten, sondern wenn sie sich
durch den Luxus cultiviren, so soll auch unsere
Vernunft in gleichen Grad wachsen, um sie zu
beherrschen, damit sie nicht Leidenschaften werden.
Der Mensch kann sich noch eine Befriedigung
der Sinne aller Neigungen denken und das ist
Glückseligkeit. Dieser Begriff entstehet durch
Vergleichung der Vernunft. Die Thiere können
hievon keinen Begriff haben, und also auch
niemals unglücklich seyn. Diese Glückseligkeit
müßen wir immer in Prospect haben, ob wir
sie gleich nie erreichen können, und dieß ist
wirklich eine weise Einrichtung der Natur. Denn
wenn unsere Neigungen befriedigt werden, so

/|P_98

/würden wir ganz unthätig seyn.

/Die erworbenen Neigungen entspringen
in Gesellschaft Alle Gesellschaft bestehet in Un-
terredung und Spiel. Das Spiel ist ent-
weder das Spiel der Empfindung oder Muße
oder das Spiel der Geschicklichkeit oder des Gewinstes
Es ist eine Unterhaltung des Gemüths wenn es
durch Gespräche erschöpft worden und ist eine
Beschäftigung ohne Mühe. Das Interesse dabei
scheint blos zur Erhaltung der Aufmerksam-
keit zu dienen. Die Leidenschaft für's Spiel
ist sehr gefährlich und löscht alle übrigen Leiden
schaften aus. Der Gegenstand des Gewinstes
muß nicht so groß seyn daß es Leidenschafft
werden kann. Es soll nur den Eigennutz be-
zähmen und die Selbstherrschaft cultiviren.

/Unterredung bestehet aus Erzählen
raisonniren und Scherz. Bei der Tafel macht
das Erzählen den Anfang, dann folgt das
raisoniren und dann der Scherz. Das raisonniren
ist mit Streit verbunden darum muß man
nicht damit anfangen, weil es der Gesell-
schaft keinen guten Schwung giebt. Der Scherz
ist der lezte weil immer bei jeder Sache der
Nachschmack das angenehmste ist, er muß aber
nicht ganz allein seyn, sondern nur unter
andern Gesprächen gemischt seyn. Die

/|P_99

/Unterhaltung muß immer nach der
ganzen Gesellschaft eingerichtet werden
so daß sie alle intereßirt. Wenn in der
Gesellschaft einmal eine Stille ist, so erholt
sie sich nicht so wieder Das Object des Discours
muß nicht ohne Noth verändert werden
Die Rechthaberey ist in Gesellschaft übel ange-
bracht, weil diese blos ein Spiel ist, und nichts
ausgemacht werden soll. Beim Widerspruch
kommt es immer auf den Ton an Es kann
Iemand im Innhalt recht und im Ton doch
Unrecht haben, das heißt in der Manier mit
der etwas gesagt wird. Man kann also den
guten und schlechten Ton unterscheiden. Die
beste Gelegenheit zur Unterredung ist die
Tafel. Man kann die Gesellschaft ein-
theilen in Gelach wo sie sich in mehrere Zweige
theilen müßen um eine Unterredung zu
halten, und in die Mahlzeit wo ein Discours
stattfinden kann. Daher sagt man ein
Mensch redet ins Gelach, wenn er schreien muß
um gehört zu werden, Die Gesellschafft kann
daher kaum größer als Zwölff Personen seyn
Die Unterredung bei der Tafel kann sehr
zur Cultur dienen Der Umgang dient
darzu um den Egoismus zu bezähmen
und ist ein Mittel wider der Misantropie.

/|P_100

/Im Umgang muß der Mensch ein Glied der
Gesellschaft seyn, das heißt mit sprechen, sonst
scheint es als ob er andere verachtet, und sie
behutsam seyn müßen. Man hat daher Wein
in Gesellschaft der die Zunge lößt und alle Be-
hutsamkeit wegschafft. Die peinliche Höflichkeit in
Gesellschaft ist ganz abgeschafft und wahre Höflich-
keit ist blos negativ.

/ ≥ Vom
Einfluss der Seele auf dem Körper

/Man kann dem Gemüthe durch den Körper und um-
gekehrt zu Hülfe kommen, und auch einem durchs
andere schaden. Das Gemüth kann unwillkührlich
einen starken Einfluß auf den Körper haben, wenn
es außer Faßung ist. ZB man kann nicht erröthen
wenn man will. Der Zorn kann den Menschen
stumm machen ja gar tödten, so auch der Schreck,
die Freude Man meynt daß dieses durch den
Nervenknoten bewirkt wird welches eine Art
von Gehirn sind und von Gehirn in Kopf ab-
hängen. Sie scheinen aufzuhalten, daß die Be-
wegungen bei unsern ruhigen Zustand nicht in
die Lebenskraft dringen. Allein bei Affecten scheint
dieß gleich der Electricitaet durch einen Sprung
zu geschehen ZB der plötzliche Zorn hat Wirkung
auf die Heilung der gelähmten Glieder. Eben
so kann der Körper die Seele afficiren.

/|P_101

/ ≥ Practischer Theil
der
Antropologie
/Von
Character der Personen

/Character hat einen allgemeinen und besondern
Bedeutung. Wir können den Menschen betrachten
als Natur Wesen und als ein freies Wesen.
Naturell, Naturanlage, Temperament, oder
Sinnesart, sind das characteristische des Menschen
als Naturwesen Das characteristische des Menschen
aber als eines freien Wesens welches sich nach
Grundsätzen bestimmen läßt heißt Character
oder Denkungsart. Von den beiden ersten ist
der Mensch nicht Urheber; aber den Character
macht er sich selber und er kann ihn beigemeßen
werden.

/Das Naturell bestehet in Fahigkeit und
Vermögen Ersteres wird specifior Naturell
genannt. Das Vermögen nennt man Talent.
Naturell bedeutet das paßive, Talent das
Active. Zum Naturell gehört ZB daß der
Mensch gelehrig, lenksam gefällig sey. So
können auch Thiere gute Naturelle haben.
Einige Nationen haben mehr Talent, aber nicht
so gut Naturell, sie nehmen nicht so gut Disciplin
an. Aufs Naturell beziehet sich das gute Gemüth;
das gute Herz aufs Talent Ienes ist paßiv dießes
aber Activ Es thut wirklich Gutes, das gute Gemüth

/|P_102

/ist mehrentheils Schwäche oder Weichmüthigkeit
das gute Herz gehört schon mehr zum Temperament
weil es thätig ist. Man sucht das Naturell aus
zuspähen bei Kindern, Eheleuten wie sie sich
lenken laßen, und wie man sich in sie schicken soll
Die Rußen sagt man haben Naturell das heißt
sie sind gelehrig; aber haben nicht Genie oder
Talent. Leute die gehorchen sollen, dürfen nur
ein gut Gemüth haben. Die Teutschen haben ein
gut Gemüth, aber in guten Herzen stehen sie
andern Nationen nach.

