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/ ≥ Antropologie

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/ akademischer Vortrag.

/ des Herrn Profeßor Kant in Königsberg in Preußen.

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/ für Georg Ludw: Collins aus Riga 1786. ≤

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/δRückseite: δleer

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/ ≥ Prologomena

/Die Wißenschafft des Menschen (Anthropologia) hat mit der Physiologie
des aüßern Sinnes eine Aenlichkeit, in so fern in beyden die Grün-
de der Erkenntniß aus Beobachtung und Erfahrung genommen wer-
den. Nichts scheint wohl für den Menschen intereßanter zu seyn,
als diese Wißenschafft, und doch ist keine mehr vernachläßiget,
als eben diese. Die Schuld wird wohl an der Schwierigkeit dieser
Art Beobachtungen anzustellen liegen, wie auch an der seltsa-
men Illusion, da man glaubt das innig zu kennen, womit man
umzugehen gewohnt ist. Dadurch haben sich «in» manchen Wißenschaf-
ten wichtige Stücke <der> Beobachtung entzogen, weil man sie nicht wür-
dig dazu hielt. Eine Ursache mag auch wohl die seyn, daß man nicht
viel erfreuliches zu finden vermuthet, wenn man die schwierige
Hollenfahrt zur Erkentniß seiner selbst anstellen würde.

/Aber warum ist nicht aus dem großen Vorrath der Beobachtungen
Englischer Verfaßer eine zusammenhängende Wißenschafft des
Menschen gemacht? Es scheint daher zu kommen: daß man die Wißen-
schafft des Menschen als einen an die Methaphysic angehängten Theil
betrachtet hat, und daher nur soviel Achtsamkeit auf sie gewandt, als
die Theile der Methaphysic als Folgen der Seelen angesehen; aber
die Methaphysic hat nichts mit den Erfahrungs-Kentnißen zu thun.
Die empirische Physiologie gehört eben so wenig zu Methaphysic. - Wenn
wir die Kenntniß des Menschen als eine besondere Wißenschafft
ansehen, so entspringen viele Vortheile daraus; denn man darf
1.) aus Liebe zu ihr nicht die ganze Methaphysic lernen. 2.) ehe ei-
ne Wißenschafft in Ordnung und Regelmäßigkeit der disposition
kommt, muß sie auf Academien allein getrieben werden; dieses
ist das einzige Mittel eine Wißenschafft zu einer gewißen Höhe

/ zu

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/zu bringen; es kann aber dieses nicht statt finden, wofern die
Wißenschafft nicht genau abgesondert ist. Man behält nichts aus
den Büchern wozu man nicht gleichsam Bücher im Verstande hat.
Die disposition ist daher in der Wißenschafft das vortreflichste, hat
man diese von der NaturKenntniß des Menschen; so wird man
aus Romanen und Wochenblättern, aus allen Schrifften und aus
dem Umgange unschätzbare Reflexionen und Beobachtungen sammlen.
Wir werden das menschliche Gemüth in allen Zuständen betrach-
ten, im gesunden und im Krancken, im verwirten und rohen
Zustande, die ersten principien des Geschmacks und der diiudication
des Schönen, die principien der Pathologie, Empfindsamkeit und Nei-
gungen. Wir werden die verschiedene Alter und besonders Geschlech-
ter in ihren Charackteren angeben, und aus ihren Qvellen zu
ziehen suchen. Hieraus wird sich folgern laßen, was an den
Menschen natürlich, und was an ihm künstlich oder ange-
wöhnt ist, daß wird das schwerste und unser Hauptobjeckt seyn,
den Menschen, so fern er natürlich, von dem durch die Er-
ziehung und anderer Einfluß umgeschaffenen Menschen zu
unterscheiden, das Gemüth abgesondert von dem Cörper zu
betrachten, und durch Beobachtungen auszumitteln suchen,
ob der Einfluß des Cörpers nothwendig zum Dencken erfordert
werde. Zeigen uns Erfahrungen das Gegentheil; so wird eine
bloße Schlußfolge aus den Erfahrungen den sichersten Beweiß-
Grund für die Unsterblichkeit der Seele an die Hand geben.

/ ≥ Abhandlung

/Der erste Gedancke der uns aufstößt, wenn wir uns selbst
betrachten drückt das Ich aus; es drückt aus die Beschauung seiner
selbst. Wir wollen das Ich zergliedern: Alle Beweise die man

/ von

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/von der Einfachheit der Seele führet, sind nichts anders als Ana-
lysen des Ichs. In dem Wörtchen Ich ist nicht eine bloße Anschauung
seiner selbst, sondern auch die Einfachheit unser selbst, denn es ist
der vollkommenste Singularis. Es drückt ferner meine Substanti-
alität aus, denn ich unterscheide das Ich, als ein leztes Subject, was
weiter von keinem Dinge kann praedicirt werden, und daß selbst
das Subject aller Praedicate ist. Das Wörtchen drückt auch eine vernünf-
tige Substanz aus, denn das Ich drückt aus, daß man sich selbst zum
Gegenstand seiner Gedancken macht mit Bewustseyn. Es liegt auch
in ihm die Personalitaet. Jeder Mensch, jedes Geschöpf, was sich selbst
zum Gegenstand seiner Gedancken macht, kann sich nicht als ein
Theil der Welt ansehen, das Leere der Schöpfung auszufüllen,
sondern als ein Glied der Schöpfung, und als der Mittelpunckt der-
selben, und ihr Zweck.

/Das Ich ist das Fundament des Verstandes und der VernunftFähigkeit,
und der ganzen obern Erkenntnißkrafft, denn alle, diese Vermö-
gen beruhen darauf, daß ich mich selbst, und das, was in mir vorge-
het beobachte, und beschaue. Es ist schwer sich selbst zum Gegenstande
der Gedancken machen, darum unterläst man es so offt. In dem
Wörtchen Ich findet man so gar den Begriff der Freyheit, das Be-
wustseyn der Selbstthätigkeit; denn das Ich ist nicht eine äußere Sache.
Wir sehen aus dieser Analysi des Ichs, daß das, was viele Phylosophen
für tiefsinnige Schlüße angeben, nichts als unmittelbare Anschau-
ungen unserer Selbst seyn.

/In Gesprächen, wenn man offt von sich redet, wenn man sich auch so gar
tadelt, wird man der Gesellschafft verdrüßlich; denn ein jeder Mensch
siehet sich, als ein Hauptstück der Schöpfung an, und will sich nicht in
den Standpunckt einzelner Persohnen setzen, es müßte denn etwa
eine wichtige Begegnung seyn. Menschen mögen lieber allgemein
aus einen indefferenten Standpunckt die Welt ansehen. Reflexionen haben

/ sehr

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/sehr was angenehmes; gewöhnt man sich ruhig zu reflectiren, so
wird man allen Sachen in der Welt gut. Leibnitz setzte die beobach-
ten Würmchen behutsam wieder auf das Blatt, und jeder liebt
das, was ihm Gelegenheit zu Betrachtungen giebt. Redet man in
Gesellschafft von seinen Zwecken, Bemühungen und Privatumstän-
den; so ist das der Weg, die Zuhörer betroffen und schweigend zu-
machen; wenn man aber über seine eigene Affaire roullirt, so
hört das die Gesellschafft gern, und man darf seinen Werth nicht
dabey Preiß geben. Davon laßen sich keine Regeln geben, jeder ist
au«ch»f sein Ich so sehr erpicht, daß er anderer Ich nicht gerne hören mag.
Binnen zehn Jahren ist der Cörper von anderer Materie, so wie
ein Strom mit anderem Waßer fleußt, doch ist das Ich unverän-
derlich, und dieses Ich ist untheilbar. Wenn mir alle Glieder vom
Leibe abgesondert würden, und ich kann nur noch das Ich sprechen;
so bin ich mir noch keiner Verringerung bewust. Jeder Mensch hat
in sich gleichsam eine doppelte Persöhnlichkeit, das Ich als Seele, und
das Ich als Mensch.

/Das eigentliche Ich ist etwas substanziales, einfaches und beharrliches;
da man im Gegentheil das Ich als Mensch als veränderlich ansiehet,
man sagt Z.B. ich bin groß, ich bin klein. Würde das Ich sich ändern,
wenn man in einem fremden Cörper wäre? Nein in An-
sehung des Cörpers ist der Mensch von den Thieren wenig unter-
schieden, und der Hottentotte trit dem Oranutang so nahe, daß man
in Beurtheilung der bloßen Gestalt, wenn man auf die Artigkeit
siehet bewiesen wird. Wenn mann den Menschen die Vernunft nähme,
so ist die Frage, was der Mensch wohl für ein Thier seyn würde? Er
möchte gewiß nicht das lezte seyn, seine Thierheit aber, da sie durch
die menschliche Seele moderirt wird, ist schwer zu erckennen, wer

/ weiß

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/weiß, was die Gottheit für eine Thierheit mit der Vernunft gemischet, um um
den Menschen zu machen. Die Stoicker wollten die Thierheit ganz
unverbunden mit der menschlichen Seele setzen, den Cörper sahen
sie nicht als ein Theil des Selbst, sondern als etwas an, was uns
gehört, und deßen Vertraulichkeit wir uns entziehen müßen, er
ist so wie die Schaale der Schnecke, bloß unsere Wohnung, und er
selbst so wohl als seine Veränderungen gehören zu unserem gefälli-
gen Zustande. Epicur behauptete es gebe keine andern Menschen
als Gegenstände, wodurch die Sinne getroffen werden; was den
Cörper anginge, daß ginge nur unser Selbst an. Ich bin, daß ist eine
Anschauung@,@ nicht ein Schluß wie Cartesius es glaubte, oder mein
Cörper ist, das ist, meine bloße Erscheinung. In mir nemlich ist
nichts als die Verstellung meiner Selbst, ich schaue mich nur Selbst
an. So fern in mir Veränderungen sind den Gegenständen correspon-
dirend, so heißen sie Erscheinungen. Wir haben keine Anschauung in
der ganzen Welt, als die Anschauung unserer Selbst; alles andere
sind Erscheinungen. Das Ich ist die bloße Seele. Es ist kein Mensch, der
nicht mit einem andern tauschen möchte, mit Gesicht, mit dem gan-
zen Leibe, ia so gar mit den Eigenschafften der Seele; aber sein
ganzes Ich zu vertauschen entschließt sich niemand; es ist an sich ein
Wiederspruch: daher ist es eigentlich gar nichts dunckel.

/Wir finden in unserer Seele gleichsam zwey Seiten, eine«m» nach wel-
cher «¿»sie leidend, und eine andere, nach welcher sie thätig ist. Nach
der ersten bin ich ein Spiel aller Eindrücke, die auf mich von der
Natur geschehen, nach der andern bin ich ein freyes selbstthätiges
principium, der Mensch erkennt sich um so viel niedriger, als er lei-
dend und in Ansehung der Selbstthätigkeit gebunden ist.

/Die Fähigkeit modificirt zu werden, oder zu leiden, nennt man die
untere Kraft der Seele, die Fähigkeit, Selbstthätig zu handeln ist die

/ obe

|P_6

/obere Kraft. So fern die Seele fähig ist der Eindrücke, die der Cör-
per leidet, heißt sie anima, so fern sie fähig ist selbstthätig zu handeln,
heißt sie mens. So fern sie beyde vereinigt und die erste Fähigkeit un-
ter der moderation der andern stehet heißt sie animus - anima heißt
Seele, animus Gemüth, mens, Geist. Dieses sind nicht drey Substanzen,
sondern drey Arten, wie wir uns lebend füh«r»<l>en. In Ansehung
der ersten Art sind wir leidend, in Ansehung der andern, zwar lei-
dend aber auch reagirend zugleich, in Ansehung der dritten Art sind
wir ganz selbstthätig. Bey angenehmen und traurigen Empfindun-
gen können wir unterscheiden.

/ 1.) Das Gefühl des Vergnügens und

/ 2.) Fröhlichkeit über dieses Gefühl des Vergnügens.

/Eben so kann man bey schmerzhaften Empfindungen unterscheiden.

/ 1.) Den Schmerz selbst oder den Kummer

/ 2.) Die schmerzhaften Empfindungen über den Kummer.

/Die Stoicker verstanden unter den Weisen, den Menschen, der niemals
elend ist, der zwar alle«r»n Schmerz in der Seele fühlt, ihn aber zum Ge-
müth niemals kommen, sondern ihn reagiren läst. Ein Mensch kann
in der Seele die empfindlichsten Schmerzen fühlen und doch frohes und
ruhiges Gemüths seyn. Das Gemüth heißt sonst Herz, welches also an
die obere Kräfte des menschlichen Gemüths gränzt. Ein gut Gemüth ist
das gute Verhältniß zwischen Empfindungen oder Neigungen und re-
action des Verstandes. Socrates hatte ein böses Gemüth aber seine Grundsatze
des Verstandes überwältigten die Sinnlichkeit, und machten das Verhält-
niß zwischen ihr und der Vernunft wieder richtig. Außer der
Lust und Unlust im Geist, daß sind Billigungen seiner guten oder
reprochen seiner bösen Handlungen. Es kann die Seele ganz im Schmerz
schwimmen, und doch im Geiste große Heiterkeit seyn, so wie es im Ge
gentheil im Geist offt finster aussiehet wenn in der Seele in dem

/ Ge

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/Gemüth lauter Freüden gauckeln. GemüthsKranckheiten sind die stärcksten - 
Betrübniß ist schlimmer als Schmerz - sie ist die Unlust über meinen ganzen
Zustand. Mißfallen an meiner eigenen Persohn ist die geistige Traurig-
keit und die schlimste unter allen. Es ist wunderbar das die Vergnügun-
gen desto dringender und stärcker werden, je feiner und weiter sie
von der Sinnlichkeit erhaben sind. Man sagt bisweilen: Menschen, Gesell-
schafften oder Reden sind von Geist d.i. von Bewegkrafft. Geist nennen
wir das, was die eigentliche bewegende Krafft enthält. Wir suchen
immer gerne das, was unser Gemüth in Bewegung setzet; man sie-
het das Geist im Menschen so viel ist, als das Leben, oder der erste Grund
zum Leben des Menschen. Alle Betrübniß kommt mehrentheils daher,
daß man sich eine große Idee von der Wichtigkeit des Lebens macht.
Ein Weiser siehet alles in der Welt, selbst sein Leben für unwichtig an.
Daß hilft ihm zur Uberwiegung und reaction gegen starcke sinnliche
Empfindungen. Was das Gemüth noch betrifft, so mercke ich an, daß das
Gemüth gewöhnlich ein Gegenstand der Liebe ist. Ein gut Gemüth wird,
wenn es sonst bösen Ausschweifungen Preiß wird doch geliebt. Es
giebt aimables deb«o»auch«e»és, liebenswürdige Liederliche. Man vertraut
sich ganz solchen guten Gemüthern, und lieber ihnen, als solchen, die
nach Grundsätzen gut handeln. In Ansehung des practischen heißt das
Gemüth gewöhnlich Herz. Was den Geist betrift, so sagt man niemals:
der Mensch hat einen bösen Geist, denn der Geist wird von keinen
Neigungen afficirt, und da er alles bloß aus Vernunft, nicht aus
Sinnlichkeit beurtheilt, so beurtheilt er das Gute und ist das prin-
cipium der Beurtheilung davon, mithin kann nichts Böses von ihm
herkommen, aus ihm kommt alles Gute her, aus dem Gemüth aber das
Böse. Das Wort Geist, wenn man auf die gemeinen Neigungen, be-
sonders der Wilden Acht hat, bedeütet das, was den trägen Stoff in der
ganzen Natur belebt.

/ Ver

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/ ≥ Verhältniß des Selbst gegen die Welt. ≤

/Der Geist so ferne er mit einem Cörper vereinigt ist, heist Seele;
also Ich als Geist, so fern ich die Welt erkenne, nicht bloß als ein den-
ckender Geist, sondern vermittelst des Cörpers, so bin ich Seele, und betrach-
te die Welt pro situ corporis, nach den Umstanden des Cörpers. So wie ein
Einwohner einer kleinen arcadischen Insel, der, als er auf die Güter
des Grafen kam, dem diese Insel gehörte, vor ihm auf die Knie fiel,
und den Grafen für den Beherrscher der Welt prieß. Aber nicht
bloß pro situ corporis betrachte ich die Welt, sondern auch nach Be-
schaffenheit des Leibes und seiner Organen. Es ist wunderbar, daß wir
durch die starcke Anstrengung des Dichtungs-Vermögens, uns keine
Gestallt vorstellen können, die für denckende Wesen anständiger
wäre, als die wir jezt haben, man siehet dies aus Miltons Paradieß.
Die menschliche Gestalt ist also d«er»as erste Muster der Schönheit.

/ ≥ Von der Vorstellungs Krafft

/Es ist merckwürdig, daß einige Vorstellungen in uns mit Bewustseyn, an-
derer, ohne Bewustseyn entstehen, und da sind. Ein Musicus ist der erstau-
nen vielen und schweren Vorstellungen und Reflexionen die er machen
muß, wenn er phantasirt, sich nicht bewust. Die dunckeln Handlungen
unserer ganzen Erkentniß-Kraft machen den grösten Theil des Zu-
standes der Seele aus. Die wenigste Erkenntnißen sind durch Bewust-
seyn erhellet. Das Bewustseyn ist gleichsam ein Licht, womit eine Stelle
in unserer Erkentniß erleüchtet ist, es bringt nicht die Stelle hervor,
auch nicht Erkenntniß, sondern siehet nur auf die Reflexionen, die in uns
sind ein Licht zu werfen. Sehr viele schwierige Wißenschaften die-
nen bloß den dunckeln Schatz der Vorstellungen der Seele zu erhel-
len, nicht hervorzubringen. So ist die ganze Moral nur eine analysis
des Vorraths von Begriffen und Reflexionen, die der Mensch im dunckeln
schon hat. Ich lehre da nichts neues, und die finstern Beobachtungen sind
in uns von Bewustseyn entstanden. In dunckeln Vorstellungen ist der

/ Ver

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/Verstand am würcksamsten und alle klare Vorstellungen oder
Reflexionen. Hume in seinen Grundsätzen der Critic hat es vorzüglich ge-
glückt, dasjenige, was vor gewißen Urtheilen der Menschen, oder von
aüßern Ausbrüchen z.B. des Lachens vorhergehet auszuspühren. Der
Philosoph der menschlichen Natur hat in dem Fall mit dem Naturforscher gleiche
Bemühungen, nehmlich aus Erscheinungen des innern oder äußern Sinnes,
die Kräfte die im dunckeln würcken, auszuspühren und vor Augen
zu legen. Man siehet Z.B. in der Erfahrung, daß Eltern unter ihren
Kindern die von gegenseitigen Geschlecht vorzüglicher lieben, als die mit
ihnen gleiches Geschlechts sind. Unter den Söhnen genüßen die von einem
stillen und gelaßenen Charackter besonders die Gunst des Vaters, und
die von einem aufgewecktem oder auch wilden Naturell sind Günstlinge
der Mutter. Was ist aber hievon wohl die Ursache? Welches sind die Reflexio-
nen, die dieses bewürcken? Eine Ursache ist der immer würcksa-
me Naturtrieb; die andere die der Mutter den Sohn lieb macht,
ist diese. Sie <sie>het der Schwäche und Unterordnung ihres Geschlechts ein-
gedenck, auf den Sohn als ihren künftigen Beschützer und Vorsorger
herab, und in der Absicht kann sie von einem muntern und lebhaf-
ten Naturell sich das meiste versprechen. Eben so bemercket man,
daß wenn ein Reicher ins Zimmer tritt, gesezt wir kennen ihn gar nicht
und er kam aus Irthum in unser Haus, daß er in uns gleich eine
Achtung für sich erweckt. So wie man sich im Gegentheil kaum der
Aergerniß erwehren kann, wenn man einen Armen laut und
Stolz sprechen hört. Dieses rührt daher, weil wir Vermögen und
Talent höher schätzen, als den guten Gebrauch derselben; denn hat
man nur Vermögen, es sey Geld oder Geschicklichkeit, die gute
Anwendung denckt man, ist was leichtes, da ein jeder Mensch
eine freye Willkühr hat. Man mercke aber daß Achtung nicht
Nothwendig mit Billigung der Neigung verbunden ist. Man darf

/ sich

|P_10

/sich nicht über die Dunckelheit beklagen; denn wäre gar zu viel
Illumination in unsern Ideen; so entstünde dadurch eine neue Ver-
wirrung. Nur durch die Abstechung des Lichts und Schattens können
wir uns der Vorstellung bewußt seyn. Die dunckeln Ideen haben
in uns große Macht, sie geben uns offt eine Richtung in den Gesin-
nungen, die wir selbst durch klare Ideen nicht ändern können.
So gehts Z.B. mit den Schrecken des Todes, wovon selbst derjenige
Mensch ergriffen wird, der in der Kürze des Lebens seine wich-
tigste Trostgründe sucht. Die Vernunft zeigt jeden den Tod als et-
was wünschens würdiges, die Sinnlichkeit aber macht ihn zum Kö-
nige des Schreckens: eben so geht es mit der Furcht die uns der
Anblick einer abschüßigen Tiefe, oder andern Gefahren, trotz
unserer Herzhafftigkeit einjagt. So laufen die Ideen nach Geset-
zen der Sinnlichkeit den Verstandes_Ideen gerade entgegen. Wir
sind gewohnt, dunckele Vorstellungen für Empfindungen zu hal-
ten; so glauben wir die Schönheit eines Gedichts, das Witzvolle
eines Scherzes zu empfinden, da es doch hier bloß Reflexionen sind,
die mit den Empfindungen nichts ähnliches haben; denn das Empfin-
dungs principium ist die Sinnlichkeit, das Reflexions_principium der
Verstand. Was ein Gegenstand der Empfindung werden soll, muß
den Sinnen können unterworfen werden, und wir empfinden
nichts, was nicht sinnlich ist. So wenig also Schönheit, Harmonie und an-
dere idealische Gegenstände, so wenig wird auch Häßlichkeit, Unge-
reimtheit übe«r»<l>paßende Gleichniße können empfunden werden.
Wenn nur aber so sehr vieles, was man empfinden nennet, nichts
als dunckle Reflexionen sind; so stehet dem Philosophen ein großes Feld
zu bearbeiten offen, um diese dunckele Reflexionen zu entwickeln.
Es scheint daß man zum Verderb der Weltweißheit mit Fleiß die
dunckeln Vorstellungen, Vorstellungen nennt, um sich der beschwer- 

/ li

|P_11

/lichen Entwickelung derselben auf eine so gute manier zu entziehen:
denn die Berufung auf Empfindung schneidt aller Untersuchung
den Faden ab; ehe man sich also auf Gefühl beruft, sehe man zu,
ob es sich nicht in dunckeln Vorstellungen auflösen läßt. Die
moden können auf eben die den Philosophen viel Stoff darbieten.
Wo klare Vorstellungen sind, da glaubt man sich schon bewußt
zu seyn. Es ist aber ein großer Unterschied darzwischen: ich bin
mir der Vorstellungen bewußt, und ich bin mir meiner selbst
bewußt, daß ich die Vorstellung habe.

/Erfahrung. Je mehr man an andere Dinge denckt, desto weniger
denckt man an sich selbst. Bey ganz klaren Vorstellungen gedenckt
man an sich gar nicht, daß heißt mit andern Worten: je mehr
ich mir meiner Sache bewußt bin, desto weniger bin ich mir
meiner Selbst bewust bey der Sache. Der Zustand da man ganz
nur an Sachen denckt und nicht an sich selbst, ist der glücklichste und
dem Cörper besonders sehr zuträglich. Gedanckenlosigkeit ist der
Zustand der dunckeln Vorstellungen, da ein Mensch weder an sich,
noch an andere Dinge klar denckt; die Seele kann dabey
sehr thätig seyn. Der größte Theil der Menschen ist offt gedanckenloß,
und dieser Zustand ist sehr zuträglich. Bey der Arbeit ist man gewöhnlich
Gedanckenlos, vielleicht ist auch die Arbeit deswegen so gesund. Die auf
sich selbst gerichtete Aufmercksamkeit, ist theils schwerer, theils
abmattend; und ist sie unwillkührlich, so ist sie vielleicht das größte
Ubel, was sich nur dencken läßt. Man siehet es an Hypochondristen,
die nur an eine Kranckheit dencken dürfen, um schon alle ihre
Schmerzen zu empfinden. Medici sollen es dahin zu bringen su-
chen, daß dergleichen Patienten auf ihren Zustand nicht Acht geben;
es ist aber ein Unterschied zwischen dem Achtgeben auf seine Persohn,
und dem Achtgeben auf die Thätigkeit seiner selbst. Das erste thun
die Hypochondristen, das leztere Intellecktual Philosophen. Es giebt

/ eine

|P_12

/eine eitele Aufmercksamkeit auf sich selbst, da man auf alle sei-
ne Geberden Acht hat, und sich gleichsam in die Stelle einer andern
Person sezt, um seine Handlungen zu beobachten. Ein Mensch von
der Art kann nicht anders als bey allem, was er vornimt, affec-
tirend und steif erscheinen, und dieses erweckt bey jedem Ver-
druß oder Spott. Dieser eitlen Aufmercksamkeit ist entgegengesezt
die Naivitaet, da man was hervorstehendes thut, was jedem gleich
in die Augen fällt und vergnügt, wobey man aber weder auf
die Handlung noch auf sich selbst Acht hat.

/ ≥ Von der Tiefe des menschlichen Verstandes

/Das Gemüth worunter man die Selbstthätigkeit verstehet, so fern sie
den Eindrücken des Cörpers entgegen würckt, hat für den Menschen
selbst unerforschliche Tiefen. Darauf gründet sich die Rechtmäßigkeit
des Befehls, nicht sich, auch nicht andere zu richten. Wer weiß wie
viele der besten Handlungen bey uns durch eine Veranlaßung
des Ohngefehrs entstehen, oder Folgen des Temperaments oder
Spiele des Glücks sind; nur sehr wenige hingegen aus reiner
Willkühr geschehen. Wir sind indeßen sehr geneigt uns selbst zu taü-
schen, und zu überreden bey den guten Handlungen immer
die reinsten motiven zu haben. Man suche sein Inneres kennen
zu lernen, so wird man so manches entdecken, was man uns
kaum zu glauben überredet hätte. So glaubt man sehr leicht,
daß man Gott liebe, aber man prüfe diese Liebe; so wird
man sehen, daß sie eine bloße Einsicht sey, daß Gott liebens-
würdig ist, und wenn der Mensch dieses einsiehet, so glaubt
er schon die wahre Liebe gegen Gott zu haben. Man suche
sein Inneres kennen zu lernen; dieses ist die Grundregel

/ aller

|P_13

/aller menschlichen Erforschungen, man ist immer geneigt sich selbst
so vielen Beyfall, als möglich zu geben, (und wem sollte man ihn auch
wohl lieber gönnen.) daher kommt es, daß man sich selbst angenehme
Täuschungen spielt, und sich überredet etwas zu besitzen, wo
von man nur eine Kenntniß, nicht aber die Sache selbst besitzt.

/ ≥ Von der Deutlichkeit und Verwirrung

/Das Gegentheil der Deütlichkeit, wird beßer Undeütlichkeit ge-
nannt. Verwirrung ist eigentlich der Ordnung entgegengesezt.
Klarheit ist entweder

/ 1.) Klarheit der Anschauung oder

/ 2) Klarheit des Begriffs

/So auch die Dunckelheit befindet sich entweder in der Anschau-
ung, oder im Begriff. Zur Deütlichkeit der Anschauung gehört
Stärcke des Eindrucks; zur Klarheit Unterscheidung des Mannig-
faltigen. In Begriffen aber beruht Klarheit so wohl als Deüt-
lichkeit auf der Subordination der Merckmale. Klarheit und
Deütlichkeit der Anschauung siehet man in Dingen des Geschmacks,
der Begriffe in Dingen der Speculation. Anschauungen müßen
wir suchen den Begriffen hinzuzufügen, und zu Begrifen die
Anschauungen gesellen. Wenn man die eigentliche Natur
unserer Begriffe untersucht, so findet man, daß sie eigentlich in
nichts anderem bestehet, als in der Ordnung der Vorstellungen
und zwar in einer Subordination. Die Vorstellungen, so wie sie
anlangen unbearbeitet, sind coordinirt. Logischer Art nach könnten
diejenige Begriffe Vorstellungen heißen, worunter viele enthalten
sind, und wozu man noch immer eine und die andere Vorstellung
hinzusezt, den ein Kopf ist gleichsam ein leerer Raum; diesen
muß man in Fächer eintheilen, damit man, so offt sich neüe Vorstel- 

/ lun

|P_14

/lungen darbiethen, sie sogleich an ihren Ort stellen könne. Es ist daher sehr
nöthig, genaue Eintheilungen aller Wißenschafften zu faßen, damit
einer jeden Vorstellung ein Platz angewiesen werden könnte, sonst ver-
gißt man sich sehr bald. Nun sage ich, sind die Begriffe nichts anders als
logische @Aerte\Oerte@, und sie ordnen nur alle Vorstellungen unter gewiße
Sphären, um sie den allgemeinen untereinander vergleichen zu
können.

/ ≥ Eigenschafften der Erckentniß

/Bey unserer Erckenntniß können wir dreyfaches Verhältniß wahrnehmen.

/ 1.) Das Verhältniß der Erckentniß zum Object - ist logisch

/ 2.) " " " " " " " " Subject - " aesthetisch

/ 3.) " " " " der Erckentniße unter einander ist psychologisch.

/ Was das erste Verhältniß betrifft; so bestehet die Vollkommenheit deßelben in
der Wahrheit und Größe. Zum Verhältniß, daß die Erckentniße zum
Gegenstande eines dunckeln Wesens haben, kann man @rechnen@.

/1.) Lebhafftigkeit d.i. hervorstehende Klarheit, dieses gehet offenbar bloß
auf den Zustand des Subjects und nicht des Objects.

/2.) Rührung, Eindruck; - angenehmer Eindruck heißt Reitz, Stärcke des Ein-
drucks heißt Rührung.

/3.) Faßlichkeit; dieses ist auch kein Verhältniß des Erckentnißes zum
Object sondern zum Subject.

/4.) Das Intereßante. Ein Erckentniß wird intereßant, wenn sie
mit dem Umfange unserer Begierden stimmt.

/5.) Neuigkeit. Alles dieses gehört zur Aesthetick - Was das dritte Ver-
hältniß, der Erckentniße unter einander anbetrifgt; so sind Er-
kentniße entweder bloß vergesellschafftet, oder in solcher Ver-
bindung, daß eine die andere hervorbringt.

/ ≥ Unvollkommenheit der Erckentniße

/Derer sind vornehmlich zwey, die die Qualitaet betreffen, Unwißen-
heit und Irthum. Jenes ist Nichtseyn einer Erckentniß, dieses ist Da-
seyn einer falschen Erckentniß; bey dem ersten urtheilen wir gar

/ nicht

|P_15

/nicht, bey dem andern verkehrt. Um die Unwißenden zur wahren
Erckentniß zu verhelfen, ist nur eine Handlung, beym Irrthum aber
sind zwey nothig - man muß daher schon in zarten Jahren sorg-
fältig seyn, die Irrthümer zu verhüten. Das ist Rousseaus Grundsatz
der Erziehung, Aber gewöhnlich stopfet man den Kindern den Kopf
voll Unrath, wo hernach Herckulische Arbeit erfordert wird, ihn
wieder zu säubern. Ehe sie nichts wißen sollen, müssen sie we-
nigstens etwas wißen, und wäre es auch falsch und unrecht. Man
liebt das Leben immer mehr, je mehr man thut. Der Mensch thut
alles gern, was ihm sein Daseyn fühlen läßt. Alle Vergnügungen
der EinbildungsKrafft bestehen vielleicht nur darin, daß sie unsere
Kräfte ins Spiel setzen und unsere Thätigkeit begünstigen. In
mühsamen Stunden hascht man lieber nach Hirngespinstern
als daß man gar nichts dencken sollte. Eine Schrifft, in welcher
Genie herrscht, wenn gleich mit vielen Irrthümern, ist viel
beßer, als eine solche, die zwar keinen Irrthum enthällt, aber
auch nur alltägliche Sachen vorträgt. Wer irren reist ist den-
noch gereist - Durch ein Buch ersterer Art wird mein Ver-
stand in Thätigkeit versezt, und in dieser Situation kann er selbst
auf neue A«b»<us>sichten gerathen. Hobbesius ist nutzbarer als Puf-
fendorf. Paradoxe«n» Schrifften sind, die sich den allgemeinen an-
genommenen Sätzen entgegenstellen. Alle neüe Schrifften sind
Paradox, wenn sie auf Sachen gehen, von denen man fast das
Gegentheil behauptet hat. Paradoxe Schrifften verdienen die größte
Aufmercksamkeit - sie werden nur eigentlich für die Nachkommen
geschrieben, denn sie wiederlegen den allgemeinen Wahn, wornach sie
von ihren Zeitgenossen noch immer beurtheilet werden.

/ ≥ Von den vergesellschaffteten Vorstellungen

/Nicht jeder Begleiter ist ein Gesellschafter, also sind auch nicht alle

/ Be

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/Begleitende Vorstellungen immer vergesellschafftet. Zur Gesell-
schafft gehört vercknüpfung. Was wir offt sich begleitend sehen, halten
wir durch die Einbildungskrafft für vercknüpft. Aus der Begleitung
schließen wir auf die Vercknüpfung, Von dieser kommen wir auf
den Begriff der Sache. Wir wollen untersuchen, wie viel in dem
Urtheil der Menschen und ihren Gedancken von den Sachen und von
den sie begleitenden Ideen herkommt. Wir müßen aufmercksam seyn,
die begleitende Ideen von der Sache selbst zu unterscheiden.

/ ≥ Von den praegnanten Ideen. ≤

/Ein Ausdruck ist praegnant, wenn er vielen Sinn hat. Eine Sache
immer durch ein Wort auszudrücken und zusammengesezte Ideen
immer in einem Ausdruck zusammenzuziehen, hat den Nachtheil, daß
es zu starcken Nachdruck macht, dieses ist dem logischen Gebrauch nicht
gemäß; wohl aber dem aesthetischen. Die Abstechung zwischen einer Ver-
legenheit, aus der man sich selbst hilft, und der Ruhe in der man sich
selbst sezt, ist das gröste Vergnügen. Es muß in der Schreibart eine
Dunckelheit seyn, aber so eingerichtet, daß man sie den Augenblick
auflösen kann, das ist angenehmer und wahrer Witz. Wer hie-
gegen also so sehr plan ist, so aergert man sich, daß der Autor so
wenig Einsicht bey uns supponirt. Die Sentenzen sind besonders
von der Art, und Kinder unterweisungen in Sentenzen wären
sehr nützlich.

/ ≥ Von den untern und obern Kräften der Seele

/Der Mensch schäzt sich höher, wenn sein Zustand thätig, als wenn er
leidend ist; wenn ihn gleich nicht selten der leidende Zustand ange-
nehm ist, und er sich vielleicht willig demselben überläßt, man hält ihn
aber doch für niedriger und geringer als den thätigen Zustand. Immer
schäzt man einen Menschen, und hält ihn für erhabener, wenn er
in sich selbst Qvelle seines Zustandes in der Thätigkeit hat, als einen Men-
schen, dem alles aufwartet, ihn pflegt und vergnügt. Angenehmer scheint

/ wohl

|P_17

/wohl der lezte Zustand, aber viel unedler als der erste. Der Mensch
vergleicht die Bestimmungen seines Zustandes mit gewißer Vergnü-
gungen und Kräften in sich, als mit Ursachen dieser Bestimmung seines
Zustandes. Der Mensch hat.

/1. Receptivitaet oder Fähigkeit zu leiden, d.h. sinnliche Vorstellungen, Gefühl
der Lust und Unlust, und Begierden; diese gehören zum untern Ver-
mögen; er hat aber auch in sich.

/2.) Eine freye Willkühr seinen Zustand selbst zu bestimmen und selbst-
thätig Vorstellungen in sich zu erwecken. Dies gehört zum obern
Vermogen der Seele. Außerdem haben wir noch eine Krafft, die
actus alle in Bewegung zu setzen, so wohl über unser unteres
als oberes Vermögen zu disponiren. Das ist die freye Willkühr. Der
leidende Zustand ist uns offt angenehm; aber das freye Vermögen
sich so wohl dem leidenden als thätigen Zustande beliebig zu über-
laßen, das schäzt man fürs größte Glück, und kein Glück in der
Welt kann den Mangel ersetzen, den wir durch die Freyheit
über unseren Zustand beliebig zu disponiren, verlieren. Der
Mensch überläßt sich wohl dem leidenden Zustande; aber er weiß
und will doch immer die freye Willkühr haben, sich nach Belieben
in dem Zustande, wäre er auch leidend, zu überlaßen. Man ist zu-
frieden, wenn man auch die qvälendesten im Kopf hat, aber in dem
Fall wenn sie aus Willkühr herrühren; sind aber die Vorstellungen
unwillkührlich da, so werde ich von Furien gleichsam gemartert.
In der freyen Willkühr, alle übrige actus unseres Vermögens in
uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das
gröste Glück der Welt. Denn gesezt, es flüßt mir das gröste Ubel zu, bin
ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahiren, habe
ich Macht, Vorstellungen gleichsam nach belieben zu verbannen,
und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewafnet und
unüberwindlich. Die Oberste Herrschafft der Seele, die auch kein

/ Mensch

|P_18

/Mensch auf<zu>geben vermag, ist die Herrschafft der freyen Willkühr.

/Kein Mensch vom elendesten Zustande, würde es haben wollen, daß ihn
ein anderer nach seiner eigenen Meynung glücklich machen sollte.
Einen jeden Menschen gereut es, wenn er sich von einer Meinung und
Neigung hat fortschleppen laßen; daher mag kein Mensch gerne Leiden-
schafften haben; denn in dem Taumel von Leidenschafften glaubt er
etwas ganz beliebig zu thun, wovon er hernach betrübt einsiehet, daß
er es, von der Gewalt der Neigungen geblendet und beherrscht, wie-
der seine Willkühr gethan. Jeder Mensch mag doch lieber ein Spiel der
Leidenschafften, als ein der Willkühr eines andern unterworfener
Sklave seyn. Eigentlich nach aller Schärfe siehet man, daß die Unter-
würfigkeit gegen die Leidenschafft viel beßer ist, als die Unterwürfigkeit
unter die Willkühr eines andern. Die Freyheit d.i. die wahre Ma-
jestät des Menschen. Der Grund worauf die inhaerentia einer gewißen
Bestimmung beruhet, ist Vermögen, der Grund worauf die Hervorbrin-
gung einer Bestimmung beruhet ist Krafft. Das Vermögen ist entweder
ein unteres d.h. die Sinnlichkeit, oder ein oberes d.i. Verstand.
Diese beyde Vermögen sind die Gründe der Inherenz gewißer Be-
stimmungen, oder actus in uns. Aber wir haben auch eine Krafft
die den Grund enthält der Hervorbringung gewißer actuum
in uns d.i. die frey Willkühr Z.B. daß Phantasien mir anwan-
deln können, das beruhet auf der Sinnlichkeit, aber daß selbsten
Phantasien in mir hervorbringen@,@ das beruhet auf der Willkühr.
Die Sinnlichkeit ist das Vermögen, daß mir Phantasien inhae-
riren können, aber die Willkühr ist die Krafft, die Phantasien, welche
vermöge der Sinnlichkeit mir inheriren können, würcklich hervor-
zu bringen. Der Mensch ist vermögend einem jeden actus einen
andern entgegen«ge»<zu>setzen und seinen Zustand zu bestimmen nach
freyem Belieben, so wohl den Zustand der Vorstellungen als Begier-
den. Die Thiere haben auf die Gegenstände so viel Macht, als wir,
aber die Bestimmung ihres Zustandes stehet nicht bey ihnen. Sachen

/ der

|P_19

/der Kunst und Kunstmeister hält man höher als Sachen der
Natur, und gemeine Landarbeiter; den der da regirt, hält man
höher, als den der ernährt, obgleich der erste den andern als eine
nothwendige Bedingung voraus setzet, dieses kommt daher. Die Men-
schen schätzen immer die Form höher, als die materialien. Eben so schätzen
die Menschen den Verstand hoch, so daß sie die Sinnlichkeit, die doch den
formenden Verstand alle materialien liefert, und ohne den Verstand
ünthätig bleiben müßte, verachten.

/ ≥ Die Sinnlichkeit

/Sie ist das Vermögen von äußern Dingen gerührt zu werden. Alle
Vorstellungen, welche die Sinne uns liefern, sind in uns blos durch
die Gegenwart der Gegenstände, da sie die Sinne treffen, entstanden.
Die sinnliche Vorstellungen sind Verstandes_Vorstellungen dem Ursprun-
ge nach unterschieden, und nicht bloß der Form nach, wie man gemei-
niglich glaubt z.B. Mendelson, denn die Deütlichkeit oder Undeütlichkeit
bestimmt Vorstellungen nicht, ob sie aus dem Verstande sind, oder
aus der Sinnlichkeit, sondern ihr Ursprung bestimmt es. Es können
sinnliche Vorstellungen sehr deütlich seyn und Verstandes-Vorstellun-
gen dagegen ganz verworren, denn was im Begriff deütlich
ist, kann in der Anschauung höchst undeütlich und verworren seyn.
So wenig eine Kupfermünze durch das schonste Gepräge eine
golden Medaille wird, so wenig wird eine sinnliche Vorstellung,
sie mag gearbeitet und gepuzt seyn, wie sie will, dadurch eine
Verstandes-Vorstellung. Das Bewustseyn ist eine Krafft, nicht eine
Vorstellung - es bringt auch nicht Vorstellungen hervor, sondern
beleüchtet nur Vorstellungen, es gehört zu den obern Kräfften.

/Sinnliche Vorstellungen bleiben immer sinnlich, wenn man sich gleich ihnen
bewußt ist. Bewußt seyn muß man gar nicht mit den beyden Vermögen
verwechseln. Verwirrung ist ein Ubel, und Sinnlichkeit verwirrt.

/ Wer

|P_20

/Wer nur die Sinne braucht, dessen Vorstellungen fehlt zwar noch die Bear-
beitung des Verstandes (und denn kann keine Begreiflichkeit, keine
Ordnung darinnen seyn) aber wenn einer Sache was fehlt, so ist
deßwegen noch kein Ubel da. Wenn wir Schöpfer der Welt wären,
so bedürften wir keinen Sinn, aber da wir Bewohner sind, so kön-
nen wir aus uns selbst keine andere Kenntniß hernehmen, als
die Kenntniß von uns selbst, und also um äußere Dinge zu ken-
nen bedürfen wir eines Vermögens, wodurch die Gegenstände
auf uns würcken, und äußere Vorstellungen uns zuschicken
können, und dies Vermögen haben wir in der Sinnlichkeit.