/Temperament können wir das characteristische
der Lebensart nennen Im philosophischen Sinn
ist es das Verhältniß der flüßigen und festen
Theile wenn sie die Ursachen der Erscheinungen
bei Menschen sind. Allein hier betrachten wir
das Temperament der Seele. Es ist der Innbegriff
der Triebfedern der Seele. Es muß von der
habituellen Disposition unterschieden werden
womit es leicht verwechselt werden kann. Die
Temperamente können eingetheilt werden
in Temperamente der Empfindung und der
Thätigkeit. Die Temperamente der Empfindung
sind das sanguinische und melancholische.
Ersteres könnte man leichtblütig lezteres
schwer blütig heißen.

/Das sanguinische. Jeder Gegenstand
afficirt leicht und stark, dringt aber nicht
tief ein. Der sanguinische ziehet sich nichts

/|P_103

/zu Gemüthe, sondern ist leichtsinnig, und
auch Ermahnungen helfen bei ihm nichts.
Er giebt allen Dingen nur einen Augenblick
Wichtigkeit er ist daher veränderlich ZB die
Franzoßen Er nährt sich und andere gerne
mit Hoffnungen Er ist geneigt alles für
leicht anzusehen Jede Schwürigkeit für Kleinigkeit
Er verspricht daher leicht weil er die Ausführung
für leicht hält, vergießt aber auch eben so
bald sein Versprechen. Er ist ein guter Compagnon
aber nicht ein guter Freund Er ist kein grober
Sünder, aber schwer zu bekehren. Man kann
ihm ein gutes Gemüth, aber nicht ein gutes
Herz zu schreiben. Selten ist er gründlich.

/Der Melancholische. Die Gegenstände afficiren
nicht geschwinde und stark, drüken aber tief
ein. Man unterscheidet sonst den sanguinischen
vom melancholischen, daß man den erstern
eine beständige Frölichkeit den andern einen
Hang zur Traurigkeit beimißt. Dieß sind
aber nur Folgen des Temperaments. Sie
sind beide der Betrübniß und der Freude
fähig und dringen bei den leztern mehr ein.
Ja der sanguinische kann auch die Freuden
nicht so sehr empfinden, weil sie bei ihm nicht
so tief eindringen kann. Der melancholische
giebt allen Dingen eine besondere Wichtigkeit,
und alsdenn herrscht fast die Traurigkeit Der
sanguinische empfindet auch Betrübniß und Schmerz

/|P_104

/aber er schüttelt ihn bald ab. Der Melancholische
brütet lange über einen Gegenstand, ist daher
geneigt zum Verdacht und behutsam. Er thut
sich aber nicht leicht ein Genüge. Er hat auch gute
Eigenschafften die der sanguinische nicht hat. Er
ist dankbar, nimmt aber nicht gerne Wohlthaten
an. Er ist aber dagegen sehr rachgierig. Er ver-
spricht nicht leicht man kann aber auch auf sein
Versprechen bauen, denn er überdenkt vorher die
Schwürigkeiten. So wohl das Laster als die Tugend
können bei ihm stark wurzeln. Der sanguinische
hat einen currenten Werth denn er kann sich in
alle schicken das Gute entstehet bei ihm nicht aus
Grundsätzen und das Böse aus Unbesonnenheit.
In Ansehung seiner selbst ist der sanguinische
der glücklichste Fantasten und Enthusiasten
findet man nie bei Sanguinischen sondern nur
bei Melancholischen, weil dazu ein starker Ein-
druck erfordert wird.

/Die Temperamente der Thätigkeit sind das cholerische
und phlegmatische Ersteres könnte man warm-
blütig lezteres kaltblütig nennen.

/Das Cholerische Hirn weken die Triebfedern
schnell und stark, halten aber nicht lange an
Der cholerische ist daher auffahrend, antwortet
mit Heftigkeit, aber von keiner dauer. der
Hang zum Zorn ist hier auch nur eine Folge
der Temperaments, er ist geschäftig und wird

/|P_105

/dadurch gefährlich, weil er sich in fremde
Händel mischt. Zu allen Dingen die Stetigkeit
erfordern, ist er nicht aufgelegt. Er mag gerne
regiren drängt sich zu allen zu und ist un-
leidlich wenn er gehorchen soll. In Ansehung
der Verwaltung des Rechts anderer ist er gerecht,
in Ansehung seiner ist er ungerecht. Er thut
lieber alles aus Grosmuth als aus Recht. Er
scheint immer mehr als er ist, und ist auch
zur Verstellung geneigt. Die Triebfeder seiner
Handlung ist auch hier gemeinhin Ehrbegierde,
er ist also uneigennützig. Er ist nicht karg
aber habsüchtig, geitzig. Selten ist mit diesem
Temperament ein Genie verbunden. Er ist ordentlich
in der Arbeit aber nicht anhaltend. Er ist ein
beßerer Verwandter als Freund, weil er nur
Ueberlegenheit verlangt.

/Der Phlegmatische. Er bestehet darinn daß
das Gemüth nicht in kurzer Zeit aber anhaltend
zur Thätigkeit getrieben wird. Wirken die
Triebfedern schwach, so betrachtet man das
Phlegma als Schwäche und die Neigung zum
thierischen Genuß und zum Schlaf sind die
Folgen deßelben Es bestehet in der Leblosig-
keit Unempfindlichkeit und Fau¿heit. Wirken
die Triebfedern stark und anhaltend so ist
das mehr Phlegma als Stärke. Es ist kalt 

/|P_106

/Es ist Kaltblütigkeit aus Grundsätzen, eine
Fähigkeit beim Anreitzen etwas nicht ohne
Ueberlegung zu thun. Der Phlegmatiker ist wie
ein Körper der langsam erwärmt wird, aber
die Wärme lange unterhält. Zu vielen Em-
pfindungen hat ein solches Phlegma Gehör.
Das Phlegma als Geistesstärke entehret nicht
die Philosophie, sondern man könnte es wirklich
schon so nennen. denn der phlegmatische hat Gewalt
über sich und andere. Er macht den Menschen
nicht verblendet durch den Schein der Größe
sondern er sucht die Wahrheit auf. Ein solches
Phlegma erregt nicht Neid weil es nicht glänzet
und sein Werth nicht gleich gekannt werden
kann Er ist mehr still als viel redend. Es kann
aber doch mit einen aufgereimten Gemüth
bestehen. Wenige Menschen aber haben ein solches
Phlegma.