/Die Menschen sind nur geneigt die Sinnlichkeit herunter zu setzen,
dieses kommt daher, weil die sinnliche Begierden unsere Freyheit bin-
den, und wir alles, was unsere Freyheit einschränckt, für er-
niedrigend halten. Was indessen die sinnliche Form der Erkent-
niße betrift; so ist sie wegen ihrer Augenscheinlichkeit der intellec-
tualen öffters vorzuziehen; denn die Anschauung ist die vollkommenste
Erckentniß. Wollen wir nun die discursivischen Erkentniße des Ver-
standes zur Anschauung bringen; so müßen wir, wie es moralisten
würcklich thun, die allgemeine Verstandeslehren in concreten
Fällen zeigen. Außerdem, daß das Laster verabscheuungswür-
dig ist, liegt noch was lächerliches und ungereimtes darin. Ich woll-
te wünschen, daß anstat <gegen> das Laster immer Donner und Ver-
wünschungen auszustoßen, man lieber die lächerliche Unge-
reimtheit der Laster zeigen möchte, lieber möchte ich das Laster
in der NarrenKappe als auf der Folter der Furien sehen. Verachtung
scheut der Mensch am meisten, und lieber will er verwünscht als
verspottet werden.

/Eben so mit der Tugend, man sollte sie nicht in ihren erhabenen und

/ ehr

|P_21

/ehrfurchtsvollen Hoheit, sondern in dem liebenswürdigen Lichte
zeigen, in welchem sie so sehr reizt, anstatt daß die ehrfurchtsvolle
Abschilderung derselben sie uns schreckbar macht, den alles, wofür
wir Respect haben sollen, wird uns lästig. Lieber sind wir bey
guten Freunden, als bey Persohnen von höherem Stande, bey
einigen Persohnen praevalirt die Sinnlichkeit, bey andern der
Verstand. Die Denckungsart ist die Beste, da man erst durch bloße
Vernunft allgemein die Dinge erckennet, besonders muß dieses
in der Moral geschehen, und denn nennt man dieses Vernunft-
sätze. Der ganze Nutzen der schönen Künste ist der, daß sie die
moralische Vernunftsätze in vollem Glanz stellen und mächtig stützen.
Sultzer zeigt dieses sehr deütlich. Man mercke aber, daß man
nicht von der Sinnlichkeit anfangen muß, noch von ihren allge-
meinen Sätzen durch Abstraction, sondern man muß von der
Vernunft anfangen, da die Sätze ganz rein beurtheilen und
bestimmen, und denn diese durch die reine Vernunft bestimmte
Sätze durch sinnliche Beyspiele ins Licht setzen.

/Einiges Verfahren nennen wir negativ, wenn wir nehmlich nicht
was eigentliches hervorbringen zu unserem Zweck, sondern bloß
ein Hinderniß aufheben, d«ie»<as> sich unsern Zwecken entgegen-
stellet. So ist Rousseaus Erziehungsplan, nehmlich auch negativ. Er sucht
nicht so wohl den Jüngling mit Kenntnißen zu wafnen, als viel-
mehr zu verhüten, daß nicht böse Gewohnheiten Posten faßen,
oder Irrthümer sich einnisteln.

/Einige Menschen sind so beschaffen daß sie nur negativ gut sind,
nehmlich, sie haben nichts böses an sich. Sie ermangeln der

/ Schlau

|P_22

/Schlauigkeit, durch die Schlangenwege der Betrügereyen zu gehen.
Ehrlichkeit gehet den geradesten und sichersten Weg, darum pflegt,
man sie auch mit Dumheit zu paren. So sahen wir, giebt es nega-
tive Ehrlichkeit, wenn man nicht betrügt. Diese kann einem Pöbel-
hafften immer beywohnen, aber ein ehrlicher Mann aus Grundsätzen
ist nur ein kluger Mann. Es giebt auch einen negativen Stolz,
da man sich nicht will verachten laßen, und die eingebilde-
ten Berechtigungen eines Aufgeblasenen, seine Vorzüge über
mich geltend zu machen, zurückweiset: Negative Erckentniße,
da wir nehmlich lernen, was eine Sache nicht ist, denen Irr-
thümern abzuhelfen, dieses ist immer ein sehr großer Nutzen.
Eine Negative Handlung ist immer eine Handlung, aber sie stiftets
nicht, sie hebt nur die Hinderniße weg, oder sie bemühet sich nur,
dem was ich nicht recht gehandelt, entgegen zu handeln, um nicht
gehandelt zu haben.

/Der erste Schritt zur Weißheit, ist von Torheit frey zu seyn. Die
ganze Welt ist voll Thorheit. Der gröste Mann hat zu seinem Zwecke
in der Welt das Tendeln, und Spaßen ist das Element der Menschen.
Genug wenn der Mensch negativ weise, und negativ gut ist. Der Mensch
der seinem Nächsten niemals einen Becher kaltes Waßer gereicht,
aber auch niemals gelogen, das Eigenthum des andern, als glühend
Eisen geflohen, keinen hintergangen, der ist schon fast gerechter
und unendlich mehr werth, als der von weichem gutthätigen Her-
zen, und dabey gegen die höchsten Pflichten des Rechts, und gegen und
gegen sich selbst nachsichtlich. Es ist doch aber eigen, daß der Mensch die
negativ guten Handlungen nicht schäzt; daß kömmt daher, daß er immer

/ thä

|P_23

/thätig seyn will, ich glaube daß die Begünstigung der Thätigkeit das Princi-
pium alles Vergnügens ist. - Da nun negative Handlungen unsere
Thätigkeit restringiren, so mag es vielleicht daher kommen, daß man
sie nicht so liebt: dieß mag auch vielleicht die Ursache seyn, daß in
Gesellschafft Einwürfe und Wiedersprüche unangenehm sind, wie
nicht weniger andere Wißenschafften, die bloß Irrthümer wiederle-
gen unangenehm sind.

/ ≥ Leichtigkeit und Schwere der Erckentniß

/Wir kennen sehr gut den Umfang unseres Erkenntniß-Vermögens.
Was mit einem Erckentniß-Vermögen verglichen, einen Uberfluß
von Erkenntniß-Vermögen läßt, daß nenne ich leicht. Wo in der Vergleichung
das Erckenntniß größer ist, als unser vermögen, da heißt die Erckenntniß
schwer. Was verglichen mit dem Vermögen der meisten schwer ist,
nennt man an und für sich schwer. - Das ist die gröste Leichtigkeit, wenn
man im Stande ist, Sachen der Wißenschafften in ein leichtes Licht
zu setzen, und es scheint, als wen den Franzosen vor andern diese Ge-
schicklichkeit zu getheilt wäre, und Fontenelle ist darinn Meister. Eine Sache
die einem andern Mühe kostet, verursacht mir auch Beängstigung und
Mühe. Sehe ich jemanden eine Last ziehen, so ist mir der Anblick beschwer-
lich. Selbst wenn ich zu Gast bin, und es ist so ein großer Umlauf
und Zurüstungen, so ist mir dieses nicht lieb. Es müßen die Gäste,
wenn alles in der Gesellschafft angenehm seyn soll, gleichsam wie
von ohngefehr bedient werden. Jetziger Zeit sucht man alles
leicht zu machen, aber nicht auf die rechte Art, weil man das Schwe-
re wegläßt. Es sind verschiedene Charackteren, deren einige
vor allen Dingen zuerst auf die Schwierigkeit gerathen, andere hin-
gegen nur das Leichte finden; der erste Charackter ist misanthropisch,
denn, weil er bey allen Gefälligkeiten, die er thun soll, schwürigkeiten
findet; so entschließt man sich schwerlich was zu thun. Der ander Charackter

/ ver

|P_24

/verspricht immer mehr, als er halten kann. - Jeder Mensch hat eine gewiße Manier
wie er eine Sache, die ihm vorckommt, zuerst ansiehet: es ist daher sehr
nöthig Anfängern, die Schwierigkeiten einer Wißenschafft strenger herzu
zählen. Welchen Schaden hat nicht Gellert gethan, daß er das Publicum, und
besonders das Frauenzimmer glaubend macht, sie könnten über die Grün-
de <der> Moral und über alle Sachen Urtheile fällen. Oefters besonders wenn
man wichtige Wißenschafften tractiert, ist es nöthig, alle Schwürigkeiten
herzuzählen, damit die unfähige Köpfe ihr Unvermögen fühlen. Genies wer-
den aber um der Schwierigkeit willen die Wißenschafften umarmen.
Scherz und Lachen ist das Element der Menschen. Die Fabel von
den lohnsüchtigen Tiermüttern könnte ein Sinnbild von den Menschen
überhaupt abgeben. Einiges ist gleich, so bald man es anfängt klar,
anderes erheischt abstraction und Aufmercksamkeit, eine fortgesetzte Auf-
mercksamkeit ermüdet. Es ist mit dem Gemüth, wie mit den Gliedern - 
alle Thätigkeit, selbst der Gebrauch der feinsten Sinne ermüdet. Die Abstrac-
tion, ob sie gleich nur dazu nöthig ist, zu verhindern, daß ein Gedancke
nicht sey, ist dennoch eine Wahre Handlung, und öffters schwerer als Auf-
mercksamkeit, besonders wenn man so gar von Gegenständen der Sinne
abstrahiert, oder auch von Vorstellungen, die so sehr mit einander ver-
bunden sind, als z.B. die Tugend von allen sie begleitenden Vorstel-
lungen trennen. Empirische Köpfe abstrahiren zu wenig, speculative
Köpfe zu viel; daher haben die Lehren der lezteren offt nicht den ge-
ringsten Nutzen, als wenn zum Beispiel Jemand über die Moral nach-
denckt, und nicht zugleich das menschliche Geschlecht Studirt. Die Menschen
thun sich öffters Schaden, wenn sie zu viel, und andere wenn sie
zu wenig abstrahiren. So siehet man daß Menschen im Affect von

/ allen

|P_25

/allen andern Neigungen abstrahiren, und nur die eine nähren.
Andere abstrahiren im Unglück zu viel, indem sie alles Gute, was
noch um sie ist, ihrer Betrachtung entziehen. Man hat auch wieder
in gewißen Fällen zu viel Aufmercksamkeit. Wie mancher kann kei-
ne grobe Rede keine Beleidigung ertragen. - 

/Aufmercksamkeit und Abstraction kann entweder Willkührlich oder un-
willkührlich seyn; die gröste Vollkommenheit des Menschen bestehet
darinn, daß er alle seine Thätigkeit i@n@ seiner Gewalt hat. Wer dies
Vermögen hat, der kann seinen ganzen Zustand und seine Handlun-
gen nach den Regeln der Weißheit einrichten. Der glückseeligste ist
der, der seine Aufmercksamkeit und abstraction beliebig regieren
kann, daß man durch die Abkehrung der Gedancken, selbst den ge-
genwärtigen Schmerz sehr mäßigen kann, zeigt die Erfahrung.
Ein auf der Folter liegender Mißethäter konnte dadurch, daß er starr
auf ein gegenüber hangendes Bild sah, lange alle Schmerzen
verbeißen, aber kaum hatte man ihm, weil man es bemerckte
die Augen verbunden, so gestand er gleich alles. Die Stoische Regel,
sich von keinen Neigungen überwälligen zu laßen, ist die wahre Regel der
Weißheit. - Einen von Leidenschafften getriebenen Menschen moralische
Regel vorpredigen, wäre eben so unnütz, als einen GaleerenSklaven
Regeln glücklich zu werden, vorsagen. Es ist eigen, daß der Mensch wenn
seine Erwartungen noch nicht entschieden sind, doppelten Schmerz
fühlt. Ist das Unglück da, so findet er sich immer darinn, es sey so groß
als es immer seyn wolle. Der Mensch kann aus 2 entgegengesetzten
Gründen zur Hoffnung und Verzweiflung. Z.B. die Genesung eines Freün-
des, kein Mittel ziehen, was ihn beruhigen könnte, den Augenblick sind wir
in Hoffnung, gleich darauf ergreift uns Verzweiflung, und der schwan-
ckende Zustand ist der schlimmste auf der Welt; schlimmer als wenn selbst das gröste

/ Un

|P_26

/Unglück da ist; ists da, so macht man gleich Anstalten. Rousseaus urtheilt daher
ganz recht, wenn er sagt, das Aerzte die Menschen feige machen. Aber kann
man sich denn nicht zum Unglück vorher fertig machen? Kann man die
Sehnsucht nicht moderiren? Wir machen nicht eher Anstalten, als bis uns
das Unglück, wo nicht gewiß, doch sehr wahrscheinlich nahe ist. Die Stoiker
haben hier gut theoretisch geredet, aber nicht die Mittel angezeigt, wie
ihre Regel können «a»<e>ffectuirt werden. Hypochondrische Leute sind be-
sonders diejenigen, deren Aufmercksamkeit unwillkührlich ist. Durch
eines jeden Menschen Kopf läuft eine Menge Romanhaffter Fragen,
im gesunden Gemuths Zustande hat der Mensch Gewalt über diese
Thorheiten, nur diejenige zu wählen, die aus der allgemeiner
Klaße sind, denn allgemeine Thorheiten heißt man Klugheit. Eini-
ge Persohnen haben nun zwar nicht mehr, auch nicht aergere Thorhei-
ten im Kopf als andere Narren; aber sie haben keine Gewalt, sie
nach belieben zu verwechseln, und andern Vorstellungen Platz zu
machen. Der Mensch sucht bisweilen, Z.B. wenn er schlafen will
und nicht kann, sich seines ganzen Zustandes vergeßen zu machen,
das beste Mittel diesen Endzweck zu erreichen ist, alles vermischt
durch ein ander laufen zu laßen, und nichts aufzuhalten. Bey den
Chienesern ist der Zustand der glücklichste, da man sich seines Körpers,
und keiner Eindrücke keiner Passibilitaet bewußt ist.

/ ≥ Von den gehaüften complexen Vorstellungen

/Eine perceptio complexa ist, wo außer der eigentlichen Vorstellung
noch aus subjectiven Gründen aus unserer Situation entspringende
Vorstellungen, als Begleiter da sind. Z.B. Ich erinnere mich an «m»eine
grammatische Regel, und es fällt mir zugleich die drohende Miene des
Schulmeisters, oder die Schläge ein: Alle unsere Vorstellungen sind immer

/ mit

|P_27

/mit begleitenden Vorstellungen umgeben, die ihnen immerwährend folgen.
Ob zwar in Ansehung des Subjects die Haupt_Vorstellung (objective primaria)
am meisten hervorstehen sollen; so geschieht es doch offt, daß die begleitende
Vorstellungen stärcker im Subject würcken, als die Haupt-Vorstellung; das
muß man genau unterscheiden. Z.B. beym Kirchengehen sollte objectiv
die Andacht die Haupt-Vorstellung seyn, aber das ernsthaffte der Vorstellung,
die Pracht des Gebäudes, die modulation des Singens, man nehme das weg,
so wird die Haupt-Vorstellung ganz un@d@ gar verschwinden. Man glaube
nicht das Personen, die nach dem Essen heilige Lieder singen, dieß im-
mer aus Andacht thun, die modulation gefällt ihnen, und überhaupt sin-
gen alle Leute gern. Man muß also sorgfältig seyn, dasjenige,
was die adhaerirende Vorstellung sehr würcksam macht, zu vermeiden
und nur so viel zu behalten, als die Aufmercksamkeit auf die Haupt-Vor-
stellung schärfen. Selbst in Wißenschafften und Handlungen siehet man
dies vitium subreptionis. Anständigkeit ist eine bloße Begleiterinn der Tu-
gend, und die meisten lieben diese Begleiterinn mehr als die Tugend
selbst, oder diese nur um jener Willen. Frauenzimmer sind besonders
so geartet, daß sie mehr auf das adhaerimu«s»<ren>de <,> auf die Ausstafierung, als auf
die Hauptsache sehen. Miltons Frau sagte, er möchte doch daß ihm von Carl_II
angetragene Secrataiat annehmen, er antwortete ihr aber: Madame
sie wollen gerne in einer Kutsche fahren, und ich möchte gerne ein ehr-
licher Kerl bleiben. Die Frau dachte vielleicht, wer wirds mir ansehen,
wenn ich in einer Kutsche fahre ¿ daß mein Mann kein ehrlicher Mann
seyn sollte; es geschiehet offt, daß wir unsere Empfindungen, da wir von
einigen Dingen starck, von andern ganz geringe afficirt werden, nicht
ercklären können. Offt können wir uns nicht überzeügen, wenn gleich die gan-
ze Welt überzeugt wäre, weil perceptiones adhaerentes bey uns im Subject offt

/ würck

|P_28

/würcksamer sind, als primariae. Die Partheilichkeit für d@ie@s Geschlecht zeigt sich
in der Erfahrung. Jene Geschichte von einem englischen Officiere der beym
Fontenoi zugegen war, als die Bataille verlohren gieng, beschrieben störte
eine große Gesellschafft von vielen Personen, durch die Erzählung von dem
Verlust vieler Tausenden, von dem Spiel in welchem sie eben begriffen
waren, nicht im geringsten; da er aber das Unglück einer jungen Frau-
ensperson, die aus Liebe zu ihrem Manne das Leben einbüßte, er-
zählte, wurde die ganze Gesellschafft so gleich zu Trauren bewogen. Ist dieses
nicht ein überzeügender Beweiß von der Parteilichkeit für das zweite Ge-
schlecht. Ohne adhaerence ist jede Vorstellung ¿trocken. So nennt man die trock-
ne Wahrheit, die von Complimenten gehet, sie ist wie die Pillen, die sich
schwer herunterschlucken lassen, wenn sie nicht in Rosienen gespindet
werden. Das Trockene, die laconische Antworten gefallen nicht, sie müssen
denn aufs Lustige gehen. Es ist mit den Antworten, wie mit den Speisen;
die Sauce muß bey diesen, und bey jenen die beyhergehende Compli-
menten gewöhnlich die Hauptsache seyn. Die Trockenheit ist indeßen im-
mer mißfällig.

/ ≥ Von der Uberzeugung, Uberredung und Beyfall

/Uberzeugung und Uberredung ist immer Subjectiv verschieden. Die Uberein-
stimmung der Erckenntniße mit den Gegenständen ist die Wahrheit. Bin
ich mir dieser Wahrheit bey einer meiner Erckentniße bewußt; so
ists Uberredung und Uberzeugung. Diese beyde kann jemand bey sich
selbst unterscheiden. Nur andere, wenn sie sehen, daß ich mir der Wahrheit
einer Erckentniß bewußt bin, die sie gleichwohl nicht für Wahr halten, nen-
nen dieß mein Bewußtseyn, Uberredung. Ist die Erckenntniß wahr, so
nennen sie selbige Uberzeugung. - Was den Beyfall betrifft, so erhällt man
offt Recht, weil die Gegenparthei nicht mehr streiten will, oder der Richter

/ was

|P_29

/was anderes zu thun hat. - und der Dieb ging hin zum Strick, weil der Richter
essen wollte, sagt ein Poet.

/In der Türckey hört der Richter das Geschrey so lange an als er kann, nimmt das Geschrey
überhand, und wird ihm der Kopf zu warm, so läßt er beyden die Knut, oder eine
gute Priegelsetze fühlen, damit sich ihr Blut abkühlt, und sie leiser werden, und denn ent-
scheidet er nach seinem Gutbefinden. Es geschieht offt, daß der Schwächere gewinnt, weil
der andere so trotzig auf sein Recht spricht. Man mag sich nicht gerne befehlen laßen
es kann ja niemand meinen Beyfall ¿rzwingen. Er muß gelaßen die Grün-
de vorbringen, und nicht poltern. Manche Gesetze sind bloß deßwegen ange-
fochten, weil man sie so überführend und so triumphirend einführte. - Die
Subjectiven Gründen müßen offt die Ercklärung von solcher Art Phaenomene
darbieten. Wir schlüßen die Betrachtung der Vorstellungen mit der Er-
klärung der Aesthetic. - Sie ist überhaupt die Wißenschafft der Sinne. Die
Unterscheidung der Lust und Unlust ist aesthetisch. Die Aesthetic können wir eintheilen.

/1.) In die transc«¿»endentelle, diese ist die Unterscheidung der sinnlichen Vor-
stellungen von den intellectualen. Sie kommt in der Methaphysic bey der
Betrachtung der verschiedenen Erckenntniß-Qvelle vor, und ins-
besondere erwägt sie die Form der Sinnlichkeit, d.i. Raum und Zeit.

/2.) In die physische Aesthetic, diese betrachtet die Organe des Cörpers, und
ein Theil derselben, der physiologische, überhaupt die Empfindung.

/3.) Die practische untersucht die Lust und Unlust in der Empfindung.

/ ≥ Theorie der Sinnlichkeit

/Wir können bey allen sinnlichen Vorstellungen unterscheiden
1.) Die Materie d.i. der Eindruck der Sinne, aber dieser Eindruck allein
macht mich noch nicht dencken; es muß noch 2.) die Form dazu
kommen, und dieser Form ist zuerst in der Anschauung. Die Ver-
hältniße des Raums geben Gestalt, die Verhältniße der Zeit das Spiel.
Außer dem Vermögen zu empfinden, müßen wir noch ein Ver-
mögen haben, aus den Empfindungen eine Erscheinung zu

/ mach

|P_30

/machen, aus der Ordnung der Empfindungen etwas ihnen correspondiren-
des zu bilden. Eine bloße Menge von Eindrücken giebt noch kein Bild,
keinen Gegenstand. Das Gemüth muß ein Vermögen haben, gleichsam
aus der vergliechenen und zusammengefaßten Eindrücken ein Bild á
la mosaique zu machen. Die Einfalt ist deßwegen so angenehm, und
eine Bildung der schönen Kunst, weil sie die Bildung im Gemüth
von Gegenstände erleichtert. Daher gehen die Menschen bey Feyer
lichkeiten gern paarweise. - Das Vermögen der Nachbildung nennt
man Phantasie oder Imagination. Wir haben außer dem Vermö-
gen der Nachbildung bey Gegenwart des Objects, noch ein Vermö-
gen vorzubilden, aus den uns gegebenen datis auf die künftige
Zeit. Einbildung ist wenn man sich etwas bildet, was man nicht
aus den sinnlichen Vorstellungen nimmt. Aus der Einbildung kann
man sich eine Vorbildung machen auf die Zukunft. Z.B. die
Schrecken des Todes. Es ist nicht gut daß man die Einbildung mit
der Vorbildung in der Philosophie vermischt. Der gemeine
Redegebrauch unterscheidet die Sachen so, wie wir sie unter-
schieden haben. Zur Einbildung wird immer Erdichtung er-
fordert. Einbildung nimmt nur die Materialien aus dem Sinne,
aber die Form schafft sie sich selbst. Nachbildung nimmt Materie und
Form aus dem Sinne. Empfindung ist das allerunterste unter
allen Vermögen der Seele; die Seele ist dabey lediglich leidend.
Wir können, wenn Gegenstände Gegenwärtig sind uns der Ein-
drücke derselben auf uns nicht erw«¿»<e>hren, aber wir können
die Aufmercksamkeit abwenden oder auch die Gegenstände fliehen.
Empfinden gehört auch für das Thier das Vermögen, die Aufmerk¿

/ sam

|P_31

/Aufmercksamkeit von allem abzubrechen, kann durch Gewohn-
heit und Ubung ungemein weit getrieben werden. Mann
kann nicht ohne Bewunderung das heroische der Americaner in dem
Fall ansehen. O! wie verderblich sind die Dichter, die die Seele
so welck machen! Nur Gewohnheit überredet uns, daß wir
den Sinnen so unterworfen sind. Hat aber auch die Seele über
ihren innern Zustand Gewalt? Noch weit mehr und leichter, als
über den aüßern. Dem Spiele unse¿rer eigenen Phantasien nach-
hängen, nicht Macht über anwandelnde Vorstellungen von Sorgen,
verliebte Einbildungen haben, daß ist der elendeste Zustand. - Je
mehr sich der Mensch gewöhnt zu reflectiren, desto mehr verringert sich
seine Anhänglichkeit an gewiße Sachen. Durch Reflexionen kühlt sich
aller Zorn und alle Hitze der Begierden ab. Nach und nach macht man
sich von allen Dingen loß. Der Mensch hat doch dabey etwas zu thun, denn
geschäfftig muß er stets seyn. Diejenigen Philosophen, die die Würcklichkeit
der äußern Gegenstände leügnen, die Idealisten die theoretisch sind, die
haben just keinen Vortheil, aber auch keinen Schaden. Es wird sie zu wie-
derlegen bloß auf die Auflösung einer Logomachie ankommen. Praetische
Idealisten sind die, die so handeln, als wenn sie in einer Welt lebten, die
sie nur träumen. Das Roman@l@esen, die wenige Kenntniß der Welt sezt
manchen Menschen in solche seltsame Gemüthsfaßung. - Der Nutzen
der Romane soll nicht darin bestehen, daß er uns rührt, zu Trauer zwingt,
sondern daß er lehrt, daß er die Welt so schildert, wie sie ist. Er kann indeßen
diese natürliche Begebenheiten der würcklichen Welt noch cumuliren und ihre
Verbindung ändern. Den Poet würde ich ehren, der mich empfinden lehrt das,
was in der würcklichen Welt da ist. Ist nichts für mich da; so mag er die Thor-
heiten der Welt in ein comisches Licht setzen; aber ohne satyrische Bitterkeit.

/ Fiel

|P_32

/Fielding, wäre er nur nicht gar zu @r@omanhafft, hat etwas davon gesagt.

/Alle unsere Erckentniße fangen von den Sinnen an, und hören auch da
auf. Die Sinne sind das Fundament, und auch das Ziel; wir schöpfen unsere
Erckenntniße aus den Sinnen. Die Anwendung des Verstandes muß sich auf
Erfahrung gründen. Unsere Erckenntniße fangen nicht nur von den
Sinnen; sondern sie beziehen sich auch darauf, sie sind sie Ziele worauf
wir alle unsere Erckenntniße bauen.

/ ≥ Vom Idealismo

/Den Idealismus nennen wir die Methode, die Dinge als Erscheinungen
zu beobachten, und nur sich selbst als würcklich vorzustellen. Er gestehet
den äußern Dingen entweder gar keinen, oder nicht den gehörigen
Werth zu. Die äußern Dingen haben keinen innern Werth, denn was
helfe es wenn Berge von Demant, und Flüße von Necktar wären, und kei-
ne vernünftige Geschöpfe, die es genießen und anschauen könnten, da
wären. Dieses ist der vernünftige Idealismus, der der Cörperlichen, Natur
außer ihr den Werth sezt: Dies hat einige bewogen zu glauben, daß die
Cörperlichen Dingen keinen Werth hätten, und auch ihr Daseyn zu leüg-
nen. Diese Leute glaubten zwischen den Vorstellungen des Schlafs %und
des wachenden Zustandes, wäre kein anderer Unterschied, als nur ei-
ne beßere Ordnung der Hirngespinste im Wachen. Dieser falsche
theoretische Idealism scheint aus dem practischen entstanden zu seyn, er ist aber
nicht von großen Folgen. Der vernünftige Idealismus ist die Geringschätzung
des würcklichen Werths der Dinge und ein Wohlgefallen an den Hirngespinstern,
oder eine durch unsere Einbildung gemachte Vorstellung von der neuen
Welt, die nach unserm Sinne beßer wäre. Z.B. daß alle ehrliche
Leute in Kutschen fahren sollten. Die Romane beschäfftigen sich damit,
allerhand vorzustellen, was uns beßer gefällt, als die gewöhnliche Ordnung.

/ Der

|P_33

/Mensch mag gerne durch unglückliche Schicksale zum glücklichen
Leben gelangen und nicht umgekehrt, daher richtet man die Romanen
so ein. Ein Entwurf einer Romane pflegt gemeiniglich so zu seyn, daß
glückliche und unglückliche Schicksale abwechseln, daß ein junger Ritter
bald im höchsten Ansehen, bald in Sklaverey ist, doch nicht gerne in gar zu
vieler Knechtischer Arbeit. Bald ist er in Algier, bald König unter den Wilden - 
hier wurde er wiederum gestürzt, und nach vielen Gefahren kommt er
in sein Vaterland zurück, wo er den erst glücklich wird, und unver-
muthet seine Schöne wiederfindet, die sich denn auch ins Spiel mischt.
Man entwirft auch wohl zuweilen beßere Characktere, wie z.B. Gran-
dison, Clarissa pp indessen versäumen viele junge Leute ihr Glück des
Lebens durch ihre Einbildung, die sie sich dadurch in den Kopf setzen - 
Manch junges Mädchen hält die Geschichte für wahr, und wünscht durch
einen Ritter entführt zu werden.

/Der aesthetische Idealismus ist entweder chimerisch, wie es jezt vorgetra-
gen ist, oder er stimmt auch mit dem Verstand; daß die Muster, nach wel-
chen er Dinge der Welt beurtheilet, wohl gewählt sind. Wenn einer
wovon sinnlich urtheilen will; so muß er sich ein vollkommnes Ideal
wählen. Es erfordert viel Feinheit des Geschmacks, ein Ideal einer
vollkommenen Schönheit zu entwerfen. - Der aesthetische Idealism unter-
scheidet sich von der Natur, er weicht etwas von ihr ab, darinn, daß er
die würckliche Bedürfniße verheelt. Es ist der Artigkeit gemäß, in
einer Gesellschafft von seinen haußlichen Gemächlichkeiten und Bedürf-
nißen zu schweigen. Urbilder von Dingen oder Originale müßen
wir nicht aus der Natur entlehnen, sondern vollkommne Dinge bilden.
Wie soll man aber jungen Leute im Geschmack, im Stiel und Beredsamkeit

/ bil- 

|P_34

/bilden? So daß man ihnen die Alten zum Beyspiel giebt, und sie sich
selbst zum Muster darnach bilden. Man muß sie nicht Schönheiten copi-
ren laßen, sondern ihr Genie muß sich selbst entwickeln. Sie müßen
nicht schöne Phrases auswendig lernen, und sie gerade zu für schön
halten, sondern ihr Genie muß durch das Schöne angesteckt werden.
Haben junge Leute etwas auswendig gelernt und sich fest imprimirt,
so haben sie sich Gewalt angethan, und sie lernen nicht ungezwun-
gen dencken. Kennt man zehn Franzosen, so kann man immer
sicher rechnen, daß man sie alle kennt, in Moden, Gesichtern, Schrif-
ten pp sind sie beynahe alle gleich, sie modificiren sich alle nach einem
Muster. - Bey den Englandern herrscht ein gewißer Privatstolz, und allgemei-
ne Ungeselligkeit. Da sie sich nun nicht gerne einer dem andern
acommodiren, so bilden sie ihr Genie selbst ungezwungen. Dahero sind unter
ihnen verschiedene gute Genies, indem sie sich im Schreiben nicht nach Mo-
dellen, sondern nach Idealen richten. Die Dinge der Welt haben beynahe
keinen Werth, als den wir ihn geben; die Vorsicht hat uns nicht das
Vermögen gegeben die Dinge nach unserm Gefallen zu modulieren
sondern ihnen nur den Werth zu geben, wie wir wollen. Ein reicher
Kaufman, der bis zum Fußgänger reducirt ist, wird sehr wohl thun,
wenn er sich in seinem Stand zu schicken weiß und sucht. Es kommt
in der That nur darauf an, wie er die Sache ansiehet, er kann sich vor-
stellen, das Gehen habe viele Vortheile vor dem fahren, es sey beqvemer,
und er habe zugleich eine gute motion. Wenn aber der Verlust der Ehre, des
Ansehens p dem Menschen Vorwürfe macht, denn «e»ist er unglücklich. Man
gebe keinem Dinge einen wichtigen Werth, man sey Herr
über alles, und Meister über sich selbst.

/ Von

|P_35

/ ≥ Von den äußern Empfindungen

/Zuförderst haben wir die Empfindung von der Erscheinung zu unterscheiden:

/Eine Empfindung ist die Rührung auf unsere Organen; Erscheinung ist die Vor-
stellung von der Ursache der Empfindung, von einem Gegenstande, der die Empfin-
dung in mir hervorgebracht hat. Bisweilen praevalirt die Empfindung, bisweilen
die Erscheinung. Wen ich eine Music oder jemand sprechen höre, so habe ich
mehr Acht auf die Erscheinung, als auf die Empfindung. Ist aber das Geschrey so
groß, daß mir die Ohren wehe thun, so attendir¿ ich mehr auf die Empfindung, als
daß ich reflectire über die Erscheinung. Bey den mehresten Sinnen geschieht es,
daß weil man sehr wenig modificirt wird, man von den Gegenständen glaubt,
man werde gar nicht afficirt. Man reflectire mehr über die Gegenstände,
als über die Veränderungen in den Organen. Ist aber diese starck, so hört wie-
der die Reflexion auf. Z.B. Wenn Jemand etwas Zitronensaft schmecket, so ist der
Eindruck so, daß er reflectirt es ist sauer, aber bey Vitrioloehl, denckt er nicht
an die Säure, sondern er empfindet nur den Schmerz. - Jede Sinnliche-Vor-
stellungsart kann auf eine zwiefache Art vollkommen seyn. Die Stärcke der
Vorstellung, beruhet auf den Grad der Empfindung, die Klarheit derselben auf
der Erscheinung; so ferne ich viel aufmercke. Die Sinne können eingetheilt werden, in diejenige

/1. Wodurch uns Gegenstände erscheinen, und

/2.) Wodurch wir uns selbst erscheinen. Empfindung wird auch Gefühl genannt.
Was der Erkenntniß entgegen ist, nennt man Gefühl, es heißt das Bewustseyn,
das in meinem Subject ist verändert worden. Es hat aber das Wort noch
eine Bedeutung, da es so viel heißt, als einen Cörper anfühlen, daß heißt
die Examination der Gegenstände durch Berührung, Gefühl, fühlen und anfühlen
ist nicht einerley. Nun sage ich alle Gegenstände würcken entweder
unmittelbar auf meine Sinne, wenn ich sie berühre, oder auch durch eine
mittel Materie. So empfinde ich die Sonne nicht unmittelbar, sondern
vermittelst des Lichts, wir hören unsern Freünd nur vermittelst der Lufft,

/ wir

|P_36

/wir r«ü»ich«r»en nur die Exhalation der Cörper. Daß nicht alle Cörper
riechen, kommt theils daher, daß sie nicht alle volatilische Salze haben, oder
vielleicht auch, daß sie so flüchtig sind, daß sie sich verlieren, ehe sie zu
dem Geruchsorgan gelangen. Wir schmecken nicht die Cörper, nur die
Salze, die durch die «¿»salivam aufgelößt in die Wärzchen der Geschmacksor-
ganen eindringen. Der einzige unmittelbare Sinn ist das Gefühl.
Es ist noch dieser Unterschied bey den Sinnen: Gegenstände würcken
entweder mechanisch auf uns, d.i. durch Druck und Stoß; oder chimisch
durchs Auflösen der Materien. Gefühl, Gehör, und Gesicht sind mechani-
schen Würckungen unterworfen, Geruch und Geschmack werden
chimisch verändert. Saliva ist ein klares, flüßiges und von zähem
Sputo unterschieden, sie lößt alles auf. Was den Geruch betrifft ists eben so.
Bemerckungen. Der Sinn des Gefühls, der das gröbste zu seyn scheint,
ist das Fundament, die Basis aller Erkenntniße, der Informator aller
übrigen Sinne. Durchs Gehör erscheint mir eigentlich gar nichts, kein Ge-
genstand. Durchs Gefühl können wir uns doch Erscheinungen und Bil-
der machen, aber allein hilft das Gesicht nichts. Es taüscht uns und
zeigt uns nicht, was die Substans ist. Ich sehe einen Regenbogen für
eben das an, was ein Cörper ist; daher nennt man auch so offt Geister,
was man gesehen und nicht hat haschen können. Das Gefühl berichtet uns
von Substansen. Ein in London operirter Blinde, unterschied die Sachen
nicht eher durch das Gefühl <sicht> , als bis er sie durch das Gefühl examiniret und
betrachtet hatte. Nur in dem Fall macht man dem Gefühl vorwürfe, wenn
die Materien so fein sind, daß man sie nicht berühren kann. Der Sinn
der die wenigsten Begriffe von der Sache giebt, ist der Geschmack, aber

/ deß

|P_37

/deßwegen, weil er subjectiv ist, scheint er durch die stärcksten Eindrücke
auf uns zu machen, denn er ist dem Gefühl am nächsten verwandt.
Der ganze Mund, und vielleicht alle Gefäße bis wo der Milchsaft ela-
lorirt wird, sind mit Geschmacksdriesen besäet. Die Speisen die im Vor-
schmack angenehm sind, haben einen mindern dauerhafften ange-
nehmen Geschmack. Die Art der Speisen die einen angenehmen Nachschmack
haben, liebt man am längsten, und sie sind auch die gesundesten, denn
weil sie mit den Driesen Harmonieren die in den verdauungsge-
fäßen sind, denn es ist zu vermuthen, daß die Driesen, die den
Geschmackswerckzeuge besetzen, von denen verschieden sind, die an den
inwendigen Theilen der Verdauungsgefäße haften. - Die Menschen im
wilden Zustande finden an nichts mehreren Reitz, als an der Befrie-
digung des Geschmacks. Geschmack und Geschlechtstrieb sind die stärcksten
Neigungen des Menschen, beyde sind zur Erhaltung des Menschen noth-
wendig; aber sie können ihm auch zu dem höchsten Verderben gerei-
chen. Der Sinn des Geschmacks hat eine Feinheit, die ganz unglaublich ist, Ge-
ruch und Geschmack sind sehr nahe verwandt. Z.B. Eßig kann ich riechen
und schmecken. Manche Sinne sind so zu sagen priva<n>t, andere mittheilend.
Unter die mittheilende Sinne gehört zuerst das Gesicht, wodurch die längste und
allgemeinste communication der Ideen möglich ist, nehmlich durch Schrifften.
Das Gehör ist noch nicht so starck communicati«o»<v>. Geschmack und Gefühl sind keine
mittheilende Sinne. es sind privat Empfindungen. Der Geruch kommt in dem
Fall ziemlich nahe dem Gehör. Je mehr ein Sinn obiectiv ist, d.i. unsere Er-
kenntniße vermehrt, und sich aufs Gefühl gründet, desto mehr wird er für
edel gehalten. Ohne den Sinn des Gefühls, wüßten wir gar nicht, was wir mit
den von andern Sinnen uns zugeschickten Vorstellungen machen sollten.

/ Da

|P_38

/Da der Sinn des Gefühls so beschaffen ist, daß jeder nach Belieben Vorstellungen
in sich erkennen kann, so sollte man dencken, daß man eher das Gehör als
das Gesicht entbehren könnte; aber man würde doch eher das Gesicht aufgeben
und das Gehör behalten, weil wir dadurch des Umgangs mit andern, welches
das größte Vergnügen im Leben ist, genüßen können. Das Gesicht liefert
dem Verstande viele Erfahrungen; durchs Gesicht können wir auf einmahl
eine große Menge Vorstellungen haben, ohne daß die Werckzeüge dieses Sinnes
sonderlich gerührt werden. Dieser Sinn läßt uns nicht die Veränderungen
im Organ, sondern im Gegenstande finden. Das Gehör kann zuweilen eine
Veränderung im Organ hervorbringen. Z.B. Wen der Schall so hart wird,
daß mir die Ohren davon wehe thun. - Es können nicht nur von ei-
nem Menschen viele Objecte gesehen werden, sondern es kann auch von vie-
len Menschen ein Object gesehen werden. - Das würcklich Schöne ist, nicht
was einem, sondern, was allgemein in der Erfahrung gefällt, also
ich erckenne ich das Wahre Schöne durch Gehör und Gefühl. Wir nennen alles
«¿¿»Geschmackmäßig, was durch die Sinne uns gefällt, vermuthlich, weil
wir alles aufs Geschmack reduciren. Gehör ist, wovon wir neue subjective
Erscheinungen haben; wir«k» erckennen dadurch nicht das Object. Weil
das Gehör uns keine Sache vorstellt auch keine Eigenschafften (die Thöne
haben keine qualitaet, sie drücken Einheiten aus) so kann man in Ansehung
des Gehörs nichts weiter thun als rechnen, so wie in Ansehung des Gesichts
bilden. Es ist der Sinn des Gehörs die wahre Arithmetic unserer Seele,
daher sind die accorde entstanden, und die Alten nanten daher die Music
$Kat$ $exochen$ Harmonie. Das Gehör instruirt und bringt den Verstand
in activitaet, indem es ihm schnelle Verhältniße zu faßen und also die
Begriffe in Ordnung zu bringen lehrt. Es stellt nicht die Dinge im Raum,

/ son

|P_39

/sondern in der Zeit vor. Es ist erstaunend wie gewaltig wir die Zeit durchs
Gehör eintheilen, durch die auf ein ander folgende Zitterung der Lufft. Der
höchste Thon einer Seite mach in einer Secunde 6000 Schwingungen, die wir auch
noch unterscheiden, denn 100 Schwingungen weniger ist schon ein anderer
Thon. Es scheint auch das, was wir durchs Gehör erlangt, länger bey uns
zu hafften, und der ErinnerungsKrafft gegenwärtiger zu seyn, als was
uns das Gesicht oder ein anderer Sinn belehrt. Mann weiß daß wenn
man ein musicalisch Stück gehört, was uns sehr gefallen hat, daß man
es, wenn man allein ist immer nach murmelt, man darf es aber nicht
laut singen, sonst stö«h»rt man sich gleich. Gehör ist auch das Mittel Ideen zu
communiciren, theils weil die Worte selbst nichts bedeüten, und daher
etwas anderes, desto besser anzeigen können; theils weil der Schall im
Kreise herumgehet und dadurch allen herum auf einmal ins Ge-
hör kommt. Anstatt daß das Licht, weil es geradlienigt ist, nur die Au-
gen berührt. Uberdem ist die Zunge sehr gelaüfig, und einer großen
Verfielfaltigung fähig. Wir sprechen daher mit Worten und nicht mit
Mienen (welches auch wohl anginge) Weil wir kein anderes Ver-
mögen haben auf einen andern einen stärckern Eindruck zu machen,
der andere mag sich auch wegwenden, so hört er uns doch. Mit Mie-
nen könnten wir ihm nicht so viel zu verstehen geben, denn das Gehör
ist weit mehr communicativ. Der Geruch wird mehr geachtet als der
Geschmack.

/1.) Weil er feiner und

/2.) weil er auch communicativ ist. Diese lezte Eigenschafft des Geruchs macht,
daß man sich auch parfomirt, mann will nicht gerne daß etwas wiedriges
von unserer Athmosphaere dem andern in die Nase komme.