/Im Amt ist der Sanguinische unordentlich
nachläßig. Der Melancholische peinlich und
zweifelhaftig. Der Cholerische ordentlich und
mechanisch der Phlegmatische ein Jaherr. - 

/Im Umgange ist der sanguinische scherzend;
der Melancholische vernünftelnd; der cholerische
erzählend, der phlegmatische Beifallend. - 

/Als Autor ist der sanguinische populair; der
Cholerische Methodisch und gründlich der Melancholische
tief und dunkel aber Original. Der phlegmatische

/|P_107

/armselig ohne Geist.

/Die Physiognomie ist die Idee einer Kunst
aus den Äußern des Menschen sein inneres zu
erkennen. Sie kann nicht andern mitgetheilt
und daher auch nie eine Wißenschaft werden, denn
sie beruhet nur auf der Immagination. Physiogno-
misch kann man einen Menschen beurtheilen
aus den ganzen Bauwerck oder den festen Theilen
und aus den Gesichtszügen, welche nach der Lage
des Gemüths verändert werden. Völlige Regel-
mäßigkeit zeigt Mittelmäßigkeit, und be-
sondere Genies haben immer etwas unregel-
mäßiges. Bei Leuten von besondern Geistesgaben
findet man auch besondere Gemüthsarten ZB
Virtuosen sind meistentheils eigensinnig. Häßlich-
keit ist nicht eine Eigenschafft der Natur sondern
nur unserer Einbildungskraft. In der Natur
ist alles regelmäßig und original. Wir nennen
eine Gestalt oder Gesicht häßlich, wenn es nicht
mit dem Original unserer Einbildungskraft
übereinstimmt. Bei der Gesichtsbildung ist
das hauptsächlichste das Profil, und hierin pflegt
das mehreste Characteristische zu seyn ZB so sagt
man Nationen mit kleiner Stirn haben die
schlechtesten Köpfe. Gesichtszüge sind Anlagen
zu Mienen, und eine Miene ist ein in

/|P_108

/Bewegungen gesezter Gesichtszug. Lichtenberg
sagt; daß die Gesichtszüge aus den Mienen ent-
stehen, und alsdenn wäre der Gesichtszug eine
habitüelle Miene. Nach Lavater sind aber
die Gesichtszüge Anlage zu künftigen Mienen
und dieser scheint mehr Recht zu haben. Lavater
sagt auch, daß bei Veränderung der Gesichts
züge nach vieler Zeit sich auch das Gemüth ge-
ändert. Es ist aber zu glauben daß die Menschen
keine andere Gestalt bekommen. Religions
Verschiedenheit macht oft Verschiedenheit in
der Miene. Beim männlichen Profil ist die
Stirne flach, beim weiblichen rund Ganze
Nationen haben eine eigenthümliche Gesichts
bildung. Dieß beruht alles auf dem Temperament
aber hiervon aufs Talent oder gar auf den Character
zu schließen ist lächerlich und unbillig. Oefters
haben Menschen mit Thierphysiognomie Aehnlich-
keit und diese Vergleichung ist nicht zu ver-
werfen Man wird aber nie gewiße Regeln
dazu bekommen.

/Character ist das Eigenthumliche eines Menschen
in der Freiheit.Es ist der Wille unter Grundsätzen
Alle Geschöpfe haben etwas characteristisches;
der Mensch aber hat einen freien Willen ist
der Character und wird in teutschen die Denkungs-
art genannt. Man sagt ein Mensch hat ein

/|P_109

/tüchtiges Talent ein glückliches Temperament
aber einen guten oder bösen Character Es ist die Be-
stimmung der freien Willkühr durchdauernder
Maximen, und kann den Menschen nur beige-
meßen werden. Talent bezieht sich auf die Er-
kenntnißkraft, Temperament aufs Gefühl, der
Caracter auf den Willen. Das Talent bestimmt
den Marktpreis des Menschen oder seine Brauch-
barkeit, das Temperament den AffectionsPreis
oder die Liebe anderer. Der Character aber den
innern Werth oder sein Verdienst. Das Talent
wird mehr geschäzt. Das glückliche Temperament
geliebt, der Character aber geachtet und ge-
fürchtet. Durchs Talent ist der Mensch zu Zwecken,
durchs Temperament zu Glück und Unglück
ausgerüst, durch den Character aber fürs allge-
meine Beste, und daß ganze bestimmt nun
den allgemeinen Werth. Zum Character ge-
hört daß der Mensch einem eignen und beständigen
Willen habe. Er muß nicht durch andere oder
durch seine Laune sich lenken laßen. Der Eigensinn
gehört zum Temperament und ist zu tadlen, weil
er sich nicht bequemen will, aber der Eigenwille
wird durch Ueberlegung bestimmt. Ein Mensch
der nicht einen eignen Willen hat ist in Gefahr
in Laster zu verfallen, blos aus Gefälligkeit,

/|P_110

/Der Mensch soll aber nicht sinnlichen Antrieben
sondern seiner Ueberlegung folgen. Er muß
aber nicht den Grundsätzen nach Angewonheit
folgen, sondern nach jedem einzelnen Fall.
Dieß gilt von den Maximen der Klugheit, aber
die der Moralitat sind unverbrüchlich. Zum
Character gehört weiter, daß der Mensch
sich selbst und andern Wort halte. Er muß
in sich selbst und in seinen Vorsätzen ein Ver-
trauen setzen können Di«e»ß kann schon in der
Iugend cultivirt werden. ZB in Ansehung
des Gebrauchs der Zeit. Er muß aber auch
andern Wort halten Er muß nicht lügen, denn
es ist schändlich, und ein Mensch der lügt hat
keinen Character. Festigkeit in Wort halten
sezt eine Ueberlegung vor dem Versprechen
voraus.

/Ein Character kann auch affectirt werden. Der
Mensch muß überhaupt sorgen, daß er einen
Character habe, das heißt, eine feste Anhänglich-
keit an Grundsätzen. Das melancholische Tempera-
ment ist am geschicktesten einen Character zu
bilden, weil bei ihm alles tief eindringt, beim
sanguinischen ists schwerer die Geringschätzung
eines Menschen ohne Character kann hierzu viel
beitragen, weil man nicht weis, was man

/|P_111

/sich bei ihm zu versehen hat. Das gute Herz
wird geliebt aber der Character wird geschäzt
auch so gar ein böser Character wird bewundert
wegen seiner Beharrlichkeit in den Grundsätzen.
Es ist aber oft schwer die Gutartigkeit des Tempera-
ments und Characters zu unterscheiden. Das
Gegentheil des Characters ist Heuchelei und die
Falschheit. Rechtschafenheit ist das wesentlichste
des Characters und der Name eines guten Menschen
beziehet sich nur aufs Temperament. Schwaz-
haftigkeit ist nur Mangel des Characters. Die
Wirkung eines guten Characters ist den Menschen
zu trauen. Der Mensch von Character respectirt
auch die Freundschaft wenn sie erloschen «wird»
ist. In Ansehung des moralischen verstattet
er den bösen keine Nachsicht auch nicht nach der
Anhänglichkeit der Personen. Er kümmert sich
nicht um die Nachreden anderer, weil er weiß
daß er recht gehandelt hat und die Nachrede
nicht zu vermeiden ist, aber in unwichtigern
Dingen sehet er mehr aufs Urtheil anderer.
Er thut die Handlung aus Pflicht nicht aus
Neigung oft wider die Neigung.