/ Das

|P_40

/Daß Gehör achtet man allgemein höher, als den Geruch, denn Geruch scheint ein gelernter
Sinn zu seyn. Fängt man an Unterscheidungen im Geruch zu machen, so ist es der
delicateste Sinn, und der ware Eckel wird dadurch excitirt, so daß man darüber
bisweilen in Ohnmacht fällt. Ubergeben, Niesen pp enstehen von den Empfin-
dungen des Geruchs. Sinne heißen vollkommen, je mehr sie uns Erckenntniße
verschaffen, und je mehr sie mittheilend sind. Es sind also das Gesicht und das
Gehör die vollkommensten Sinne. Jenes hilft vorzüglich dem Verstande, dies der
Vernunft. Gehör ist das vortreflichste Mittel unter vernünftige Wesen Gedan-
cken zu communiciren. Man könnte wohl noch andere Mittel ersinnen, Gedancken
mitzutheilen, aber keines ist so leicht; (denn man ermüdet nicht viel durchs
Sprechen) und so weit dringend. Vermöge des Gehörs kann ich eine so große
Mannigfaltigkeit der Thöne begreifen; Frauenzimmer reden gerne viel
bis zum Erstaunen vielleicht deßwegen, damit, weil sie uns erziehen,
wir bald sprechen lernen mögen. Gehör ist der rechtgesellige Sinn,
und nichts kann mehr vervielfältiget werden, als die Zeichen des Ge-
hörs oder der Worte, kein Sinn ist eines eindringendern und vernünf-
tigen Ver«gnü»mögens fähig, als das Gehör. Unter allen Vergnügungen sind die der
Gesellschafft die größten und vortreflichsten; der Sinn des Gehörs läßt weit
mehr Gesellschafft fühlen durch die Sprache, als das Gesicht ohne Gehör. Gesicht hat
den Vorzug, daß es uns die Sachen unmittelbar zeigt. Durch die Harmonie
ist das Vergnügen sehr lebhafft, daher kommt es, daß Blinde, wenn sie nur das Gehör
haben, offt sehr vergnügt sind, Taube hingegen, wenn sie auch sehend sind, sind
mehrentheils mürrisch und mißvergnügt. Blinde entbehren nur der Anschauung
der Gegenstände, die Tauben aber der Gesellschafft.

/Geruch und Geschmack laßen uns keine Beschaffenheit der Sachen sondern die
Veränderung unserer Organe empfinden. Geruch scheint mehr ein Sinn des Ver- 

/ stan

|P_41

/standes, auch feiner zu seyn, als der Geschmack, daher halten wir ihn für edler,
weil wir bey jenem auch mehr urtheilen. Kein Sinn ist mit Appetit ver-
bunden, als der Geschmack, daß kömmt daher, weil die GeschmacksDriesen bis
in die Eingeweide fortgehen. Weil er mit unsern Bedürfnißen zusammen
hängt; so ist er unedler. - Wozu nüzt uns aber der Geruch? Wir riechen
ja öffters unangenehme, als angenehme Sachen. In dem gesellschafftlichen
Leben scheint uns wohl der Sinn des Geruchs entbehrlich, ja wohl gar
beschwerlich zu seyn. Allein im wilden Zustande haben ihn die Menschen
sehr nöthig. Die Americaner haben einen erstaunend feinen Geruch, so wie
die Thieren. Außerdem dient er uns auch, für schädliche Ausdünstungen
uns zu hüten, die der Gesundheit so sehr nachtheilig sind. Für den Geruch
haben wir, was die Empfindungen deßelben betrifft keinen Namen; wir
nennen sie entweder vom Geschmack her, oder wir nennen sie Gegenstände.
Es scheint als wenn die Kinder in den ersten Wochen den Gebrauch der Sinne
nicht völlig haben. Den Gebrauch des Gesichts haben sie nicht <g>leich«t», denn es ge-
hört eine Ubung dazu, den Gesichts Organ zu gebrauchen. Man muß auch lernen
bey Gelegenheit der Empfindungen reflexionen zu machen. Einige Beobachter
können Dinge nicht bemercken, es gehört Ubung dazu, überhaupt müßen wir alle
Sinne exerciren, wenn wir sie zur Vollkommenheit bringen wollen. Es muß in
Ansehung aller Sinne die Einbildung sehr viel thun; die Moden zeigen es in
Ansehung des Gesichts, in Ansehung des Geruchs giebt es auch sogar Moden. Vor
Zeiten Parfoms von Zibet und Ambra mode. Wo die Eindrücke nur schwach seyn
dürfen um empfunden zu werden, da ist der Sinn fein. Scharfe Sinne sind die,
welche die geringste Unterscheide bemercken können. Z.B. fast unmerckliche Schattie-
rungen von Farben, kleine disharmonien in der Music. Durch Ubung kann man
die Sinne schärfen. Zart sind die Sinne, wenn sie leicht afficirt werden wenn ein

/ Ein

|P_42

/Eindruck leicht zu starck ist; das Frauenzimmer hat gemeiniglich zarte, aber deßwegen
nicht feine Sinne. - Was das Alter betrifft, so frägts sich, ob die Sinne in der
Jugend feiner sind als im Alter? Die Eindrücke sind auf die Alten schwächer
aber die Beurtheilung der Sinne ist bey den alten schärfer als bey den Jungen. Die
Jugend hat also wohl feinere, das Alter aber schärfere Sinne. Geschmack findet
sich erst im Alter, denn dazu gehört Beurtheilung. Jugend mag lieben, empfin-
den, das Alter reflectiren. Das das Alter schwächere Organe hat, und also nicht
fahig ist, was neues zu empfinden, so sucht es destomehr das schon empfundene
zu nutzen und legt sich auf reflectiren.

/ ≥ Vom Gebrauch der Sinne

/1.) Gebrauchen wir die Sinne zur Empfindung

/2.) Zur Refle«x»ction über die Empfindung, und zur Bildung der Begriffe aus
diesen Reflectionen. Viele die sich über die Blödigkeit der Sinne beklagen,
haben vielleicht eben sehr starcken Sinne, und werden eben so starck gerührt, als
andere, nur es fehlt ihnen an den nöthigen Reflexionen über die Eindrücke.
Man mißt es dem Gesicht der Jäger zu, daß sie sehr scharf sehen, aber man sollte
es lieber ihrer Bildungskrafft zuschreiben. Nach dem ersten Viertel Jahre gehet
eine große Veränderung in kleinen Kindern vor, vorher weinten und lachten
sie nicht, sondern schrien nur, und attendirten auch nicht auf Dinge die ihnen vor-
kamen, vermuthlich weil sie die Handgriffe noch nicht hatten, die Organe zu gebrauchen,
die Pupille beliebig zu erweitern und zu verängern, welches zum Sehen noth-
wendig ist, es scheint also, als wenn die Kinder sich «¿» von selbst müssen sehen ler-
nen. Es ist nicht genug Eindrücke zu haben, sondern es muß auch das BildungsVermöge
die Eindrücke veredeln. Das BildungsVermögen ist der Grund des DichtungsVermögens.
Gewohnheit schwächt die Aufmercksamkeit auf die Eindrücke und dadurch auch die Em-
pfindung der Eindrücke selbst, aber sie stärckt die Fähigkeit der VorstellungsKrafft, sie macht

/ das

|P_43

/Das Bildungs-Vermögen geschäfftig und lindert schmerzhaffte Empfin-
dungen. Opium macht die äußern Sinne stumpf.

/Der innere Sinn ist der, vermöge deßen die Seele den Cörper als
etwas äußeres betrachtet. Offt ist die starcke Empfindsamkeit das größte
Ubel, und die HauptUrsache der Kranckheit. Opium schwächt sie, und wird
daher mit Nutzen bey solchen Kranckheiten gebraucht. Wir empfinden bloß
durch Hülfe der Nerven, sobald diese ¿errührt werden, oder laedirt sind,
so bekommt gleichsam unser ganzes N¿rvensystem eine gewaltsame
Erschütterung. Mir kommts vor, daß Menschen im Alter sich deßwe-
gen wohl zu befinden glauben, weil sie wenig fühlen, aber eben
der Mangel der Empfindsamkeit ist ihr gröstes Ubel; denn da der Alte
die kleinen Ungemächlichkeiten nicht mehr fühlet die an seinem
Cörper nagen und seinen Bau zerstöhren, so geschiehts daß mit
einem mahl die Kranckheit ausbricht, die ihm unvermuthet das
Leben raubet. Die Sinne werden durch Gewohnheit stumpf, daher kommts
das Menschen, die die grösten Ubel des Lebens tragen, zulezt densel-
ben gewohnt werden. Die Wilden fürchten sich vor dem Tode ebenso
wenig als für der Nacht; denn sie wißen kein Mittel darwieder, wenn
das Übel erst da ist, denn findet sich jeder Mensch darinn, aber der Zweifel-
muth ehe das Übel kömmt, der Zustand zwischen Furcht und Hoffnung ist der un-
glücklichste. Die Gewohnheit macht alles erträglich, sie schwächt aber auch die an-
genehmen Empfindungen. Die SinnesFähigkeit wird nur durch Gewohn-
heit größer, aber die Aufmercksamkeit nimmt ab. - Die Sinne werden stärcker
gerührt, wenn die sinnliche Vorstellungen oder Gegenstände uns als interessant
auffallen, daher rührt uns nichts so sehr, als unser Name, er bringt uns
aus der größten Zerstreuung, und selbst Nachtwanderer aus den Traümen.

/ Der

|P_44

/Der Mensch sucht in allen Dingen auch das kleinste sich zuzueignen,
auch das geringste Vortheilhafftste auf sich zu beziehen, und alles Nachtheilige
von sich abzuwenden. Wenn uns jemand etwas von einem Verdienst-
vollen Manne erzählt, und er hat nur etwa eine Ähnlichkeit mit unserem
Nahmen, oder er ist unser Landsmann, oder er hat auch nur mit
uns eine Sprache, so ist er uns gleich noch einmal so lieb. Man siehet, daß
wir uns auch minutissima, was unser Interesse betrifft, zueignen.
Interesse ist etwas reflectirendes, eine Gegend wird mir noch einmal
so schön, wenn sie meinem Freünde gehört, oder wenn ich sie aus dem
Fenster meiner Stube, wenn sie auch nur gemiethet ist, übersehen kann.
Reisende lieben in der Fremde ihr Vaterland, und in ihrem Vaterlande
die fremden Länder. Die Zerstreuung durchs Dencken schwächt die schärf-
ste der Sinne. Es ist eigen daß doch bey den Wilden die Sinne und über-
haupt das thierische viel vollkommener ist, als bey uns. Ihre Organe sind
zwar nicht schärfer, aber ihre Sinne werden nicht durch Reflexion gestört.
Poonganville führt an, daß die Wilden in der Georgeninsel einen Matrosen
den Augenblick für ein Frauenzimmer erkannten, wie es auch war, aber
durch welchen Sinn mögen sie das erkannt haben? - Der träumerische
Zustand ist der schlimmste unter allen, wenn man seine Aufmerck-
samkeit we¿der auf sich, noch auf andere Dinge richtet. Die Abstechung
macht starcke Empfindung, wir fühlen die Ruhe nur nach der Unruhe. Be-
ständige Unthätigkeit ist nicht Ruhe, die Ruhe kann nicht gefühlt werden, «s»bis sie
auf Unruhe folgt. Die zärtliche Erziehung öfnet so zu sagen, die Organe alle Unge-
mächlichkeiten desto beßer zu empfinden. Rousseau Erziehung hat den Grundsatz:

/ die

|P_45

/die Kinder abzuhärten und sie dadurch für Ungemach zu sichern, und für
Vergnügungen zuzubereiten. Jederman wünscht sein Leben so einzu-
richten daß, wenn er auch jezt die größten Ubel ausstehen müste, er nur
künftig desto mehr Vergnügen haben können. Es kommt alles auf Ordnung an,
nicht die Sinne, sondern die Ordnung des Vergnügens ist angenehm. Die Armuth
auf Reichthum ist unerträglich. Man suche sein Leben so einzurichten, daß die
Vergnügungen immer stuffenweiß steigen.

/ ≥ Vom Betrug der Sinne

/Die Sinne betrügen nicht, weil sie nicht urtheilen, und der Irthum ist
allemahl ein Werck der Reflexion bey Gelegenheit der Sinne. Offt meßen
wir aber eine Vorstellung der Empfindung bey, die in der That eine Geburt
der Reflexion ist. Weite und Größe bekommen wir durch Begriffe, und glauben sie
zu empfinden, und besonders Vorstellungen, die uns geläufig sind, sind diesem
Fehler ausgesezt. Der Betrug der Sinne geschieht entweder aus einem Blendwerk
oder Hirngespinst. Jenes ist, wenn man durch die Erscheinung betrogen wird und
die Ursachen in der Sache selbst liegt; lezteres aber entsteht daher, daß wir
unsere Einbildungen mit den Empfindungen vermischen, und so sie-
het immer ein jeder das, wovon er den Kopf voll hat. Diejenige, welche
ihre imagination wenig exercirt haben, sind den Blendwercken vorzüg-
lich unterworfen. Der Wilde fürchtet sich nichts des Nachts auf Kirchhöfen zu gehen,
er erstaunt aber, {2- ( -}2 er erstaunt aber {2- ) -2} wenn man ihm einen optischen Kasten zeigt.
Der Nebel machlt die Sache dunckel ab; Sachen aber, deren Bild sich
im Auge dunckel abmahlt referiren wir sehr weit, überhaupt ist kein <{2- Sin -2}>
dem Betruge und dem Irrthum mehr unterworfen als das Gesicht, weil dieses
die meisten reflexionen erfordert. So scheint sich eine lange Alee hinten

/ zu

|P_46

/zuzuspitzen, weil die Streben, die vom äußersten Ende kommen kleinere
Winckel machen. Von einem hohen Ge«s»genstand Z. B. einer Raquette,
die gerade über uns aufsteigt, bemerckt man daß sie sich über unsern
Kopf zu biegen scheint; nahe an einem Turm bemercken wir dies gleich-
falls. Ein Stein welchen wir perpendiculär von einer Hohe herunter
werfen, scheint uns anfänglich sich sehr weit zu entfernen, nachmalen
aber wieder zurückzukehren. Ferner scheint uns das Meer, wenn wir vom
Ufer sehen, in der ferne höher zu seyn, als das Land; welches alles aus
optischen Gründen sich sehr wohl erklären läßt. - Es giebt aber auch einen
Betrug der Sinne, @wo@ nicht eine wahre Erscheinung die Ursache davon
ist, wie hier die Stralen erscheinungen machen, die dem Begriff nicht
gemäß sind. Inzwischen betrügt uns auch die Erscheinung nicht. Z.B. Der
Mond scheint uns beym Aufgange größer als im Zenit; der Astronom
weiß, daß es daher kommt weil er im ersten Fall viele Gegenstände
zwischen seinen Standpunckt und dem Horizont, im lezten Fall aber
keinen erblickt, wovon ihn auch die Einerleyheit des Winckels, den die äußersten
Stralen machen (in beyden Fällen auf dem Astrolabio) völlig überzeügt.
Hier halten wir den Schluß und Begriff des Verstandes für Empfindung, an-
statt daß wir sonst die Begriffe für Erscheinungen halten. Das Gefühl betrügt
gleichfals zuweilen.

/ ≥ Von den Vorstellungen nach dem Verhältniß, was sie unter einander haben. ≤

/Eine Vorstellung hat offt die Eigenschafft andere zu beleben, oder matt zu machen.
Wir Menschen lieben

/1.) Mannigfaltigkeit, d.i. die Vielheit verschiedener Dinge, wir lieben sie in
Schrifften, bey Tafeln, und in Gesellschafften, auch der Gebäude Mannigfaltigkeit

/ ge

|P_47

/gefällt uns. Wir lesen gerne den Montagne, Wochenblätter und
Vermischte Nachrichten. Gesellschafften, wo nicht jeder gelehrt spricht,
sondern wo auch allerhand andere Materien auf die Bahn gebracht wer-
den, gefallen uns am liebsten. Gerade Aleen, Gartenhecken p sind
nicht sehr angenehm, weil keine Mannigfaltigkeit da ist, der Wald
gefällt uns beßer und länger. Der Schöpfer hat wie es scheint, Mannig-
faltigkeit bey der Schopfung der Welt zum vornehmsten Augenmerck
gehabt, denn manches scheint gar keinen Zweck zu haben, sondern
nur gleichsam zur Nachfrage da zu seyn. Die Mannigfaltigkeit ist ein
gewißer Reichthum.

/2.) Abwechselung, das ist gleichfals eine Mannigfaltigkeit in verschiede-
nen. Der Uberdruß ist eigentlich nichts anderes, als die Unmuth
über die Einerleyheit in verschiedenen Zeiten. Die Ursache scheint sehr
mechanisch zu seyn, und sich auch hernach auf Erweiterung der Erkennt-
niße zu beziehen. Wir können in einerley Stellung gar nicht lange
bleiben. Man darf nur eine Weilzeit unbeweglich im Bette in einer
Stellung liegen; so ist gar nicht nöthig ein Schwitzpulver einzunehmen, man
wird von selbst schon genug schwitzen. Wir haben zu jeder Muskel einen
Antagonisten, und daher muß man die Glieder bald so, bald so legen.
In einer Stellung stehen bleiben, begünstiget einen Muskel, und
mattet den andern nur dadurch ab; daher machen sich einige Leute unnö-
thige Beschwerden, geben sich selbst Arbeiten auf, die sie doch leicht entbehren
können. Auch beim Studiren ist eine Mannigfaltigkeit sehr vortheilhafft, denn
die Organe des Gehirns werden zu sehr angestrengt, wenn man beständig an eine

/ Sa- 

|P_48

/Sache denckt. Eine kleine offt wiederholte Bewegung verursacht eine ansehn-
liche Bewegung. Ein Tropfen Waßer, wenn er offt auf eine Stelle von unsern
Gliedern fällt verursacht Schmerzen. Einer kündigte dem Musico, der in
seinem Hause wohnte, das Logie auf, weil seine Bassiole ihm das Haus
baufällig machte.

/3.) Neüigkeit. Dadurch wird das Gemüth in activitaet gesezt, was abwechselt,
darf nicht neü seyn. Neü ist uns das, was wir vorhero nicht gehabt ha-
ben. Menschen sind äußerst begierig nach etwas neüem, wenn es
auch gar nicht wichtig ist. Neüigkeit beruhet nicht bloß darauf, daß der
Gegenstand neü ist, wenn nur die Erkenntniß davon neü ist, aber
noch mehr vergnügt man sich, wenn auch der Gegenstand neü ist, weil
wir es als denn communiciren können. Wenn ich in eine Gesell-
schafft komme, und sogleich aus London was neües zu erzählen anfange,
so wundert sich ein jeder, wie ich so unmittelbar auf London gekommen bin.
Wetter discourse machen gemeiniglich den Anfang, auch fängt man von
dem Wohlbefinden der Person mit der man spricht, oder von ihrem Zimmer,
und davon, was nicht weit hergeholt ist, an. Nachgehens kann man in
weniger als in einer VirtelStunde vom schlimmen Wetter bis auf den
Groß_Mogul kommen. Neüigkeit macht Sachen auch im Besitz angenehm.

/4. Seltenheit. Sie ist nicht der Neüigkeit entgegengesezt; sondern bestehet darinn,
daß eine Sache nicht bey vielen anzutreffen ist. Characktere, wenn sie
etwas haben, was nicht so allgemein ist, erregen schon dadurch die Neü-
gierde. Eine Münze die selten ist, sie sey auch noch so schlecht, gefällt.
Indessen ist die Liebe zur Seltenheit eine falsche Richtung des Geschmacks, der
der Grund davon ist Eitelkeit, und wenig Verstand. Man kann schon daraus,
wenn man siehet, worinn die Menschen einen Werth setzen, ziemlich richtig

/ von

|P_49

/von ihrem Charackter urtheilen. Die Holländer hatten besonders ehedem
großen Wohlgefallen an Blumen, besonders an seltenen. Auch Neid nimt
an der Liebe zur Seltenheit antheil. - Es giebt aber auch noch eine andere
Liebe Seltenheit zu sehen. Man hält einen Menschen, der viel seltnes
gesehen, auch für selten. Es giebt Seltenheiten der Natur, wie z B. im Mar-
mor findet man Rudera von See und Landproduckten. Das Vergleichen @,@
gegen einander halten, Entgegensetzen der Sachen, das bringt sie in
Ansehen, wenn man z.B. sagt was sie nicht ist. - Die Abstechung oder der
Contrast bestehet darinn, wenn Dinge zugleich erkannt oder empfunden
werden, und eines das Wiederspiel vom andern ist. So hatte eine
Prinzeßinn lauter unansehnliche Hoffdamen, um gegen sie desto besser
zu glänzen. Die Hofdamen mußten ihr gleichsam zur Fotie dienen.
Ein Mensch der sich klug dünckt, und gerne seine Weißheit auskramen
will, muß es nicht unter Gelehrten thun, sonsten entsteht daraus ein wunder-
licher Contrast. In der Natur giebt es viele Contrasten, als an den Norwegi-
schen Küsten, wo schöne Thäler zwischen hohe beschneeten Gebirgen lachen.
Die Chineser wißen schöne Contrasten in ihren Gärten anzubringen. Eini-
ge Contraste haben Wiedersprüche bey sich, denn sie «s»ziehen die Aufmercksam-
keit an sich, und zeigen den Wiederspruch gleichsam hervorstechend. Ein
Nachfolger im Amte, der einen schlechten Antecessor gehabt, hat es immer gut,
denn es kommt bey Menschen fast immer auf Verhältniße an; sie beurthei-
len alles nach andern, darum ist es auch nicht gut eine Wittwe zu heüra-
ten, denn sie erinnert sich immer ihres seeligen Mannes, wie gut der ge-
wesen sey. Es wäre gut, wenn sich jederman solche Aemter wählte, in denen
er hervorsticht: Ein Mann der ein vortreflicher Schulmeister wäre, wird als
Prediger die elendeste Figur machen.

/ Schäd

|P_50

/Schädlich Contraste müßen vermieden werden. Z.B. ein Po«g»belhaffter
ausdruck, bey einem vornehmen. In den Kleidern muß man sich nicht
viel putzen, sonst sticht jede Kleinigkeit hervor. So auch im Reden muß
man sich in Acht nehmen, einen hohen Thon anzunehmen. «¿»In Predigten
contrastirt ein einzig französisch Wort gewaltig, mit dem Predigerstande
ist es in dem Fall sehr mißlich, die geringste Schwachheit, die man bey ei-
nem andern übergehet, sticht bey ihnen sehr hervor, wie Flecken am
weißen Kleide. Contraste worin wiedersprüche sind, erregen Lachen,
daher kommts, daß in den Stellungen der Menschen, wo sie am allermeisten
ernsthafft seyn sollen, alle Persohnen am meisten zum Lachen gestimmt
sind, und in solchen Fällen wenn man dem Lachen nicht Ausbruch ge-
ben kann, wird es immer heftiger, wegen des Contrastes. - Das Gemüth liebt
den allmähligen Ubergang - der Contrast ist ihm nicht lieb. In Discur-
se muß man auf sich Acht geben, daß man nicht contrastire. Wenn Dinge
so aneinander gestellt sind, daß kein Ubergang von einem zum andern
ist, so scheint das, wie man sagt; bey der Wahl der Farben zu Kleidern siehet
dies man sehr deütlich. Zwey Farben paßen nicht, wenn die eine fast der andern
gleich ist. Z.B. Ein lichtgrüner Rock und eine etwas dunckelere Weste, es scheint
als wenn die Weste auch lichtgrün werden könne. Es müßen also die Farben
so gewählt werden, daß kein Zweifel wegen ihres Unterschiedes da ist. Aber die
Farben müßen auch so verschieden seyn, daß vom Rock zur Weste eine leichte Uber-
gang ist. Z.B. ein blauer Rock und eine rothe Weste paßt, denn am Rande ver-
mischt sich mit viel blau, und das giebt eine begreifliche Farbe nehmlich violett. Aber
ist der Rock roth und die Weste blau, so giebt die Vermischung ein schmutziges Roth.
Uberhaupt was wenig ist muß leicht seyn. Die Aufläge und das Futter müssen etwas
lichter seyn. Man liebt lieber die Verlichterung als die Verdunckelung. Einige

/ Far

|P_51

/Farben sind hart. Es ist doch eigen, daß alle junge Leüte und die Wilden die rothe
Farbe über alles lieben, und die rothe Farbe ist die härteste. Einem Menschen dem
nicht recht wohl ist wird es schlimm und übel zu muthe, wen er eine rothe Farbe
ansiehet. Es scheinen der Judend helle Farben zu kleiden, dem männlichen Alter
dagegen die dubiesen, und überhaupt gefallen diese dem feinen Geschmack.
Den blonden Persohnen stehen blaße oder ganz schwarze Farben an, jene wegen
über einstimmung diese durch den Contrast. Die Brünetten kleiden harte
Farben.

/ ≥ Von der Schwächung der Vorstellungen durch die Zeit. ≤

/Wenn man eine Vorstellung lange hat, so wird sie schwach, denn die Aufmercksamkeit
schwindet. Wenn man immer über eine Materie denckt, so denckt man zulezt nichts.
Im Studieren muß Mannigfaltigkeit seyn, damit uns alles immer neü vor-
komme. Einerley Empfindung ist anfänglich unangenehm, zulezt aber wird man
es so gewohnt, daß man nicht mehr drauf attendiret. Die Wiederwärtigkeiten
machen aufmercksam und das Gemüth, welches furchtsam ist, lauschet sehr
gerne auf sie, weil es in beständiger Furcht ist, sie noch einmal zu empfin-
den. Wir müßen uns immer Hoffnung zu wachsen, sonst hört die Vor-
stellung von einer Sache bald auf. In jüngern Jahren ist das die vorzüg-
lichste Regel: Man fange immer so an, daß man seinen Zustand steigern
könne. Dinge und Vorstellungen, wenn sie einen Stillstand bekommen, ver-
lieren viel von ihrer Krafft. Eine Freündschafft die daurend seyn soll, muß
nicht gleich mit einem großen Grad anfangen, sondern von der Vertraulichkeit
bis zu der Entdeckung der Geheimniße steigen, man muß seine gute Sache
nicht mit einem mahl zwingen, sondern allmählig mehr Hoffnung geben.
Das Gemuth hat den grösten Verdruß über die Monotonie in Vorstellungen, und
der Mensch begiebt sich offt in die wiedrigste Umstände und Gefahren, um in andere
Situation zu kommen.

/ ≥ Von den verschiedenen Umständen der Menschen

/Wir bemercken, daß in uns Umstände verschieden sind, nach dem die Empfindungen

/ bey

|P_52

/bey in gehöriger Klarheit seyn oder nicht seyn; zu den leztern gehören
viererley. Im Gesunden Leben, sind der Zustand des Schlafs und der
Trunckenheit; in Kranckheiten aber Ohnmacht und der Ubergang vom Leben
zum Tode zu mercken. - Seiner selbst ist jemand mächtig, wenn sein
innerer Zustand seiner Willkühr unterworfen ist. Man kann seiner
Selbst nicht mächtig seyn, theils bey Eindrücken von äußern Dingen oder
Empfindungen, theils bey Handlungen, die vor einer großen Menge von
Menschen vorzunehmen sind. Man findet offt.

/1.) daß bey gewißen Umständen. Z.B. wie bey den oben angeführten Fall, wenn
man vor einer großen Menge Zuschauer auftreten soll, der Zustand
unserer selbst unserer Willkühr nicht unterworfen ist. Manche große
Helden sind wieder ihren Willen feige gewesen. Montagne behauptet,
daß wenn die Nachricht von der Annäherung des Feindes, und der Zukunft
des Treffens einem General, wenn er im Schlafrock ist, gebracht wird, dieser
mehr erschrickt, als wenn er gerüstet und standesmäßig angekleidet ist.
Uberhaupt dingt sich jeder Mensch wenn er sich angekleidet hat wackerer@,@
vielleicht weil die Kleider die Musckeln in beßerer Ordnung halten, viel-
leicht auch, weil man gut angekleidet glaubt im Stande zu seyn, jedem unter
die Augen zu treten. Der Selbstbesitz (animus sui compos) ist viel erhabener,
als das fröhliche Gemüth des Epicur, denn ist man Meister über sich, so ist man
auch Herr über sein Glück und Unglück.

/2.) Wenn man so gar zu Handlungen unwillkührlich angetrieben wird, so
sezt das unsern Werth weit mehr herab, als wenn man bloß seine Empfin-
dungen nicht in seiner Gewalt hat. Mancher Mensch wird Z.B. in Klagen
ganz unwillkührlich vergessen; ein anderer fährt sogleich den Augenblick in
Zorn auf, und bereüt es so gleich. Die Leidenschafften sind so beschaffen daß

/ man

|P_53

/man durch sie den Zweck, auf den sie zielen, nicht erreicht. Dem Frauen-
zimmer ist das Aufschreyen in Erscheinungen und plötzlichen Gefahren fast
allgemein angebohren. Vielleicht hat die Natur dieses dem schönen Geschlecht
darum eingeprägt, damit sie durch dies Mittel sich von dem Schreck erholen könnten.
Alle hefti«¿»ge Gemüthsbewegungen setzen einen Menschen außer
Vermögen seiner selbst mächtig zu seyn. So erreicht ein Zorniger und
ein bis zur Thorheit verleiteter Mensch niemalen seinen Zweck, weil
jener nicht einmal die Ursache seines Zwecks zu erzählen, und dieser
die decla«m»<r>ation seiner Liebe nicht zu thun im stande ist. Wenn der Mensch außer
sich selbst gesezt «ist» wird, der aus dem Zusammenhang seiner Gedancken gebracht
wird a) durch angenehme Empfindungen, heißt solches Erzählung

/ b.) durch unangenehme, so ist betäubung.

/Trunckenheit ist der seltsamste Zustand von der Welt, da der Mensch mehr
chimairen als der Wahrheit nachhängt, sich starck glaubt alles zu unterneh-
men, und nicht das mindeste thun kann, sich im glücklichsten Zustande
fühlt, ob er doch im elendesten ist. In dem sein Gefühl ganz stumpf, und
seine imagination äußerst lebhafft ist. Verschiedene Nationen, die
keine rauschende Geträncke haben, betrincken sich nicht, aber andere Wilden
die dieses Mittel kennen, sind dem Saufen ganz erstaunend ergeben, so daß
wenn sie ein Fäßchen Brandtwein bekommen, sie nicht eher davon gehen,
bis sie alles ausgetrunc«g»ken haben. Bey Menschen die nichts dencken, bringt
der Rausch mehr Empfindungen hervor, dahero lieben alle rohe Nationen den
Rausch. - Die Würckungen der Trunckenheit, sind bey verschiedenen Nationen
verschieden. Orientaler werden durch den @Sof@ ganz rasend; bey nordischen Völckern
würckt der Trunck geselligkeit. - Man muß sorgfältig unterscheiden das Trin-
cken bis zur Fröhlichkeit, oder bis zum Rausch, von der versofnen Neigung. Die-
se ist niederträgtig, aber das erste verdient eine Untersuchung. Man bemerckt

/ zu

|P_54

/zuerst, daß ein Mensch der sich still auf seine eigene Hand betrinckt, sich scheut
Dieses zeigt deütlich, daß der Trunck ein Mittel zur Geselligkeit seyn soll. Die
Geträncke wenn sie in Gesellschafften als künstliche Mittel zur Fröhlichkeit ange-
sehen werden, haben ihren Werth. Das Trincken wenn man nicht die Grenzen über-
steiget, ist sehr zur Geselligkeit dienlich; der Grund aber, bis wie weit man in
verschiedenen Umständen gehen kann, ist sehr delicat. Indessen macht ein kleiner
Rausch offenbar gesprächig, und von dem zwenge der Verstellung frey, gleichsam
wie in purem Naturstand. - Die Geträncke selbst haben verschiedene Würckun-
gen: Brandtwein macht heimlich, man betrinckt sich lieber daran allein, als
in Gesellschafft, dieser Rausch ist auch schimpflich. Bier macht schwer und ungesellig
Wein ist geistiger und ein Gesellschafftliches Getränc«g»k.

/Prediger, Frauenzimmer und Juden betrincken sich nicht, und geschiehts; so ver-
denckts man ihnen sehr, und jeder nimmt es ihnen übel, den Predigern weil
sie sich das Recht der Lehrer anmaßen und über aller Laster eifern, dem
Frauenzimmer, weil sie schwächlicher Natur sind, und gleichsam eine Schanze
zu bewachen haben, wovon durch den Trunck alle Schildwachen abgelößt werden.
Die Natur hat dem weiblichen Geschlecht alles was nur irgendeinen Schein
hat geben wollen, daher muß es auch behutsam seyn. An den Juden leidet
man den Trunck nicht, wegen der Singularitaet ihres Charackters, ihrer
Kleidung, einem besofnen Juden läuft alles nach, überhaupt scheint die
Freyheit zu Trincken ein Privilegium der Bürger zu seyn.

/Alle Menschen die nöthig haben sich zu {2- geni -2}ren, und auch die, welch in einem von
dem großen Haufen unterschiedenen Zuständen befinden, müßen den Trunck als den
Verräther ihres Temperaments ansehen und meiden.

/Kann man wohl im Trunck der Menschen Gesinnungen erckennen? - Sein Tem-
perament kann man wohl erckennen, aber nicht seine Gesinnung. Nicht bloß

/ der

|P_55

/Der Trunck, sondern auch das Eßen verändert das Naturell. Einige Men-
schen sind nach dem MittagsEssen zornig, andere sehr gütig. Manche Menschen
besonders vornehme Herren, sind beym Kalten und unfreündlichen Wetter
barbarisch. Ein Beyspiel hat man in der Geschichte an Heinrich_IV.

/Der Zustand der nicht künstlich sondern natürlich ist, da der Mensch zu gewißen
Zeiten in einen Zustand stumfer Empfindung und Ohnmacht geräth ist der
Schlaf.

/Der Schlaf. Wir sehen daß der Schlaf stufenweise entstehet, zuerst kommen
wir in eine Art von sanfter Ruhe, wenn uns der Schlaf anwandelt,
hierauf werden unsere Empfindungen Stumpf, denn kommt die Zer-
streüung und zulezt eine gänzliche Unthätigkeit. Es ist remarquable, daß
der Schlaf Kälte macht, und durch Kälte kommen wir in den Schlaf. Die
Menschen die erfrieren, erfrieren alle im Schlaf. Einige Thiere schlafen
den Winter über, und eben die Kälte ist es, die das Thier in diesen Schlaf ver-
sezt. Das Thier hat als denn nicht mehr Wärme als die Lufft. Der Schlaf scheint aus
Mangel der Lebenswärme zu entstehen, denn indem man ein-
schlafen will, so frieret einem. Durch vielen Schlaf wird überhaupt das
Blut zäher, und die Lebenswärme wird dadurch veringert.

/Phoenomena des Schlafs. Beym ersten Auftritt der Schläfrigkeit, wird die
Aufmerksamkeit auf äußere Gegenstände schwächer, und hierauf fangt die
Imagination an ihr Spiel rastloß @forzu@setzen. Im Tage würckt sie zwar
auch, aber ihre Bilder sind nur so hell, wie ein brennend Licht am
hellen Tage. Junge Leüten wird bange, besonders, wenn sie anfan-
gen einzuschlafen, vielleicht weil die Brust beklemmt, und dadurch
der Lunge die Ausdehnung schwer wird. Schlummer ist vom Schlaf
nur darin unterschieden, daß man im Schlummer noch stumpfe

/ Em

|P_56

/Empfindungen hat, obgleich die Vorstellungen, die man sich aus solchen Empfin-
dungen macht, gewöhnlich ganz falsch sind. Im leichten Schlaf träümet man nicht,
denn da haben wir eigentlich keine sinnliche Empfindungen. Der Chimairen
im tiefen Schlaf sind wir uns, wenn wir aufwachen, nicht bewußt. Wir sind
alsdenn einen Todten sehr ähnlich: der Athemzug ist da sehr langsam; Wenn man
vom Schlaf von selbst aufwacht; so ist sehr rathsam, daß man gleich aufstehe, und lieber
den Schlaf auf eine andere Zeit verschiebe, denn indem man sich gewöhnt, so
viel mahl einzuschlafen, so giebt man dadurch dem Nervensaft immer eine
andere Richtung und verursacht dadurch ein Nervenfieber.

/Ursache des Schlafs. Alle Empfindungen geschehen durch die Nerven, ihr Wur-
zel ist im Gehirn und der Hauptstamm die medulla oblongata. Es scheint
im Gehirn die Fabrique des Nervensafts zu seyn. Man hat Exempel,
daß Leüte, die einen guten Theil des Gehirns verlohren haben, doch noch
Leben, so wie ein Baum, wenn man ihm ein Wurzelstück wegnimmt,
doch noch blühet. - Das Gehirn bestehet aus zwey Theilen, nemlich aus dem Cere-
bro und dem Cerebello. Im Cerebro oder Vordergehirn scheinen alle Or-
gane der Empfindsamkeit und der unwillkührlichen Bewegungen zu
seyn; so wie im Cerebello alle Lebenssäfte und principia des Lebens.
Man hat grausame Experimente mit Thieren gemacht, die dieses
bezeigen. Man löse einem Hund das Cerebrum ab und drücke ihn da
sanft, gleich geräth er in einen Schlaf. Es scheint hieraus zu folgen, daß denen
welche die Lethargie haben, das Vordergehirn eingedrückt seyn müße. Des
Tages über verschwenden wir den Nervensaft. Einformige Bewegungen
machen, daß wir nicht attendiren, und folglich verursachen sie den
Schlaf, daher kommts das Zuhörer am ersten einschlafen, wenn der Prediger
in einem einförmigen Thon redet, oder gewaltig und zwar gleichförmig

/ fort

|P_57

/fortschreyet. Es entspringt der Schlaf aus allem, was unserm Lebenssaft
eine andere Richtung giebt; daher macht das Eßen schläfrig. Weil aber
der Schlaf abkühlt, so ists nicht rathsam gleich nach dem Eßen zu schlafen. Es ist
sehr gut lange beym Tische nach dem Eßen zu sitzen, und sich mit sachen zu
unterhalten, die nicht viel Nachdencken erfordern. Man mag auch beym
Eßen gerne lachen; des Morgens aber möchte man Jemanden damit
übel ankommen. Die Natur führt schon darauf, weil das Lachen zur Ver-
dauung hilft. Wie gesagt, des Morgens sind lächerliche Sachen nicht angenehm,
und des Abens mag man gerne wieder Gespenster historien hö«h»ren.
Den Tag über tritt der Lebenssafft aus dem Hintergehirn zu den Organen
der willkührlichen Bewegung und Empfindung. Nun erschöpft sich
den Tag über der Lebenssaft allmälich und dann geräth der Mensch
in den Schlaf. Während des Schlafs elaborirt sich im Hintergehirn der
Nervensafft, flüßt ins Vordergehirn, und denn wacht der Mensch auf. Das
viele Schlafen macht schläfrig. Alle Nationen bey denen Tag und Nacht
gleich ist sind ordentlicher und m@ü\ä@ßiger als die nördlichen. In Rußland
und andern nordischen Nationen herrscht viel Unordnung. Wir haben
Vermögen, das sind «d»nur möglichkeiten zu handeln, denn haben wir auch
eine Kraft alle unsere Vermögen in Würcksamkeit zu setzen. Es können
die Vermögen auch durch physische Bedürfniße in Würcksamkeit ver-
setzt werden, nemlich durch die Thierheit. Trunckenheit nimmt der freyen
Willkühr die Stärcke und Herrschafft. Der Mensch fühlt sich großthätig, klug
und unternehmend, ob er gleich kindisch und ganz schwach ist. Vielleicht
mag dieser Zustand das besaufen reitzen; denn offt trincken die Men-
schen die wiedrigsten Geträncke, um sich nur zu berauschen. Das opium
ist das eckelhaffteste Getränck, aber man liebt es, weil es uns eine

/ opi

|P_58

/opinion von einer größern Macht und Stärcke beybringen, denn zu
der Zeit unternimmt der Mensch alles, er ist sorgenloß und vergnügt.

/Die Untersuchung der Ursache dieser opinion wäre ein schöner Gegenstand
der Beschäftigung für Aerzte. Beym Rausch ist der Mensch schwach, und das ist ein
großes Glück, sonst würde er seinen lebhaften Phantasien nachlau-
fen und viel Ubel anrichten.

/Ohnmacht und Tod Die Beobachtungen über die Ohnmacht und ihren Ursprung
sind eigentlich ein Gegenstand der Medicin. Es scheint doch als wenn bey Ohn-
machten die Lebensbeschäfftigung still stehn. Der Puls geht nicht fort, das Blut
tritt aus manchen Gliedern zurück. Der Tod ist dem Alter nathürlich, es ist
nach mechanischen Gesetzen gewiß, daß man auf eben die Art, wodurch
man sich nährt und wächset sterben muß. Die Nahrung sezt immer etwas
neües an die Canäle an, das alte geht zulezt nicht mehr davon weg, dadurch
versetzen sich die Canäle, und das ist der Weg zum Tode. Alte Leüte sind
wegen des Todes weniger besorgt als die jungen - sie düncken sich im
Alter vom Tode gleichweit entfernt, wie in der Jugend die Ursache davon
ist, weil im Alter die Empfindsamkeit abnimmt. Vor dem Tode scheint die Em-
pfindsamkeit allmälich ganz zu verschwinden; hört die Empfindsamkeit auf
so hat der Verstand keine Materialien, und hier neigt es sich also zum Ende.
Wir müßen Unterscheiden die untern Vermögen, von einer einzigen
Obern Kraft. Einige von unsern Bestimmungen gehen ganz natürlich fort
aus natürlicher Verbindung: andere bringen wir in uns willkührlich her-
vor; da ist die Willkühr der Grund der Windungen von Vorstellungen. Z.B.
die Classification. Aber es giebt noch ein fortschluß von Vorstellungen in uns, dem
nichts hemmet Z.E. beym Gehör des Wort Rom kann keiner umhin sich eine
Stadt vorstellen. Kurz Vorstellungen, die einmahl mit einander gepart
sind, die kann man nicht trennen. Der Verstand kann wohl den Vorstellungen

/ eine

|P_59

/eine ander Direction geben, aber er muß sich ihnen doch accommodiren. Es
sind Qvellen in uns, wo Vorstellungen sich in uns physikalisch vercknüpfen,
und rastloß und unwillkührlich fortlaufen.

/ ≥ Von den sinnlichen Vorstellungen

/Da kommt alles auf Bilder an, und wir können entscheiden 1.) das
Bildungs- 2.) das Nachbildungs- 3.) das Vorbildungs- 4. das Einbildungs- 
5.) das Ausbildungs-Vermögen. Was das erste betrifft, so ist das von der
Empfindung zu unterscheiden. Ein Mahler weiß wieviel Mühe es ihm
kostet aus den auf ihn Gemachten Eindrücken einer Gesellschafft sich ein
ganzes Bild zu machen.

/Das Nachbildungs-Vermögen betreffend, so weiß man, daß im Bette bey
geschloßnen Augen uns gewöhnlich die Bilder vorkommen, die wir im
Tage gehabt. In Gesellschafften, wenn einer etwas erzählt, so fällt es uns
immer, wenn wir müßig seyn, wieder ein, und in manchen Galerien
mögen nicht so viel Bilder seyn als in unserm Kopfe.

/Vorbildung diese haben so gar die Hunde, wenn der Jäger die Cuppel her-
vor nimmt, so freüen sich die Hunde, daß sie auf die Jagd gehen werden. Wer
die Kunst weiß, einem andern etwas so vorzutragen, daß er das Spiel
der Phantasie hemmen und wieder erregen kann, der ist glücklich. Die Dich-
ter thun das in ihren praegnanten Gedichten. - Wer zum erstenmal etwas
fremdes ansieht, der hat noch kein Bild davon. Er muß es gleichsam erst durch
laufen, und von großen Sachen kann man sich kein rechtes Bild machen. Hat man
das Bild, so fehlt doch noch der Begriff. Das Gemüth ist fähig zu Bilder, wenn es nur
einige Veranlaßung hat, es mahlt beständig, und da dem Menschen nichts näher
ist, auch nichts so sehr im Sinne liegt, als Menschen, so mahlt das Gemüth
auch lauter Menschen, wenn auch nur eine alte Stange mit Mooß da ist.
Wir mahlen auch offt in den Wolcken Cameele und Drachen ab, das macht
ihm große Ausdehnung. Das Formiren, welches in Ansehung der sichtbaren Ge

/ gen

|P_60

/genstände, bilden heißt, findet auch bey der Music statt. Die Missionarii
brachten brachten den Chinesern anstat der Wunder-Künste und Wißen-
schafften mit, und fanden großen Eingang bey ihnen, wie wohl Music schon
vorhero von ihnen war tractiret worden, aber nur simple, die viel-
stimmige Music der Eüropäer kamen ihnen dahero nur als ein wildes
Geschrey vor. Man siehet also, daß auch hier das Gemüth unterrichtet wer-
den, und lernen muß. Das Vermögen ist bey verschiedenen Menschen
verschieden. Bey einigen groß, bey andern klein. Wir üben dies Ver-
mögen aus entweder bey der Gegenwart der Objecte, das ist die Anschauung,
oder wie wiederholen, das vergangene Bild in Gedancken. D.i. Nachbildung.
Wir haben auch ein Vermögen vorzubilden; z.B. wenn sich jemand zum
voraus einbildet, wie es ihm auf den künftigen Ball laßen werde.
Einbildung ist die Vorstellung deßen, was nicht in den Sinnen war.
Hier dencken wir uns Ideale. Wir copiren doch aber immer die data
der Sinne, denn ganz vollkommene Ideale, können wir uns nicht ein-
bilden. Z.B. Es wollte jemand eine ganz neüe Art von Häusern er-
finden, so muß er doch Farbe, Fenster, Steine Türe pp beybehalten.

/Ein Künstler muß sich zuweilen ein Ideal einbilden, zuweilen bloß
nachbilden. Einbildung unabhängig, von aller sinnlichen Anschauung
heißt Imagination. Man sieht, daß hier allenthalben das Bild zum Grunde
liegt.

/ ≥ Phantasie

/Sie ist nicht eine wiederholte Einbildung, sondern Nachbildung; unsere
gegenwärtige Zeit ist voll von Bildern des vergangenen, sonst würde
kein Zusammenhang zwischen beyden seyn, das vergangene appliciren wir
immer aufs gegenwärtige. Wenn uns nicht die Lebhafftigkeit der sinnlichen Vor-
stellungen und Eindrücke im Wachen hindern mögte, so würden wir
die Bilder. Z.B. vom Nordlicht, vom Sturm auf der See pp ganz vollkommen

/ zu

|P_61

/zu sehen glauben, man siehts im Schlaf, da glaubt man das würcklich
zu sehen, woran man denckt. Die reproduction des vergangenen ist bey Men-
schen verschieden. Junge Leüte dencken immer aufs Zukünftige und Gegenwär-
tige, die Alte wieder aufs vergangene; ja sie glauben gar in der gegenwär-
tigen Zeit geschehe nichts merckwürdiges. Es habe sich alles verändert. Daß
kommt aber daher, weil ihre Empfindungen nicht mehr so starck sind, und ihre
Sinne schwächer werden. Die Alten reproduciren den kurz vorher gesche-
henen Umstand nicht, aber den lange vorher gegangene und deßen kleinste
Umstände sehr leicht. Sie wißen nicht was gestern geschehen, vergeßen
Nahmen und alles, weil die Gegenstände nicht mehr solche Eindrücke auf
sie machen. Von ihrer Ju«d»gend wißen sie viel zu reden, da noch die
Dinge großen Eindrucke auf sie machten, und ihre Bilder noch
bis in den gehör {2- <irn> -2} Kasten kamen, wo sie auf behalten wurden. Hinzu
kommt noch eine gewiße Partheylichkeit, denn da sie bald zu sterben
gedencken, so sind sie in Ansehung des Gegenwärtigen gleichgültig,
daher sie sie sich aufs vergangne beziehen. Die Bilder von Dingen
können wir uns leicht durch die bloße NachbildungsKrafft reproduciren,
aber nicht die Empfindung, denn dazu gehört mehr. Die Empfindung ist
subjectiv; die Form davon oder das Bild objectiv. Der Empfindungen können
wir uns nicht so starck erinnern als der Bilder. Z.B. wenn man sich
eines vergangenen Unglücks erinnert; so vergißt man die Empfindun-
gen, die man dabey gehabt hat. Das Vergangne vergeßen wir leicht,
auch das Gute, das wir von Jemanden genoßen haben. Die Phantasie
gehet also mehr auf die Bilder, weßhalb Strafen auch zu weilen nicht
viel helfen wollen, denn die Methode des Strafens weiß man sich wohl
zu erinnern, aber nicht wie einem damals zu Muthe war.

/ Das

|P_62

/Das Vermögen Nachzubilden ist dem Menschen sehr nöthig, besonders in man-
chen Umständen, doch muß es immer in einem gewißen Grade geschehen; denn zu
lebhafte Bilder, sind nicht gut, das lange aufhalten dabey verhindert einen
in vielen Stücken. Was hilfts einem Z.B. wenn er sich seiner seeligen
Frau erinnert und zwar zu offt und zu lebhafft, es kränckt ihn nur noch mehr.
Wenn wir Jemanden wovon ein starckes Bild machen wollen; so müßen
wir ihn mit der Sache selbst nicht zu bekannt machen. Rousseau sagt: Der
Vater der da sahe, daß sein Sohn anfing liederlich zu werden, führte ihn
in ein Lazaret, und zeigte ihm die Folgen der Wollust, Hierauf machte
er die application. Bilder von gemeinen Sachen sind leicht und schwach,
von seltenen Gegenständen aber lebhaft und schwer. Gewohnheit bringt
schwache Bilder hervor, wie Z.B. bey allen Dieben der Galgen beständige
Strafen sind dahero nicht gut, man muß ja seinen Empfindungen stei-
gern können. Wo strafen und Hinrichtungen alltäglich ja wieder die
menschliche Natur sind, da kehrt sich keiner daran. Wo man weiß
daß die Strafen den höchsten Grad erreicht haben, da wird die Empfin-
dung schwächer. Die öftere Wiederholung der Strafen gewöhnt die Men-
schen an dergleichen Anblick; daher müßen die stärckere Strafen verspart
werden, damit die kleinere auch ihre Kraft behalten. Die Ursache ist:
ein noch größeres Bild macht mehr Empfindung, die Phantasie will immer
steigen. Neüigkeit macht daß die Imagination excitirt und stärcker wird.
Das geschieht bey Verliebten, wenn sich die Persohnen noch nicht besitzen. Die
Liebe läßt aber gleich nach, wenn sie sich geheüratet haben, denn nun dörfen
sie nicht mehr die Imagination gebrauchen, sondern nur die Sinne vor sich nehmen.

/ Die

|P_63

/Die Bilder machen offt mehr Eindrücke als die Sache selbst, weil die Seele
die Bilder allezeit ausmahlt und nach dem der Hang ist, sie entweder ver-
beßert, oder verschlimmert. Einige Leidenschaften sind von der Art, daß
die Gegenstände mehr in der Abwesenheit durch Phantasie als bey Anwesen-
heit gefallen. Die Verliebten von der Art sind unheilbar, denn die Abwesen-
heit vermehrt die Liebe. Es ist dieses nicht leicht zu erklären; indessen könnte
man es die Annehmlichkeit im Nachschmack nennen. Es giebt einige Leüte,
die im Nachschmack gefallen, denn man muß von dergleichen Leüten erst die
Mienen auslegen. Was nun nach der Reflexion gefällt, gefällt mehr, als
sich nur so aufdringt und in die Sinne fällt. Solche Frauenspersonen
sind immer glücklicher, die nicht für declarirte Schöne sind gehalten wor-
den, den bey ihnen wird das Schöne nicht so heraus geschmückt. Das
Wohlgefallen im Nachschmack ist das gröste und beste unter allen; so
liebt man einen alten Wein, die Austern, weil sie im Nachschmack
gut sind. Die recht wahrhaftig witzige Einfälle sind von der Art, daß sie
im anfange zweydeütig scheinen, nachgehends aber gefallen. Wenn
man mit Persohnen redet, so sind Fehler und Vollkommenheiten
vermischt; aber man siehet doch eher auf die Fehler, wenn welche da
sind, als auf das Gute, und wenn auch ein Knopf am Rock fehlt. In der
Abwesenheit der Person siehet man gewöhnlich auf das Gute und ver-
gißt die Fehler. Wer in der Anwesenheit wiedrig ist, nachhero aber
gefällt, der ist glücklich. So ists bey witzigen Einfällen, so beym Lachen.
Wir lachen über eine Sach¿, die zwey seiten hat, klug zu seyn scheint,
und in dem Augenblick auch einfältig ist. Ein Pabst sagte zu seinem
Poeten, der ihm Verse brachte, daß in einer Reihe etwas fehlte, dieser
gab ihm aber zur Antwort: Es würde vielleicht in dem andern etwas

/ zu

|P_64

/zu viel seyn. Dieß scheint zwar anfänglich eine gute Antwort zu seyn,
es l@ä@ßt, als wenn man eins ins andere rechnen könnte, im Grunde
ist sie doch unschicklich und gefällt nicht. Offt sagt man: was der Mensch an der
Persohn liebenswürdig findet weiß ich nicht, daß liegt aber schon in der Ima-
gination. Er kann sich in der Anwesenheit mit der Person zancken, und
nachher ists seine Gattin, denn alsdenn copiert er die Fehler nicht. Manches Schreck-
cken ist in der Imagination stärcker, als in der Sache, so stellen sich man-
che Leüte ihr künftiges Alter sehr schrecklich vor. - Die Stärcke, Richtigkeit
und Ausbreitung der Imagination sind verschieden. Leute, die sehr
reitzbare Nerven haben sind voller Imagination; so ists auch bey jungen
lebhaften Persohnen. Frauenzimmer haben auch viele Bilder, denn sie haben
wenige Macht über sich. Alle ihre Bilder sind starck aber eben deßwe-
gen nicht richtig. Besonders haben die Leüte, welche andern nachspotten,
oder ihre Mienen und Geberden nachaffen, eine große Einbildungs-Kraft,
man sagt auch sie haben einen starcken Witz; lebhafft sind sie gemeinig-
lich, weil sie sich ihr Bild starck eingedrückt haben. Man findt Leute die
darin sehr glücklich sind. Die Imagination muß uns auch dienen, wenn wir
uns mögliche Personen dencken wollen, oder an ihre Stelle setzen. Dieses
müßen besonders die Comödianten verstehen. So sagte eine Principalin
einmal zu ihrer Actrice; sie mache ihre Rolle sehr schläfrig, da sie doch von
ihrem Liebhaber verachtet wurde, wenn künftig ihr würcklicher Liebhaber sie
einmal im Ernst verachten sollte. Ich würde mir einen andern wählen,
war ihre Antwort. Man siehet wohl, wenn man sich kein lebhafft Bild von der Per-
son macht, die man vorstellt, so gehets auch darnach. Diejenige auf denen die
Dinge einen großen Eindruck haben, die können sich auch starcke Bilder for-
miren. Comödianten sollen andere Personen vorstellen, sie müssen also

/ auch

|P_65

/auch solche Personen im Sinn haben, deren Mienen, Stimme und Geberden
sie nachahmen. Am rathsamsten scheint es zu seyn, daß man sich nicht das Bild von
andern, sondern die Sache selbst vorstellt, als wenn sie würcklich da wäre und
nicht eine bloße Imagination und Vorstellung. Plato sagt vortreflich: die Poe-
ten entwerfen nur die bloßen Bilder der Tugend; daher auch die Menschen
nur allein die Nachahmung der Tugend und nicht ihr Wesen suchen. Poetische
Naturelle haben eigentlich keinen bestimmten Charackter; sie sind Mahler
von Gegenständen, und versetzen sich zuweilen in ganz verschiedene
Umstände Z.B. Voltaire. Valisius ein Mathematiker hatte eine so starcke Ima-
gination, daß er die Cubickwurzel von 12 bis 13 Zahlen in Gedancken aus-
ziehen konnte. Es giebt Nationen die von Natur voller Imagination sind Z.B.
die orientalischen Völcker, ihre Sprache ist voll Bilder, sie können dahero auch kei-
ne Bilder leiden, denn sie dencken sich gleich einen bösen Geist dazu, der
sie bewohnt, und weil ihnen der Künstler keine Seelen gab, so glauben sie,
daß sie dem Künstler davon in jenem Leben anschnarren werden. Zu viel
Imagination ist bey wenigen Verstand. Hypochondristen sind zu schwach die Ima-
gination zu vertreiben, sie lachen offt in Gesellschafften wieder ihren Willen
ohne Ursache, und in so weit kommen sie den Wahnsinnigen sehr nah. In jeder
Leidenschafft werden die Bilder verfälscht, die Richtigkeit ist eine vorzügliche Eigen-
schafft der Einbildungs-Krafft. Das rührendste ist, das niedrigste bey den Menschen. Es
ist eine Anwendung der schon vorhandenen Dinge auf Triebe des Gemüths, solche
müssen aber richtig seyn. Einen also zu rühren, wenn die Mittel unrichtig
sind, ist nicht gut. Man ärgert sich nachher durch Falschheit gerührt zu seyn. Wie Z.B.
über einen Dichter, der uns durch eine chimairische Erzählung rührt, und auf
uns wie auf einem Instrument spielt. Wir ärgern uns nicht so sehr über den
Irthum, als über unnütze Rührungen, die falsch gewesen sind. Man kann zwar
auch mit einer ordentlichen Geschichte rühren, aber der Plan derselben muß mit

/ der

|P_66

/der Wahrheit correspondiren, alsdenn werd ich unwillig darüber, ich weiß es,
ich bin im Lande der Erdichtung und der Imagination. Durch Bilder rührt man
nicht, wenn sie nicht gut angebracht sind, und keine Richtigkeit darinnen ist. Unge-
zähmte Einbildungs-Krafft, die über sich selbst keine Macht hat, ist eine Kranck-
heit und befindet sich bey Hypochondrischen und träumenden Menschen. - Zügel-
loß muß die Einbildung nicht seyn, Vernunft und Erfahrung müßen ihr die
Schrancken setzen. Bey den Einbildungen können wir des Verstandes nicht ent-
bähren, wir müssen sie durch den Verstand ordnen, und ihnen ihre Falschheit und
Zugellosigkeit benehmen. Wir müssen die Imagination in unsere freyen
Willkühr haben. Sie thut bey Verliebten großen Schaden, denn sie ist nicht rich-
tig. Sie erdichtet viele Annehmlichkeiten, die nur ein Dunst sind. Die Wil-
den haben so viel Geschlechts-Neigung, als erfordert wird ihr Geschlecht fort-
zupflanzen. Sie sind aber nicht so unglücklich in ihren Leidenschafften.
Einem Verliebten verfolgen die Einbildungen überall, die doch nicht
wahr sind, sondern nur Chimairen enthalten; eine Herrschafft dahero
ist über dieselbe sehr nothwendig.

/ ≥ Von dem Vermögen über alle diese BildungsVermögen zu disponiren

/Vorher wollen wir das Physikalische von dem Bildungs-Vermögen unter-
suchen. So viel scheint ausgemacht zu seyn, daß zu jeder Gemüths-Fähig-
keit, zu jedem Vermögen distincte Empfindungen zu haben, eine Mo-
dification des Gehirns erfordert wird. Das Vermögen der verschiedenen Fähig-
keiten, liegt nicht im Gemüth, sondern in der verschiedenen Organisation des Ge-
hirns. Die Fähigkeiten der Menschen sind unendlich verschieden. Einer ist ein
empirischer, der andere ein speculativer Kopf. Die Ursache davon, die in dem Geh@irn@

/ liegt

|P_67

/liegt, kann kein Miscrocop, kein Anatomicer entdecken. Wenn ich in einer Ge-
sellschafft bin, und man ist ganz still, man bittet mich darauf etwas zu er-
zählen, so werde ich stock dumm, und kann in dem Augenblick nichts hervorbrin-
gen. Fängt aber nur einer was an; so gehts so wie in einer Pulverlade, wie
sich da das Feuer von einem Ende zum andern fortpflanzt; so entsinnen wir
uns auf tausende Erzählungen. Nun ist die Frage, wo bleiben die Geburten
des Bildungs-Vermögen, denn es gehet doch nichts verlohren, wenn es gleich
durch die Zeit sehr geschwächt wird? Plattner und andere neue philosophische
Medici glauben, daß von jedem Bild Merckmahle im Gehirn und deßen Ner-
ven bleiben. Das Spiel der Bilder läuft in unserm Gehirn so unwillkühr-
lich fort, als das Blut im Leibe umlaüft. Wenn man Nachdencken will, so
macht man gleich Lerm im Phantasien-Reiche; da erscheinen nun aller-
ley Ideen und paßieren die Musterung unaufhaltsam. Die Bilder die
mit meiner Materie verwandt sind, halte ich auf, bisweilen entwischen sie,
denn bekümmert man sich, man weiß nicht was es war und fängt die gan-
ze Reihe von forne an, weil man sich schon praepariret hatte, die Ideen
aufzuhalten, daß man sie ertappt. Mannigmal ist sie mit unserer Materie zu
wenig verwandt, und wir sind betrogen, aber zuweilen giebt sie uns nicht
einmal einen Aufschus. - Um zu dencken muß man sich nicht anstrengen,
in Gesellschafft fällt einem offt etwas ein, ein Wort kann einem auf einen
guten Einfall bringen, wenn auch die Materie, wovon man redet, mit mei-
ner, die ich im Kopfe habe, gar nicht harmonirt. Im Nachdencken muß
man legere verfahren, man trage aber einen jeden Einfall so wie er ist
zu Papier; inzwischen nehme man immer so etwas vor, was der Einbildung eine
ganz andere Richtung giebt, aber nicht ermüdet. Es wird dahero offt ein
Brief, den man nicht ausstudiert viel naiver und paßender als der, den

/ man

|P_68

/man mit vieler Aufmercksamkeit und Ansträngung der Seelenkräffte geschrie-
ben hat. Seine eigene Schrifften muß man nicht offt lesen, die das gethan, sind
immer mittelmäßige Autores geblieben. Man muß beständig vielerley vor-
haben, damit die EinbildungsKraft nicht ermüdet Schrifften, über die Materie,
worüber man dencket muß man nicht nachlesen, sonst bindet man das Genie,
man siehet bloß Braillon an, beym durchlesen fällt einem noch viel ein. Wenn
man glaubt genug Materialien zu haben, so lieset man alles durch und macht
sich ein Schema im Kopf, und sezt sich daßelbe in kurzen Sätzen aufs Papier,
ohne auf die Anmerckungen die am Rande stehen, auch ohne auf die Materialien zu
sehen. Man muß in einem fortschreiben, offt wird man stecken bleiben,
wenn einem etwa ein Wort fehlt, aber man muß lieber Lücken lassen,
und mit einmahl das ganze fortschreiben. Fällt einem ein Wort ein,
daß inskünftige soll angebracht werden, so sezt man es an den Rand, dann
liest man es noch einmal durch, und sezt es ordentlich auf. Wer mit
einmal eine Sache gut machen will, er mag so starck Nachdencken
wie er will, wirds doch nicht so gut machen, als der, der zweymal
gearbeitet hat.

/Bücher lese man immer zweymal, daß erste mahl halte man sich nicht
auf und sehe nur auf den Endzweck des Autoris, der offt vorne sagt, er
werde ein Satz unten beweisen, und am Ende, daß er ihn schon bewie-
sen habe. Das Zweytemal untersuche man alle distinctionen und demon-
strationen, aus denen er will schlüßen. Beym erstenmal schreibe
man mit einer Bleyfeder Zeichen an den Rand, wo spaßhaffte, witzige,

/ pa

|P_69

/paradoxe, seltsame, böse oder sehr gründliche Gedancken stehen. Ich lege
denn das Buch weg, weil es sonst gratiam novitatis verliert. Nach eini-
ger Zeit laufe man es wieder durch, und sehe nur nach den gemachten
Noten, so fällt einem alles wieder ein, was mit diesen verwandt ist.
Dieses ist die beste Repetition. Aus fremden Büchern kann man Aus-
züge machen, die müßen aber sehr kurz seyn. Solche Stellen sind
auch nicht viel. Im Montagne findet man viele naive Gedancken,
er hat sehr gemächlich geschrieben, denn als Seigneur machte er sich nicht
viel Mühe, und Niemand durfte es ihm verdencken. Er schrieb
sagte er, um sich wohl zu befinden. So bringen die Einbildun-
gen eine Menge verwandten Imagination hervor.

/ ≥ Vom Gedächtniß

/So wie die Phantasie eine thätige Krafft unwillkührlicher Bil-
der ist, so ist das Gedächtniß das Vermögen willkürliche Vorstellungen,
die wir gehabt haben zu reproduciren.

/Wenn Jemand einen in der Gesellschafft nicht beschämen will,
so muß er sich in Acht nehmen, nicht von Dingen zu reden, die in
der mindesten Verwandtschafft damit sind, denn die Einbildung laüft
immer fort nach einer direction, die man ihr giebt. Ein Narr un-
terscheidet sich von einem Klugen nicht«s» durch<s> Dencken, sondern
dadurch, daß der Narr alles laut sagt, was die Einbildung ihm vorspielt,
da der Kluge nur gerade das sagt, was zur Materie gehört. Die
Phantasie giebt den Stof zu allen Erinnerungen, sie ist mit Situationen

/ in

|P_70

/in Wäldern pp beschäftigt, sie ist unklug, wenn sie von Sätzen der Er-
fahrung abweicht, sie ist ein unwillkührlicher Fluß von Ideen. Wenn
nun die Phantasie ihren Sitz im Gehirn hat, so kann es geschehen, daß auch
das Gedächtniß, welches alle Sachen daraus herimt, durch Kranck-
heit geschwächt wird. Das Gedächtniß bestehet darinn, daß ich von den
Bildern, die ich einmal gehabt, willkührlich einige hervor bringen
kann, zuweilen fällt mir auch mehr ein. Es können Menschen
eine starcke Imagination, und doch ein schlechtes Gedächtniß haben,
wenn sie die Ideen nicht willkührlich reproduciren können.
Unbändige Phantasie schwächt das Gedächtniß.

/ ≥ Handlungen beym Gedächtniß

/1.) Ins Gedächtniß faßen, 2.) behalten. 3 sich deßen leicht zu erinnern.
Diese Actus geschehen langsam. Einige faßen etwas schwer, be-
halten es lange und erinnern sich nicht leicht. Diesen haben ei-
nen schlechten Witz. Ich faße etwas, wenn ichs ins Feld der Imagi-
nation so gründe, daß ich es nach belieben bald darauf herlangen kann.
Dies geschieht, wenn ich die Bilder in Verbindung mit andern Phanta-
sien setze, das geschieht durch die Begleitung, vergesellschafftung in
der Imagination. Z.B. wenn Jemand einen unbekannten Namen
nicht behalten kann, so nenne ich ihm einen bekannten, der eine Aehn-
lichkeit damit hat. Nicht alles ist vergesellschafftet, was sich begleitet;
beständige Begleitung ist eine Vergesellschafftung, die Begleitung ist schon
ein Grund der asso@ci@ation, wenn sie sich offt vergesellschaften.

/ Offt

|P_71

/Offt geschiehet dies unschuldiger Weise, und daher kommt manchen
Leüten etwas eckelicht vor, und dieses durch die Bloße Association,
besonders bey Wörtern. Cour machen, hieß sonst hofiren, nun mag
vielleicht Jemand das Wort einmal von natürlichen Bedürfnißen
gesagt haben, und jezt verbindet jeder diese Ideen damit. Man be-
dienet sich gerne eines Umschweifs, um auf eine etwas anstößige
Sache zu kommen; die Einbildungs-Krafft des weiblichen Geschlechts
muß hier offt im Dunckeln spatzieren; sie hören offt häßliche Sachen,
aber durch einen Umschweif und erdichtete Worte. Wenn man da-
her anstößige Dinge ohne Anstoß und Eckel hersagen will, so
muß man die Sache mit einem neuen Namen belegen.
Die Naturalia mit lateinischen Namen belegt klingen nicht so
anstößig als mit Deütschen. Z.B. die Kranckheit die aus West-
Indien ihren Ursprung hat, nannte man anfangs die neapoli-
tanische, zulezt aber wurde dieser Name auch zu gemein, und als
die Franzosen Neapol belagerten, so wollte man sie sehr fein
benennen und nannte sie die Franzosen, jezt kann man keinen
gröbern Namen nennen als diesen. Wenn man einem Frau-
enzimmer etwas aus Bescheidenheit verdeckt und schalckhafft sagen
will, so bedient man sich solcher Wendungen, sie hören es denn gerne,
lachen aber nicht und thun, als wenn sie es nicht verstehen. Wenn
die Kinder etwas auswendig lernen, so sprechen, sie ein Wort
nach dem andern aus und associiren ein Wort an das andere

/ d.i.

|P_72

/d.i. assotiatio bruta, welche die Dinge nur nachfolgen läßt. Die
Aehnlichkeit ist sonst auch ein Mittel dem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen.
Französische und deutsche Wörter haben keine würckliche Aehnlichkeit, und
zwischen Sachen und Wortern hälts auch schwer eine Aehnlichkeit zu
finden. Die Bilderbibeln haben aus dieser irrigen Meinung ihren Ur-
sprung; sie corrumpiren mir aber gar zu sehr den Verstand, als daß sie
ein Mittel seyn sollten uns reine Begriffe von Sachen beyzubrin-
gen. Auf die Art wollte Jemand den Namen Julius Caesar begreif-
lich machen, er mahlte dahero eine Eüle undeinen Käß dazu, und
ein anderer der die Worte haeredibus suis legitimis mit einem Kasten
mit Schlößer, einen Schwein und die Gesetz Tafeln Mosis. - wahrlich
ein recht verckehrtes Mittel auf die Sache zu kommen, da ist doch
immer beßer sie zu vergeßen. Manche Wörter sind so beschaffen,
daß man niemals die rechte Begriffe damit verbindet, besonders
wenn man einmal schon mit einem Wort eine unrechte Idee verknüpft
hat, man bleibt alsdenn immer dubieuse. In Schulen l@e@ßt man würcklich nach
Gesetzen der blinden Phantasie auswendiglernen, und überläßt es dem gu-
ten Glück, wie dieses die Sache in dem Gemüth der Kinder zusammenpart,
die Geographie nach der Ordnung der Oerter um eine große Stadt he-
rum ist gut. Leges Phantasiae brutae ist die Beförderung der Eindrucke
blos durch zusammenparung. Es giebt aber noch ein Mittel etwas zu
behalten, durch die Vergleichung. Sind die Aehnlichkeiten nur willkühr-
lich gemacht, so hat der Verstand keinen Antheil daran, sondern nur der Witz.

/ Fol

|P_73

/Folgende Hilfs-Mittel haben beym Gedächtniß ihren großen Nutzen.

/1.) Die Classification, daß ist der Zweck der ganzen Logick, nehmlich alle Dinge
unter Begriffe, und diese wieder unter allgemeine zu bringen, oder
die Dinge in logische Oerter zu disponiren. Wer Dinge in ein solch reposi-
torium bringen kann, der beh¿¿t sie gewiß.

/2.) Die Vergleichung der Dinge mit den Gesetzen des Verstandes. Die Gewohn-
heit auf die Ursache und Würckungen, oder auch auf die Zwecke zu sehen,
macht viele Anhänglichkeit und hilft also sehr viel zum behalten.

/3.) Daß man Dinge mit seinen Neigungen verbinden. Dies macht die
größte Anhänglichkeit. Einen schönen Vers, schöne Worte, überhaupt was
unsere Neigungen vergnügt, verwahrt man den Augenblick ins Gedächt-
niß. Hieraus erhellet, woher es kommt daß ein iudicieuser Mann ge-
wöhnlich sehr wenig Gedächtniß hat. Er asseciirt die Dinge nur nach der
Vernunft, und erinnert sich vieler Dinge nicht, weil sie mit der Ver-
nunft nichts aehnliches haben. Was der andere nach der Aehnlichkeit associi-
ret, daß fällt ihm nicht bey, daher kommts, daß man kein Bedencken
trägt sich über sein Gedächtniß zu beklagen. Man hofft dadurch desto
eher von der Bescheidenheit des andern vor tiefnachdenckend gehalten
zu werden. Uber seinen Verstand klagt niemand, nur über sein
Gedächtniß. Manche Menschen können nichts behalten, weil sie sehr
viel reflectiren, und alles, was sich nicht intellectuel verknüpfen läßt,
nicht associiren können. Man muß sich aber gewöhnen, seine sensitive
Krafft auch zu cultiviren, sonst ist aller Verstand unnütz, das iudicieu-
se memoriren ist erwachsenen Persohnen sehr leicht, aber das
sensitive Memoriren nicht mehr, daher muß man das ganze Alte¿ bis
20 Jahr dem sensitiven Memoriren widmen. Nach 30 Jahren lernt

/ man

|P_74

/man nichts mehr sensitirt.

/Alles was in einer gewißen Figur oder Riß kann gebracht werden,
läßt sich leicht behalten; die Lage de@r Sac@hen an einander hilft viel zur
reproduction, daher ist auch das geographische Studium so leicht. Was die
Geschichte betrifft; so hat man da kein Mittel die Begebenheiten so
an einander zu stellen, man verfährt indeßen doch so mit der
Geographie paralel, indem man die Reihen der Begebenheiten in Epo-
chen, und diese in Perioden theilt; denn kann man auch die Bege-
benheiten noch eintheilen nach den Völckern, oder Ländern; also Epo-
chen Perioden und Synchronismen dienen zur leichtern Faßung der
Geschichte.

/Assoation des Witzes. Witzige Leüte finden allenthalben Aehnlichkeit,
daher kommts, daß sie Sachen bald faßen; aber weil ihre Aehnlichkeit
offt nur schwach ist auch eben so leicht vergeßen. Es ist doch artig, daß wir man-
ches vergeßen zu haben glauben, was doch würcklich noch in unserm
Kopf sizt. Die Traüme beweisen dieses.

/ ≥ Von den Graden des Gedächtnißes

/Davon werden wunderliche Dinge erzählt, man darf nicht ausführ-
liche Exempel suchen. Man stelle sich nur einen Polihistor vor, der
hat eine ganze Bibliothec im Kopf, er würde sich selbst über den
Vorrath wundern, wenn er solchen auf einmal gewahr werden
sollte, so aber, wenn er eine Sache vor hat, so denckt er an die andern
nicht. Maliabeki, war Bibliothekar des GroßHerzogs zu Florens, am Ende
des vorigen und am Anfang dieses Seculi. Er war eines Bauers
Sohn; suchte immer vor seine paar eroberte Schillinge Bücher zu bekommen,
und blätterte die von Morgens bis Abends «s»bey seiner Heerde durch.

/ Ein

|P_75

/Ein mahl frug ihn ein Gartenbündler, der Saamen verkaufte, ob er
auch lesen könne, da er sich den ganzen Tag mit seinen Büchern beschäftig-
te? Er sagte Nein! auf die Frage, ob er mit ihm nach der Stad kommen
wollte, antwortete er sehr vergnügt ja «?»! In der Hoffnung, da mehr
Bücher zu finden. Sein neuer Herr wurde aber bald mit ihm
sehr unzufrieden, weil er den ganzen Tag in den Büchern lag,
und nichts von seinen Waaren den Leüten anboth. Er wollte ihn
also nicht länger behalten. Ein nahe bey wohnender Buchhändler nahm
ihn bey sich, um ihn da in den Büchern zu vergraben, er lernte sehr
geschwind lesen, und behielte alles was er laß sehr genau, bis auf
einzelne Wörter. Sein Herr wollte ihm einmahl auf die Pro¿e
setzen, und verabredete mit Jemanden, daß er etwas zum Druck
geben möchte. Diese Piece legte ihm der Buchhändler mit Fleiß vor,
Maliabecki laß gleich alles durch, sein Herr stellte sich drauf, als wenn
diese Piece verlohren gegangen wäre, und schien darüber in
der grösten Verlegenheit zu seyn. Er frug den Maliabecki ob er sich
nicht in etwas auf den Innhalt derselben zu erinnern wuste, und dieser
dictirte ihm alles von Wort zu Wort ohne die geringste Abänderung in
die Feder. Er lernte die Italienische Sprache bloß durchs Lesen der
Grammatick und des Lexicons. Er laß viele Bibliothecke durch und wur-
de Bibliothekar, und zuletzt das Ora«l»culum von ganz Europa in
Ansehung seiner Polyhystorie. Wer Nachricht über die abstracktesten
Materie verlangte, correspondirte mit ihm. Sonst war er schmutzig,
offt schrieb er seine Gedancken mit einer Stecknadel auf seine finger
dick mit Schmutz bedeckte Hosen.

/ Ein

|P_76

/Ein zweytes Beyspiel ist Robert Hill ein Schneider in Engeland vor wenig Jah-
ren. In der Schule hatte er etwas Hebräisch und griechisch gelernt, und
als Gesell continuirte er es. Einmal @ar@beitete er bey einem Prediger
auf dem Lande, er ließ sich mit demselben über eine Ubersetzung des
Buch Hiobs, die damals heraus gekommen und in einigen Stücken falsch
übersezt war, in ein Gespräch ein. Dabey hatte er ein arabisches Büchel-
chen bey sich und übersezte daß dem Prediger ganz fertig und richtig.
Der Prediger erstaunte darüber, und die Nachricht von diesem Schneider
verbreitete sich bald in ganz England. Er kam darauf nach London,
frug beym Buchhändler Kapon nach orientalischen Büchern; «ze» dieser
zeigt ihm zum Spaß ein ganzes arabisches Manuscript, der Schnei-
der machte aber keinen Spaß, sondern bezahlte ihm was er forderte
und nahms zu sich. Ein Criticus hatte es ein Tag vor her schon kaufen
wollen, weil es ihm aber zu theüer war, und weil er glaubte, es
würden sich keine Liebhaber dazu finden; so ließ er es noch anstehen,
um es hernach wohlfeiler zu bekommen. Gleich den Tag darauf kam
er wieder, fand aber zu seiner grösten Bestürzung das Manu-
script nicht mehr da. Er bath dem Buchhändler es ihm wo möglich zurück-
zu verschaffen. Lauft mir, schrie dieser gleich zum Schneider, ehe e«s»r es
zu Maaßen verschneidet. Der Schneider kam gleich mit seinem
Buch unterm Arm angetrapt. Der Criticus frug ihn, was er denn mit
dem Buch machen wollte, wurde aber nicht wenig bestürzt, als er den
Schneider so fertig lesen und übersetzen hörte, als er selbst nicht im
Stande war. Selbst der berühmte Doctor Bettlen mußte vor ihm

/ ein

|P_77

/einschencken. Er wurde Bibliothekar in Cambridge, lebte aber dabey
schlechter, als bey seiner Schneiderprofeßion.

/Mann lieset zuweilen im Traum Bücher, welche Imagination muß
da seyn. Schüler lernen w¿s sie behalten sollen, des abends, und legen
das Buch unterm Kopf, nun gehen sie schlafen, so stellt ihnen ihre Ima-
gination alles wieder vor. Es muß alles im Gehirn abgedrückt blei-
ben, und das Gedächtniß-Vermögen muß gewöhnt werden, das Licht
der Gedancken auf die Stellen zu werfen, die man erleüchten will.

/ ≥ Dichtungs_Vermögen

/Phantasie war das Vermögen nachzubilden, die auf uns geschehene Eindrücke.
Wir haben nun noch ein Vermögen schöpferisch aus uns selbst Bilder und
Vorstellungen zu erschaffen die in unserer Phantasie nicht aufbehalten,
und gar nicht in den Sinnen waren. Der Bibliothekar kann wohl Bücher
hervorbringen, auch wenn er seine Bibliotheck in Ordnung hat, fin-
den, welche«n» er will, aber daraus folgt noch nicht, daß er auch wel-
che schreiben kann. So auch die Phantasie, der Autor in unserer See-
le, der gleichsam aus sich selbst schreibt, ist in uns das Dichtungs_Vermögen.
Aber wie man an der Natur nichts ändern kann als die Form, so
müßen uns auch alle Materialien durch die Sinne gegeben werden.
Das Dichten gehet bloß auf die Form, die Phantasmata liegen
liegen zum Grunde, die kann man sich selbst nicht machen,
aber die Seele wenn man gleich keine Empfindungen in sich hervor-
bringen kan (denn sonst könnte man einem andern vorsagen wie
man es gemacht, und folglich einem andern Begriffe von Empfindun-
gen geben, daß ist aber nicht moglich) kann doch die Form der Empfin-
dung dichten. - Das Dichten ist entweder willkührlich oder unwillkührlich.

/ Wenn

|P_78

/Wenn man öffters Histörchen lieset, besonders Romanen, so kann man
es leicht dahin bringen, daß man unwillkührlich dichtet. Die Annehmlichkeit
der Romane beruhet darauf, daß sie ¿as Dichtungs_Vermögen ins Spiel
setzen. In sehr vielen Umständen des Lebens dichten wir Romane,
den leeren Raum zwischen Empfindungen füllen wir mit Dichten an.
Jeder Traum ist eine Erdichtung, alle Hoffnung ist es auch. Sachen die feh-
lerhafft sind, dichten wir offt zu den vollkommensten Sachen. Ein Liebhaber er-
fährt dieses am besten. Manche unangenehme Stelle im Leben kann man durch
Dichten angenehm machen. Jeder Mensch der allein ist, dichtet sich
allerhand mögliche Umstände, in die er hätte gerathen können. Unwillkühr-
liches Dichten ist eine große Qval. Die Angst des Hypochondristen und
seine ganze Kranckheit ist mehr ein Resultat des übeleingerichteten
Dichtungs_Vermögens, als schmerzhaffter Empfindungen. Melancholischer
Gemüther finden sich zu ausgebreiten Klagen und tiefen Dichtungen
aufgelegt. Das Dichten macht uns glücklich, indem es uns dieselbe an-
nehmlicher macht, und den Genuß derselben würzet; aber es macht
auch unglücklich, indem es uns zum menschlichen Leben und zum
Umgang unnütz macht. Das Unwillkührliche Dichten ist gewiß die großte
Qval, um sich davon zu befreyen muß man sich an der Erfahrung hal-
ten, und Gesellschafften lieben. So wie manches Laster, so auch die Hypo-
chondrie schlägt die Mittel aus, die allein sie heben könnte. Man kan dichten
nach der Phantasie und nach dem Verstand. Einige Menschen haben einen
recht instinctmäßigen Hang zum Lügen, sie ziehen das Erlogene dem
Würcklichen vor, und daß ohne alle Absicht aus einem ganz unbegreiflich

/ wun

|P_79

/wunderbaren Geschmack. Vermuthlich muß ihnen jenes darum
beßer gefallen, weil es ihr eigen Werck ist. Einige solcher
Lügner sind offt sehr liebens würdige Menschen, aber verachtet
zu werden verdienen sie d¿ch. Die Ursache ihres Lügens mag
vielleicht eine überflüßige Dichtungs_Krafft seyn. Der Charack-
ter eines Dichters bestehet darinn, daß er sich neue Bilder schafen
kann. Man muß Aus drücke von Gedancken, und eben so Dichter
von Schriftsteller oder Versemacher unterscheiden. Gellert war
kein würcklicher Dichter, aber wohl ein guter Schrifftsteller. Milton
hatte ein wahres dichterisches Genie, man lese nur sein verlohr-
nes Paradieß. Der Dichter muß analogisch mit der Natur dichten,
wenn er nicht einen express entgegengesetzten Zweck hat. Klopstok
stellt nicht die Sache, so vor, daß sie rührt, sondern er redet als ei-
ner der gerührt ist, und rührt uns durch Sympathie, so wie ein
weinender @u@ns auch weinend macht.

/Das Dichten ist eine reichhaltige Qvelle von Erfindungen, alle Erfin-
dungen sind Geburten von Dichtungs_Vermögen. Man kann nicht
eher ein ordentliches Leben führen, als bis man sich einen Vor-
stellung davon gemacht, oder gedichtet hat. selbst der Begriff von Gott
ist erdichtet. Man siehet also hieraus, daß Erdichtungen nicht immer leere
Bilder und Hirngespinste sind. Müßig dichtet einer, wenn er keine Kraft
anwendet, um sich glückliche Vorstellungen zu machen, leer dich-
tet jemand, wenn er dichtet, was der Erfahrung wiederspricht. Die Pia
desideria, da man immer wünscht, daß doch die Menschen so lebten
daß sie solche gesinnungen hätten, kann man wohl zur Noth Poeten und

/ Red

|P_80

/Rednern vergeben, aber Philosophen ist es nicht erlaubt.

/Romanschreiber machen uns chimerisch, sie geben uns gegen die
Welt eine eckele und verzärtelte Denckungsart. Ein Frauenzimmer,
die den Grandison gelesen, hat einen Eckel an der Welt, wenn sie
keinen Grandison darin findet. Ein noch größerer Schaden des
Roman lesens besteht darin, daß sie das Herz welck machen, und die
ganze Gemüthsart so umformen, daß man in der Welt, im gemei-
nen Leben und in menschlichen Gesellschafften unnutz oder gar eine
unerträgliche Last wird, denn sie machen den Menschen unzufrieden
mit der Welt. Wenn man eine Gemüthsart in sich erwecken will,
so muß es die harte, die muthige seyn, die uns gegen alle Vorfälle
des Lebens wafnet, und alles Glück von uns selbst erwarten lernen.
Unglücklich ist der Mann, deßen Frau den Grandison zu offt ließt, die ver-
gißt dabey alle ihre Wirtschafft, und liebt den betrübtesten Wittwenstand,
weil sie ihn nicht haben kann.

/ ≥ Von den Ideen

/Alle Ideen sind gebildet. Die Idee vom Weisen, von einem unverdorb-
nen Natur-Menschen, vom Himmel pp sind nicht aus der Erfahrung ge-
schöpft, sondern durch die Neigung eine Sache complet und Vollkommen zu vollen-
den, erdichtet. So macht man sich ein maximum der Freündschafft in der
Idee, sie wird aber nicht bestehen, denn sie ist nur gedichtet nach Regeln der
Vernunft. Wir können Dichten entweder nach Regeln der Vernunft (intellec-
tualiter) oder nach Regeln der Sinnlichkeit (sensualiter) Eine Vorstellung
die intellectualiter erdichtet ist, heißt Idee und man macht sie sich, indem
man sich das maximum von einem Begriffe denckt, sie ist auf verschiedene
Art gedichtet. So war der Stoische Weise verschieden von dem Epicurischen. Beyde

/ wa

|P_81

/waren die Idee des vollkommenen Menschen. Ideal ist eine Idee in
concreto - Plato de republica.