/Seine Religion beruht nicht auf Furcht und
Hofnung, sondern er ehrt Gott durch die

/|P_112

/Vollbringung seines Willens, er thut das Gute
um sein selbst und um des Vortheils willen. - 

/Gewiße Stände und Geschäfte geben mehr Anlaß
zum Character. Speculative Gelehrte sind ge-
meiniglich frey von andern Leidenschaften, aber oft
kommt es bey ihnen nicht aus Grundsätzen sondern
durch die Abgezogenheit von der Welt. Geistliche wenn
sie nicht von Natur zum Character Anlage haben
sind sehr zur Verstellung geneigt der Soldaten
stand ist frey er kann daher freimüthig handlen
und findet also zum Character der Rechtschafen-
heit keinen Widerstand.

/Das Fehlerhafte des Characters ist Leichtsinn, das
Böse deßelben ist Falschheit oder böse Grundsätze
Guter Character kommt nicht von der Natur, sondern
er muß erworben werden, und ist daher den
Menschen beizumeßen, obgleich einer mehr als
der andere Anlage dazu hat. Man kann ihn
sehr durch Erziehung zu Hülfe kommen, be-
sonders den männlichen, das auf Grundsätzen
des Guten beruhen muß der Weibliche muß aber
auf Grundsätzen der Ehre gebauet werden Der
Character wird befördert durch Unterredung
mit Freunden, durch feierliche Annahme guter
Grundsätze, und durch die Achtsamkeit auf
die Unverletzlichkeit derselben und so muß ein
Mensch von Character in seinen eignen Augen

/|P_113

/ein Mann von Achtung seyn. Zur Gründung
eines Characters wird Zeit erfordert. Falschheit
gehört besonders zum bösen Character denn es
ist hier nicht eine Sinnesart sondern eine Ver-
stellung mit Vorsatz Eine Ehrlichkeit mit der
Dummheit verbunden kann man einräumen
Redlichkeit ist aber die Ehrlichkeit mit Grundsätzen
Es gehört dazu eine Aufgeklärtheit die ver-
mögend ist Grundsätze zu faßen. Freundschaft
aus Grundsätzen ist auch gegen Beleidiger
gütig. Denn er ist um das Wohl des ganzen
Menschengeschlechts gütig um das Uebel zu
vermeiden. Leute von Grundsatzen, machen
sich zuweilen hart um nicht durch Weichherzig-
keit geäfft zu werden, und durch Eindrüke
zum Wohlthun geleitet zu werden. Ein
Patriot aus Grundsätzen oder ein wahrer
Patriot kann nur ein Cosmopolit seyn.
Er muß an Wohl aller Menschen Antheil
nehmen.

/Der böse Character ist nicht angebohren, und
kann daher auch verändert werden denn kein
Character wird angebohren, sondern er hängt
von der Freiheit ab, denn sonst wäre er Tempera-
ment Allein es liegt in Menschen vieles was
Anlaß zu einen guten und bösen Character
geben kann ZB der Neid ist eine Aengstlichkeit
daß das was dem andern bei gelegt wird,

/|P_114

/mir entzogen ist, daß gehört nun zum
Temperament, er kann aber Character werden
weil man glaubt, daß es zum Tort geschieht.
Irrthümer und Grundsätze verderben am
meisten den Character. Der boshafte Character
ist der welcher die Maximen des guten anzufechten
sucht. Zum Character gehört ferner Reife des
Verstandes. Urtheilskraft durch Erfahrung
geprüft wird erst im 40igsten Jahre reif, und
dann lernt man Dinge nach ihren wahren Werth
einsehen und schätzen. Es müßen aber die
Leidenschafften noch nicht aufgehört haben. Der
Mensch muß genugsame Geistesstärke haben
unter einer Mannigfaltigkeit den Unter-
schied zu machen, nur dann kann ein Character
festgesezt werden. Anreitze geben keinen Character
weil sie keine Grundsätze geben. Der publique
Character eines Richters muß streng seyn
und kann daher schreckhaft seyn, aber der
privat_Character gütig und gelinde Der
Publique Character ist dem privat_Character
nie zuwider. Gutartige Leute ohne Character
sind nur gute Kinder aber der Character
bestimmt den Mann. Simplicitaet ist das
äußerste Merkmal des Characters, und das
geringste Merkmal von Affectation benimmt

/|P_115

/jemanden den ganzen Werth. Religion ohne
Character ist Andächtelei, mit dem Character
Gewißenhaftigkeit Ein guter Bürger ist der
welcher alle Pflichten gegen die Obrigkeit erfüllt
welcher aber auch auf die Bewegungsgründe seiner
Handlungen sieht - der Moralist siehet aber
auf die Grundsätze woraus die Handlung
fließt.

/ ≥ Vom
Character des Geschlechts. ≤

/Die beiden Geschlechter welche die Menschen
Gattung aus machen kommen sehr überein, die
Bestimmungen aber zeigen an daß die Geistes-
(Gemüths)_Anlagen sehr verschieden sind Beim
äußerlich ähnlich scheinenden Betragen sind
doch die Quellen verschieden sind Beim äußerlich
ähnlich scheinenden Betragen sind doch die Quellen
verschieden. Die Geschlechter sollen vereinigt
werden, und dazu gehört das eins das Mangel-
hafte des andern ersetzen kann. Viele nehmen
gar keine viele eine gar zu große Verschieden-
heit an. Wir können aber sagen, es müße eine
solche Verschiedenheit der Geschlechter seyn als
nöthig ist die Vereinigung zu befördern. Die
Natur liebt Mannigfaltigkeit in der Art,
aber Einheit in der Gattung. In verschiedenen

/|P_116

/Sprachen ist kein Name für die Gattung ZB
l'homme bedeutet sowohl Mensch als Mann
Wenn ein Wesen mit kleiner Kraft eine große
Sache bewerkstelliegen soll so muß mehr
Kunst darinnen seyn. Daher ist zu glauben daß
die Natur mehr Kunst in den weiblichen Geschlecht
gelegt habe da sie ihr weniger LeibesKräfte und
Seelenkräfte gab als den Männlichen.