/ ≥ Vom Ideal

/Wir können dreyerley Ideale haben. - 

/1.) Aesthetisches, 2.) Intellectuales, 3.) practisches. Was das Aesthetische
betrifft, so ist anzumercken, daß es nicht möglich sey von Empfindungen
sich was zu erdichten, mithin sich auch ein Ideal von Empfindungen
zu machen. Unsere Ideale gehen bloß auf die Form, weil unser Dichten
bloß auf die Form gehet. Wenn jemand von einer andern Welt
redet, so sind das nur Worte.

/Ein Mahler ist entweder ein bloßer Nachahmer, oder Original, wel-
cher das Original mahlt. Nach dem Urtheil des jezt lebenden Mengs hat Raphael
das Ideal gemahlt, indem er himmlische Gestalten über menschliche mahlte.
Correggio war ein Mahler der Huldseeligkeit, in dem er ein sanftes
Spiel von Empfindungen in uns erweckte, was die Erfahrung uns
nicht giebt. Titian bekomt den untern Rang, denn er mahlte die Natur.
In unsern Erdichtungen können wir doch nicht alle erdichten, etwas
wahres liegt immer zum Grunde. Unsere Freyheit zu dichten ist an die
Bedingung der Möglichkeit gebunden. Wie weit gehet aber unsere
Freyheit zu dichten? Sie muß auch an die Analogie der Charackte-
re, die man sich in den Tieren denckt, gebunden seyn. Z.B. Man
könnte nicht sagen daß das Schaaf sich über den Wolf macht, und ihn zerreißt;
es scheint auch nicht so wiedernatürlich zu seyn, daß ein Tier Verstand
habe. Mann weiß nicht, worinn man die Unmöglichkeit suchen soll. Sol-
ten etwa beym Pferde die langen Ohren Schuld daran seyn? Ein

/ fal

|P_82

/falsirter Kopf hat ja bisweilen auch sehr wenig Verstand. Die Romanschrei-
ber sollten vorzüglich Characktere lebhafft schildern. Lastern in ihrer
Thorheit zeigen, und solche Characktere nehmen, die in der Welt am ge-
wohnlichsten sind; nicht minder moralische Empfindungen einzuflößen uns
bemüht seyn. Fielding nähert sich am meisten diesen Pflichten des Ro-
manschreibers.

/ ≥ Traümerey oder, der Zustand des unwillkührlichen Dichtens

/Das unwillkührliche Dichten ist ein traümerischer Zustand, den
wir im Wachen eben so gut als im Schlaf haben, nur mit dem Unter-
schied, daß wir im Wachen alle Eindrücke gleich fühlen, und dieser
Zustand also offt unterbrochen wird. So wie der Phosphorus oder
Faulsaltz ins Dunckle gebracht glänzt, so sind auch die Einbildungen
im Schlaf, so klar und deütlich wie die sinnlichen Empfindungen, und
der Mensch, kann sie nicht anders von dem wachnen Zustande un-
terscheiden, als durch die Stärcke der sinnlichen Eindrücke. Man legt
auch einem wachenden Menschen Traümerey bey, wenn er beständig
in Gedancken gehet, allenthalben anstößt, keinem aus dem Wege
gehet, mit sich selbst redet und den Hirngespinsten nachhängt. Dieser
Zustand wird durch das Romanlesen vermehrt, das wohl eines
Theils zur Erqvickung dienen kan, sich bey seinen Sorgen in die Welt
der Einbildungen zu versetzen, anderntheils aber auch großen
Schaden thut, z.B. Wenn der Mensch, sihet wie wild es in der Welt
zugehet, wie die Europäer die boßhafftesten Mittel ergreifen die
Indianer zu drücken, so wünsch er eine andere Welt, und wird

/ ein

|P_83

/ein Menschenfeind. Der Unthätigkeit und anderer schädlichen
Folgen für sein Glück nicht zu gedencken

/ ≥ Vom Traümen

/Der wahre Traum sezt einen Schlaf voraus, der Traum gränzt
an den Schlaf, und an das Wachen. Wenn alle Gemeinschafft mit den
Sinnen aufgehoben ist; so hört auch der Traum auf. Ein Mensch traumt,
wenn er leise schläft und am meisten des Morgens. Hat man
eine starcke Abendmahlzeit gethan, wodurch man am Schlaf gehindert
wird; so traümt man die ganze Nacht. Die Bilder im Schlaf han-
gen so zu sammen, wie sie im Wachen assoniret waren. Traum
gehet nach Regeln der Einbildung vor sich, er ist eine Kette von
Einbildungen, da eine die andere herbey ziehet, wie in Gesell-
schafftlichen Gesprächen. Der Anfang geschiehet von den sinnlichen Empfin-
dungen, und die Continuation dieser Reihe von Bilder folgt nach. Die
Einbildungen im Wachen und Schlafen, sind durch die Stärcke un-
terschieden. Im schlummerndem Zustande fängt man an zu traümen,
denn da sind die Empfindungen stumpf. Wenn uns die Einbildun-
gen im Schlummern eben so starck sind wie die im Wachen,
so vermengen wir sie mit einander und traümen Z.B. im Schlummer
kommt mir das Geschrey eines Hahns so vor, wie die Stimme eines weit
von mir entfernten Menschen, und so gehet die Reihe fort. Man
kann dahero auch einem Menschen Traüme verursachen Z.B. so sahe
Jemand einen andern mit dem Kopf an der Wand und mit ofnem
Munde schlafen, er nahm einen Schwamm und tröfelte dem Schlafen-
den Wasser in den Mund, dieser hob sich gleich etwas, hernach aber immer

/ mehr

|P_84

/mehr, und zulezt bewegte er die Glieder so, als wen er schwimmen woll-
te, bis er zulezt aufwachte. Will man nicht traümen, so muß man suchen
fest zu schlafen, man muß nicht ehe zu Bette gehen als bis man schläf-
rig ist. Kurzer und fester Schlaf erhällt und stärckt am besten, schlechter
Schlaf und Traum ermüden. Mann muß daher alles meiden,
was dem Schlaf verhindert. Das Schlummern ist gar nicht gut, es ist
nichts weniger als Erhohlung. Im Traume laßen die sinnliche Empfin-
dungen nach, und der Mensch hat einen eingebildeten Cörper, wenn
er glaubt zu laufen, so laüft er unwillkührlich. pp

/ ≥ Vom Schlafwanderer

/Es giebt einen Zustand des Menschen, der aber zu seiner Kranck-
heit gehört; da der Mensch seinen Cörper einstimmig mit den ein-
gebildeten Chimairen bewegt. Der gelindeste Grad dieser Kranckheit ist,
das Sprechen im Schlaf; stärckerer Grad ist das eigentliche Nachtwan-
dern, welches bey einigen so weit gegangen, daß sie sich an den
Tisch gesezt, und Abhandlungen verfertiget haben, die an sich sehr gut
obgleich die Buchstaben unregelmäßig waren. Man nannte die-
se Kranckheit die Mondsucht, weil man glaubte, daß sie sich nach dem
Monde richte. Daß beste Mittel davor ist: daß man eine naße Decke
vor das Bette solcher Patienten legt; wenn sie solche betreten; so gehen sie so
gleich ins Bette zurück. Das vornehmste und bewundernswürdigste ist die Rich-
tigkeit der Bewegung der Gliedmaßen, da solche Menschen doch nur stumpfe
Empfindungen haben, und demohngeachtet auf Treppen, Dächern pp
ganz accurat wie ein Wachender steigen können. Es ist nicht Aber-
glauben, daß sie beym Rufen ihres Namens erwachen, denn nichts

/ frap

|P_85

/frappirt einem so sehr als sein eigener Name. In den Memoires
de l'Accademie de Bourgegne wird folgende Geschichte von einem
Nachtwanderer erzählt: Ein italienischer Graf hatte einen Hofmeister,
der im Frühjahr Abends um 9 Uhr schläfrig und schwach wurde, und
zulezt im Sitzen einschlief. Hierauf fing er an im Schlaf sein
Gesicht zu streicheln, und denn ging sein wandern an. Gemeiniglich
bildete er sich ein, daß Gäste gekommen wären, und weil es sei-
ne Pflicht war sie zu empfangen, so sezte er die Tische zurecht,
wenn gleich alles Licht ausgelöscht war; er nahm ein Licht in die
Hand, gieng seinen Gästen entgegen und machte Complimente,
sezte alles zurecht, bitt die Gäste zum Eßen, und wenn man ihm einen
falschen Tisch hingesezt hatte, so schnupfte er und schallt auf die Bediente.
Er ging an das Schaf, und wenn man ihm Papiere in das Schlüßelloch
steckte, so klopfte er und arbeitete so lange, bis es heraus war.
Schlug man ihm auf die Füße, so schallt er auf den Hund, er sollte
ihn nicht beißen. Der Köchin hatte er etwas Kohl zu verwahren
gegeben, den forderte er, und um zu versuchen, ob er auch
Geschmack habe, gab man ihm Hundebrey, den aß er ganz schmackhafft
au«s»f. Er hatte in diesem Zustand kein andern Sinn, als das Gefühl.
Mit den Bedienten beredete er sich eins mahls in diesem Zustan-
de ins Weinhaus zu gehen, indem die Herrschafften wie er sagte,
bey der Tafel saßen. Sie nahmen ihm das Geld aus der Tasch, und
einer ging mit ihm ins Weinhaus, man gab ihm Waßer zu

/ trin- 

|P_86

/trincken, und er trancks vor Wein. Hernach suchte er Geld
und wollte bezahlen, und als er keines fand, schmälte er
auf seine Kameraden. Der Graf bath viele Aerzte und Gelehr-
te zu sich, die dieses beobachteten. Man konnte ihm am ersten zu
sich selbst «g»bringen, wenn man ihm ein naßes Tuch auf das
Gesicht legte. Es giebt noch viel Arten von Nachtwanderer. Die
Ursache davon liegt in unserm Gehirn, die Organe der will-
kührlichen Bewegung haben noch Nervensaft, und die Organe der
Empfindung haben keine mehr.

/ ≥ Von der Erstarrung

/Dieser Zustand des Menschen ist bey uns selten, doch hatt man
einige Fälle davon. Sauvage erzählt von einem Weibsbilde,
die das Unglück hatte, daß sie offt ohne alle Empfindung, ohne alles
Gefühl stehen blieb, aber nach ihrer Einbildung gegangen zu seyn
glaubte. Sie hatte kein Gefühl, denn sie fiel über alles, man machte
mit ihr grausame und unanständige Versuche, man tröpfel-
te ihr heißer Lack auf die Hände, bließ ihr Nasenwurz in die Na-
se, schoß ihr eine Pistol vor dem Ohr ab, und sie blieb ohne alle Empfin-
dung. Sie sprach und offt viel klüger als im Wachen, sie wiederhohlte
Predigten, und zeigte in allen Stücken ein überaus gutes Gedächtniß.
Bey ihr war alle Hülfe und aller Gebrauch umsonst.

/ ≥ Vom Phantast und vom gestörten Menschen, oder vom Krancken Zustand der Seele

/Die Psychologie und der gesunde Zustand der Seele wird offt tractirt;

/ aber

|P_87

/aber nicht der Krancken. Phantasten heißen diejenigen, die ihren Hirn
Gespinstern nachhängen, und sie für würckliche Dinge halten.

/Phantasterey ist die Realisierung der Phantasien. Phantasten glauben
daß zu empfinden, was sie sich einbilden, die Verliebten sind
gemeiniglich Phantasten. Dieser Instinckt ist aber mehr idealisch und
nicht von so grober Natur. Beym idealischen Kopf, arten alle Affecte
in Phantasien aus, jeder Affect hat etwas von der Phantasterey an
sich. Alle Neüigkeit der Sache trägt hiezu bey, man glaubt bey der Sache
mehr zu empfinden, als würcklich da ist. Ein Ideal bedeütet das maxi-
mum eines Dinges, in so ferne ich es mir ohne alle Sinne aus mir
selbst gedenke. So macht man sich ein Ideal von der Tugend und
vom Übel. Himmel und Hölle sind Ideale der grösten Glückseelichkeit,
und der grösten Marter. So stellt der, der sich das Ideal der Freund-
schafft dencken will, sich die gröste Freündschafft vor. Gleich wohl sagt
Plato: Meine lieben Freünde, es giebt gar keine Freünde. Junge
Leüte sind gemeiniglich aus Unwißenheit herzlich gute Freünde.
Mit zunehmendem Alter lernt man aber den Menschen und sei-
nen Eigennutz beßer kennen, und die Freündschafft nimmt ab. Im
vollkommensten Grad ist sie in concreto unmöglich. Nimmt mann
das Ideal an, nicht als den Gegenstand des Verlangens den wir
suchen (principium practicum) sondern als ein Mittel der
Beurtheilung (principium dijudicandi); so ist das Ideal gut und

/ nütz

|P_88

/nützlich. Sucht man aber einen solchen Freünd, wie ihn das Ideal
beschreibt; so wird man ein Phantast; daher kommen die Menschen-
feinde und Misanthropen, welche alle große Tugendfreünde sind.

/Affecten machen, daß aus einer vernünftigen Idee eine Phantaste-
rey wird. Man lacht über den Rousseau, daß er sagt: Er wolle den
Menschen ein Beyspiel der Ausübung seiner Ideen geben, indem
er die Einfallt der Natur einführen will; es ist aber gewiß, daß er
wenig Nachahmer haben wird, und seine Lehren nicht den er-
wünschten Nutzen haben werden. Er ist ein Tugendfreünd und
kein Phantast. Die Ideen des Rousseau und Plato sind richtig und kei-
ne Chimairen, aber die Würcklichkeit derselben ist unmöglich.

/ ≥ Enthusiasmus. ≤

/Das nennet man Enthusiasterey oder Phantasterey, in so ferne
es dem Ideal der Vollkommenheit entsprungen ist. Ein Enthusiast
ist also ein Phantast, obgleich man das Wort nicht so leicht braucht,
denn das leztere ist etwas spöttisch.

/Enthusiast ist ein edler Phantast, so giebt es Enthusiasten der Freünd-
schafft, der Liebe, des patriotischen Eifers. Die Affecten taugen zu
nichts, sie müßen gemildert werden. Die Vorsicht gab uns Affec-
ten zu Triebfedern, aber nur für die Narren, denn sie wußte
wohl, daß der meiste Theil der Menschen Narren seyn würden.
Einen Enthusiasten betrachte man immer mit Nachsicht %und bedaure ihn.

/ Phae

|P_89

/Phaedrus in seiner Fabel von der Freündschafft des Menschen
und des Bärs sezt hinzu: ¿ache mit keinem Tölpel Freünd-
schafft, auch mit keinem hitzigen Menschen, wenn er auch
um unseretwillen hitzig wird, er kann uns doch dadurch gro-
ßen Schaden thun. Der Enthusiasmus in der Religion ist auch
gefährlich; ein solcher Mensch richtet viel Übels an, um nun sei-
nen Ernst zu beweisen. Die Menschen werden leicht vom
Enthusiasmus angesteckt, und man kann sich daran so berau-
schen, als wenn man im Kruge gewesen wäre. Die
corperliche Berauschung schadet niemalen so viel, als die geisti-
ge. Durch unsern Cörper haben wir Anschauungen, die Seele
aber reflectirt nur. Wer da glaubt mit der Seele etwas
anzuschauen, der ist ein Schwärmer, er ist ein Phantast der geistigen
Anschauungen. Der Enthusiast ist kein Schwarmer, er ist nur zu
hitzig und zu streng in seinen Grundsatzen. Die Zeiten der Ritter
waren enthusiastische Zeiten der Liebe und der Tapferkeit, da
der Ritter eine Schöne als eine Schutzgöttin nöthig hatte, ein
solcher Ritter log niemals, das war edel, und man weiß
nicht, ob man diese Zeiten nicht der unsrigen vorziehen soll,
da sich unsere Ritter anjetzo keine Schande machen, zu ver

/ sprech

|P_90

/sprechen und nicht Wort zu halten, ja offt nicht anders bezahlen
können. Der Enthusiasmus überwindet viel, und bringt
große Dinge hervor; die kaltblütige Vernunfft muß ihn
beßern und polieren: der Phantast wenn er fortfährt,
schei«d»tert allemahl. Der Phanaticus oder Schwärmer kommt dem
gestartem Kopf sehr nahe, und noch näher als der Entusi-
ast. Der Phantast glaubt entweder Geister um sich zu sehen, oder
sie innerlich anzuschauen. Eine gänzliche Verkehrung des Gehirns und
der Erkenntniß heißt -- 

/ ≥ Störung

/Es giebt gestörte in Ansehung der Sinne: dieses sind blödsinnige
und Wahnsinnige; die ersten bemercken zu wenig, die andern
zu viel. Die Blödsinnige sind zu stumpf in Ansehung des Gebrauchs
der Sinne der Aufmercksamkeit und der anzustellenden Reflexion.
Die Sinne können scharf genug seyn, es kommt aber viel auf den
Verstand an. Die Blödsinnige sind gewöhnlich harthörig, doch nicht
umgekehrt. Der Wahnsinnige gehet weiter als die Sinne, diesen
kommt der Visionair sehr nahe, der da glaubt etwas zu sehen, und zu
hören, wo andere nichts bemercken. Solche Schwärmer sind wahn-
sinnig. Man heißet Einbildung; wahnsinnig ist also der, der die Sachen
der Einbildung als würcklich Substituiret. Der Blödsinn bedeütet die
Schwäche des Verstandes, ein solcher Mensch kann sich keinen Begriff

/ durch

|P_91

/durch Reflexionen machen, ohne welche wir nichts erckennen.
Der Blödsinnige hat einen Mang¿l des Verstandes, der Wahn-
sinnige hat weder einen Mangel, noch Fehler des Verstandes;
er kann ein kluger Mann seyn, er hat nur das Unglück die
Einbildungen für wahr zu halten, die am hitzigen Fieber la-
boriren sind auf eine kurze Zeit Wahnsinnig. Hypochondrische sind
gleichfals wahnsinnig, ihre Einbildungen versetzen sie bald in die,
bald in eine andere Kranckheit. Wie selten darf ihnen der Arzt glau-
ben. Die geringsten Beschwerden des Herzens jagen ihnen schon
den Gedancken ein, den Polypum im Herzen zu haben. Der Hy-
pochondrist ist auch ein Phantast der Praevision, Urtheile und Besorg-
niße, die keiner siehet - Man siehet, daß er dem Wahnsinnigen sehr
nahe ist, und wenn er nicht seine Vernunft in andern Fallen zei-
gen machte, so würde man ihn dafür halten. Der Hypochondrist
ist zu bedauren, besonders, weil man gewöhnlich kein Mittleiden
mit ihm hat, man glaubt er seye ein Grillenfänger.

/ ≥ Wahnwitz und Dummheit

/Verschiedene Arten, davon sind: Witzlinge die immer Witzig thun
wollen. Witziäger die den Witz immer haschen wollen. Ueber oder
Aberwitzige, die gar zu Witzig seyn wollen, dann kommen die Wahn-
witzige. Wahnwitz und Wahnsinn sind unterschieden; Bey Wahn

/ witzi

|P_92

/witzige ist der Gebrauch der Vernunft schwach; beym Wahnsinn ist der
Gebrauch der Sinne schwach. Der Wahnsinn kann einen guten Verstand
haben, bey Wahnwitzigen sind die Sinne gut, aber nicht der Verstand
Der Wahnwitz ist eine größere Wunde, und nähert sich denen-
jenigen die die Grenzen des Gebrauchs der Vernunft überschrei-
ten. Boehms Sachen sind voller Wahnwitz, man hatt sie auch im
Englischen übersezt, und ein Engländer ließ sich verleiten vielen
Verstand darin zu finden, und zu glauben es verlohne sich wohl
der Mühe die heiligen Geheimniße dieses Buchs zu studiren. Die
Albernheit ist eine Annäherung zum Wahnwitz. Albern ist der, «s»der
sein Spiel des Witzes den Umständen in welchen er sich be-
findet nicht angemeßen macht. Wenn ein alter Mann tan-
delt und auf eine kindische Art spaßt, so ist er albern; aber vor Kin-
der ist tändeln deßwegen keine Albernheit. Die Albernheit gehet
nichts aufs Object, sondern auf Personen und Umständen. Die
Albernheit ist eine Munterkeit, alberne Menschen sind spaßhafft
und ein Object des Auslachens.

/Störung und Verrückung sind nicht sonderlich unterschieden,
nur daß die Verrückung im höhern Grade und unheilbar ist.
Albernheit kann der Tollheit contradistinguiert werden. Der Ge-
störte ist entweder albern oder toll. Der lezte ist wüthend, wild
aufgebracht, zornig, überhaupt im Affect. Beym Albern hingegen

/ ist

|P_93

/ist es nur ein Spiel @s\f@einer Einbildungs-Krafft, durch viele
und mancherley Schattierungen kommen wir endlich auf die
Leüte, die wir täglich um u¿s haben und die wir in unserm
Busen finden. Jeder Mensch hat seine Dosis von Thorheit, und der
hatte Recht, der da sagte: Die Menschen sind mehr für Thoren, als für
Bösewichter zu halten. Die Welt scheint ein großes Narrenhospital zu
seyn. Fontenelle sagt: Die ganze Welt ist voll Thoren, der wird aber
für klug gehalten, deßen Thorheit von der allgemeinsten Classe ist.
Wer aber nach seinen eigenen Thorheiten handelt, den hällt man
für Thörigt. Der Englische Zuschauer macht den Unterschied zwischen
einen vernünftigen Man und einen Thoren: daß der Thor alles
laut sagt, was er denckt, der Kluge läßt aber vorher seine Ge-
dancken die Musterung paßieren, sagt nur daß, was für seinen Zwek
ist und bringts am gehorigen Orte an. Sonsten ist in ihrer Den-
ckungsart kein wesentlicher Unterscheid.

/ ≥ Unterscheid der Thorheit und Narrheit

/Thorheit ist die Ungerechtigkeit, die weder schändlich noch lasterhafft ist.
Die Narrheit ist die Ungereimtheit, die beydes schändlich und lasterhafft
ist. Ein Narr muß also durch seine Narrheit Schaden thun, und
den guten Sitten wiedersprechen. So nennt man einen Hoch-
müthig, das Wort Narrheit paßt auf keinen Menschen besser,
als auf diesen ungereimten Stolz, denn ein jeder sucht einen solchen
Menschen, wenn er auch nicht Lust dazu hat, zu stürzen und zu demüthigen,

/ her

|P_94

/herunterzusetzen und zu krä¿ken. Die Narrheit ist die seltsamste
Art von Ungereimtheit, indem, indem sie sich um ihren eigenen
Vortheil bringt, und ihre eigene Zwecke verfehlt. So ist z.B. ein
karger Geist, ein solcher Mensch handelt gerade wieder seinen eige-
nen Zweck Er hat den Genuß seiner Güter zur Absicht und genüßt
sie doch nicht. Lebt der Narr nicht arm um reich zu sterben? Der Hoch-
muth ist auch eine gewiße Art Narrheit. Man muß ein gewißes
Mittelmaaß der Sitten halten, daß ist die Gleichheit in Ansehung des
Grades der Hochachtung anderer, gehe ich darüber, so ists noch nicht Narr-
heit, es kann aber Thorheit seyn, wenn einer aus Eitelkeit sich einzuschmei-
cheln sucht. Durch Kleiderpracht, gute Speisen pp ob man gleich kaum
vor sich zu leben hat, distinguirt zu werden, ist Thorheit: Eben so, wenn man
aus Eitelkeit um die Ehre buhlt, gerne das Wort führen, oben angehen,
und der erste am Tisch seyn will. Was hilft einem das? Aber es
schadet doch auch keinem. Narrheit hingegen ist, gerade die wiedrig-
sten Mittel zu wählen, um zu seinem Zwecke zu gelangen. So
schneiden die Leüte, welche aus einem niedrigen Stande in einen
höhern kommen, wunderbare und gravitetische Mienen. - sie wißen
nicht wie sie die Glieder halten, und die Füße stellen sollen. Man
suche solche Leüte bey jeder Gelegenheit auszulachen. Wenn ein
solcher Gravitätischer aus der Straße einhergehet, sich umsiehet,
ob die Leüte in den Häusern nicht an die Fenster laufen, ihn

/ zu

|P_95

/ihn zu sehen; so sucht mancher ihn einen Poßen zu spielen. Findet
sich nur ein kleiner Contrast an ihm, so lacht ein jeder ihn aus vollem
Halse aus. Man könnte fragen, ob nicht bey den mehresten Lastern bloß
die Narrheit zum Grunde liege, daß also die Menschen nicht so boßhafft
sind, wie man denckt. Ungereimtheit in die sich die Menschen ver
flechten kann schädlich und tadelhafft seyn, aber sie haben nur indi
recte böse gethan. So verlachte Democritus, die zu seiner Zeit so sehr
ausgepuzte Menschen, ihn ihnen sizt alles voll Thorheit und Unge-
reimtheit. Die Menschen verheelen ihre Thorheiten mit glänzenden
Blendwercken. Der Lord der Vormittage in Parlement vor das Wohl
des ganzen Staats mit der ernsthafftesten Miene arbeitet,
gehet bald darauf nach Hause und divertirt sich mit Ballspielen
und Billiard. - Der allgemeine Zweck vieler Arbeiten ist das
künftige Vergnügen desto beßer und lebhaffter zu empfinden,
der angewandte Fleiß hat offt das Faulenzen und die Ruhe zur
Absicht. Nicht das Edle, sondern die künftige Gemächlichkeit treibt die
Menschen zu Handlungen an, daher entspringt offt ein trauriges
Weinen, wenn einem etwas von seiner Gemächlichkeit entrißen
wird. In Spanien betteln sich die Leüte Schmincke, wenn sie kei-
ne haben. So lächerlich uns auch dieses vorkommt, so halten sie es sich doch
für keine Schande, denn es ist einmahl Mode bey ihnen. Die Caraiben
laßen sich von ihren Weibern bis 2 Stunden lang mit Kohlenstaub und
andern Farben schmincken, ist er nun noch nicht völlig ausgemahlt,

/ und

|P_96

/und es frägt Jemand nach ihm, so zeigt er sich nicht, sondern seine Frau
sagt, der Herr ist noch nicht angezogen, ob sie gleich ganz nackend ge-
hen, Wir wundern uns offt, daß Leüte überflüßige Dinge zur
Nothwendigkeit machen, aber wir machens nicht beßer. Wir könn-
ten uns das Leben sehr angenehm machen, wenn die Eitelkeiten,
Ambition, Complimenten, Caeremonien und aller Zwang wegfallen
möchte. Was macht die Kleiderpracht allein für Ungelegenheit?
Eitelkeit ist eine größere Thorheit, als die Begierde etwas zu genie-
ßen, denn das lezte ist doch etwas würckliches. Wie Recht hatte Democrit
wenn er die Menschen, nicht von der ernsthaften, sondern von der
thörigten Seite mit Nachsicht betrachtet. Wie vortheilhafft wäre
es für einen jeden, wenn in einer Stadt sich keiner vor dem
andern scheüen dürfte; wenn ein jeder im Winter in seinen
Schlafpelz und im Sommer in LeinwandsKuttel gehen dörfte. Die
Menschen handeln überhaupt selten nach Grundsätzen, geschiehts
zu weilen, so ists ihr einziger Grad die Ehrlichkeit oder eine gewiße
Redlichkeit, welche aber nicht in Handlungen, sondern nur ihre
Form betrifft Der Mensch handelt so, daß er dem andern nicht schadet.
In der Ehrlichkeit es hoch bringen, ist nichts gesagt, es heißt nur,
es genau treffen, denn wenn man um etwas von der Ehrlichkeit ab-
gelaßen, und nur einmal gelogen hat, so ist man ein Schelm,
und kein ehrlicher Kerl, so solten doch aber alle Menschen seyn.

/ Groß

|P_97

/Groß und Mensch ist ein seltsamer Wiederspruch. Der Ernst ist nicht die rech-
te Eigenschafft des Menschen, er ist da nicht in seiner wahren Natur und
in seinem Element, sondern wenn er spaßt und scherzt. Der Ernst und das
gravitaetische scheint dem Menschen nicht eigen zu seyn. Ein witziger Kopf hei-
tert eine ganze Gesellschaft auf, und ist ihr willkommen. Je mehr die Men-
schen die Welt kennen lernen; desto mehr spaßen sie. Junge Leüte sind
nach den ersten Jahren ernsthafft. Die Lust zu Lachen wächst mit den Jah-
ren und alte Leüte möchten wohl den ganzen Tag spaßen und lachen.
In der Jugend sieht der Mensch noch nicht das Blendwerck der Meri-
ten ein, es wäre auch nicht gut, wenn die Jugend solches wüßte@,@ sonst wür-
de sie nicht Triebfedern genug haben, ihre Kräffte zu cultiviren,
darum bietet sich ihnen alles ernsthafft und wichtig an, Mit zu nehmenden
Jahren siehet man alles mit Lachen in seiner eigenen und wahren
Gestallt, das ganze Universum des menschlichen Geschlechts betrachtet, so ist der Ernst ge-
zwungen und eine Verstellung. Spaßen, Tändeln, Lachen ist uns natürlich,
ist unsere wahren Neigung und Leben. - Das ist die Pflicht eines Mora-
listen nicht wieder die menschliche Natur zu handeln, sondern sich der
Neigung der Menschen zu accomodiren und die Tugend ihnen Liebens-
würdig vorzutragen. Ihr wahres Bestreben soll seyn, die Tugend nicht
als eine schwere Pflicht vorzutragen, sondern sie sollen suchen eine Lust zur
Ausübung der Tugenden hervorzubringen, nicht deßwegen weil ein Richter
da ist, sondern weil sie das Leben angenehm macht, und an sich was voll-
kommenes ist; (sie ist auch in der That nicht schwer vor den, der durch Albernheit
noch nicht verdorben ist) so müßte die ganze Moral vorgetragen werden.
Epicur scheint sie gelehrt zu haben, obgleich er in der Bestimmung des wahren Werths

/ der

|P_98

/der Tugend gefehlt hat«,». Nicht mit Detestationen und Verwünschungen muß
man die Laster begleiten, sondern sie lächerlich zu machen suchen. Als
schändlich wurden die Laster verabscheu«d»ungswürdig seyn, als Unge-
reimt sind sie aber lacherlich. Die mehresten Menschen behen Laster, nicht
schadenfroh zu seyn, sondern um sich das Leben angenehm zu machen,
keiner würde den andern bestehlen, wenn er sich nicht die Vor-
stellung machte, durch dieses Mittel auf eine leichte Art zum ver-
gnügten Leben zu gelangen. Der Mensch wird durch die Verachtung mehr
gerührt, als durch Verabscheüung oder Haß. Verachtung ist für die Menschen
am allerunerträglichsten. Wenn ein Mensch gehaßet wird, so kann
er es doch noch ver@tra@gen, weil sich doch noch andere seinet wegen incommo-
diren und sich aergern, wird er aber verachtet; so incommodirt sich kein Mensch
seinetwegen, er ist ihn ganz gleichgültig, und er frägt gar nichts nach ihm.

/Die Ursache, warum die Verachtung einem mehr nachgehet, als Haß und
Abscheü, ist diese: Man verachtet das, was an sich gar keinen Werth
hat, man haßt hingegen daß, was comparative zwar nicht gut ist, in dem
noch aber viel vollkommnes an sich haben kann. Man haßet das, was ei-
nem Schaden thut, allein man verachtet es nicht, einen tapfern Feind
kann man haßen aber nicht verachten. Die Methode also die Laster ver-
achtungswürdig zu machen ist die beste. - Die laconische Schreibart eines
Schrifftstellers in Ansehung der Laster, hat viele Vortheile, sie bringt nicht nur ei-
ne lasterhaffte Persohn in Verachtung, sondern sie ist auch angenehm zu lesen. Die
Menschen lesen gerne @lach@erliche Vorstellungen der Laster. Das verabscheuen
der Laster mit den Detestationen, bringt zugleich die Verachtung der ganzen Menschheit@,@
und viele Menschenfeinde hervor. %Christus sagt daher weislich: richtet nicht pp

/ Man

|P_99

/Man muß die Sachen in ihrer Natur sehen, viele fromme Leüte werden
Menschenf«¿»einde, weil sie dieser Regel nicht folgen, und andere thun
sich auf die Stärcke ihrer Tugend nicht wenig zu gut, allein sie haben nie den
Vorfall gehabt, sie zu probiren. Manches Frauenzimmer kan sich mit ihrer
Keüschheit und übrigen Tugenden bis an ihr Grab sehr viel einbilden,
weil sie nie das Glück gehabt, darum angesprochen zu werden. - Die lezten
Absichten der Menschen sind mehr Kindisch und albern, der Mensch
siehts selbst offt ein, und er ist nie so ernsthafft in den Zwecken, als in
den Mitteln, die einzige Rechtschaffenheit ist was ordentliches und ernst-
hafftes in der Welt. Fieldings Schrifften sind von der launigten Schreib-
art. Man resolvire nur alle Ernsthafftigkeit, was für Thorheiten kommen
da nicht heraus. Alle Ceremonien mit reifer Uberlegung betrachtet, haben
allezeit was lächerliches und unanständiges für vernünftige Wesen,
und wie offt werden nur Thorheiten damit bedeckt. Wenn ein Lord
maior über die Straße gehet; so wird ihm das Scepter vorgetragen, ge-
wiß eine seltsame Ceremonie. Was hat man nicht für Formalitäten
einem eine Würde zu übertragen? Wozu ist es nutze, daß wenn
ein paar Persohnen sich verloben, solches in der Stad durch Paucken
Kar@o\e@ßen stehren und von den Canzeln muß ausgeposaunet wer-
den? Sie könnten dies ja ganz in der Stille unter sich abmachen,
und dennoch zeigen sich die Menschen bey solchen Fällen in der ehrbarsten
und ernsthaftesten Stellung. Man muß sich wundern, wie sie sich dabey
des Lachens enthalten können. Cicero sagt: ich wundere mich wie zwey
Auspices (Wahrsager aus dem Vogelgeschrey bey den Romern) wenn sie sich
auf der Straße begegnen, sich nicht ins Gesicht lachen. Man erzählt
von einer Nation, d¿ beständig lacht, man mag kommen wenn man

/ will

|P_100

/will; so findet man sie beständig lachen. Es ist ein armes Volck, dennoch
mit dem ihrigen zufrieden und in ihrer Art stolz. Die Ernsthafftig-
keit als ein Mittel des Spaßes ist nicht immer zu billigen, aber ein be-
ständiges Gelächter ist auch unerträglich, und macht die ganze Unter-
haltung fade. Ohne raison lachen macht nicht daß andere mitlachen, das
Lachen ist ansteckend und verbreitet sich sehr. Der Mensch lacht gerne, wenn er
nur irgend Ursache dazu hat, und alles ist ihm zu wieder, wenn er sympathi-
siren kann. Die Freüde verbreitet sich, wie ein unaufhaltbarer Strom,
durch aller Herzen. Ist jemand recht in seiner Seele vergnügt; so sym-
pathisirt ihm alles nach, alles empfindet wollust, und alles wird von Annehm-
lichkeit gerührt, fängt aber Jemand an zu weinen und zu heülen, so
laüft alles davon, bisweilen bleibt man auch wohl, wenn man aber
weiß, daß auf das Weinen bald Lachen folgen werde, wie beym Frau-
enzimmer gewöhnlich geschiehet. Der ernsthaffteste der von den wichtigsten Ge-
schäfften spricht, würde, wenn er Geld genug hätte, sich des Amts begeben, %und
sich in eine Gesellschafft wünschen, wo recht herzlich gelacht würde. Ein
munterer aufgeweckter Kopf ist einer Gesellschafft immer willkommen.
Das Menschengeschlecht ist mehr zur Fröhlichkeit, Lustigkeit und guter Laune
gebaut, als Runzeln zu ziehen. An einen Abend wo man recht herz-
lich gelacht, denckt man weit länger, als an dem wo kostbar gespeiset wor-
den. Man siehts an solchen Persohnen, die keine ernsthaffte Geschäffte treiben
das Fröhlichkeit das rechte Element des Menschen ist, denn die, welche sich mit ernst-
hafften Sachen beschäfftigen, werden zuweilen schwermüthig. Der Mensch ist
durch Hang und Stellung oder positur zum Scherz und guter Laune geneigt,
daß sind die rechte Verdienste, die sich der Mensch im Scherz und guter Laune

/ er

|P_101

/erwürckt. Der Mensch hängt an vielerley Thorheiten, er wird aber
erst als denn ein rechter Thor, wenn er Thorheiten zu wichtigen Dingen
macht. Es scheint als wenn unsere Erde ein großes Narrenhospital
ist, wo aus dem ungeheüren Universo alle Narren hingeschickt
werden, die quaranteine zu halten. Jener nannte es das allge-
meine Appartement des ganzen großen Schöpfungs Systems, wo aller
Unrath, der dort oben nichts taugt, hingeworfen wird. - Von der Stecken
reüterey hat Trystram Schandy sehr gut geschrieben: Jedem Men-
schen liegt bey einer Handlung eine LieblingsHandlung oder sein
Steckenpferd im Sinn - reitet einer das Steckenpferd der Rari-
taeten und Alterthümer, er bezahlet eine Medaille sehr theüer
weil sie etwa von Carl_XII ist; hört daß ein anderer diese Mün-
ze auch hat, so kauf er sie ihm sehr theüer ab, damit er diese Ra-
ritaet doch ja nur allein besitze. Ein anderer liebt das Stecken-
Pferd der Versemacherey, er sucht den R«¿»uhm eines Poeten zu
erlangen, und legt wichtigere Dinge bey Seite. So war Nero
mehr ein Narr als Bösewicht, er wollte in allen Künsten
und Wißenschafften für den grösten Meister gehalten werden,
und wie er sich den Dolch durch die Brust sties sagte er: quantus artifes
morior. Seine Kunst bewunderte er also und nicht seine Kaiserwür-
de. So wie ein Kind bey seinem Steckenpferde sich den Kopf, die Füße
noch hinzu denckt; so bildet sich auch ein solcher Mensch bey seinen
Steckenpferde wichtige Dinge ein. Tristron Schandy sagt: es mag
einer mit seinem Steckenpferde die Straßen auf und nieder reiten

/ wenn

|P_102

/wenn er mich nur nicht nöthiget hinten aufzusitzen. Laß einer seine
Lieblings-Neigung immerbehalten, wenn er nur mir damit nicht schadet. Wa-
rum sollen wir die Menschen damit beunruhigen? Die Welt ist voller Thorheit,
und wir alle sind insgesammt Narren. - Was ist also billiger, als daß wir
uns dieses einander vergeben? Es ist immer sonderbar einen Menschen
als einen großen Mann vorzustellen. Man hat Bücher von einem
großen Man überhaupt Z.B Abts Buch vom Verdienst. Sollen wir die an-
gegebenen großen Eigenschafften und ihre Handlungen extendiren? Wir
wollen sie lieber schlechthin Gut nennen, denn die vielen Thorheiten, die doch immer
unter diese kleine Verdienste mit eingestreüt sind, vermindern auf der
andern Seite ihre Größe gar sehr. Wir sind alle wie Zwerge anzusehen. Ich
habe keine eigentliche Hochachtung für einen Menschen, sondern ich habe ihn
werth, und verlange ebendaßelbe von ihm, denn keiner ist groß, wenn er gut ist.
Was ist ein Mensch? Was er ist hätte @ich@ doch seyn können und sollen. Der
gemachte Charackter der Tugenden bringt uns zur Nacheiferung, wir müßen
nicht dem Guten sondern der größe eines Menschen wiederstreiten. Die
Moralitaet kann uns keine Größe vom Menschen zeigen, denn der Mensch, der
groß genannt wird, muß so seyn. Den Ausdruck, großer Charackter kann
man brauchen, aber nicht Größe. Es sind Talente, die man für Größe hallt.
Z.B. ein großer Cörper, große Kräffte, Geschicklichkeit, Stärcke des Verstan-
des und der Vernunft, doch das macht nicht das wesentliche des Menschen aus.

/ ≥ Von der Vorhersehung

/Alle Unterschiede der Vorstellung des Gegenwärtigen, Vergangenen, und
Zukünftigen setzen die Idee der Zeit voraus. Wir verändern die Stelle
der Zeit allenthalben. Es kann kein Zusammenhang in einem Vortrage seyn;
wenn man nicht prospicirt. Alle unsere Vermögen der Sinne und der Seele sind

/ prac

|P_103

/practisch durch die Praevision. Weil die Gegenwart nur ein Punckt, ein Au-
genblick ist, und das Vergangene das meiste von der Zeit ausmacht, so
gehet unsere Erkenntniß nur auf das Vergangene und Künftige. Das
Vergangene trifft uns nicht mehr; daher ist nichts reizender für den Men-
schen als in die Zukunft zu schauen. Sie suchen aus jedem Phoenomen
am Himmel zukünftigen Begebenheiten zu entdecken. Nur Gelehrte fra-
gen hier nach den Ursachen, der größte Haufen der Menschen aber nur
nach den Folgen. Das Voraussetzen in der menschlichen Seele ist durch die Zeit
möglich. Zurück sehen wir nur auf wenige Jahre. Dieß sind die Jahren der
Kindheit; Allein in die Zukunft sehen wir viel weiter. Die Zukunft weil
sie auf unsere Handlungen einen Einfluß hat, ist practisch. Von dem Zukünf-
tigen sind wir einer praevision fähig. Ein zukünftiges Glück, daß wir hoffen,
macht, daß wir keine Ungemächlichkeiten scheuen. Der Jupiter sagten die
Alten, hätte zwey Fäßer, eines voll Glückseeligkeit das andere voll Übel.
Aus beiden schöpfe er für jeden Menschen eine portion und vermischt mit
einander Glück und Unglück. Würde es auf die Menschen ankommen, so würden
sie es gewiß nicht mit einander abwechseln laßen, sondern alles Unglück zuerst
nehmen, und denn das Glück nachfolgen laßen. Die Türcken sagen um die
Menschen zur Mäßigkeit zu ermuntern: Es sey jedem Menschen eine portion
Eßen zugewogen, wenn er die verzehrt hat; so muß er sterben. Ist er viel auf
einmahl so gehet die Portion bald auf, und denn muß er auch bald sterben. So könnte
man von allen Vergnügungen des Lebens sagen, die Aussichten machen viel bey
uns, ein trauriges Ende könnte dem Menschen eine ganze Reihe von Jahren
hindurch ängstigen. Es ist doch aber recht wunderbar, daß der Tod den Menschen nicht
fürchterlich vorkommt, wir glauben, daß er immer gleichweit von uns entfernt

/ sey. So

|P_104

/So wie eine Allee am Ende spitz zu zu gehen scheint, und wenn man da-
hinkommt, eben so weit ist; so kann der Mensch, wenn er so lange gelebt, sein Leben
in der Idee noch so lange verlängern, als er will. Wenn der Mensch die gegen-
wärtige Zeit als einen Zusammenhang des vorigen und zukünftigen Zustan-
des ansieht, so wird sie ihm lang. Siehet er sie aber als einen Theil seines Wohl-
befindens an; so ist sie kurz. Schaekespear sagt: mit einem galoppirt die Zeit,
mit einem andern trabt sie, und mit einem andern kriecht sie wie
eine Laus. Dem Menschen der ein Amt hoft, wird die gegenwärtige
Zeit zur Last, sie dient ihm nur zum verbinden, der beyden Zustände.
Die Menschen betrachten die meiste Zeit als einen Ubergang von ei-
nem Zustand zum andern, den sie sich als @r\w@ichtig vorstellen. Die Prae-
vision ist durch die Vernunft zu moderiren, die Menschen sind vieler un-
willkührlichen Praevision unterworfen. Z.B. bey der Furchtsamkeit, bey
Hypochondrischen Grillen. So träumen viele ihr ganzes Leben hin-
durch, lauter praevisionen. Sie kann aber auch unser Leben angenehm
und erträglich machen, wenn wir uns angenehme Prospecte entwerfen.