/Beim männlichen Geschlecht ist weniger
Kunst blos ein einfacher natürlicher Gebrauch seiner
Kräfte der Mann ist für die Natur, das Weib für
den Mann gemacht. Daher ist jener stark in
Ansehung der Natur schwach aber in Rücksicht
des Weibes das weibliche Geschlecht ist darum schwächer
weil die Natur ihrem Schooß die Erhaltung an-
vertraut hat und sie mithin nicht viel wagen
sollten. Man nennt die eigentliche characteristische
Eigenschafften des Weibes Weiblichkeiten.

/Der Mann ist leicht zu erforschen, das Weib
aber ist verschwiegen in Ansehung ihrer Geheim-
niße. aber nicht in anderer. Der Mann aber
verschweigt andere Geheimniße. Der Mann ist
leicht zu überreden, die Frau bestehet auf ihren
Vorsatz. Er scheut den Hauskrieg, die Frau
aber nicht. Seine Gewalt ist ihm unnütz weil
er sich schämen muß, sich ihrer zu bedienen.

/|P_117

/Der Mann ist leicht zu versöhnen, die Frau aber
nicht Die Achtungs fürs weibliche Geschlecht
legt den Grund zur Cultur des männlichen
in Ansehung der Anständigkeit und überhaupt
des Geschmaks. Denn jenes ist selbst der Gegen-
stand des guten Geschmaks.

/Das Frauenzimer ist sicher zu gefallen, der
Mann aber fürchtet immer zu misfallen. Der
männliche Verstand hat einen andern Maas-
staab, als den weiblichen, ersterer nimmt die
Principien aus sich selbst, lezterer aus dem
allgemeinen Ton. Die Ursache ist, das weibliche
Geschlecht hat den allgemeinen Beifall zur Ab-
sicht der Mann wagt aber Das erstere ist aber
deswegen nicht zu tadeln weil es ihrer Bestimmung
gemäß handelt. Das Principium der männlichen
Handlungen ist Pflicht, der weiblichen Ehre.
Daher muß sich der Mann aus dem Urtheil der
Leute nichts machen, die frau aber muß es
und zwar bei unwichtigen Dingen ZB.
Anstand. Auch in der Art der Schätzung der
Tugenden sind sie verschieden.

/Das Frauenzimmer liebt die Tapfer-
keit aber nur am männlichen Geschlecht und
die Weiblichkeiten können sie an denselben nicht
dulden. ZB Geziere. Das Frauenzimmer

/|P_118

/hat nur Geschmak, so ferne sie sich zum Gegen-
stand des Geschmaks der Männer machen können
Es hat den Geschmak der Conversation. Im ge-
mischten Gesellschaften muß das Frauenzimmer
den Ton angeben, damit das Gespräch der Männer
für sie nicht zu troken werde.

/Was die haußliche Vollkommenheit betrift, so ist
des Mannes Wirthschaft Erwerb, der Frauen Er-
spare daher schickts sich's nicht für eine Frau
freigebig zu seyn. Dieß sind nicht Schwachheiten
des weiblichen Geschlechts, sondern weise Einrichtungen
der Natur. In Beleidigungen ist der Mann ver-
söhnlich, die Frau aber nicht. Sie bedient sich aber
des Mannes als Werkzeug der Rache ihrer Be-
leidigungen. Hier muß er stark seyn, ihr aber
den Schutz nicht versagen. Der Frauen Ehre be-
stehet außer ihr, des Mannes Ehre in ihm,
er sieht darauf was die Leute denken sie aber was
sie sagen.

/Die Frau muß das häußliche der Mann das
öffentliche Interesse besorgen Von Mann muß
man alles aus Pflicht fordern von Weib aus
Neigung und Lust. Daher ist auch die Erziehung der
Geschlechter unterschieden. Das Frauenzimmer
mag gerne ihrer Neigung nach frey seyn. Daher
muß alles auf den Begriff der Ehre gebaut seyn,

/|P_119

/Die Frauenzimmer gelangen eher zu der ihnen
zum Hauswesen nothigen Verstand als die Männer
Der Mann studirt die Natur, die Frau den Mann
Es ist auch nicht nöthig daß sie die Natur, sondern
den Menschen kenne. Das weibliche Geschlecht
verträgt sich nicht untereinander, das männliche
aber verträgt sich gut. Das Frauenzimmer putzt
sich nicht für Männer sondern für ihr Geschlecht
Das mannliche Geschlecht ist weit delicater in An-
sehung der Wahl einer Frau, als umgekehrt,
doch steigt diese Delicatesse sehr oft ins fantastische.
Alle Willfährigkeit betrachtet die Frau als Gunst,
der Mann aber als Pflicht. In der Ehe thut der
Mann auf die Gunstbezeugungen anderer frauen
Verzicht. Die frau aber will immer gefallen;
dieß liegt in der Natur. Im verheyratheten
Zustande geschiehet es aber in mindern Grade als
im unverheiratheten.

/Durch die Ehe wird die Frau frei, der Mann
aber verliehrt die Freiheit. Weil die Frauen vor
der Ehe durch den Begriff der Anständigkeit ge-
bunden sind, daher werden den Männers die
Ausschweifungen vor der Heirath ehr vergeben, den
Frauenzimmer aber nicht. Die intollerande Eifer-
sucht ist der frau nicht zu wider, und sie verlangt
sie so gar, die mistrauische aber ist beleidigend.
Die eheliche Liebe ist auch an sich schon intolerand«t».

/|P_120

/Hume bemerkt, daß eine Frau wohl einen
Spott aufs Frauenzimmer in der Gesellschaft, aber
nicht auf den Ehestand leidet. Dieß kommt da-
her, weil sie wißen daß der Spott über das
Geschlecht niemals Ernst wird, welcher über den
Ehestand wohl Ernst werden kann. Der Mann hat
mehr Zärtlichkeit in der Denkungsart die frau
in der Empfindung. Man kann sagen die frau
herrscht, sie soll auch herrschen, und der Mann
regieren; denn die Neigung herrscht und der
Verstand regiert.

/ ≥ Vom
Character der Nationen

/Daß der Character des Volks durch die Re-
gierung bestimmt wird, ist nur eine will-
kührliche Voraussetzung, sondern die Regierung
kommt von Character des Volkes her. Wenn die
Individua sehr verschiedene Charactere haben,
so hat eigentlich das Ganze keinen Character.
Wenn aber ein Volk viel verschiedene Charactere
hat, so ist dieß schon der Volkscharacter, ob-
gleich die Individua keinen Character eigentlich
haben Der Character eines Volkes ist also %eigentlich
das, worinn die meisten übereinstimmen. - 

/ Wir können Vier gelehrte Völker annehmen
Franckreich, Italien, England, Teutschland
zu welchem leztern auch Holland, Schweden, Dänne-
mark und die Schweitz gehört.