/ ≥ Von der Praesagition

/Die Menschen sind am mehresten darauf verpicht ihre und anderer
Schicksale vorherzusagen. Man kann zwar in der Astronomie Künf-
tige Begebenheiten auf viele Jahre mit der grösten Genauigkeit vor-
hersagen. Diese geschehen aber nach ganz zuverläßigen Naturgesetzen;
und wenn man diese ein mahl genau kennt; so ist das Vorhersagen solcher
Begebenheiten so unbedeütend, als den Auf und Untergang der Sonne vor-
herzusagen. Indeßen sind die Menschen doch immer bemühet gewesen

/ zu

|P_105

/zu sehen, ob nicht etwa ihre Schicksale mit darin eingeflochten wären,
und sich aus der Constellation entdecken ließen. Aber welch ein Ubel für
uns, wenn wir es wüßten. Das Glück würde wenig Annehmlichkeiten für
uns bey sich führen, und das Unglück würde uns eine unertregliche
Last seyn. Der Lauf der Welt könnte gleichfalls nicht so fort gehen,
er würde alle Augenblicke unterbrochen werden, und die Begebenhei-
ten würden sich anders zu tragen, weil der Mensch als ein frey-
handelndes Wesen sie immer zu seinem Vortheil einzulencken
suchen würde. Gott will, es soll das SchicksalsBuch in mir ver-
borgen seyn, die rapina der Gegenwart entdeckt sie mir allein.
Pope. Wir müßen einen höhern Standpunckt erwarten, wo wir
allmählig einen kurzen Blick in die Zukunft werden thun können. Die
Menschen mögen auch gerne das Wetter vorhersagen - alte Schaden,
barometer, der Mond, das Hanengeschrey und Beobachtungen von Thieren
sind in diesem Fall die besten Oracle, allein auch diese Kunst ist sehr un-
zulänglich, und die Vorsicht hat zu unserm besten auch hier einen Vor-
hang vorgezogen. Wie viele Verwirrung entstünde nicht aus diesen
stolzen Wißen. Der Landmann, welcher seinen Ackerbau nach vorher
gesehenen Regeln einrichten wollte, würde zu offt irren, da er jetzo,
wenn ihm das Wetter ungünstig ist, zufrieden bleibt, und es der glücklichen
Unwißenheit zuschreibt. Aber der wichtigste Punckt des Vorhersehens scheint
für den Menschen die Bestimmung seiner künftige Schicksale zu seyn. Die star-
cke Neigung, Merckmale der Zukunft zu entdecken, macht die Menschen
so aufmercksam, und leichtgläubig, die geringste Dinge für Begebenheiten
von großer Wichtigkeit zu halten, die man doch sonsten durch diese Neigung

/ ge

|P_106

/geblendet, verachten wird. Indeßen sagt doch Morapertuis; ob gleich ein
jeder leicht einsieht, daß die Sterne zum Betragen des Menschen nichts bey-
tragen, so würde man doch ungewiß seyn, ob die Constellation nicht mit
den Begebenheiten der Erde einen Zusammenhang habe, wenn man gewahr
würde, daß bey der gleichen Constellationen einige mahle wichtige Verän-
derungen sich auf der Erde ereignet hätten. Den Vorbedeütungen der Traü-
me und den Stimmen der Thiere meßen die Menschen auch Glau-
ben bey, nicht aus Mangel der Vernunft, sondern um der Stärcke des
Affects willen.

/ ≥ Von der Traumdeüterey

/Die natürliche Art der Prophezeihung ist durch die Träume. Wenn die
Ursachen von Künftigen meinem eigenen gegenwärtigen Zustand
oder gar in meinem Körper liegen. Z.B. von einer zukünftigen Unpäß-
lichkeit, Tod pp so kann ich im Schlaf durch dunckle Empfindungen zu sol-
chen Träumen gereizt werden, die ihre Bedeütung haben. So glaubt man es
bedeütet Zanck, wenn Männer sich mit Hunde zargen, Frauens Steck-
nadel verliehren. Man siehet hieraus deütlich, daß schon im Schlaf die Galle
sich mit dem Blut vermischt, und man kann als denn sehr leicht Händel
bekommen; denn man ist schon im Schlaf dazu praeparirt. Die Ursache des
Traums muß also in uns liegen. Sind die Ursachen der Traüme ganz
unabhängig von uns, so bedeüten sie auch nichts, und die Seele kann nichts
davon wißen. Personen die viel Träumen, zeigen an, daß sie auch im
Wachen dazu geneigt sind, denn zwischen Wachen und Schlafen ist bloß die
Stärcke der sinnlichen Empfindungen der Unterschied. Viel träumen
zeigt eine schlechte composition des Cörpers an. Ein Frauenzimmer

/ träumt

|P_107

/träumt viel, behält auch alles und giebt ihm ein großes Gewicht. Offt sezt
uns aber doch die genaue Ordnung der Träume in Verwirrung und
Verlegenheit,und verleitet uns zu glauben, daß im Schlaf die Seele
gleichsam außer uns sey. Der Weise und erfahrne Mann, hat in
gewißem Grade eine facultatem divinatricem, er hat eine
starcke BeurtheilungsKrafft, er hat lange gelebt, und viel erfahren,
daher weiß er auch durch die Verbindung der Dinge viel voraus.
Der Minister Ilgen soll dem Pantal der unter Carl_XII sein Le-
ben verlohr, sein Ende vorhergesagt haben. Man erzählt von Fridrich_I.
folgende Geschichte: Ein Mensch der sich vor einen Propheten ausgab, und
eines Verbrechens beschuldiget war, antwortete dem Könige, der ihn
frug, ob er wohl wüßte, wie lange er noch leben würde "daß sein Lebens-
ziel noch weit entfernt sey". Der König ließ ihn festsetzen, weil sein Ver-
brechen, welches er begangen noch nicht vollkommen ausgemittelt war.
Um aber seine Prophezeihung zu vereiteln, wurde er dennoch zum Gal-
gen verurtheilt. Da aber die Execution vor sich gehen sollte, kam die
Prin«ß»zeßin von Mecklenburg nach Berlin den König zu besuchen,
und um zugleich bey ihrer Ankunft einen Beweis ihrer Gnade
abzulegen, verhinderte sie die Execution, sie bath den König ihre
eine Bitte zu gewähren, er versprach ihr solches, und sie bath um
das Leben des Mißethäters, welches er ihr nun nicht mehr abschlagen
konnte. - Würden solche Ausdeutungen durch die Cheromantie und
andere Künste mehr allgemein angenommen werden; so würden
alle unsere Handlungen nach Gesetzen der Vernunft unmöglich seyn.
Unsere Vernunft würde bis zur unthätigen Verwirrung heruntersincken, %und
wir könnten uns nie an den Erfahrungen der gesunden Vernunft halten.

/ Ein

|P_108

/Ein Mensch der ein künftiges Glück erwartet, bringt sein Geld ohne allen
Grund durch, und folgt nicht der Vernunft. Gesezt, Prophezeihungen wären
gegründet, so sind sie doch auf der andern Seite sehr schädlich, wenn man
sich darnach richtet. Nur rohe Völcker suchen durch die Wahrsager-
Kunst ihr Schicksal zu bestimmen. Die Gelehrten haben nicht die Gabe zu wahr-
sagen sondern nur die Ungelehrten und die alten Weiber. Carl_XI
frug einen Wahrsager: Wie lange er (%.der %.Wahrsager) wohl leben würde,
dieser welcher wohl wußte, daß Carl ein barbarischer Herr war, und
daß diese frage auf ihn gemünzt sey, antwortete ganz kurz, den Tag
kann ich wohl nicht recht bestimmen, allein daß weiß ich ganz zuverläßig,
daß ich 3 Tage vor eüer Majestät Tode sterben werde, der König dachte
daß könnte wohl wahr seyn, und ließ ihn leben.

/ ≥ Von der facultate characteristica

/Der Gebrauch der Zeichen ist eine Sache von großer Wichtigkeit. Es giebt gewiße
Zeichen, die weiter nichts thun sollen, als nur Mittel seyn die Gedancken hervor-
zubringen: es giebt aber auch andere, die die Sache und den Mangel der
Begriffe ersetzen sollen. Zur ersteren Gattung gehören die Worte, durch
welche unser EinbildungsKrafft rege gemacht wird, die sonst in ihnen ver-
bundenen Vorstellungen der Sachen in uns wieder hervorzubringen. Zur
Zweiten Gattung: Die mahlerische Bilder der Poeten von Dingen Z. B. vom Neide,
die Heiterkeit der Lufft, die schönheit eines heitern Sommertages, kann die
Ruhe des Gemüths vorstellen. Wenn man in einer andern Sprache die Ge-
müths-Ruhe ausdrücken will; so muß man ein ander Wort brauchen, aber
das Bild davon kann in einer fremden Sprache daßelbe bleiben. So
auch ein stürmisch Meer kann ein Bild eines unruhigen Menschen seyn.

/ So

|P_109

/So sind Characktere und Symbola unterschieden. Eine Vorstellung, in deren
Stelle eine andere treten kann, heißt ein Symbolum. Zur Begleitung unse-
rer Begriffe haben wir Wörter nöthig, denn man kann die Dinge durch
die Sinne ¿oßen erckennen. Wenn Begriffe abstract sind, so muß man
viel Wörter brauchen. Z.B. Mäßigkeit, Bescheidenheit, Billigkeit, Sanfmuth.
Aber in Ansehung der Vorstellungen, die in die Sinne fallen, kann man die
Wörter sparen.

/ ≥ Von den eigentlichen Sinnbilder, oder Symbolis

/Die Menschen sind so sehr für dieselben eingenommen, daß Kinder nur
durch Bilder frühzeitig zur Erckentniß gelangen können. Das Genie der
orientalischen Nationen ist Bilderreich, ihre Philosophie bestehet in der Wahl
guter Bilder, daher rühren die Hyeroglyphen der Egypter. Bilder sind Zeichen
der Unwißenheit der Nation, denn da sie die Sachen nicht ganz ge-
nau durch gedacht, müßen sie sich der Bilder bedienen. Die Er-
habenheit der orientalischen Schreibart kommt von den Bildern her; Der Ver-
stand würde schwach erckennen, wenn nicht die Vorstellungen mit Sym-
bolis begleitet wären. Die Bilder haben eine große Macht, weil sie die
Sachen selbst vorstellen. So stellen Tietel, Aemter, Verdienste, Reichtümer pp
den Man vor, der sie besitzt. Die Kleider, die Orden, sind alles Symbola,
selbst die Religion ist voller Symbolis, die aber nicht selbst das geistige, sondern
nur die Bilder davon sind. Allein offt gehet es, mit diesen soweit, daß man
mehr auf die Symbola, als auf die Sachen selbst siehet, und zulezt denckt man
mehr auf die Tietel, als auf die Verdienste, durch welche man sie erwerben
soll. Alle Formalitäten, Feyerlichkeiten, Aufzüge pp sind symbolische Vorstellungen

/ von

|P_110

/von geheimer Bedeütung. Daß Menschen von andern die entweder eine
große Rolle gespielet, oder sich um sie verdient gemacht, oder ihnen sonst lieb
gewesen, Abschied nehmen, zeigen sie durch schwarze Kleider, Getöne der Glocken pp
an. Je mehr die Sinnbilder die Sinne einnehmen, desto mehr gehört Verstand da-
zu, die rechte Sache zu entdecken. Wer von den Menschen und ihren Pflich-
ten gegen Gott redet, kann sehr bilderreich seyn, er kann Gott mit einem
Könige, die Menschen mit denen, die unter seinen Befehlen stehen, ver-
gleichen. Diese Vorstellung kann zwar Ehrerbietung einflößen, es können
aber auch viele Irrthümer daraus entstehen. Wenn mir etwas dienen
soll, um dadurch als von einem Faden den Verstand beßer brau-
chen zu können, so muß man es nicht als etwas ähnliches Ansehen mit den
Begriffe. Gleichwohl siehet man, daß die meisten Irrthümer daraus ent-
stehen. Wenn ein Redner mehr auf die Colorirung der Rede acht hat, die
Zuhörer durch ein unerwartetes Abbrechen überrascht, so zeigt er sei-
ne Stärcke an in der Kunst zu bezeichnen, aber der Zuhörer siehet nicht
auf die Sache, sondern er sagt: Die Predigt war schön. Sie ist symbolisch
schön, anstat daß ihr gröster Vorzug in der Beßerung des Menschen bestehen
sollte. Sehen wir auf die Wahl der Sachen; so sind die Z¿ahlen symbo-
lische Vorstellungen von Großen; sollen sie symbolisch werden; so muß ei-
ne Sache angenommen werden, mit der ich die Zahle combinire. Wenn
man Z.B. einen Grönländer einen Begriff von der Menge Leüte
in Dännemark machen will; so mag man ihm immer 100000 vorsagen, man
wird ihm nicht den Begriff von der Größe machen können und in ihm

/ Er

|P_111

/Erstaunen setzen. Man sage ihm aber Z.B. daß in Dannemark so viel Leü-
te sind daß sie zum Frühstück allein mehr als einen Wallfisch verzehren könnten;
so wird er sich gewiß entsetzen. Wir selbst können keine Zahl recht deütlich an-
schauen, wie wir Z.B. hören, daß in einer Schlacht eine große Anzahl Men-
schen geblieben, so werden wir uns zwar wundern, aber erstaunen
würden wir, wenn wir es selbst sehen sollten. Haßelqvist sagt in seiner
Beschreibung von Egypten: Er wolle von den Piramiden nichts sagen, weil
schon so viele davon geschrieben, er fügt hinzu, daß er alle Beschreibun-
gen davon gelesen, und nichts neües gefunden; was nicht schon an-
dere von den Piramieden sollten gesagt haben, wie er sie aber
selbsten zu Gesichte bekommen, so wäre es so gut gewesen, als
wenn er nie davon gewußt hätte, in solch Erstaunen wurde
er durch ihren Anblick gesezt. So sind viele Sachen, wo das
Anschauen mehr Eindrücke macht, als Beschreibungen. Große
Berge, steile Ufer, herüberhangende Stücke von Felsen die herab-
zu stürzen drohen, große gießbäche, Wasserfälle, die Weite See,
machen viel lebhafftere Eindrücke durchs Anschauen als durch Schilde-
rungen. - Kiel ein englischer Mathematiker beschreibt die erstaun-
liche Theilbarkeit der assa foetida, wie viel Zimmer mit einem einzigen
gran, derselben angefüllt werden können, und führt eine erstaunliche große
Zahl an. Um aber die große Theilbarkeit noch begreiflicher zu machen nimmt
er an, der Pico auf der Insel Teneriffa sey eine deutsche Meile hoch
und habe 5 Meilen in der Peripherie, und wenn dieser Berg in lau-
ter Ursand und Atomen aufgelößt würde, so würden sagt er: 21 solcher
Berge kaum so viel Theile enthalten als aus einem einzigen Gran assa foetida

/ Thei

|P_112

/Theile entstehen. Dies Beyspiel ist Lebhafft und sezt in Erstaunen.

/Das Symbolische Erckentniß muß aufhören und das intutive anfangen,
wenn ein Nachdruck stattfinden soll. Man muß sich wundern, daß
manche Leüte von Sachen reden, die sie weder verstehen, noch empfin-
den, und doch von andern verstanden werden. Sandson Praef. zu
Cambridge ein Nachfolger von Neuton war blindGebohren und
lehrte doch die Optic ganz deütlich, er hatte die verschiedene Arten
der Berechnung der Lichtstrahlen von andern gehört, und er bewieß
also, daß die rothe Farbe die stärckste und hellste sey, ohne daß man
weiß, was er sich von Lufft oder Farbe für einen Begriff gemacht hatt.
Die Stärcke des Lichts bildete er sich ein, wie die Stärcke des Ein-
drucks beym Schalls. So reden viele gerührt ohne selbst gerührt zu
werden, sie haben von der Tugend mit Hochachtung reden gehört,
sich die Empfindungen die sie mit den Wörtern hervorbringen, ein-
gedrückt, ohne an die Sachen zu dencken, und sind also ein lebendiges
Echo. - Die Ammen machen daß die Kinder viele Dinge in die Hän-
de zu nehmen sich fürchten. Wenn sie beym Anblick einer Raupe eine
fürchterliche Miene machen, so werden die Kinder die Raupen gewiß
zufrieden laßen. Viele die die Laster tadlen, haben nicht immer einen
innern Abscheü dafür, sondern weil sie andere mit Verachtung davon
haben sprechen gehört; so reden sie ihnen in diesem Thone nach, und ha-
ben einen sympatetischen Abscheü durch die Mienen und Worte eines
andern erlangt, aber sie haben keinen innern Abscheü dafür. Das
männliche Geschlecht hat andere Eigenschafften, als das weibliche. Das Frau-
enzimmer schäzt auch erhabene Dinge hoch, aber nicht, wegen ihrer
Erhabenheit, sondern weil es andere für hoch achten. Sie fragen nur nach dem

/ Ur

|P_113

/Urtheil anderer und nicht nach der Sache selbst. Sie halten eine Sache werth,
nicht weil sie von ihnen so erkannt wird, sondern sie reden durch Nach-
ahmung der Wörter Anderer. Offt haben sie bey einigen Wörtern be-
sondere Empfindungen, nachdem andere sie gehabt. Mann muß
von ihnen nichts fordern, was über die Beschaffenheit ihrer Natur
gehet; sie schätzen die Großmuth hoch, sind aber selbst nicht großmüthig.
Freygebigkeit darf man von ihnen nicht erwarten, denn da sie selbst
Kein Vermögen erwerben; so hat die Natur ihnen eine ge-
wiße Sparsamkeit beygelegt, welche der offters ausschweifenden
Verschwendung des Mannes schranken sezt. Es können also auch Wör-
ter Empfindungen hervorbringen. Wenn man eine Stelle aus dem
Poeten ließt, wo eine Menge furchtbarer Dinge fürchterlich vorge-
stellt wird und uns in Schrecken sezt; so ist eine Menge Bilder da,
die sich die Seele ausmahlt. Zusammen kommen wunderliche Dinge
zusammen, daß man sie nicht einmahl sich recht einbilden kann, und
man wird doch gerührt. Z.B. Im Virgil die Cyclopen, die auf
einem Amboß Donner und Regen schmieden. Nicht das Anschau-
en einer Sache bringt eine Bewegung des Gemüths hervor, son-
dern die Wörter allein machen in uns eine Erschütterung. Weil
es gewöhnlich ist bey fürchterlichen Dingen solche Wörter zu gebrau-
chen, so erregen sie ein Schrecken in uns. Daher uns ein Wort in Bewegung sezt,
ohne daß man die Sache sich denckt, die es sonst bedeütet, weil uns das Wort schon
fürchterlich vorgekommen ist. So ists mit rührenden Reden offt bewandt, will man
eine lang daurende Entschließung bey einem Zuhörer hervorbringen; so muß
man die Sache selbst vortragen; will man aber einen auf der Stelle
wozu bewegen; so muß man gute Worte gebrauchen. Jener Romische Redner

/ wuß

|P_114

/wußte auf eine sehr geschickte Art durch eine sehr bewegliche Rede, und in-
dem er zugleich dem Volck den ermordeten Körper des Caesars zeigte,
sie zur Rache wieder die Feinde deßelben zu bewegen. Ein Predi-
ger rührt seine Zuhörer gleichfalls nicht durch Sachen, sondern durch
Worte, wenn er Z.B. den Donner der göttlichen Strafen drohet, bezeich-
net er nur solche Bilder, welche Schrecken verursachen. Es ist dieses
auch nicht so sehr zu tadeln, wenn es nur mäßig geschiehet, denn sind die
Zuhörer nur einmal mit dergleichen Bildern bekannt, so dürfen sie
nur recitirt werden und der Zuhörer wird hinlänglich bewegt, den
Dichter muß man so beurtheilen - wie rührt nicht Klopstok? um
ihn zu beurtheilen muß man das Metrum und die Bilder weglaßen,
es denn nur historisch, als eine Erzählung weglesen, und sehen ob er
als denn auch noch rührt; sind die Begriffe dieselben wie vorhin, und
rührt er noch, denn er <ist> ein Dichter zu nennen. Muß ich aber beym
recitiren den Thon und die Worte eines Gerührten brauchen; so
sage ich: Klopstok ist kein Dichter von der eigentlichen Art, er nimmt
nur die Stellung eines gerührten an, ich sehe nicht die Sache, sondern
den Gerührten, und werde per Sympathie mit gerührt. Sonst müßen
wenigstens die Bilder rühren, wenn ich die Worte wegnehme, daß geschieht
aber nicht. Er macht zu weilen eine ungewöhnliche Construction die halb-
polnisch klingt, man verzeihts ihm aber - 

/ ≥ Vom Witz und Scharfsinnigkeit. ≤

/Dem Witz ist die UrtheilungsKrafft entgegengesezt. Zum Erfinden wird
Witz erfordert, zum Anwenden die Urtheilungs-Krafft. Die Dinge in Zusammen-
ziehung und Connexion zu bringen ist Unterscheidungs-Vermögen nöthig.
Der Witz ist das Vermögen zu vergleichen, die UrtheilsKrafft ist das Vermö-
gen die Dinge zu verknüpfen und zu trennen. Witzigen Leüten fällt immer
etwas ähnliches ein. Aehnliche Dinge sind darum noch nicht vercknüpft, weil

/ zwisch

|P_115

/zwischen den Dingen nicht die geringste Aehnlichkeit seyn darf. Obgleich die
Begriffe einerley sind. Aehnlichkeit ist nicht eine Vercknüpfung der Dinge, sondern
der Vorstellung der Dinge. Das Vermögen den Unterschied einzusehen gehört ei-
gentlich nicht zum Witz, sondern zur Urtheilskrafft. Die Scharfsinnigkeit ist von
beyden das Genus, sie ist eine Fähigkeit überaus verborgenen Kleinigkeiten zu
finden. Wer auf eine Rede genau Acht hat, ist aufmercksam, der aber
bey einem Gemählde einen falschen Schatten und andere verborgene Klei-
nigkeiten entdeckt, ist scharfsinnig. Beym Witz kann auch ein Acumen seyn.
Der Advocat muß Scharfsinn haben, der eine ungerechte Sache vertheidigen
will. Von allen Menschen kann man nicht Scharfsinn, aber doch etwas Witz
verlangen. Ein Mensch ohne Witz kann sich keine Begriffe machen, und man
nennet ihn einen stumpfen Kopf. Ein Mensch der keine UrtheilsKraft hat,
heißt ein DummKopf. Wer ohne Scharfsinn ist hat keinen Ehrentittel, denn
man kann nicht von jedem Menschen Scharfsinn verlangen. Manchen
Menschen nennt man einen Dumkopf, der doch nur ein stumpfer Kopf
ist. Clavius ein JesuiterSchüler, war so weit gekommen, daß er Ausarbeitun-
gen, Reden und Verse machen sollte, allein es war ihm nicht möglich, sich
auf einen Einfall und poetische Wendung zu besinnen. Die Iesuiter
die diese Arbeit, Reden zu machen, als das lezte Ziel aller Gelehrsamkeit
ansahen, hielten Clavium für einen Dumkopf, und schickten ihn zum
Grobschmied. Er fühlte aber bald seine Fähigkeit, und erwarb sich Kennt-
niße durch Bücher und ward ein großer Mathematiker. Hier ist
deütlich zu sehen, daß Clavius viel UrtheilsKrafft hatte. Bey vielen
und lebhafften Witz, billig an der UrtheilsKrafft, indem man nicht glaubt,
daß Jemand zwey solche große Vermögen zugleich haben könne. Der Witz
ist sehr verführerisch; steigt einem Pöeten einmahl einen witzigen
Einfall auf; so möchte er lieber gehangen werden, als den Einfall in
der Geburth ersticken. Er glaubt es sey eine Art von Kindermord, ein

/ so

|P_116

/so schön Geschöpf des Verstandes zu vertilgen. Wer einmal einen Hang
zum Witz hat, kann ihn nicht dämpfen. Spielender Witz ist, der nicht mit
dem Verhältniß der Dinge übereinstimmt, der nur vergleicht, aber kei-
nen Grund der Vercknüpfung zeigt. Er unterscheidet sich vom Wahren
Witz darinn, daß er zufällige Aehnlichkeiten, für wahre und beständige
ansieht. Z.B. Wenn man Aehnlichkeiten der Wörter oder Wortspiele her-
vorsucht, die gar nicht mit den Sachen stimmen. An dem Pallast des Her-
zogs Malborouge in Engeland war ein Hahn und ein Löwe, der den
Hahn zerreißt, geschildert, der Hahn, der Hahn sollte die Franzosen be-
deüten, man sieht aber gleich, wie weit daß hergeholt ist. Der Witz zeigt
sich in Worten, und ist eine willkührliche Vergleichung, er kann falscher und
zulezt schaler Witz werden. Z.B. wie der Unterschied zwischen sot und fou
Kaestner in seiner offt beißender Manier sagt: hot bedeütet den Deutschen
der aus Franckreich zurückkommt. Er ist ein Narr daß er dahin gieng, als wenn
er nicht in seinem Vaterlande eben daßelbe hätte lernen können; wenn er zu-
rückkommt; hat er doch nur etwas läppisches an sich, weil ein Deütscher nie-
malen die Gelencksamkeit eines Franzosen annehmen kann. Das alltägliche
hatt nichts reizendes, das Fade ist eckelhafft, es ist eine Beschäftigung, die
zu nichts dient. Wenn man nichts zu thun bekommt, so kann mann daß noch
dulden. Z.B. wenn ich bey einem guten Freünde binn, sitze ganz still,
und rede auch mit ihm kein Wort, so binn ich doch zufrieden, wenn ich ihn
auch nur ansehe. Will mich aber jemand durch schalen Witz belustigen,
so wird mir eine solche Gesellschafft unerträglich. Der Mensch muß bey allen
seinen Beschäfftigungen einen Zweck haben, kein Mensch wird Z.B. eine Glocke
ohne Kloppel zur Motion ziehen, oder auf einen Steckenpferde reüten, denn
diese Beschäfftigung läuft auf nichts hinaus: Dieß ist so wahr, daß wenn Jemand
lange spazieren will, so gehet er weit. Er könnte aber so gut einen kurzen Weg etliche

/ mahl

|P_117

/mahl gehen, weil das aber auf nichts hinauskommt, so sezt er sich lieber
einen Ort vor, wohin er gehen will. An den Schiffern will man bemerckt
haben, daß sie gewohnt sind auf ihrem Schiffe hin und her zu gehen und nach
allem zu sehen, sie auch, wenn sie ans Ufer kommen, auf einen Plaz der
so lang ist als das Schiff hin und her gehen. Auch wenn sie sich ein Land-
gut kaufen, so spatzieren sie nur soweit herum. Das Spatzierengehen,
wird uns viel angenehmer, wenn wir uns einen Ort bestimmt haben, als
wenn man nur ohngefehr soweit gehet, als wie der Einfall reicht. Schaler
Witz ist auch ein Wortspiel. Jemand, der bey einem vornehmen Herrn zu
Gaste war, sagte, da ihm der Diener die Suppe über den Kopf zureichte,
und ihm das Kleid begoß: Hier ist wohl Recht summum ius, summa iniuria. An-
fänglich lacht man zwar über solchen Einfall durch Uberraschung, hernach
wills aber doch nicht recht gefallen. Witz und BeurtheilungsKrafft gefallen uns
sowohl an uns, als an andern. Der Witz belustigt und vergnügt, die UrtheilsKrafft
beruhigt und macht zufrieden. Wir lieben den Witzigen, wir achten und schät-
zen aber den hoch der UrtheilsKrafft besizt. Der Witz bringt die Kräffte in Bewe-
gung. Die UrtheilsKrafft hingegen hemmt sie und hält die zügellosigkeit des
Witzes im Zaum. Der Witz öffnet ein Feld zu Absichten, er paart die Dinge,
er giebt einem Einfall die Krafft eine Menge von andern in Bewegung zu
setzen und schafft neüe Ideen; die UrtheilsKrafft soll die unbedachtsamen Aus-
schweifungen des Witzes hemmen und in Ordnung bringen. Der Witz belästigt %und ist
nur ein Gegenstand der Liebe, die UrtheilsKrafft befriedigt %und verdient Achtung. Witz
erfordert Leichtigkeit, dieses empfielt ihn, er muß aber nicht lange vorher ausgedacht
seyn, %und leicht zu faßen für die, die ihn hören. Offt lachen vorher selbst Witzig scheinende
Leüte, um bey ihrem schlechten Witz, den Thon zum Lachen anzugeben: gewöhnlich lacht
man als denn nicht mit, und wenn man je was thut, so grinst man aus Höflichkeit

/ et

|P_118

/etwas mit. Bey der UrtheilsKrafft erfreüt der Anblick der Schwierigkeiten, die
man überwunden hat, wie Z.B. Neutons Schrifften. Scheints ihm noch dazu leicht ge-
worden zu seyn; so gefällts um desto mehr, Man kann den Menschen von zwey-
Seiten betrachten, er brauch seinen Gedachtniß %und seinen Verstand, entweder zum
Witz oder zur UrtheilsKrafft. Der Witz hat mehr Nachfolger als der Verstand, %und wenn
die Wißenschafften nicht in Schulen eingeschloßen bleiben, sondern sich über
ein ganzes Volck ausbreiten, wie ohngefehr vor 100 Jahren in Franckreich;
so bringt dies eine Uberschwemmung von witzigen Schrifften zum Vorschein. Die Menschen
suchen sich als denn mehr zu belustigen, als zu belehren, bon mots sind im ge-
nausten Verstande Einfälle die uberraschend sind. Der Witz bringt Einfälle, die
UrtheilsKrafft Einsichten hervor, wie Z.B. bey den Engelländern %und Franzosen.
Gewiße Wißenschafften laßen sich nicht durch Einfälle tractiren. Bey den Franzosen
sind Einfälle in allen Schrifften Terrasons Philosophie über verschiedene
Gegenstände des Verstandes und Witzes giebt uns ein Beyspiel des Geschmacks
der Franzosen. Er ist bey ihnen im großen Ansehen Traeblers Werck besteht aus
lauter Einfällen ohne Einsicht und Verstand. Man nehme ihre Moralische Schrifften,
so wird man ebenfalls finden, daß sie mehr Einfälle als Einsichten enthalten.
Selbst Montesquieia¿ ist von der Art. - In den Schrifften der Engelländer herrscht
schon mehr Verstand und Einsicht, es sind auch einige unter ihnen, die Einfälle haben,
man siehts ihnen aber an, daß sie praemeditirt sind. Sie müßen aber über-
raschend seyn, wenn sie recht gefallen sollen. - Feinheit des Witzes ist von der
Naivitaet unterschieden. Deren Witz fein ist, zeigen eine scharfsinnigkeit an, sie
gehen auf kleine unmerckliche Verschiedenheiten aus und fallen nicht so
gleich auf. Die Naivitaet des Witzes belustiget aber mehr als die Feinheit. Grobe
Naivitaet ist im Don_quixotto in den Reden des Sancho Pansa Z.B. in seinen
Sprüchwörtern, seiner Ercklärung eines irrenden Ritters. Naivitaet ist das Ge-
sunde, welches unerwartet voraus entspringt und ist mit Witz verbunden. Der
Witz ist veränderlich und liebt auch die Veränderung. Er liebt die Neüigkeit, %und ist

/ un

|P_119

/ungeduldig wenn er lange warten soll, das Beharren auf einer Stelle,
ist ihm zuwieder und unerträglich, er sucht immer Vergleichungen %und neue Aehn-
lichkeiten zu haschen, darinn zeigt er auch seine Brauchbarkeit. Witzige Leüte
sind ihrem Naturell nach veränderlich und unbeständig; sie haben einen großen
Hang ihren Witz zu aüßern es sey unwillkührlich oder durch eine Satyre, oder
durch ein Gedicht, oder durch Nachsinnen um einer Gesellschafft etwas zu lachen
zu machen; er stellt aber die Sache nicht nur in Verschiedenen Verände-
rungen vor, sondern er ist auch selbst veränderlich. Man sieht dieses an
der französischen Nation. Die Veränderung ist schon etwas, daß den Men-
schen vergnügt, denn es belebt seine Imagination. Wenn aber die Ver-
anderlichkeit ihren Grad übersteigt, so daß der Mensch nicht lange genug,
über einer Stelle bleiben kann, so zeigt dieses einen von Urtheils-Krafft
leeren Kopf an, er greift nach Hirngespinsten und Phantomen. Es giebt
aber auch einen daurenden Witz. Der Engelländer nennt ihn einen Cent-
ner schweren Witz, wie Z.B. Pope der unter einen französischen
Hammer sehr weit kann ausgedehnt werden. Der Englische Witz ist nicht
so belustigend, als der französische, der erste ist scharfsinnig wie Hüdibras,
deßen Witz von ganz besonderer Art ist. Die sonst so unähnliche Sachen, weiß
er sehr geschickt zusammen zupaaren, aber dunckel und schwer. So sagt er
Z.B. zu einem Schulmeister, (der ihm anvertraute er hätte versprochen ei-
ner Wittwe wieder zu ihr zu kommen) das Gewißen sey gleichsam ein Rich-
ter. Hume und Voltaire behaupten, es sey daß, das wichtigste Gedicht, was man
in der Welt gesehen. Jede Zeile ist von Witz, gefällt im Nachschmack. Ein
Witz der keiner Ercklärung bedarf, sondern anfangs dunckel scheint, hernach aber
sich durch ein paar Worte aufdeckt, erhällt jederzeit Beyfall. Nicht jeder Witz
macht zu lachen. Manche Menschen können ohne Witz zu lachen machen, als denn ge-
schiehts aber auf ihre Kosten. Einiger Witz ist ernsthafft, wie der Witz der Aus-
leger der profan, und auch offt heiliger Scribenten, solcher Witz sezt aber nicht

/ viel

|P_120

/viel Talente voraus, denn man kann dabey viel muthmaßen. Es zeigt sich
ferner bey Erfindungen %und hypothesen; daher gehets dem Menschen schwer
vom Herzen, einen Einfall zu ersticken, der ihm viel Mühe gekostet. Die
Menschen lieben nichts in der Welt so sehr, als einen witzigen Einfall, da-
rum können sie ihn auch nicht bey sich behalten, ja, wenn manche ihn nicht
unter ihrem Namen der Welt bekannt machen können, so thun sie es un-
ter einem fremden. Von dem das Lachen erregt ist einiges das Laun ent-
hält, dies nennet man drolligt oder launigt; das geschieht, wenn die Sache
in einem ernsthaften Tohn gestimmt ist, aber doch so abgemeßen fortgehet, daß
sie ins lächerliche ausschlägt, wie Hudebras. Die Engelländer sind voll davon
die Franzosen aber nicht. Man findet bey ihnen nicht die ernsthaffte Miene der
Engelländer. Tristram Schandy ist voll Laun, und ein mit fleiß ungeheuer
ordentlich Buch, accurat als wenn jemand etwas ernsthafft erzählt, und zulezt
zu lachen macht. Das launigte ist eigentlich das, was z B die Absicht zu ha-
ben scheint ein Lachen zu erregen. Die Vorstellung von Glück und Un-
glück kommt nicht von den Dingen der Welt her, sondern von der Gemüt«h»sart
der Menschen, und wie sich gewöhnt haben Eindrücke anzunehmen. Man
kann eine gewiße Art misantropische und hypochondrische Laune haben,
wenn einem alles wiedrig ist, und alle Freünde als Heüchler vorkommen.
Gesezt aber daß sich ein Mensch eine Gemüths art geben könnte, die sich über
alles weghebt, (welches dadurch angehet daß man die Menschen in ihrem
eitlen Wahn, den sie haben, als Gegenstände des Mittleidens und nicht des
Haßes betrachtet) so würde man dabey vollkommen glücklich seyn, die Welt
kommt einem als denn sehr erträglich, ja wohl, verschönert vor, man
wird lustiger und findet überall Vergnügen. Solche Naturelle giebts
würcklich. Die Menschen sehen die Dinge immer sehr verschieden an. Ist
z.B dem einen Jemand im Amte vorgezogen, so kann er es für ein wiedrig
Schicksal ansehen, und es kann ihm nachgehen. Ein anderer wird daher Gelege- 

/ heit

|P_121

/heit nehmen, seinen Witz anzubringen, wenn es sich ohne dem zuträfe, daß der
ihm vorgezogene ein offenbar ungeschickter Mensch ist. Ist also Jemand
im Stande, sich eine launichte und lustige Gemüthsart zu geben, so
wird er sich sehr wohl dabey befinden. Wer daß im Stande ist, hat auch
die Geschicklichkeit so zu schreiben, nur muß es nicht aus Nachahmung geschehen.

/ ≥ Vom Lachen

/Das Lachen ist eine sonderbare Erscheinung, alle Menschen lachen gerne,
sogar der Hypochondrist. Einem kleinen dicken und fetten Mann steht
das Lachen <sehr> gut an, daher mann aufs Theater zu einer lächerlichen Rolle
gerne einen kleinen %und dicken Mann nimmt, indem er schon durch seine
Statur gleichsam per Sympathie zum Lachen reizt. Fette Leüte lachen son-
derlich beym Eßen gerne, überhaupt sucht man bey der Tafel nicht
Gelehrsamkeit auszukramen, sondern gerne lustig Zeug auf die Bahn zu bringen.
Gegenstände des Lachens, bey allem, was Lachen erregt, findet man, daß
es unerwartet kommt, wenigstens in der Vorstellung. Es komt ein Contrast
nach, den man leicht vermuthet hat. In Franckreich hatten eine Bau-
Commission eine Brücke über einen Fluß schlagen laßen; da sie nun
fertig war; so wollen sie selbige besehen; es wurde dahero ohnweit
derselbe eine Mahlzeit bestellt, und sie fuhren dahin. Wie sie über dem
Eßen waren, ging ein Gasconier an der Brücke hin und her. Man sahe
ihm zu, bis einer aus der Gesellschafft auf die Gedancken gerieth, er müßte
von ihrem Metie seyn. Sie beschloßen dahero ihn zur Mahlzeit einzuladen,
er kamm. Uber dem Eßen wurde über die Brücke discurirt. Der Gasco-
nier aß immer fort und sagte kein Wort. Als sie sahen, daß er satt war,
frugen sie ihn um seine Meinung von der Brücke die er so lange be-
trachtet hatte. Ich dachte sagte er, ihr habts recht gut gemacht, daß ihr die Brücke
qveer über den Fluß geschlagen, denn hättet ihr sie in die Länge bauen wollen,

/ so

|P_122

/so wäret ihr nie zu Ende gekommen. Alle witzige Einfälle haben dieses Merck-
mal, daß man sich in der Erwartung betrogen findet. Das Gemüth wird
durch eine andere Direction der Ideen zurückgebracht. Woher bringen aber
Ideen solche corperliche Bewegungen hervor? Wie kommts daß das Lachen ein
solches Vergnügen machen kann, daß wir es als daß beste Mittel für melancholi-
sche, hypochondrische und trübsinnige Leüte halten, da es doch keine Nahrung für
den Verstand hat, ja wohl gar offt Ungereimtheiten die Ursachen sind? Man
hat die ersten principien der Affecten des Gemüths noch nicht genau genug kennen
gelernt. Bey allem, was lächerlich ist, wird ein gewißer Wiederspruch gefunden.
Bey einigen Dingen lacheln wir nur. Das Auslachen ist ein Merckmal ei-
ner Gemüthsart, die nicht die beste ist: Es ist eine Boßheit dabey verborgen.
Viele Lachen alsdenn aus Gutherzigkeit nicht mit. Das Lachen muß so beschaffen
seyn, daß Jederman daran Antheil nehmen kann. Wer aber ausgelacht wird,
kann ja nicht mitlachen. Das Auslachen hat nicht die feine Lustigkeit, sondern
etwas tückisches bey sich. Man sieht es dem an, der auf Kosten anderer
Lacht, daß er sich bewußt ist, es sey unrecht, denn er zwingt sich. Jeder lacht gerne
wenn Jemand fällt, und sich keinen Schaden thut, doch giebts auch viele
die nicht darüber lachen, das Lachen muß unschuldig seyn, es muß eine
Fröhlichkeit seyn die sich allen communicirt. Wir können lachen aber ohne auszu-
lachen. Offt geschiehts daß Jemand aus Distraction Ungereimtheiten begehet,
worüber er hernach selbst lacht, wenn er es erfährt. So schrieb jener an
einem Pächter und an einen Grafen, verwechselte aber die Couverte, und
nante den Grafen, mein lieber guter Johann, und den Pächter, Hochgebohr-
ner Herr. Hier lacht man mit. Wenn Jemand viel Umstände und Caeremonien
macht, und es zeigt sich das Gegentheil, man sieht die armseeligkeit aus

/ allen

|P_123

/@alle@ hervorblicken; so lacht man von Herzen darüber, darum, daß er sich durch
seine eigene Eitelkeit bestraft. - Wenn Railleur wieder raillirt wird:
so lacht man erst laut mit, denn dadurch daß er gezupft, und verspottet wird,
geschiehet gleichsam dem ganzen Menschlichen Geschlecht Satisfaction, doch ist auch
nicht daß rechte erbauliche Lachen, wenn man lacht um Jemanden damit
zu bestrafen. Macht Jemand eine Pathetische Rede, der er könte über-
hoben seyn, und macht sie schlecht, so lachen wir. Ein Candidat aber, der
zum erstenmal prediget, und stecken bleibt, erregt in uns per Sympathie
ein Mittleiden

/Materie des Lachens. Außer den angeführten Wiedersprüchen, und was in die Au-
gen fallend ist, wo offt vielfältig aus wunderbaren Wiedersprüchen ein La-
chen entspringt, ohne daß Witz @von der@ Geschichte durch¿ochten sind. Ein Gasconier sagte,
da er eine Ehrenpforte sah, wo ein Genius eine Crone über dem Kopf ei-
nes Gemählden hielt: Man sieht nicht ob er sie ihm abnimt oder aufsezt.
Man lacht über eine Kleidung, besonders wo es nicht Armseeligkeit, son-
dern eine Art von Eitelkeit anzeigt. Man lacht auch zuweilen über
den Putz. Z.B. die Weiber der Hottentotten und ihre Schönen mah-
len sich, wenn sie zu ihren Liebhabern gehen 6 Striche über das Ge-
sicht, und glauben gleichsam mit Liebespfeilen ausgerüstet zu seyn,
wodurch sie leicht Jemanden verwunden können. Man hat ge-
sehen, daß beym Lachen ein Wiederspruch seyn muß, und man
hat ihn Ungereimtheit genannt, wenn er plötzlich kommt und ein
Lachen verursachet. Wie kann aber ein Wiederspruch solche
Fröhlichkeit verursachen? Daß man sie kaum vergeßen kann und darüber
noch vor sich nach lächeln muß, wie wohl solches eine Schwäche über sich selbst
verräth. Sollen wir wohl über die Thorheiten anderer lachen? Es

/ wür- 

|P_124

/würde wenig Verstand anzeigen und wenig Ursache zur Freüde seyn, daß
man nicht so dumm und einfaltig sey wie die andern. Wir können gar nicht
einsehen, daß eine Ungereimtheit eine Fröhlichkeit erregen könne, und
eben so schwer ist es die Ursache des Lachens durch den Wiederspruch einzu-
sehen. Heinrich_III. sahe einmal einen Edelmann mit einer trotzigen
Miene auf und nieder gehen, es schien daß er selten aus dem Dorfe
kam, wo er der vornehmste war. Der König war ganz schlecht angezogen
und frug ihn: wenn dienen sie? Keinem, antwortete er, ich bin mein
eigner Herr. Das bedaure ich, antwortete der König, den haben sie einen
rechten Flegel zum Herren. Der Wiederspruch steckt hier darinn, daß er
beym Bedauren, etwas gutes im Sinn zu haben scheint, und just das
Gegentheil meint. Eine Sammlung von witzigen, lächerlichen %und naiven
Einfällen ist auch gut, wie Z.B. das Vademecum. Ein Indianer war bey ei-
nem vornehmen englischen Herren in der Factorey auf der Insel Su-
ratte; sein Herr tractirte einmal, und wie er den Pfropfen aus der
Bouteille zog, ging der Champagnier sogleich in die Lufft - der Indianer
erstaunte, wundert eüch nicht so sehr, sagte ihm sein Herr, er antwortete,
ich wundere mich auch nicht, wie er herausgekommen ist, sondern wie ihr ihn
habt hinein bekommen können. Ein Lachen wird erregt, wenn das Gemüth
gleichsam wie ein Ball zurückprallt. Es kommt unverhofft, und der Mensch ge-
räth in einem schwanckenden Zustand. Die Wahre Fröhlichkeit des Lachens ist die
melancholische.

/Das Melancholische des Lachens. Hiedurch können wir viele andere Dinge er-
klären. Z.B. Warum wir gerne, in eine Tragödie gehen um zu wei-
nen. Das melancholische Lachen wird bey dem Menschen leicht excitirt,
besonders bey denen die Kützlich sind.Das ist einunwillkührlich Lachen, es ist

/ ih- 

|P_125

/ihnen wiedrig, und sie werden ungeduldig. Das Kitzeln ist eine Rei-
zung der Fasern und Nerven, das zwergfell welches den ganzen innern
Leib umgiebt (Es liegt über dem Magen zwischen dem Ober- %und unter Leib)
wird bey einer Erwartung zusammen gezogen; es geräth in eine schwan-
ckende Bewegung, die durch die unerwartete Dinge verursacht wird. Diese
Bewegung stößt die Lunge an, und sezt sie gleichfalls in Bewegung, die durch
das Einziehen und Ausblaßen der Lufft stoßweise den Ausbruch oder
das Lachen hervorbringt. - Der Gedancke der beym Lachen ist, macht
nicht fröhlich, sondern die innere Bewegung durchs Lachen; es ist eine beßere
Bewegung als Hölzer sägen %und reiten. Das unmäßige Lachen ist schädlich, denn
die Nerven und Fasern werden dadurch schlaf. Man pflegt zu sagen: Leü-
te die zu viel gelacht haben, sind wie auf die Nase geschlagen. Die Medici soll-
ten bey einem Patienten auf diese innere Motion sehen, beym Spat-
zieren fahren sollten Unpäßliche einen lustigen Gesellschaffter haben, daß
würde dem Krancken zuträglicher seyn als alle Arzeney.

/Unsere Seele denckt niemals allein, sondern im Laboratorio des Cörpers,
es ist immer eine Harmonie zwischen ihnen beyden. So wie die Seele
denckt, bewegt sie den Cörper mit. Die Bewegungen gehen weiter fort, da-
her uns das Abspringen sehr frappirt. - Heinrich_der_III sollte von
einem Magistrat bewillkommt werden; der Magistrat ging ihm also
eine Meile weit entgegen. Sie hatten Maulesel genommen ihre
Sachen zu tragen. Da nun einer von ihnen sein Compliment anbrach-
te; so wieherte ein Esel. Ihr Herren Magistrats_Persohnen! rief der König, re-
det doch nicht alle aufeinmahl. - Ungereimtheit macht eigentlich kein Ver-
gnügen, würde man das Ungereimte nicht ernsthafft erzählen; so würde
die Ungereimtheit bleiben, aber das Lachen wegfallen«:», - Das Gemüth muß treu- 

/ her

|P_126

/herzig einen falschen Weg geführt werden. Daher einer, der zu Lachen will
machen, es sich nicht muß mercken laßen. Am besten ists wenn er die Unge-
reimtheit in die lezten Zeile bringen kann. Da das Lachen gesund ist, so vergnügts
auch so sehr. In der Gesellschafft mag jeder gerne etwas erzählen, und war-
tet begierig, bis der andere aufhört, das kommt daher, daß das Lachen eine
so gute Motion ist. Eine tragische Vorstellung verursacht auch Bewegung,
besonders wenn allerley Affeckten, als Zorn, Mittleid, Hoffnung, Großmuth pp
darin vorckommen. Es sind viele Theile des Cörpers die eine gewiße
Ergießung des Bluts bedürfen, damit die Gefäße, nachdem es nöthig, ent-
weder ausgedehnt, oder zusammen gezogen werden können. Der Mensch in
eine Comoedie um zu Lachen und beßer zu transpiriren. Die eine Tra-
godie gehen, wollen die Gefäße exitiren, aus denen die Traüme kommen,
und es ist eben so gut als wenn man sich schröpfen ließe. Daß kann man
für gewiß annehmen, daß das Weinen erleichtert. Schämt man sich bey Tra-
gödie zu weinen, so sind doch alle Bewegungen des Weinens da gewesen, dahero
man gerne so etwas trauriges siehet, es müßen nur nicht eigene
Angelegenheiten seyn, die liegen einem zu lange im Kopf. Viele Aerzte
haben ihren Krancken mit Fleiß zum Zorn gereizt, aber so, daß sich ihnen
Niemand im Ernste wiedersezte, und sie nur recht auspoltern könnten,
ohne sich zu ärgern; daß hat ihnen zur Gesundheit gedient, besonders solche Affeck-
ten, wo man seine ganze Beredsamkeit ausschütten kann.

/ ≥ Von den obern Erkentniß-Kräfften der menschlichen Seele

/Verstand und Vernunft sind die obern Kräffte der Seele. Verstand ist das Ver-
mögen zu urtheilen. Vernunft das Vermögen zu schlüßen. Der Ver-
stand ist das Vermögen a_posteriori zu urtheilen. Zu verstehen was eine Sache

/ sey

|P_127

/sey, gehört sehr viel. Das Verstehen fehlt offt in vielen Stücken. Z.B.
bey Sprüchwörtern. Die Definitionen von Sachen dienen zum Verstan-
de. Gegen keine GemüthsKrafft sind wir so eifersüchtig, als in Ansehung des
Verstandes so, daß wir nicht allein keinen Mangel am Verstande haben wol-
len, sondern wir laßen uns auch in Ansehung des gesunden Verstandes
und guten Herzens nicht gerne einen andern vorziehen. Was die ande-
re Gemüths-Kräffte Z.B. Gedächtniß, Witz pp anbelangt; so sind wir nach-
gebend, aber einen gesunden Verstand eignen wir uns alle zu,
wir machen auf ihn so viel Ansprüche, wie auf die Menschheit.

/Vorzüge des Verstandes. Der Verstand dirigirt alle andere Gemüths-Kräfte,
und bildet alle übrige Talente. Die größte Schärfe der Sinne, Starcke des Wit-
zes, gut Gedächtniß, würden den Menschen noch mehr herabsetzen, als wenn
sie alle schlechter wären. Die übel disponirte proportion der Erckent-
niß-Kräffte macht das schlechte aus. Wenn alles in gehöriger Proportion ist,
so ist ein kleiner Verstand deßwegen nicht zu verachten, wenn nur alles
andere darnach eingerichtet ist. Es ist dieses gleichfals ein Mensch, wenn auch nur
nach dem vergnügten Maaßstabe. Die disharmonie und disproportion
macht die Häßlichkeit aus. Z.B. Ein starck Gedächtniß ohne Witz und Ver-
stand. Solche Menschen sind in einer Gesellschafft unerträglich, sie
reden von allen Mitteln und verstehen nichts. Xerxes wurde von ei-
nem Schreyhals gelobt, zum Beschluß fügt er noch hinzu: Xerxes bestelle
dir einen Bedienten, der dir zurufft, daß du ein Mensch seyst; und du
antwortete ihm Xerxes, einen, der dir zuruft, daß du ein Narr bist. Auch
nur ein Narr zu seyn, muß man viel Motiven haben.

/Mancherley Gattung des Verstandes. Wir können uns einen empi-
rischen Verstand dencken, der genugsame Urtheils-Krafft in Ansehung der
Erfahrung hat. Ein Mensch, der ihn hat, attendirt auch daß, was in die Sinne fällt,

/ und

|P_128

/und wird durch Erfahrung klug. Diejenigen die für Scharfsinnig gehalten,
werden, und es auch sind, haben wenig empirischen Verstand. Man sagt offt
von einem Mediciner, daß er ein guter Practicus sey, daß kommt daher; Ei-
nige Menschen haben einen guten empirischen Kopf, sie können gute
Regel auf einen gewißen Fall geben, sie haben aber keinen specula-
tiven Verstand, sie können ihre Regel nicht allgemein machen. So giebts auch
theoretische Köpfe, den practischen Verstand zu cultiviren ist die Beschäfftigung
eines denckenden Kopfs. Theoretischer Verstand ist der, der alles auf all-
gemeine Sätze anwendet, hier heißt es: lateinische Wirthe taugen
nichts. Es giebt einen Verstand, den man Talent, und einen andern,
den man Verdienst nennet. Es haben Menschen einen Verstand, den
man einen Talent nennet, nach welchen sie Dinge, die ihnen vorgelegt
werden, erckennen, verstehen %und beurtheilen. Nun gehört noch ein Ver-
stand dazu, der da überlegt, wozu der untergeordnete Verstand dienlich
anzu wenden sey, er sieht aufs Ganze; dieß ist die Beschäfftigung des
dirigirenden Verstandes, der geht vom Ganzen auf die Theile; der untergeord-
nete von den Theilen aufs Ganze. Der dirigirende Verstand vom allge-
meinen zu besondern Theilen fort, beurtheilet die Sachen, und macht sie mit
seinen allgemeinen Plan stimmig.

/Die Königin Christina von Schweden, hatte viel Talent auch viel Ver-
stand, %und doch war keine Prinßeßin so unklug, als sie. Sie besaß große
Geschicklichkeit ihre Sachen auszuführen, aber in der Wahl ihrer Zwecke
und Projecte fehlte sie beständig, es mangelte ihr nichts anders, als der
dirigirende Verstand, sie genoß alle ersinnliche Ehre und Treüe ihrer Un-
terthanen, und doch schien ihr ihre Nation so ungeschickt zu seyn, ihre Talente
nicht gewahr werden zu können. Sie verließ ihr Land, resignirte auf die Crone,

/ %und

|P_129

/und veränderte so gar ihre Religion, und machte sich dadurch zum Gegen-
stand des Gelächters. Dazu kam sie noch offt in das größte Gedräng, weil
sie jederzeit ohne Verstand in den Tag hinein lebte, von ihren gewesenen
Unterthanen Summen auf Summen foderte, und wenn sie es ihr verschaften,
tückisch wurde. An den Höfen wo sie sich aufhielt, war sie zuweilen außer-
ordentlich lustig, gemeiniglich aber ging es am Ende auf ihre Rechnung. Kurz
sie gab in ihrem ganzen Leben, bey den vortreflichsten Verstande, doch lauter
unkluges Zeüg an. Was sie redete, waren sehr gescheite Sachen, was sie
aber that, war lauter närrisches Zeüg. - Der dirigirende Verstand sizt
am Ruder, dieser muß alles zusammen nehmen und fragen: wozu soll das
dienen? - was soll nun mein Zweck seyn? Einige machen Entwürf und
Pläne, andere aber führen sie aus. So gehts beym Bau einer Stadt, eines
Hauses pp der eine macht den Riß, der andere baut. bey Comoedien verhält es
sich ebenso. - Gouldoni ist im Comischen vortreflich. Z.B. der Diener zwey-
er Herren, allein wenn ich ans Ende komme, laufe ich das ganze Stück durch,
frage nach dem rechten Zweck, und finde ihn nicht. Soviel Witz auch Lessing immer
zeigt. Z.B. im Freygeist, wo Theolphan, viel gute Dinge sagt; so weiß man
doch nicht, warum er ihm eben die Rolle gegeben. Man darf sich nicht
wundern, wenn es von einem Menschen heißt, daß er viel gelesen, %und auch viel
Verstand habe, der andere hingegen mit eben der Gewißheit daß Gegentheil von
ihm behauptet, das kommt daher, daß er die Talente, aber nicht die Verdienste
des Verstandes besizt. Der Verstand, der so weit er ein Talent ist, kommt sehr
frühzeitig, und junge Leüte können ihn im höchsten Grade haben, aber vom ver-
dienstlichen Verstande, den allgemeinen oder verhältnißweisen Werth der
Dinge zu schätzen, und zu betrachten, heißt es mit Recht. Verstand kommt nicht
vor Jahren. Ja er verspätet sich wohl gar und kommt auch zuweilen kaum
mit de@m@ 40 Jahr. Man sollte es kaum glauben, daß eine solche Palingeneris

/ mit

|P_130

/mit einem vorgehet. Die wichtigsten Beweise, die mir offt in meinen iüngern
Jahren <so> wiedersprüchlich schienen, sind mir nachgehends bey reiferm Alter und
Verstande von gar keiner Bedeütung. Der Verstand wird genant der
richtige, der gesunde, durchdringende, ausgebreitete und tiefe. Der richtige
Verstand ist derjenige, der nicht durch den Witz der Gauckler der Seele, ver-
dorben %und irre gemacht ist, er bestehet darin, daß man nichts zuläßt, was nicht
mit der abgemeßenen Wahrheit genau paßt. - Wir finden keine Na-
tion, wo mehr Richtigkeit des Verstandes ist, als bey Engelländern, sie
sind nicht so schön, als die Franzosen, aber ordentlicher. Ein richtiger Ver-
stand ist nicht immer lebhafft, er ist langsam, daher dergleichen Leüte offt für
unfähig gehalten werden. Dieser langsame Fortgang, wird aber durch Rich-
tigkeit ersezt. Manche Menschen haben viel Verstand, und geben doch lauter
albern und zwecklose Dinge an. Das findet sich bey denen, die keinen
dirigirenden Verstand haben. Frauenzimmer können offt ihre Absichten geschickt
ausführen, aber gute Zwecke können sie nicht wählen; alles laüft auf Tän-
deleyen hinaus. Uberhaupt ist der männliche Verstand vom weiblichen ganz
unterschieden, den Werth der Dinge zu schätzen ist mehr für den mänlichen,
als weiblichen Verstand. Es gehet hier so zu, als wie auf dem Schiffe, wo alle
Matrosen ihre Arbeit wißen, aber einer muß sie dirigiren. Einige
Köpfe sind ¿¿¿hnisch, die in besondern Stücken, und einzelnen Sachen,
sich offt sehr vortreflich zeigen, und sehr subtil sind, aber keinen Blick aufs
Ganze werfen können - andere sind architechonisch, die erstere sind so,
wie Leüte, welche weit gereist sind, und die Landcharte nicht kennen. Sie
wißen von jedem Orte was zu erzählen, aber sie haben keinen Begriff von
dem ganzen Lande und seiner Verbindung. Manche Mahler mahle gute
Füße, aber nicht proportionirt ganze Portraitte. Es giebt viele Wißenschafften,
wo man zuvor das Ganze wißen muß, ehe man zu den Theilen kommt. Dieß
ist bey der Geographie, bey der Betrachtung des Weltgebaüdes. Menschen, die

/ von

|P_131

/von Leidenschafften beseßen sind, sinnen bloß auf die Befriedigung
der Begierden, und vergeßen mit der Summe alle übrigen Nei-
gungen zu vergleichen.

/Pyrrhus, ein König in Macedonien, ein Nachfolger des großen
Alexanders, hatte den Kopf voll Thaten - er wollte nach Italien gehen, und
sagte zu seinem Hauptmann Cireus. Er wolle die Römer schlagen. Die-
ser frug ihn: Was er den thun wollte, wenn er die Römer würde ge-
schlagen haben? Er wollte nach Sicilien, und wenn dieses geschehen, nach klein
Asien marchieren die kleine Völcker zu demüthigen und denn nach Syrien pp.
Als er endlich aufhörte frug ihn Opaeus: was er denn nach allen Ero-
berungen thun würde. Denn wollen wir in Ruhe ein Glaß
Wein trincken. Ey, antwortete Opeus, denn wollen wir jezt lie-
ber anfangen zu trin«g»cken, wer weiß wie viel Ungemächlich-
keiten noch auf uns warten. Hier ists klar, daß die Menschen nicht
aufs Ganze¿ im Zusammenhange sehen, die in Leidenschafften
sind niemals. Die berühmtesten Kluge Fraue haben die besten Bücher
geschrieben und das dümmste Zeüg angegeben. - Der Man hat
den dirigirenden Verstand, der von den erfinderischen, witzigen Ver-
stande der Frauen, der die Plane des Mannes exequiren soll, so sehr
unterschieden ist, daß der Mann gegen die Frau, wie ein Klotz seyn kann,
daher die Frauens offt nicht begreifen können, warum sich die Männer die Herr-
schafft anmaßen; sie glauben selbst herrschen zu können, und wißen nicht
daß ihnen der dirigirende Verstand fehlt. - Solcher technische Frauenzimmer
Verstand ist den Leidenschafften zinsbar, er wird durch sie verdunckelt,
und muß ihnen wie ein Sklave folgen. Wunderbar ists, wenn ei-
ne Frau die Herrschafft gehabt, der Mann ihr gefolgt ist, %und es gehet durch ihre

/ Schuld

|P_132

/Schuld, unglücklich; so weint sie und sagt, der Mann hätte klüger seyn
sollen. Sie gestehen dadurch den Mangel des dirgirenden Verstandes.
Der Mann mag wohl so dumm seyn, wenn er nur nicht gestört ist, so ists doch beßer,
daß er das Regiment führt. Es können aber doch Fälle seyn, wo die Frau
mehr Verstand hat, als der Mann, aber solche Frauenzimmer, die einen
männlichen Verstand haben (Viragines) sind auch nicht umgänglich. Man kann
aber diesen Verstand den Frauen nicht begreiflich machen. Milton, ein
eifriger Verfechter des Königes zur Zeit Cromvels, sagte zu seiner Frau,
die er liebte, und die ihn bereden wollte die ihm angetragene Geh: Secrat:
Stelle mit einem sehr ansehnlichen Gehalt anzunehmen (weil sich die
Zeiten geändert, und viele brave Leute anderes Sinnes geworden)
Ach meine Liebe! Sie haben ganz recht: Sie und die ihres Geschlechts wollen
gerne in Kutsche fahren, ich aber will gerne ein ehrlicher Mann bleiben.
Er konnte ihr seine Verlegenheit gar nicht begreiflich machen; sie sah es
nur für eine Kleinigkeit an, nach Gelegenheit der Umstände von seiner
vorigen Meinung abzugehen, ohne darauf zu sehen, ob man auch seinem
Gewißen und der Würde der Menschheit gemäß gehandelt habe. Ein wit-
ziger und verständiger Mann sind sehr verschieden. Der Verstand ist dau-
rend, der Witz aber flatterhafft. Wer Witz ohne Verstand hat, ist ein Witzling.
Der Verstand ist gesezt. Aus der Ursache läßt man in Fabeln den Fuchs witzig
und einen standhafften gravitaetischen Ochsen vernünftig reden. Der Witz
muß dem Verstande die matetialien liefern. Ein Verstand ist zu Einfällen,
ein anderer zu Einsichten aufgelegt. Bey den Franzosen bestehen alle Wißen-
schafften, Politic, Moral, Methaphysic, nur die Mathematic ausgenommen, in
Einfällen. Triblet, Pascal haben so geschrieben. Einfälle sind denn am besten, wenn
sie überraschend, und dem der sie vorträgt, selbst unerwartet kommen. Die schön-
sten französischen Schrifften, selbst Montesquieu, sind daraus zusammen gesezt, vie-
le aber ganz ohne Zusammenhang, dem Leser sind sie so gehaüft, nicht angenehm.

/ Wir

|P_133

/Wir Deütsche sind bestimmt verständig zu schreiben, es wird auch wohl witzig ge-
schrieben, - diesem Witz fehlt doch aber die Lebhafftigkeit des Französischen. Engel-
länder haben viel witziges, es ist aber so schwer, so überlegt, so ausgesonnen,
daß man eine gute Weile Meditiren muß in den versteckten Witz zu fin-
den. Aller Geschmack kommt aus Franckreich; Keine Nation, wo nicht etwa die
alte Griechische, ist so geschmacksvoll. Italiener liefern den Geschmack der Sinne,
in ihrer Bildhauerey, Dichterey, und Music, die Franzosen aber im %.idealischen der Schrifften.

/Seichter und gründlicher Verstand. Mancher Kopf ist von Natur seicht (su-
perficiel) ein anderer tiefsinnig und gründlich. In der Erziehung muß man
sich in Acht nehmen mit der RedeKunst, lieber mit der Mathematic den Anfang
zu machen. In allen Sachen die in Engelland gemacht werden ist Gründlich-
keit; die Sachen nehmlich sind adaequat der Idee, die man von den Sachen hat.
Gründlichkeit und Seichtheit des Verstandes scheint darauf zu beruhen: daß jemand
die Sachen complet bis auf die ersten Gründe untersucht. Es giebt einen an-
haltenden und einen flüchtigen Verstand, einen ordentlichen, tumultua-
rischen und hitzigen Verstand. Verstand ist das Vermögen zu urtheilen; Ver-
nunft daß Vermögen a_priori zum Voraus vor der Erfahrung zu er-
kennen. Mein Bedienter darf nur Verstand haben, mein Manda-
tarius, Hoffmeister pp hingegen muß Vernunft haben. a_priori erckennen
heißt schlüßen. Wenn ein Mensch etwas hätte sollen voraus sehen; so pflegt
man zu sagen: Der Mensch hätte doch sollen soviel Vernunft haben Z.B. daß ihn
der Jude betrügen würde. Sachen die schon in der Erfahrung sind, zu er-
kennen und zu beurtheilen, gehört Verstand; was aber noch nicht in der Erfah-
rung ist voraus zu sehen, gehört Vernunft. In der Cultur muß man recht vom
Verstande anfangen. Man suche eine Sache erst zu verstehen. Es giebt Leüte die
sich Zeit ihres Lebens einiger Wörter bedienen, ohne sich die Mühe zu geben, sie
zu verstehen. Daher entstehen die Streitigkeiten unter einander - die Streitfra-
gen der Philosophen, Sprüchwörter, Sentenzen, Canones pp Man kann offt in großer Verle- 

/ gen

|P_134

/genheit kommen, wenn man sagen soll, was eigentlich ein Wort bedeutet. So
gehets offt den Aerzten. Sie verbieten den Krancken alle sichtige Speisen,
recensiren auch wohl einen ganzen Catalog von der gleichen Speisen, ohne zu
wißen, was sichtig heißt. Sie kommen dabey offt in großer Verlegenheit.
So auch das Wort Gift, dieses hat einen so weitlaüfigen Begriff, daß man end-
lich nicht weiß was Gifft ist; denn es giebt auch nützliche Giffte, die in der
Arzeney gebraucht werden, und von großem Nutzen sind; ercklärt man
es aber so; Gifft ist alles daß, was nicht ein Nahrungs Mittel - ein Bestandtheil
des Cörpers werden kann, so ist der Begriff deütlich. So ist Qvecksilber, Ar-
senick, alle Arten von eigentlich so genanten Gifft, gebraten Butter,
Coffee pp Gifft. Die China ist ein NahrungsMittel und kein Gifft hieß in den
alten Zeiten Dosis und zeigte nichts schlimmes an. Daher zu Gifft so viel
heißt, als zu Gabe, und Venenum kommt her von Venum dare. Man suche
erst ein Wort, eine Sache zu verstehen, und denn raisonire man.

/Die Menschen bedürfen der Vernunft nicht so viel, als des Verstandes.
Wie soll man seinen Verstand excoliren? Um es bey Kindern zu thun,
muß man bey gebraüchlichen Worten bleiben, die sie offt hören, und die
darauf leiten, die Worte recht zu verstehen. Sie dürfen nicht die Qvelle
und Gründe der Begriffe entdecken, sondern nur bloß das Verstehen, was
ihnen beygebracht wird. Alle Moralische Begriffe sind Verstandes Begriffe,
sie entspringen aus dem Verstande, und nicht aus dem Willen, sonst würden wir
an allen Arten Gegenstände davon finden. Was ist Recht? Wir stutzen bey
dieser Frage, und es ist wunderbar, daß man nach 100 Jahren sich besinnt zu
fragen, was im Anfange, vergeßen, und doch so offt darüber gestritten wur-
de, was Recht sey. Eben so was Geschmack sey? Auch dieses wußte man
nicht, und doch sind so viele Bücher davon geschrieben. Der Verstand ist scharf,
lebhafft ausgebreitet, tief pp Alle diese Gattungen stehen dem gesunden Ver-
stande nach. Man glaubt zwar, daß ein Mensch am wenigsten wünsche,

/ wenn

|P_135

/wenn er um denselben bittet, allein wenn er hieran kranck ist, so ist
dieses eine Veringerung der Zufriedenheit mit dem höchsten Grad der
Glückseeligkeit. Um den gesunden Verstand kann man mit Recht bitten,
alle andern Arten des Verstandes, als Schnelligkeit, Schärfe pp kann mann
mit Recht verlangen. Der gesunde Verstand ist nicht eine Sache der
Kunst, er liegt im Naturell zum Grunde, und es wird von ihm nur ge-
fordert, daß er richtig sey. Eben so, wie zur Gesundheit nicht erfordert wird,
das man tanzen und springen kann, sondern die Congruence mit den we-
sentlichen Handlungen. Diogenes sagt vom Plato, der ihm 2mahl so viel
gab, als er von ihm bath: Plato ist immer ein Schwätzer, er giebt mehr als
man haben will. Es muß alles abgemeßen seyn. Der gesunde Ver-
stand ist der, der a_posteriori gebraucht werden kann, der in concreto, oder
in einem besondern Fall, durch Erfahrung Wahrheiten erkennet. Der in
abstracto etwas erkennet ist der Subtile Verstand. Eine Rechtsfrage kann ei-
nem Juristen und auch dem gesunden Verstande vorgelegt werden.
Z.B. bin ich verbunden den Schaden zu reparieren, den mein Eigenthum
dem Eigenthum eines andern ohne mein Verschulden gemacht hat?
Der gesunde Verstand braucht dabey ein wenig Bedenckzeit, um sich einen
Fall in concreto vorzustellen. e. g. Wenn das Eigenthum mein Ochs wäre pp
Er urtheilt gar nicht in abstracto, sondern in einem gegebenen Fall. Dies
ist der gemeine Verstand, und in so ferne er richtig ist, der gesunde. In
einer kleinen Stadt in Kürchenstaat besteht der Rath aus 4 Persohnen (il
quadri litterati) die nicht schreiben können, weil sie bey Leüten, die schon
schreiben können, viel Räncke und nichts Gutes vermuthen, um also immer
ehrliche Leüte im Rath zu haben, laßen sie den, der eine Rathsstelle erlangen
will, schwören daß er nicht schreiben könne. Bey uns giebts auch Gerichte, bloß
von Schulzen, die eben so beschaffen sind, die einzig nach dem gesunden
Verstande, und doch dabey unvergleichlich urtheilen. Sie urtheilen bloß in

/ con

|P_136

/concreto, auf jeden Fall wißen sie zu antworten, niemals aber in
abstracto. Der gesunde Verstand ist ein practischer Verstand. Der subtile
oder abstrahirende ist der, der eine allgemeine Regel erkennet, nach wel-
cher in besonderen Fällen soll gehandelt werden. Jedes Urtheil in abstrac-
to ist bloß als eine Regel anzusehen, nur durch den gesunden Verstand,
können wir einen Fall unter einer allgemeinen Regel subsu-
miren; kein geschickter, kein gelehrter Verstand, kann das thun, wenn
ihm der gesunde fehlt. Ein Lehrling muß also einen gesunden Ver-
stand haben, einen Fall unter einer gewißen Regel zu subsumiren; die-
ses kann man ihm nicht bey bringen. So Z.B. die Complimente die ein Frau-
enzimmer in einer Gesellschafft machen soll, zu unterscheiden, daß kann
man sie nicht lehren. Wenn man ihr die Regel der Artigkeit gegeben,
so überläßt man die Anwendung der selben ihr und ihrem gesundem Verstan-
de. Der gesunde Verstand ist also bloß das Vermögen in concreto zu
urtheilen. Dies Vermögen kann allein nicht entbehrt werden, es ist
aber unmöglich daßelbe Jemand bey zu bringen. Es ist eine subsump-
tion eines casus dati sub certa regula. Ob der gegebene Fall derjenige
ist, wo die Regel soll angewandt werden, muß der gesunde Verstand
entscheiden - es ist die minor propositio in Syllogismo practico. Dumme
Leüte verfahren immer nach Regeln, die man ihnen genau vorgeschrie-
ben, Narren kann man nach Reln leiten, aber nicht vernünftige Leüte;
daher offt gesagt wird: Der hat sich das zur Regel gemacht, Z.B. nichts dem
andern auf sein Wort zu glauben pp Man laüft dabey offt übel an, da man
durch Abweichung von der Regel sich gewiße Nutzen verschaffen könnte. Es ist
bisweilen gut, Regeln zum allgemeinen Gesezz zu machen, weil man
offt nicht subsumiren kann. Beym Heirathen und den Bewegungs-Grunden
dazu verhält es sich so, wo es im Ganzen beßer ist, daß man darnach verfährt,

/ um

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/um zu leben zu haben. Viele sehen daher nicht nach den Gemüths-Ei-
genschafften, sondern vorzüglich in der Jugend nach Geld und nach Schön-
heit, und berufen sich dabey auf das dumme Sprichwort; die Liebe wird sich
schon finden. - Wenn ein Mensch einen gesunden Verstand hat, so
darf man ihm nicht an Regeln binden. Denn gesunden Verstand kann
man, von jedem Menschen verlangen, bey demselben ist die Einheit,
und Richtigkeit zu mercken. Die Einheit ist der kleinste Grad des Verstan-
des. Bey der Forderung des gesunden Verstandes ist auch die Forderung
der Richtigkeit billig, und die findet sich gerne bey der Einheit. Das
künstliche ist eher dem Betruge unterworfen. Die Gesundheit ist nicht eine
Sache der Kunst, wer viel Arzeneyen braucht, sucht eine Kranck-
heit nach der andern zu unterdrücken, und wer sich dadurch gesund
erhalten kann, ist nicht gesund. Wir finden beym Menschen etwas, was
die Natur ihm unverderbt gab, was sich nicht durch Kunst verschaffen
läßt. - Man sieht wohl der gesunde Verstand ist sehr empirisch. Er for-
mirt seine Urtheile durch die Erfahrung. Die moralischen Gesetze
der Philosophie, und der gemeinen Leüte sind nur darinn unterschie-
den, daß der gemeine Verstand, nicht die Regel einsieht, er übt den
gesunden Verstand bey den Gegenständen der Sinne aus.

/ ≥ Von der gesunden Vernunft

/Sie ist das Vermögen a_priori zu erckennen, i. e. ohne es aus der Erfahrung
abzuleiten. Man braucht den Verstand um etwas Anbefohlen aus-
zuführen, man braucht aber Vernunfft, etwas auszuführen, ohne
daß es anbefohlen. Man muß wißen, was der andere wohl würde
geurtheilet haben, wenn ihm der Umstand bekant gewesen wäre. - Alles
vorhersehen, Muthmaßen pp geschieht durch die Vernunft, als denn wenn
wir nicht aus Aehnlichkeiten schlüßen, sondern aus Gründen. Sie zeigt
sich darinn, daß wir Dinge ohne gegebene Fälle erckennen. Gesun-
de Vernunft ist, die aus der Erfahrungs-Grundsätzen a_priori urtheilt.

/ Die

|P_138

/Die Vernunft schlüßt, darum nennt man sie auch das Vermögen zu schlüßen.
Vernunft schlüßt in maiori, Verstand in minori, beyde in conclusione. Z.B.
Alles Veränderlich hat seine Ursach, ist ein allgemeiner Satz, durch den ich viel
erckennen kann. Ein Mensch ist veränderlich, dieses erkenne ich durch den Ver-
stand, überhaupt die Anwendung der Regel beruht nur auf dem Verstan-
de. Z.B. Beym Rechnen muß der Lehrer seinen Schüler überlassen, einen
Fall unter die Regel zu bringen. Dieß kann nicht durch Regel erkannt
werden, sondern durch Ubung. Es findet sich, daß diejenigen, die gesunden
Vernunft haben ein allgemein Gesetz zu ercklären, offt nicht das Vermö-
gen haben, einen Regel auf den gegebenen Fall zu appliciren, und zu
sehen, ob das eben der Fall sey, den die Regel anzeigt, diesen fehlt der ge-
sunde Verstand. - Aller Unterricht, der nicht bloß eine Nachahmung seyn
soll, geschieht, daß gewiße allgemeine Gesetze gesagt werden. Wie in der
Mathematic, Philosophie pp die Vernunft kann dadurch excolirt werden.
Die Schulen können nicht den gesunden Verstand geben, aber wohl durch viele
vorgelegte Fälle excoliren. Der gesunden Vernunft ist am meisten entgegen, die
Nachahmung, daß ist ihr Tod, sie würckt in der Jugend am meisten. Nachahmung ist
die erste Art der Erlernung bey allem, bey Manieren, bey Wißenschafften pp
Wenn der Mensch nicht eine phylosophische Wiedergeburth erleidet, wenn er
etwas zu Verstande gekommen; so bleibt dies Verderben <bis> ins Alter. Die Nach-
ahmung ist der Vernunft deßwegen so gefärlich, weil man bey der Nachahmung
nicht allein nicht a_priori, sondern auch nicht einmal aus der Erfahrung urtheilet,
man braucht seinen Verstand gar nicht - sondern den Verstand anderer. Wo einer
Zaubereyen sieht - siehet der andere Betrug, wo der eine antipathie und sympa-
thie findet, da siehet der andere nichts als Einbildungen - wo der eine Schick-
sale siehet, erblickt der andere eigene Schuld. Uber die Dinge der Welt läßt sich
nur urtheilen, wenn sich die Gesetze der Natur deütlich zeigen.

/ Je

|P_139

/Jedes Ding ist dem Gebrauch der Vernunft entgegen, was es nach Ge-
setzen den Natur, oder was es in Ansehung der Erckenntniß, der Ord-
nung der Welt unmöglich macht. So gehts bey Zaubereyen, wo ein altes
Weib durch mächtige Worte und Herbeyziehung höherer Wesen, die
Ordnung der Natur umkehren will. Wenn solche Vorurtheile bey einem
Volcke gegründet sind; so thun sie der Vernunft großen Abbruch. Es ist aber
sehr commode die Vernunft ruhen zu laßen. Obgleich uns die Vernunft
kein Mißvergnügen verursacht. Da wir die Dinge a_priori erckennen
ohne auf Erfahrungen zu sehen, so ist man doch insgemein froh, von dem Gebrauch
derselben befreyt zu werden. Es ist immer etwas mühsahmes beym Gebrauch
der Vernunft - man muß Scharfsinnigkeit gebrauchen, das Spiel des Witzes da-
bey unterscheiden. Daher sieht man gerne Wunder. i. e. solche Dinge die
nicht durch unsere Vernunft zu begreifen sind. Sie geben der Vernunft
Ferien. Wir hören gerne Wunderdinge, dergleichen Erzählungen sind
angenehm, weil wir dadurch von den Beschwerungen der Vernunft
loß gesprochen werden. Wir würden es uns immer vorwerfen, wenn
wir bey begreiflichen Dingen unsere Vernunft nicht gebraucht hätten,
aber jetzo dürfen wir uns keine Vorwürfe machen, da die Sache über unsere
Vernunft gehet. Es giebt mancherley Arten von Wunderdingen.

/1.) Träume und ihre Deütungen.

/2.) Einbildungen schwangerer Weiber, %und der vermeynte Einfluß auf die Frucht.

/3.) Einflüße des Mondes und der Gestirne.

/4.) Erscheinungen der Geister und Gespenster.

/5.) Antipathie und Sympathie

/6.) Die Wünschelruthe.

/Der Wahn in Ansehung schwangerer Weiber wird noch lange fortdauren
(Obgleich er durch medicinsche Gründe längstens wiederlegt ist) weil er
ein Wahn des weiblichen Geschlechts ist. Das weibliche Geschlecht nimmt eher einen

/ Wahn

|P_140

/Wahn an, als das männliche, daß macht die Gemächlichkeit, die sie lieben.
Dieser Wahn ist ihnen noch überdem sehr nützlich, und es ist eine für sie nicht
geringe Freüde, daß ihre Einbildung einen so wichtigen Einfluß macht, und wenn
die Kinder hernach Fremden ähnlicher sind als ihren Vätern; so können sie
solche sehr füglich auf ihre erhizte EinbildungsKrafft, als die Schöpferin dieser Aehn-
lichkeit schieben, und die Männer müßen es ihnen glauben. Noch mehr ver-
schafft ihnen dieser Einfluß Vortheile die Männer zu allerley Ausgaben zu
nöthigen, die ihnen selbige ihren appetit zu stillen, um aus furch eine
Mißgeburth statt eines Kindes zu bekommen, gutwillig gewehren müßen.
Man lese hierüber @Kiekalmans@ Buch von der Einbildungskrafft. Mondein-
flüße. Der Mond verursacht, daß die See zweymahl in 24 Stunden durch
Ebbe und Fluth bewegt wird. Daraus wollte man allerley schließen Z.B. Ob
die Erbsen gut blühen werden - ob der Mond nicht einen Einfluß auf die Bäume
und Gewächse habe, ferner wollte man daraus die Zeit die Bäume zu fällen
errathen. Indeßen ist doch noch ein Gegenstand der einiges Nachdenckens würdig ist.
Die Ausdeutungen der Traüme und Geschichten der Geistererscheinungen schei-
nen aus den Klöstern ihren Ursprung zu haben. Die Mönchen führten in
den Klöstern ein commodes Leben, ihnen kam der Abend niemals lang vor, weil
sie sich beständig neüe Wunderdinge, Märchen und Erdichtungen erzählten. Wollte
sich einer den Kopf darüber zerbrechen, und es durch seine Vernunft zu erklä-
ren suchen; so erzählte ein anderer etwas 10 mahl ärgeres. Sie machten eine
ordentliche Wißenschafft daraus, theilten die Geister in Classen: in Cubos, subcubos
und Vampios pp Ohne je einen gesehen zu haben. Dieses gab also ein freyes Feld
für Er«f»dichtungen ab. Man empfindet doch aber immer einen Wiederwillen bey
sich, wenn man dergleichen Zeüg anhören muß; so wie ein gutartiger Mensch, ei-
nen Abscheü empfindet, wenn er etwas böses thun soll.

/Die Wünschelruthe wird den Bergleüten zugestanden, und man würde diese durch
Behauptung der Falschheit dieses Glaubens nur wieder sich aufbringen, ja Valerus,

/ der

|P_141

/der große schwedische Naturalienkenner, ist selbst der Meinung. Einige vernunfte-
re Verfechter dieser Meynung, denen, dennoch etwas abergläubisches zu seyn
schien, ließen manche Umstände weg. Sonst hieß es: man soll einen Zweig
von Haseln in der Johannis-Nacht schneiden, daß der Stock auswärts gekehrt
sey, kommt man nun an eine Stelle, wo Metall ist so soll sich der Stock zur Er-
de neigen und hin und her schwancken. Um es nun aber etwas vernünftiger und
wahrscheinlicher zu machen, sagten einige: Er dürfte nicht in der Johannis-Nacht ge-
schnitten seyn, Andere schräncken es noch mehr ein und sagten, es wäre einerley
ob sie von Holz oder Metall wäre, es komme nur auf die Person an, und sagten
die Ursachen der Bewegung der Wünschelruthe liegt in der Elecktrischen Würckung,
die die mineralischen Theile, auf dem menschlichen Leib machten. Wir fühlen bey An-
horung solcher Wunderdinge, doch immer einen Zuruf in uns, der uns sagt:
Bediene dich deiner Vernunft, denn fällt die Vernunft weg, so haben wir nichts
als den thierischen Instinct, die Vergleichungen durch Witz und die EinbildungsKrafft
übrig.