/|P_121

/Die Französische Nation hat am meisten Character
und die einzelnen Personen haben doch keinen.
Alles ist hier aufs gleichförmige gestimmt,
und beruht auf Nachahmung. Die franzosen
sind die Muster des Geschmaks, es ist das Land
der Conduite Hier herrscht Geselligkeit mit
Geschmak, aber die wahre Geselligkeit mit
Wohlthun verknüpft, findet man da weniger.
Sie sind daher gesprächig, hoflich, ohne Zuneigung.
Gesittet ohne Tugend, galant ohne verliebt,
lebhafte Patrioten, ohne wahre Freunde des
Vaterlandes zu seyn, sondern nur aus Eitelkeit.
Als Autoren sind sie populair, und es wird
auch von der Populärität mehr gehalten als von
der Gründlichkeit. Es herrscht hier nicht solche
Verschiedenheit der Stände, und dieß macht ihre
Gesellschaften nicht so unangenehm; daher ist
die Conduite bis auf den gemeinsten Mann
in Franckreich verbreitet. Galanterie ist die
Gefälligkeit gegen die Eitelkeit der andern,
und diese ist den Franzosen eigen. Ihr point
d'honneur ist eine Scrupulosität in Ansehung
der Ehre welche sich auf keine Maximen gründet,
nicht auf wirkliche Ehre sondern es ist gleich-
sam eine Micrologie. Man trift bei ihnen
aber deswegen wichtige Principien der Ehre an.
Petit maitre bedeutet eigentlich einen kleinen

/|P_122

/Herrn mit einer Einbildung von großer
Importence, und ist von Stutzer unterschieden
der bloß ein KleiderNarr ist. Etourderie
ist eine Dreistigkeit zu reden mit einer Art
die nicht übel genommen werden kann Im
Teutschen hat man kein Wort dafür; denn so
coquétterie; Es sind dies Extrema der
guten Lebensart. Die Damen in Franckreich geben
den Ton an, nach welchem die Mode beurtheilt werden
soll. Der Franzose ist am wenigsten genirt, doch
ist die Affectation bei ihm sehr fein. Er ist per-
sönlich verliebt, besonders in den spätern Jahren
aber im NationalCharacter ist er unausstehlich.
Er ist gefällig gegen Freunde aber nicht Gastfrei.
Er ist peinlich aber nicht reinlich, selbst das Frauen-
zimmer nicht Er ist Großmüthig aber nur
in Worten. Er ist mäßig um nur zu glänzen,
das Weibliche Geschlecht ist nicht schön aber an-
genehm, sehr vernünftig aber nicht häußlich.
Sie sehen mehr auf den Ton als auf den Innhalt
und bons mots gelten bei ihnen sehr. Sie
haben eine übertriebene Meinung von Freiheit,
und die Policey ist hier grausamer als irgendwo.
Die Freigeisterei herrscht hier mehr als an
irgend einem Ort.

/Spanien. Der Spanier hängt sehr an Ge-
bräuchen, doch ist die Conversation jezt etwas
freier. Er hat einen Hang zur Wichtigkeit

/|P_123

/und von der Art ist ihre Grandezza, und ein
jeder auch der geringste Mann giebt sich eine
Wichtigkeit. Die Kaufleute sind hier weit
wichtiger als irgendwo Sie sind Großmüthig
wenn sie Ueberlegenheit haben, aber grausam
sie sich zu erwerben In Wißenschaften sind sie
grublerisch. Sie leben schlecht, und jeder ist mäßig
und nüchtern, selbst die Vornehmen. Zu ihren Ver-
gnügen gehört der Tanz Fandango genannt
dem sie nicht widerstehen können, vornemlich
der gemeine Mann. Ihre Grausamkeit zeigt sich
besonders in Inquisitions_Gericht.

/Italien. Hier herrscht der Geschmak der Kunst
in Franckreich der Conversation. Die Nation ist
sehr affectvoll, und ihre Gesichter zeigen es schon.
Der Italiäner liebt mehr öffentlich als privat
Belustigungen. Ihre Häuser sind mehr zur
Pracht als zur Bequemlichlichkeit. Selbst der Cicisbeo
der Frauen ist mehr zur Parade. Sie lieben prächtige
Kirchen und Gemälde. Der Italiäner ist ge-
schickt in Erfindungen, das Geld abzulocken.
zB in Lotterien. Das Geld hat hier der Adel, und
die Bürger nehmens ihnen durch Vergnügungen
die er dem Adel macht. Der päbstliche Hof ist
das Muster von Politik. Man wirft den Italiänern
vor, daß sie viele Bandits, Giftmischer und
so weiter hätten. Die Ursache ist die Italiäner

/|P_124

/haben einen natürlichen Abscheu vor allen
Werkzeugen der Gerechtigkeit ZB Häscher
und eben darum sind die Banditen so frey, weil
sie aufzuhalten jeder für unehrlich hält die
Italiäner haben die Lebhaftigkeit der Franzosen
aber durch Vernunft fixirt.

/England. Hume merkt an daß in England
jedes Individuum seinen Character hat, so ist es
schwer den Character der ganzen Nation zu be-
stimmen denn sie hat eigentlich keinen Die
Verschiedenheit der Individuen macht wirklich
die Nation ungesellig. Sie sind F«r»eind der
Nachahmung, doch fangen auch jezt die Moden
an zu wechseln. In Franckreich ist der gemeinste
Mann conduisirt oder von bon ésprit; In England
ist er mehr belehrt von bon sens dieses schreibt
man den vielen englischen Zeitungen zu. Der
Italiäner ist aber mehr abgewizt und gescheut,
zu der Arbeit ist der Engländer ämsiger und
behender, er richtet in weniger Zeit mehr als
andere Nationen aus, allein des Abends ver-
gnügt er sich in Gesellschaften. In England ist
der Wohlstand mehr bis auf den gemeinsten
Mann aus gebreitet als in jedem andern gleich
großen Lande. Es wird hier alles gut bezahlt
und die Fabriquen sind in größten Flor. Ihr
Geschmak gehet immer auf den wahren Zweck
aufs nützliche, und ihre Schönheit liegt in

/|P_125

/der Einfalt. Die englischen Bücher sind immer
lehrreich die französischen schön aber haben nicht
so viel Innhalt. Der Engländer ist originell,
er ist höflich aber ohne Schmeichelei. Er haßt
alle Ceremonien, und sezt einen Werth in Eigen-
sinn, Iedermann will sich hier selbst genug
seyn Zwischen Franzosen und Engländer ist
eine Antipathie. Der Engländer ist Gastfrey, aber
er ladet nicht sehr viel ein, die teutsche Nation
ist am meisten Gastfrei. Der Engländer ist Gastfrei,
aber er ladet nicht sehr viel ein; der Engländer
reiset um alles zu verachten. Dieß kommt von
der Eingeschränktheit in der Kenntniß der Verfaßung
anderer Länder her, selbst bei ihren Gelehrten. Sie
reisen mit diesem Vorurtheil und begeben sich
daher nicht in andere Gesellschaften als in Wirths-
häuser. In England haben die Weiber einen großen
Einfluß welches dieses Geschlecht verädelt. Er hat
auch mehr Achtung für daßelbe, in Franckreich
ist es blos Galanterie.

/Teutschland. Dieß scheint ein Stammvolck zu
seyn, welches am wenigsten mit andern Blut ver-
mengt ist, und keine Sprache ist so ausgebreitet
als die Teutsche. Bei den Teutschen ist der Phlegma
herrschend. Die Bescheidenheit der Teutschen ist immer
genirt und geschroben Er hat keinen National
Stolz, und das ist seine gute Eigenschaft, er ver-
sucht sein Glück in allen Ländern. Er ist ein

/|P_126

/guter Colonist, denn er ist geneigt den Ackerbau
zu bearbeiten. Er ist aufgeklärter als der Spanier
Ruße, Pole, aber in Genie stehet er den
Italiäner Engländer und Franzosen nach. Er
ist Erfinder davon was durch Erfahrung und
Beobachtung entdeckt werden kann Er hat die
Anlage beßer zu werden, und schickt sich in
alle Reformen Bei ihm herrscht mehr Urtheils-
kraft als Geist, mehr Behutsamkeit sich nicht
zu verirren als zu erfinden. Er hat die Neigung
zu unterscheiden, das siehet man in seiner Sprache,
die darinn vor allen andern den Vorzug hat;
Und um den Stand zu unterscheiden entstehet
die Titelsucht Er liebt das Vergnügen der Mahl-
zeit und des Trunks, denn sie können beide
mit seinem Phlegma bestehen Er ist sehr geneigt
Disciplin anzunehmen, und seine Iugend ist
zu sehr disciplinirt. Er liebt Freiheit, läßt
sich «zu sehr» aber bald auch despotisch beherrschen.
Er ist in der Arbeit geduldig, aber nicht so
zweckmäßig wie der Engländer, und so ge-
schmackvoll wie der Franzose Er kann aber
beide nachahmen. Seine Gelehrsamkeit ist Be-
lesenheit und Sprachkenntniß. Er ist sehr
systematisch und viele Wißenschaften haben
in Teutschland ihr System erhalten.

/Polen Hier herrscht ein Hang zur barbarischen

/|P_127

/oder brutalen Freiheit ohne Gesetze, und wenn
sie auch Gesetze haben so haben sie doch keine
Gewalt. Die Polen sind lebhaft aber ohne
Witz, sie werden leicht conduisirt aber schwer
civilisirt. Der Pole verspricht leicht ohne Wort
zu halten Er liebt Pracht ohne Reinlichkeit, und
ist sehr weichlich. In Polen ist kein Mittelstand,
der sonst immer das Fundament der Cultur ist,
die Weiber raisoniren hier am meisten. Der
Pole liebt persönliche Freiheit aber ohne Patriotismus
auch ist er sehr höflich.

/Rußland. Die Rußen sind sehr eigensinnig und
unbiegsam und scheinen zu den Asiatikern zu
gehören. Sie haßen alle Nationen verbergen aber ihren
Haß, wenn sie Gewalt fürchten, aber behalten
doch einen Groll. Sie werden ehr disciplinirt als
civilisirt. Der Bauer muß hier alles selbst
verfertigen können. Daher ist das Ganze der
Nation in Barbarei; denn wäre die Nation
cultivirt, so dürfte der Bauer nicht so raffinirt seyn.
Türkey. Die Türken sind ein ehrliches tapferes und
entschloßenes Volk. Sie nehmen keine Cultur
vielweniger Disciplin an. Von Character der
verschiedenen Racen ist in der physischen Geographie
gehandelt.

/ ≥ Vom
Character der Menschen_Gattung. ≤

/Der Mensch kann betrachtet werden zum Natur-
reich als Thierart, und dieß ist der physische

/|P_128

/Character Er kann aber auch betrachtet werden
zum Reiche der Zwecke gehörig, als ein vernünftiges
Wesen, und das ist sein moralischer Character. Ist
der Mensch auf 4 oder 2 füßen zu gehen bestimmt
die Meinungen davon sind verschieden. Ist der Mensch
als ein fruchtfreßendes oder Fleischfreßendes
Thier geschaffen? Die Fruchtfreßende Thiere haben
einen dreyfachen Magen, die Fleischfreßenden nur
einen einfachen, und da der Mensch auch einen
einfachen Magen hat, so scheint er zu den leztern
zu gehören Ist der Mensch ein einsames Thier wie
ZB ein Vogel oder als ein geselliges Thier wie
ZB die Pferde anzusehen? Man könnte ihn von
Entwicklung der Vernunft eher für einsam halten.

/Um den moralischen Character des Menschen
zu bestimmen sollten wir den Menschen mit andern
vernünftigen Wesen vergleichen, da dieß aber
nicht möglich ist, so nehmen wir hiezu unsere
Begriffe von Verstand und Willen. Bei den Thieren
erreicht jedes Individuum seine Bestimmung
Beim Menschen aber ists nicht so sondern nur
die Menschheit erreicht ihre Bestimmung. Der
Mensch muß unterrichtet und erzogen werden,
er kommt unwißend auf die Welt, und sogar
die Sprache muß er lernen, er muß also unter-
richtet seyn und disciplinirt werden, und so
wird er von Generation zu Generation voll-
kommner Den Zweck der Menschheit erreicht

/|P_129

/also kein einzelner Mensch sondern die
Menschengattung. Die Natur hat gewollt daß
der Mensch alle Geschicklichkeit, Glückseligkeit
und Sittlichkeit aus sich selbst entwickeln und
sich selbst zu verdanken haben soll Sie versah
ihn dazu mit allen Anlagen und Talenten und
dieß ist der erste Zustand des Menschen nemlich
die Rohigkeit. Ist der rohe oder gesittete Zustand
der beste? Keiner von beiden, sondern nur der
der vollständigen Entwicklung ist der beste.
Der mittlere ist der schlimmste in Ansehung des
Glücks und hierin ist der rohe beßer worin
weniger Unglück ist, obgleich der mittlere
mehr Vergnügen gewährt. Jedes Geschöpf er-
reicht in der Welt den Zeitpunkt da alle seine
Naturanlagen entwickelt werden, und beim
Menschen erreicht diese Entwicklung nur die
Menschengattung. Die Ursache, warum so viele
den rohen Zustand so hoch preisen liegt in dem
Triebe des Menschen zur Faulheit; denn dieß
ist der Zustand der Unwißenheit. Im wilden
Zustand kann der Mensch so bald er das Vermögen
hat, seine Art zu erzeugen, sie auch erhalten
aber im gesitteten nicht. Wir können beim Menschen
drey Naturepochen annehmen; das Kindesalter
da der Mensch sich nicht selbst erhalten kann. Das
Jünglingsalter da er zwar seine Art erzeugen aber
nicht erhalten kann, und das Alter des Mannes, da
er seine Art erzeugen und sie auch erhalten kann.
Nur durch den Widerstreit der Cultur mit der

/|P_130

/Natur Epoche entstehen die Laster. Der Mensch
soll mit der Cultur der Leibeskräfte auch die
Seelenkräfte und die Sittlichkeit cultiviren. Dies
kann er aber in Naturzustande nicht.

/Der Trieb zur Cultur hat kein Ver-
hältniß zur Lebensdauer, und selbst durch
die Cultur widerstreitet er der Natur ZB
durch Anstrengung der Gemüthskräfte in
Alter; Allein diese Beschwerlichkeiten gehören
mit zur Cultur. Der Mensch ist von Natur
frei und alle Menschen sind sich gleich. Die
Naturanlagen des Menschen sind alle gut ZB.
Faulheit, Feigheit, Falschheit hält man für
die verächtlichsten Laster; Allein auch der Hang
zu diesen Lastern hat sein Gutes. Die Faulheit
in Prospect bringt Gutes hervor. Die Feigheit
ist zur Erhaltung der Gattung nöthig. Falschheit
es liegt im Menschen ein Hang sich zu verhelen.
Dieß ist die Dissimulation oder Zurückhaltung
Die Simulation ist die wirkliche Verstellung
welche die «g» eigentliche Falschheit ist, und diese
ist schändlich Die Zurückhaltung ist aber jezt
bei den Mangel der Cultur der moralischen Eigen-
schaften nöthig, sonst könnte eine vollige Offen-
herzigkeit statt finden. Selbst die Ungeselligkeit
von Natur ist das Mittel der Verknüpfung
der größten Gesellschafften. Der bürgerliche Zustand
ist die Folge der Ungeselligkeit. Es ist aber

/|P_131

/unter den Menschen noch eine Barbarei übrig
Eine solche findet unter den Staaten statt, sie
wollen sich nicht allgemeinen Gesetzen unter-
werfen, und sind daher als einzelne wilde
Menschen anzusehen. Hieraus entstehet das Uebel
des Kriegs Dieser Zustand muß bei der völligen
Erreichung der Bestimmung des Menschen weg-
fallen; denn das Recht ist in der Vernunft und
nicht in der Macht gegründet. Eine Anlage zu
dieser Veränderung ist auch jezt schon. Denn oft
werden durch Vergleiche die Zwiste der Könige
ausgemacht. Der Zweck der Natur ist der möglichst
vollkommenste bürgerliche Zustand.

/Zur bürgerlichen Verfaßung gehört

/a) Freiheit. Iedes einzelnen Freiheit muß auf
die Bedingung der allgemeinen Freiheit ein-
geschränkt seyn und hiezu sind

/b) Gesetze nöthig und

/c) Gewalt, welche diese Gesetze schützen muß.
Freiheit ohne Gesetze und Gewalt ist der
natürliche Zustand, oder der wilde Zustand
Gewalt und Gesetz ohne Freiheit ist der
Despotismus.

/Die Entwickelung ist entweder die der größten
Geschicklichkeit, das heißt, Cultur oder die der
größten Gesetzmäßigen Freiheit, das heißt, Civili-
sirung oder die der größten Sittlichkeit das heißt
Moralisirung. Wir sind in einem hohen Grad

/|P_132

/cultivirt in wenigern civilisirt. Unsere Cultur
ist noch ohne Plane, %und wird durch den Luxus be-
fördert und nicht durch den Zweck des allgemeinen
Besten, und darinn vermehrt die Cultur unsere
Bedürfniße und Mühseligkeit. Unsere Civilisirung
beziehet sich nur auf den Geschmak und nicht
wie sie doch sollte, auf die Bildung zum Bürger
und auf das Princip des allgemeinen Besten. In
Ansehung der Moralisirung lernen wir wohl
sittlich urtheilen aber nicht handlen. Die Moralität
macht nicht einmal Ehre und die Unmoralität
nicht Schande. Es herrschen Sitten ohne Tugend und
Geselligkeit ohne Freundschaft, es herrscht Eitelkeit
statt wahrer Ehrliebe und Rechtschafenheit Dieß zeigt
daß die Moral in keiner öffentlichen Achtung ist.
Die Mittel zur Moralisirung sind Erziehung
Gesetzgebung und Religion. Alle diese Stücke
müßen öffentlich frei und der Natur angemeßen
seyn. Der Mensch muß erst als Kind gut seyn.
Der Zwang muß wegfallen, weil er nachher
ohne Zwang handlen soll. Die Erziehung muß
also negativ seyn; so wie auch die Gesetzgebung
Der Bürger muß selbst seine Stimme zum Gesetz-
geben, oder die Gesetze müßen nach der Idee des
allgemeinen Wohls willen gemacht seyn. Iezt
ist der Bürger ein Kind Die Religion muß
auch zu erst negativ seyn sie muß so viel möglich
Gelehrsamkeit wegnehmen, obgleich diese im

/|P_133

/Ganzen nothwendig ist, so muß sie doch
das Publicum nicht haben.

/Wir leben in einer dreifachen Unmündigkeit
nemlich in der häuslichen als Kinder der Eltern,
in der bürgerlichen Unmündigkeit, nicht allein,
daß wir die Gesetze nicht machen, auch noch
überdiß nach solchen gerichtet werden, die wir
selbst nicht kennen. Der Mensch bedarf in Ge-
sellschaft einen Herren, weil er sonst seine Freiheit
misbraucht. Dieser Herr aber ist auch ein Mensch
und bedarf es eigentlich auch. Dann leben wir
drittens in der frommen Unmündigkeit in An-
sehung der Religion, das allgemeine Wohl der
Welt scheint von der Erziehung abzuhängen
In den Begriffen derselben ist man schon ziemlich
weit, aber nicht in den Mitteln die die Fürsten
geben sollten. So lange die Staaten nicht ein Ganzes
ausmachen, kann die Erziehung nicht vollkomen
werden. Der Krieg richtet die Cultur zu
Grunde und jeder Fürst muß das Vermögen
anwenden seine Kriegsmacht zu erhalten.

/δ_Ende_des_Kollegheftes