/ ≥ Von den Gemüths-Fähigkeiten

/Die Erkenntniß-Vermögen, sammlet man alle in dem Kopf, die Begierde
aber verweist man an das Herz. Man giebt einem Menschen einen solchen
Namen, der von dem Vermögen, wozu er besonders inclinirt entlehnt ist. Es
giebt verschiedene Köpfe pp in Ansehung der Wißenschafften, giebt es empieri-
sche, poetische, mathematische, philosophische Köpfe, diese Benennungen sind
vom Object entlehnt. Es ist alle mal werth zu untersuchen, was für Gemüths-
Kräffte dazu erfordert werden einen Kopf oder eine Fähigkeit zu machen.
Was gehört nicht dazu einen Geist der Beobachtung zu haben. - Ein nothwendiges
Stück der Medicin ist der empirische Kopf, dazu gehört nicht Feinheit der Ver-
nunft um in abstracto zu urtheilen, welches wohl auch seinen Nutzen hat.
Vorzüglich muß der Medicus alle Umstände und ihre Vercknüpfung bemercken,
um auf die Spur zu kommen, was der Patient für eine Kranckheit hat.
Weil Carl_VIte gestorben war, so stritten noch die Aerzte, was er wohl für eine

/ Kranck

|P_142

/Kranckheit könnte gehabt haben. Nicht bloß gute Sinne gehören zum empiri-
schen Kopf, sondern auch das Vermögen zu vergleichen, also ein ausgebrei-
teter sensitiver intuitus, sich der vorhergegangenen Umständen erinnern
zu können, und sich auf viele andere aehnliche Fälle zu besinnen. Das
Hamburgsche Magasin erzählt, daß ein Bauer eine besondere Kranck-
heit gehabt, er vertrocknete, und zwar so, daß wenn er ging ihm alle
Gebeine klapperten, die Aerzte untersuchten die Kranckheit, und be-
dienten sich einiger Mittel dieselbe zu heben, sie glaubten daß Glie-
derwaßer sey zwischen den Gebeinen, Gelencken vertrocknet, und kamen
auf die Gedancken, da sich das QveckSilber mit dem Speichel vermischt, daß
dieses dazu dienen könnte ihm das Gliederwaßer wieder zu ver-
schaffen. Man applicirte Mercurialsalbe und es half. Ein Arzt zu dem ich
viel Zutrauen habe, muß erfahren seyn. Er darf eben nicht von
der Strucktur des menschlichen Leibes viel Erfahrung haben (denn
die ist sehr klein und die Erckenntniß eingeschrankt, so hoch sie die Arzte
auch treiben) sondern von vielerley Kranckheiten, von denen sich da bey
bedienenden Heilungs mitteln, und von der Würckung derselben auf die
Kranckheiten. Hyppocrates, der unter den Aerzten oben anstehet, wußte nichts
von Circulation des Bluts, gleichwohl war er in seiner praxi so glücklich.
Nur gute historische Erckentniß kann nebst einer solchen Beobachtung
mehr dienen, als a_priori nach einem System zu curiren, wo der menschliche
Cörper sich nach dem System des arztes, welches er im Kopf hat, richten soll.

/Zum Mathematiker wird ein ganzer anderer Kopf erfordert, als zum
Philosophen. Zwischen diesen beyden Wißenschafften ist ein großer Unterschied. Die
Philosophie ist mehr eine Wißenschafft des Genies, die Mathematic hingegen mehr eine
Kunst, man kann sie als ein Handwerck erlernen, und es sehr hoch darinnen bringen,
wenn man gleich nicht selbst was neües erfindt. Man darf sich nur mit einer Sache
lange beschäfftigen, und aufmercksam seyn können. Dabey ein gut Gedächtniß haben, daß
man die Aufgaben im Kopf behällt. In der Philosophie kann sich einer darauf nicht

/ ver

|P_143

/verlaßen, was der andere erfunden und gesagt hat. Zum philosophischen Kopf gehört
ein gewißer Witz, daß man die Stellungen einer Sache verändern kann
und denn auf die Folgen sieht. In der Mathematik sind die einfachen Erckent-
niße die leichtesten; in der Philosophie hingegen die schwersten. In der
Philosophie kann ich mir keinen Fall in abstracto dencken, ich muß erst ei-
nen in concreto annehmen. Z.B. Billigkeit in der Mathematic ist es umge-
kehrt, ich kann die Sache nicht in concreto betrachten, sondern in abstracto. Z.B.
um einen Berg zu meßen, muß ich mir eine gerade Lienie vorstellen
und dann meßen.

/Ein pöetischer Kopf ist ein gar künstlicher und besonders Organisirter Kopf,
er ist schöpferisch. Wenn die Menschen schaffen; so muß etwas herauskom-
men, was mit der ersten Schöpfung gar nicht stimt. Man lese Milton in
der Reise des Engels, es wird die Manier, Art und Weise der Sache beym
Poet vorkommen, aber nicht die Sachen selbst, nur die Schattenbilder dersel-
ben, er ahmt die Stimme eines Tugendhafften nach ohne selbst tugendhafft zu seyn - 
er spricht in dem Thon eines Helden, und hat kein Herz. Wie jenes Thier daß
alles im Walde in Schrecken sezte, indem es sich in eine Löwenhaut ge-
hüllet hatte, aber an seinen natürlich langen Ohren bald kennbar wurde.
Ein Pöet wird selbst keinen Charackter haben, aber der Charackter aller
Menschen wird er sehr geschickt nachahmen können, und von allen nur
den Schein annehmen. Er muß Witz oder Leichtigkeit besitzen, seine eigene
Denckungsart umzuwandeln, und sich in die Stelle eines andern zu setzen.
Er muß auch viele Vergleichungen anstellen können. Man hat bemerckt, daß
wenn ein Poet recht dichten und einen Charakter machen will, so muß er
auch die Mienen deßen annehmen, den er schildert, welches auch nicht
unrichtig ist. Man sagt vom Prof. Piril, daß er Reitstiefel anzog und
im garten herumging um einen Helden desto beßer zu schildern.
Es scheint als wenn ein Mensch sich nicht so recht in die Stelle eines andern

/ set

|P_144

/setzen kann, wenn der nicht auch die Mienen eines andern annimmt«,». Man be-
merckt, daß, wenn Leüte etwas erzählen.

/Mechanischer Kopf. Einige sind von Kindheit auf mit schnitzeln beschäftigt,
mit Mahlen und dergleichen pp so giebts auch musicalische Köpfe; es würde
sehr nützlich seyn, zu untersuchen, was zu einem jeden erfordert wird.
Man könnte denn einen jungen Menschen gleich a_priori sagen, was für
eine Metie sich für ihn schicke. Es ist nicht gut, wenn junge Leüte sich selbst ein
Metie wählen, denn sie wählen aus unrechten Bewegungs-Gründen - 
so will mancher ein Medicus werden, weil er spatzieren und seinen
Patienten im Vorbeygehen besuchen kann. Einem andern gefällt der geist-
liche Stand, weil alles um den Prediger still ist, und er allein re-
den kann, das ärgste ist, daß Menschen wozu Lust haben, wozu sie
nicht die geringste Fähigkeit besitzen. So dichten viele, ohne daß sie Je-
mand liest, und viele klimpern ohne Aufhören auf dem Clavier
wagen es wohl gar etwas zu componiren und kein Mensch
hört sie. Sie vernachläßigen daß, wozu sie von Natur Lust haben,
und geben sich mit Dingen ab, wozu sie von der Natur mit keinen
Fähigkeiten ausgerüstet sind. Sie wollen sich selbst Zwecke machen, %und
glauben diejenige zu seyn, die nach dem Prometheus die Zwecke der
Schöpfung bestimmen wollen. Das Studium der Köpfe ist von großer Wich-
tigkeit. Die Departements der Künste und Wißenschafften würden
jezt nur durch den Zufall besezt und da die Wahl nicht aus Nei-
gung geschieht, sondern offt aus zwang %und noch öffterer aus Wahn,
so kommts auch, daß kein Mensch in seiner rechte Stelle geräth. Es
würde gewiß ein lustiger Plan werden, wenn man jeden Menschen
in seine rechte Stelle setzen wollte. Manch schlechter Jurist würde als-
denn ein guter Holzhacker werden. Die menschliche Freyheit macht die- 

/ se

|P_145

/Verwirrung, daß sich die Menschen fremde Stellen wählen. Viel-
leicht macht auch diese Verwirrung die Bewunderungswürdige Mannig-
faltigkeit unter den Menschen, obgleich sie sich auch öffters so ver-
wirren, daß sie nicht wieder herauskommen. Hieraus fließt die
allgemeine Idee.

/ ≥ Vom Genies

/Genie bedeütet einen Originalgeist. Man bedient sich des Wortes
Geist zu vielen Fällen, Z.B. von einer Gesellschafft, von Gemählden - 
Man sagt der Discour ist ohne Geist, es fehlt ihm das bele«h»bende. Original-
geist, ist nicht der Geist der Nachahmung. - Wir haben bisher die
ErckentnißKräffte des Menschen erwogen, jezt gehen wir «¿»zu sei-
nem Gefühl der Lust und Unlust über, und ziehen seine Gründe
der Thätlichkeit in Bewegung. - Die drey Ausdrücke sind sehr ver-
schieden und offt entgegengesezt, 1.) es vergnügt. 2.) es gefällt. ) es
wird gebilligt. - Was vergnügt ist angenehm, was gefällt nemlich in
der Erscheinung ist schön, was gebilligt wird ist das Gute. - Das schmerz-
liche ist also vom Bösen sehr unterschieden. Lust und Unlust in Beziehung
auf die Empfindungen, ist das angenehme und der Schmerz. In Beziehung
auf den Geschmack machen Gegenstände das Schöne, oder häßliche. In Beziehung
auf den reinen Verstand, heißen sie gut oder böse. Die Tugend wird als
das höchste Gut gebilligt, und gefällt über alles, denn alles außer ihr gehört
bloß zur Annehmlichkeit, aber leider sie vergnügt uns in sich selber nicht. Gefühl
der Lust und Unlust ist verschieden vom Geschmack. Wenn wir alle «¿»Fälle
vergleichen, die uns Lust oder Unlust machen, so finden wir allgemein,
daß alles, was in uns zusammenstimmt uns unser Leben fühlbar zu machen,
das macht uns Lu«f»st, und alles, was unsere Lebens-Fähigkeiten bindet erregt
in uns Unlust. Das Principium aller Lust oder Unlust, liegt also in der Begün-
stigung oder Bindung unserer Lebens-Fähigkeiten. ZB. Unser Leben empfindet
das gröste Vergnügen, wenn es von Gegenständen in die möglichst gröste Activitaet

/ ge

|P_146

/gesezt wird. Wenn aber der Anblick von Gegenständen so beschaffen ist, daß unser
Auge gezerret wird, und ein Eindruck den andern hebt, oder wenn es gar
keine Eindrücke hat, so empfindet es Unlust, falls nicht ein anderer Sinn
in der Zeit vergnügt, oder in activitaet gesezt wird. Was auf unsere
GeschmacksDriesen den grösten Eindruck macht, das schmeckt uns am besten.
Die Music giebt unserm Ohr gleichzeitige Eindrücke, und diese bringen
das organ in die gröste Erschitterung. Aber könnte man sagen, Menschen
finden ja an Ausschweifungen und Handlungen ein Vergnügen, wenn
sie auch ihr Leben verckürzen. Es ist wahr, aber das, was uns vergnügt,
befördert auch nicht unser Leben, sondern läßt uns nur unser Leben
fühlen. Alle Rausche laßen uns unsere Thätigkeit fühlen, außerdem daß
sie unsere GeschmacksDriesen reitzen. Alles was unsere Sinne verlezt, macht
Schmerz. Verletzung kleinerer Glieder des Leibes macht weit hefftigern
Schmerz, als größerer. Z.B. Zahnschmerz sind die empfindlichsten, und
keiner ist doch daran gestorben. Aber LungenKranckheiten fühlt man nicht,
das macht, daß bloß die Nerven uns Gefühl geben, deren die Lunge kei-
ne hat. Außer dem Vergnügen an der Thätigkeit des Sinnes giebts
noch ein Vergnügen, daß aus der Summe aller Theile entstehet, ein
Vergnügen aus dem Gefühl des gesammten Lebens, wenn nemlich innerlich
die Lebens-Canäle bespeiset sind, und man nichts zu verlangen hat.
Der lustige Abt, der nach einer guten Mahlzeit müßig den weichen
Polster drückt, fühlt das Vergnügen in der Zufriedenheit. Sein
ganzer Zustand bestehet aus einer sinnlichen Empfindung, wo nie
eine vor der andern hervorsticht. Gesundheit läst nicht das gesamte
Leben fühlen, Kinder weil sie recht gesund, sind in «¿¿»beständiger
Unruhe und Neigungen. Es giebt Menschen, denen weder Schmerz
noch Vergnügen bis an ihr Gemüth reicht, da ihnen doch das Leben über- 

/ haupt

|P_147

/haupt gefällt. Man kann viele Dinge verlangen, und doch dabey zufrieden
seyn, wenn man sie auch nicht hat, weil man sie bloß als Mittel zur Vergröße-
rung der Zufriedenheit betrachtet. Wer sie als Bedürfniße zur Zufrie-
denheit ansieht, der ist unglücklich und unzufrieden. - Schmerz und Nieder-
geschlagenheit sind verschieden, das gesezte Gemüth bewundert jedes, wenn
es keine Annehmlichkeiten hat; so hat es doch auch keine Traurigkeit. Jeder
wünscht sich nichts lieber, als eine immerwährende Freüde, sie ist aber
höchst unsicher, denn es darf sich nicht im geringsten ändern, so ists mit
der Lustigkeit aus. Der gesezte Mann hängt vom Zustande nicht ab. Der Schmerz
ist eine wahre Hinderung des Lebens, und das Vergnügen eine wahre
Vergrößerung des Gefühls des Lebens. Wenn der Schmerz eine Hinderung
des Lebens des Gefühls, und das Vergnügen eine Vergrößerung des Ge-
fühls des Lebens ist; so bin ich, wenn die Hinderung des Gefühls des Lebens weg-
geräumt ist zufrieden. Die Zufriedenheit ist kein positives Vergnügen, der
Schmerz hingegen eine wahre Hinderung des Lebens und etwas positives
was mit meiner Zufriedenheit zusammenstimmt, erfreüt mich nicht allemal.
Epicur behauptete, daß die Glückseeligkeit, der ein Mensch theilhafftig werden
könne, das fröhliche und zufriedene Herz sey, wo die Zufriedenheit aus uns
selbst qvillt. - Wir müßen unterscheiden den Hang zur Fröhlichkeit und
Zufriedenheit, vom Hange zur Lustigkeit, und von der Neigung alle Vorfälle
zum launigten Spaß zu kehren. Die ganze Zufriedenheit beruhet nicht
auf den Vorfällen und Gegenständen, sondern auf die Art, wie der Mensch
die Dinge aufnehmen, und von welcher Seite er sie ansehen will. Das
große Kunststück dazu zu gelangen ist, daß man den Dingen in der Welt
die Wichtigkeit nimmt, denn wird uns der Schmerz nur matt afficiren, denn
ist uns alles gleichgültig, das eine afficirt uns so wenig als das andere. Kein
Unglück kann einen solchen Menschen niederschlagen, er wird immer

/ Ur

|P_148

/Ursach finden vergnügt zu seyn. Wird er an einem Orte nicht gelitten, so gehet
er an einen andern. Glückliche Gemüthsart, wenn der Mensch den Din-
gen die ihn begegnen, die Wichtigkeit nimmt, er wird dadurch nicht fühl-
loß, er fühlt den Schmerz und alles was ihm begegnet, allein der Schmerz
wird sich niemals seiner bemächtigen. Ein Mensch zu seyn ist wircklich
eine unwichtige Sache, aber eins ist ihm Wichtig die Rechtschaffenheit.
Wohl leben, einige Jahre länger leben, ist so was, was vorzüglich die Wahn
und die Eitelkeit begünstigt, wir müßen nicht eine Wichtigkeit daraus mach-
en, weil es andere thun. Die Betrachtung der Kurze des Lebens kann
uns am besten zur Gemüthsruhe und Zufriedenheit helfen. Genaue Be-
folgung deßen, was uns die Moral vorschreibt, damit das Gewißen
uns nichts Vorwerfe ist mit ein kräftiges Mittel zur Zufriedenheit.
Was können wir davor daß die Dinge in der Welt nicht nach unserm
Wunsch gehen, unserer Zufriedenheit sollen sie uns doch nicht rauben. Au-
gustus frug bey seinem Ableben: meint ihr daß ich meine Rolle in der
Welt gut gespielt habe? Ja, sagten die Zuschauer, nun so ziehet den Vor-
hang nieder und klatscht. Was hilft mir das am Ende des Lebens, daß
ich so und so viel geschmauset habe. Der moralische Charackter des Men-
schen ist das einzige wichtige an ihm, diese soll er unbefleckt erhalten,
daß macht seine wahre Zufriedenheit und sein Vergnügen aus, und macht
ihn nicht unwürdig auf etwas beßeres in der Zukunft zu hoffen.

/ ≥ Von der Lustigkeit und Traurigkeit

/Lustigkeit scheint mehr als Zufriedenheit zu seyn. Der Lustige und
Vergnügte sollte der nicht beßer daran seyn als der bloß Fröhliche?
Wer mehr Mittel hat als hinreichend sind zur Glückseeligkeit, ist der
glücklicher, als der bloß soviel hat, als er bedarf? Ein Leben ohne
alles Vergnügen, scheint des Wunsches nicht Werth zu seyn. Wenn

/ wir

|P_149

/wir uns alles Vergnügen entbehrlich machen, aller Anhänglichkeit an daßel-
be versagen; so empfinden wir zwar kein Vergnügen, aber
sie tragen auch nichts zu unserer Glückseeligkeit bey. Aus Gewohnheit
allein macht man sich viele Dinge unentbehrlich. Ich kann zufrieden
seyn und der Vergnügungen entbehren, sie tragen zur Glücksee-
lichkeit wenig bey. Einem Sinne ¿nach kann ich durch Vergnügen gewinnen,
verliere aber dadurch wieder etwas am andern Ort. Z.B. Ich gehe in die
Comoedie, hatt ich aber nicht statt dessen ein gut Buch gelesen, oder ei-
nen Freünd besuchen können? Alle Menschen suchen Reichthum,
denn der Reichthum giebt eine souveraine Gewalt über alles, was
in der Macht der Menschen stehet. Er vermehrt die Begierde, die
wir haben, uns Vergnügen zu machen. Man glaubt vor Geld
alles haben zu können, so gar Gesundheit und ein ruhiges Gewißen. Wer
wollte nicht gerne ein unbeschräncktes Mittel in Händen haben, jede
Begierde stillen zu können? Aber ob das Geld würcklich glücklich macht,
ist eine andere Frage? Ha«¿»t man gleich die Mittel in Händen, so ist
daß doch nicht der Genuß selbst. Behällt man das Geld immer nur als ein
Mittel zu Befriedigung seiner Neigungen in Händen, so ists Kargheit,
sucht man noch mehr damit zu verdienen, und sieht man das Geld nur
als ein Mittel an, neüe Mittel zu erwerben; so ist das der eigent-
liche Geiz - eine sonderbare Art sich des Geldes zu bedienen. Solche Leute
weiden sich mit der Imagination, sie sehen ruhig andere in die Comoedie
fahren, und freüen sich daß es nur auf sie ankommt, jedes Vergnügen
sich zu verschaffen %und alles mitmachen zu können. Sie sehen ihren
Geldkasten an, und sehen alles darinn, Lustgärte Kutschen, Redouten, Opern,
Bälle und Masqueraden, ohne daß es ihnen einen Schilling kostet. Es ist

/ gleich

|P_150

/gleichsam ein optischer Kasten, eine zauberische Macht, die alles hervorbringen
kann, und einer Allmacht gleicht. Ob es gleich ein Vergnügen ist, bloß mächtig
zu fühlen, so verschafft uns die Macht doch keinen Zusatz zur Glückseeligkeit.
Wenn wir nun aber Vergnügen genießen, vergrößern sie die Glück-
seeligkeit? Einige wenige, aber auch die nur im Anfange. Das Vergnügen
nuzt sich selbst ab, es hat kein Mittel sich zu renoviren, da nun die Lustig-
keit der Grad der Vergrößerung des Gefühls des Lebens ist, der etwas po-
sitives hat, und der nicht bloß Zufriedenheit sondern auch ein größeres
Gefühl des Lebens verschafft; so ist der Mensch bey der Lustigkeit nicht im Gleich-
gewicht - das Gemüth stimmt nicht überein. Das Glück des Menschen bestehet
in der Abwesenheit des Schmerzes und Mißvergnügens. Kommt wohl die
Lustigkeit mit der Fröhlichkeit in einem Vergleich. Wenn in Franckreich
über der Tafel concerte angestellt werden, und zulezt alles zu singen
anfängt und lustig ist, sind die vergnügter, als die sich mit fröhlichen dis-
coursen unterhalten? Lustigkeit ist erschöpfend, raüberisch und zerstöhrend.
Man kann niemals bey einem lustigen Menschen lange recht vergnügt
seyn, es folgt auf die Erschöpfung der Kräffte immer eine Traurigkeit.

/ ≥ Von der Laune (houmeur)

/Es ist vorauszusetzen, daß jeder Mensch in der Welt das Vermögen hat, die
Dinge der Welt aus einem Gesichtspunckte anzusehen, wie er selber will
entweder als wichtig oder als lächerlich. Der eine sieht einen Aufzug für
sehr ernsthafft und gravitaetisch an, der dem andern pousierlich vorckomt,
wo er allenfalls auch was zu lachen hat und findet. Wir nehmen nie-
malen die rechte Seite der Sachen, auf zwey Stücke komts hier vorzüg-
lich an.

/1.) Wie die Sache in ihrem rechten Lichte erscheint und

/2.) Wie sie der Beschaffenheit meiner Seele am heilsamsten ist.

/Man sieht im menschlichen Leben lauter Thorheiten; der Thorheit hängen
wir aus Neigung nach, der Ernsthafftigkeit und den wichtigen Geschäfften

/ aus

|P_151

/aus Zwang. Ernsthafftigkeit gränzt immer an Kummer. Thomas Morus
war so glücklich, die launigte Gemüths-Disposition zu haben, wenn ihm ei-
ne Sache wiedrig seyn wollte, so sah er ob er sie nicht zum Spaß gebrau-
chen könnte, aber nicht zum schalen Witz. Mancher Mensch hat von Natur die
Disposition, daß er den Dingen die Wichtigkeit nehmen kann. Die Lustig-
keit ist ein positiver Grad des Vergnügens, sie ist raüberisch, da sie uns andere
Vergnügungen raubt, indem wir dem einen nachhängen, sie verschwen-
det die grösten Kräfften der Seele; daher komts daß wir lusti-
ge Leüte auf einmal ohne alle Ursache traurig sehen. Wir unter-
scheiden auch jederzeit das Vergnügen und den Schmerz von der Freüde
und Traurigkeit über das Vergnügen oder den Schmerz. Die Trau-
rigkeit ist das Urtheil über das Elend des Zustandes und kommt von der
falschen Schätzung her. Wir finden, daß wir gar nicht leiden können,
daher entfernen wir uns gerne von einem der traurig ist, und
wenn wir uns auch bisweilen bey ihm aufhalten; so geschiehts nur
deßwegen, um nicht den Namen eines kalten Freundes zu haben
und zu hören. Doch in der Gesellschafft deßjenigen, der zwar den
Schmerz fühlt, ihn aber großmüthig und stoisch erträgt, bleiben
wir gerne. Wir leiden auch nicht gerne einen übertrieben
lustigen Menschen, um verschiedener Ursachen willen, theils
weil wir ihn verächtlich finden, theils weil wir voraussehen,
daß im Schmerz der ihm von ohngefehr zustoßen könnte, ihn ebenso
trostlos machen werde, als er ausgelassen vergnügt ist, und denn
auch, weil wir bey seiner gar zu großen Heiterkeit anfangen nei-
disch zu werden. Der Schmerz so wohl als die Freüde muß communicalis
seyn, dieß geschiehet, wenn sie das Mittelmaaß nicht überschreiten
und in der Empfindung bestehen. In einem solchen Zustand sich zu
versetzen, ist möglich, wenn man sich von Jugend auf übt von

/ an- 

|P_152

/von angenehmen und angenehmen Gegenstände sogleich die Gedancken,
wegzuwenden, denn das Gegentheil verschlimmert sogleich den Charackter. Die
Traurigkeit und das Vergnügen bringen nicht allein die gegenwärtige Em-
pfindungen hervor, sondern auch das vorhersehen, daß es künftig beßer
oder aerger werden könne. Es ist doch besonders, daß die Alten den Tod als
ein Mittel zur Aufmunterung brauchten; weswegen auch der Schluß ihrer
Grabschrifften also lautete: Sey vergnügt und gebrauche dieses Leben, weil
du im kurzem das «¿»bist, was dieser Verstorbene ist. Einige von den
alten Völckern verbrannten ihre Todten wie z.B. die Römer, andere
balsamirten sie wieder ein, wie die Egyptier. Beide standen in der Meinung
dem Leichnahm dadurch einen Gefallen zu erweisen. Die erstern glaub-
ten dadurch die Seele von der Verbindung mit dem Cörper ganz zu trennen,
die leztere aber durchs balsamieren, die gemeinschafft der Seele mit dem
Cörper desto länger zu unterhalten. - Der Geschmack ist von der Empfindung
dadurch unterschieden, daß die Empfindung eine Lust über meinen eige-
nen veränderten Zustand ist; der Geschmack ist aber eine Lust in der An-
schauung, die wir von dem Object haben. In einigen Organen haben wir
mehr Erscheinung als Empfindung, in andern wieder mehr Empfindung als
Erscheinung. Im Gefühl ist gleichviel Empfindung als Erscheinung, eine gar zu
große Empfindung hindert das Urtheil und die Aufmercksamkeit auf das Object.
Wenn wir uns auf ein mal <aus> einen duncklen Keller an das Lich oder an dem
Schnee befinden, so können wir die umherliegende Objecte nicht bemercken. Ein
Grund der Lust, welcher in der Erscheinung liegt, heißt das Schöne, der Grund der Unlust
heißt das Häßliche. Eine Lust aus der Anschauung genommen, vergrößert unsere
Glückseeligkeit nicht im geringsten, und ist weiter nichts als das Verhältniß meiner
Erckentniß zum Object. Wenn aber die Schönheit unser Wohlbefinden vermehrt;
so daß wir den Gegenstand auf einmal zu sehen wünschen, so ist sie Schon mit einem
Reitz vercknüpft.

/ Be

|P_153

/ ≥ Bedingungen des Geschmacks

/Schönheit gefällt unmittelbar, wir können sagen daß etwas mittelbar (als
ein Mittel) angenehm ist. Z.B. eine Erbschafft. Man kann auch sagen, daß
etwas unmittelbar gut ist, aber mittelbar schön nennen, gehet nicht an.
Sind die Wißenschafften mittelbar, oder unmittelbar gut? - Vergrößern sie
die Vollkommenheit des Menschen an sich selbst, oder tragen sie nur etwas
dazu bey - Ob eine Persohn schön oder häßlich sey, sieht man durch An-
schauung. - Die schlechten @Züge\Zähne@ in einem häßlichen Gesicht können
durch kein Goldsatze verschoenert werden Schonheit betrifft das Ur-
theil über die Anschauung, und Anschauung ist etwas unmittelbares. Schönheit
ist immer nur was zufalliges und ist leicht zu entbehren. Es kann aber doch
seyn, daß wenn die Schonheit sich mit dem Nutzen vereiniget das Gefallen
daran desto gründlicher und dauerhaffter wird. Indeßen bleibt die reine
Schönheit, die bloß für den Geschmack ist um ein gewißes reines Ver-
gnügen gewährt, von allem Nutzen leer. Es gefällt uns immer, wenn wir
unsere gesamte Lebhafftigkeit in Thätigkeit setzen; aber es ist auch ein apart
Vergnügen, wenn man nur eine Thätigkeit ins Spiel sezt. Wir mögen
alles gerne rein haben Z.B. das Vergnügen an der Mathematii. Eben
so, wenn dem Geschmack soll satisfacirt werden, so muß man auch das
Schöne allein ohne Rücksicht auf den Nutzen sehen. Wenn man also, den
Geschmack rein und vor sich vergnügen will; so muß beym Gegenstan-
de kein Nutzen hervorleüchten. Eine silberne Dose gefällt wohl, weil
sie einen innern Werth hat, aber eine emaille ist immer schöner, bey einer
emaillirten goldenen Dose, scheint man das Gold nicht zu achten. Die Nicht-
achtung des Werths ist bey der Schönheit und der Würckung des Vergnügens da-
rüber ein Haupt_Ingredience. Der Geschmack an Porzellänen Serviecen
ist viel feiner als am Silberzeüg - der Aufsatz von Brabanter Kanten,

/ der

|P_154

/der sobald er einen Riß bekommt nichts mehr taugt ist schön: Geschmack
ist ein sinliches Urtheil; aber nicht eine UrtheilsKrafft der Sinne und der
Empfindung, sondern der Anschauung und Vergleichung, durch Anschauung
Lust und Unlust zu bekommen. Eine Wahl ist zu treffen, ohne auf den
Nutzen zu reflectieren, das mögen wir gerne untersuchen, excoli-
ren und verfeinern, ja dieses trägt auch zur Vollkommenheit des
Menschen <vieles> bey. Wenn ich einen Bauer sehe, der ein schön Gemählde
kauft, wofür er @gute@ Kuh hätte kaufen können; so halte ich ihn zwar
nicht für den besten Wirth, aber ich dencke doch bey mir: der Kerl muß
Geschmack haben. Schönheit oder das Vergnügen der Anschauung trägt viel
zur Vollkommenheit des Menschen bey. Wir müßen den Geschmack vom
Gefühl unterscheiden, er ist nicht die Empfindung, sondern nur die Vor-
stellung von der Sache, nicht in so ferne ich sie empfinde, sondern in so
ferne sie mir erscheint, oder eigentlicher, der Geschmack ist vom Sinn
darinn unterschieden, daß er das principium des Vergnügens an der
bloßen Vorstellung ist. Der Geschmack giebt ein Vergnügen, das aus
dem intuitiven entsteht. Wir sind bey dem Vergnügen wurck-
sam und thätig, beym Gefühl sind wir aber leidend. Der Geschmack
besteht nicht in dem Vergnügen, daß mir die Sache macht - ich kann
ein Haus schön nennen, und werde mir doch ein Bedencken machen,
einen Groschen dafür zu geben. Durch den Geschmack er«¿»langen wir ein
Wohlgefallen der Anschauung. Wenn ich ein häßlich Haus sehe, so verur-
sacht mir das keinen Schmerz. Beym Anschauen fühle ich nichts, ich ver-
gleiche die Dinge nur mit meinem Gefühl, ohne Eindrücke darauf
geschehen zu laßen. Kurz Schönheit würckt nichts aufs Empfindungs-Ver-
mögen - ich bin nicht leidend dabey - ich concipire nur Erscheinungen und

/ Vor

|P_155

/Vorstellungen, und vergleiche sie mit dem Empfindungs-Vermögen.
Einige Sinne sind mehr fürs Gefühl, andre mehr für die Erschei-
nung. Der Anblick eines schönen Gegenstandes kann vergnügen
machen, wenn man ihn zum erstenmal sieht, aber nur deßwe-
gen, weil man sich freüt, es andern wieder erzählen zu können.

/Allein von der Schönheit selbst bloß als Schönheit urtheile ich gar nicht,
nach dem Gefühl, sondern nach der Erscheinung mit dem Gefühl
vergliechen. Zum Gefühl gehört Sinn, zum Geschmack Urtheils-
Krafft - ersterer ist also sehr leicht zu haben, letzterer aber selte-
ner. In Ansehung der idealischen Dinge kann man Gefühl haben. Z.B.
wenn Jemand sich eine Sache, lebhafft vorstellt, wenn er eine lebhaffte
EinbildungsKrafft hat. Man empfindet eine Sache bey Bildern der
Imagination so lebhafft, wie man sie beym würcklichen Daseyn empfin-
den würde. Ein solcher kann aber gleichwohl keinen richtigen Geschmack
haben. Gefühl hat der, der z.B. bey lebhafften Schilderungen gleich ge
rührt wird. Zum Gefühl gehört bloß Reitzbarkeit und Rührung. Reitz %und
Rührung entspringen aus dem Gefühl; Schönheit und Häßlichkeit aus dem
Geschmack. Gefühl kann man in sich üben, aber Geschmack muß man
formlich lernen; keiner hat ihn von Natur. Alle Künste die viel auf
das Gefühl arbeiten, zerstöhren den Geschmack und gefühlvolle Persohnen
sind geschmackloß. Der Geschmack ist kalt und ruhig. Das Gefühl macht mich
gleichsam zum Instrument, worauf ein Jeder, dem es einfällt, sich vergnügt,
wo man bald hie und da die Sayten der Empfindung zwickt, wo ich ganz
leidend, und ein Spiel der Eindrücke bin. Bey Geschmackvollen Schrifften
entstehet in mir ein ruhiges Vergnügen: wo wir aber uns aufs
Gefühl berufen, da hört alle Gerichtbarkeit «¿»des «¿»Verstandes auf. Was noch
Geschmack seyn soll, muß allgemein gefallen, d.h. das Urtheil des

/ Ge

|P_156

/Geschmacks soll nicht gefällt seyn, nach der Privat Beschaffenheit meines
Subjects, von einem Gegenstande mit Lust afficirt zu werden, son
dern nach den Regeln des allgemeinen Gefallens. Die @Kir@chkunst soll
auch allgemeine Regel haben; geschmackvolle Leüte wißen gut zu
treffen, was allgemein oder doch mehrentheils gefällt. Es ist hier die-
ser Unterschied: In Ansehung des würcklichen Geschmacks muß ich das Ur-
theil über das, was allgemein gefällt aus der Erfahrung, in Ansehung
des idealischen Geschmacks aber kann man es a_priori fällen. Der
Geschmack ist das principium, wodurch die Menschen ein gesellschafftlich
allgemeines Vergnügen genüßen können. Ein Mensch in der
Einöde sorgt nicht für den Geschmack. Alles Schöne liebt und sucht man
bloß für die Gesellschafft. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Mann sich
eine Frau nicht in Rücksicht %auf ihre Schönheit wählt, thut man aus
Liebe für die Gesellschafft, denn man hat ein besonder Vergnügen, daran,
wenn man was besizt, was andern gefällt. Das Wohlgefallen kann
klein seyn, in Verhältniß auf das Vergnügen, aber die allge-
meinheit des Wohlgefallens hebt es wieder, und man schäzt einen
Menschen von Geschmack hoch, weil seine Wahl eine Gültigkeit vor vie-
le hat. - Ein Garten gefällt uns, wenn wir in Gesellschaft sind, sind
wir aber allein so gefällt uns der Wald beßer. Die ganze Schön-
heit der Natur wäre dem einsamen verborgen, er reflectirt nicht
darauf. Ungesellige Menschen haben keinen Geschmack. Wenn man
aber möchte man fragen immer ausspäen muß, was allgemein
gefällt, so hat jeder Geschmack keine feste Regel? - Er hat sie, denn der
Geschmack ist gegründet in der Menschheit, man kann aber darauf nur
durch Erfahrung kommen. Der modische Geschmack ist kein Geschmack, wer
aus Mode wählt, weil er sie für das principium des Schönen hällt, der

/ wählt

|P_157

/wählt aus Eitelkeit, und nicht aus Geschmack. - Das frauenzimmer
ist modisch, sogar im Urtheil, da der Mann doch gewöhnlich nach princi-
en urtheilt. Der Geschmack ist allgemein, er erzeigt eine gewiße
Ubereinstimmung. Wenn man disputirt; so will man beweisen, daß un-
ser Urtheil vom Geschmack auch für andere gelten soll. Uber den
Geschmack streitet man nicht, weil im Geschmack keiner Ver-
langt, dem Urtheil des andern zu folgen. Wenn im Geschmack nichts
wäre, was allgemein gefällt; so wäre es ein Gefühl. Über den wah-
ren Geschmack muß sich disputiren laßen, sonst ists kein Geschmack.
de gustu non est disputandum. ist ein Satz der Unwißenden und
Ungeselligen. Ein jeder nach seinem Geschmack, - ein jeder ge-
nüße also sein Vergnügen allein; daraus folgt, daß jeder für sich blei-
ben soll. Wenn Jemand gute Freünde zu sich bittet, wir er sich gewiß
nicht nach Jedes Geschmack erckundigen; er richtet sich vielmehr nach dem
allgemeinen. Es ist in den principien des Geschmacks vieles empirisch, aber die
grunde der Beurtheilung sind nicht bloß aus der Erfahrung abstrahirt sondern sie
liegen in der Menschheit. - Wegen der Gültigkeit der privat Urtheile, mercke
man: wenn in einer Stube dem einen zu warm, dem andern zu kalt ist,
so haben sie beyde recht, - ihre Urtheile sind zwar entgegengesezt, das wieder-
spricht sich aber nicht, denn es sind zweyerley Subjecte, jeder urtheilet vor sich, wie
er afficirt wird. Die Lufft ist einerley und sie bringt in verschiedenen Subjecten
verschiedene Veranderungen hervor. Vom Angenehmen und unangenehmen
muß man nicht streiten; daß ist ein Streit übers Subject. Gut und böse ist eine
Sache des Objects. Urtheile vom Schö«h»nheit und Häßlichkeit sind objectiv. aber
nicht nach Regeln des Verstandes sondern der Sinnlichkeit. - Alle Men-
schen haben gewiße einstimmige Gesetze, wodurch sie sich die Gegenstände formen,
das sind Gesetze der Vorstellung. Was die sinnliche Anschauung erleichtert gefällt

/ %und

|P_158

/und ist schön, es ist den subjectiven Gesetzen der Sinnlichkeit gemäß, und es
befordert das innere Leben, da es die Erckentniß Kräffte in Thätigkeit
sezt. Die Erleichterung geschiehet durch Raum und Zeit. Veränderung
in Raum ist die Figur, in der Zeit ist bloß das Spiel. Das Spiel der
Veränderung wird erleichtert durch proportion in den Theilen. Symetrie
erleichtert die Begreiflichkeit, Verhältniß erleichtert die Sinnlichkeit. Ver-
anderung der Zeit heißt das Spiel - In der Musick ist das vornehmste Stück
der Tackt, oder die Bestimmung der Gleichheit der Zeit. - Alle Menschen
haben Bedingungen, unter welchen sie sich ein großes Mannigfaltiges
vorstellen können, daher man auch ein ausgeführtes Thema hat, welches
aus obigen Ursachen allen gefallen muß. Musici heißen Spieler, wir
können Tänzer, Spieler der Gestalten nennen, sowie bey Pantominen.
Bey einem Garten finde ich Schönheit durch Begreiflichkeit, ist keine Ord-
nung darinn; so kann ich mir kein Bild davon machen; ich sehe zuviel
auf einmal. Wenn ich einen Garten ansehe; so bin ich beym ersten An-
blick ernsthafft, und suche proportion und Symmetri, er gefällt nur da-
her, weil es mir gewöhnlich ist, ihn mir so vorzustellen. Es gefällt etwas
nicht allen.

/1.) Weil dazu ein Kenntniß gehört, denn ohne daß ich etwas verstehe, kann
ich es auch nicht für schön finden.

/2.) Weil wir noch etwas beßeres kennen, würden wir das Beßere ver-
geßen können; so würde uns die Sache gefallen, aber sie gefällt uns doch
würcklich ohne daß wir es doch wißen. Alle, selbst schöne Mannspersohnen sehen
in FrauenzimmerKleidern frech aus - Bielfeld sagt, ein Mann würde wegen
seiner Pockennarben für den heßlichsten gehalten, man stellte ihm ein altes
abgelebtes Weib dagegen, die sahe aber lange nicht so übel aus, und als
er sich in Frauenzimmer Kleider kleidete, würde er noch zehnmahl abscheü-
licher, den als Weib verglich mann ihm mit Weibern, und da ver- 

/ lohr

|P_159

/verlohr er unendlich mehr. Die alten Weiber sind gegen Manns-
personen also noch immer reizende Geschopfe. Sie verlieren aber
dadurch, daß sie mit jungen Mädchen verglichen werden.

/Woher kömmt aber das Vergnügen, wenn wir schaudernd vergnügt sind?
woher erweckt das Melancholische durch die Bewegung der Brust
ein Vergnügen? Das kommt alles daher, weil der Gegenstand @nicht@
interessant, und uns nicht angeht, denn interessirt uns etwas,
so ists Ernst, und dan hört aller Spaß auf. Dies Vergnügen
entsteht daher, weil eine ernsthafte Idee, die wir uns von
dem Vergnügen anderer machen können, nachlaßen kann, wenn
wir wollen. Durch unsere Willkühr bringen wir den Cör-
per in solche Bewegung, bloß durchs Weinen, die keine Me-
dicin verschaffen kann. Es kommt alles wieder in ein ae-
quilibrium, wenn wir uns satt geweint haben, da
vorher die Nerven subtil erschüttert wurden. Es giebt
einige Organe im menschlichen Cörper, die durch die ver-
schiedene Stellungen nicht in Bewegung gebracht wer-
den können. Die Vorsicht hat es so eingerichtet, daß die Ide-
en des Menschen auf die Empfindung würcken; doch jede
auf eine andere Weise. - Der Alte mag gerne
Lachen. - Die Jugend die weit lieber sonst lachen mag, sieht
doch gerne Tragödien. Der Leichtsinn der Jugend findet
durch die Schwermuth und Beklemung des Herzens et
entgegengesetztes, welches bald aufhört. Bey dem Alten haben die
Vorfälle der Tragödien mehr Eindrücke, die dauerhaffter sind.
Bey iungen Leüten hören die traurigen Vorstellungen bald auf
bey Alten hingegen hafften sie länger, und denn hört auch das

/ Ver

|P_160

/Vergnügen auf. Die Werckzeügen also, was man an Comoe-
dien und Tragoedien hat, liegt nicht in der Idee, sondern im Ma-
gen, daher kömmts auch, daß einem ein Stück nicht tragisch ge-
nug zu seyn scheint, vor den andern aber zu viele «¿»traurige
auftritte hat. Der wahre Geschmack ist von dem allen unterschieden,
die wahre Schönheit ist ernsthafft und gelaßen. Das wahre Schöne
besteht nicht im Lachen, das Lachen gehört zum indirecten sinnlichen
Reitz.

/ ≥ Vom Nutzen der Cultur des Geschmacks

/Der Nutzen der Cultur des Geschmacks bestehet hauptsächlich in
folgendem.

/1.) Die Cultur des Geschmacks verfeinert den Menschen überhaupt,
und macht daß er eines idealischen Vergnügens fähig wird.
Der Genuß von den mehresten Dingen ist ein Verbrauch dersel-
ben, und ist also nicht eine Theilnehmung vieler, aber die Vergnügen
des Geschmacks sind edler, sie sind theilnehmend, und darinn steckt
eben das feine. Der Geschmack hat etwas feineres, etwas
mit der Moralitaet analogisches. Er vermehrt nicht mein
Wohlbefinden; sondern nach Geschmack laßen sich meine Ver-
gnügen vertheilen. Der Geschmack richtet alle Vergnügen
der Menschen so ein, daß sie zum Vergnügen anderer et-
was beytragen. Eine Music kann von vielen hundert Men-
schen mit Vergnügen angehört werden.

/2.) Der Geschmack macht uns gesellig; die Verfeinerung sogar
unseres sinnlichen Urtheils, macht den Menschen fähig, nicht bloß
an Eindrücken der Sinne zu hangen, sondern seiner Vergnügen
selbst Schöpfer zu seyn. Alle idealische Vergnügen sind mehr «¿¿»aus Re-
flexionen, als aus dem Genuß der Sachen genommen. Ein Mensch

/ ist

|P_161

/ist glücklich, der sich ein idealisch Vergnügen machen kann - sein
Geschmack ist verfeinert, und er ist eo ipso beßer geworden. - Verfei-
nerung ist von der Verzärtelung des Geschmackes zu unterscheiden.
Die Empfindung gehört zur Beurtheilung, aber empfindlich zu seyn
gegen Vergnügen, ist eine Schwäche. Wer einen verfeinerten Ge-
schmack hat, der empfindet bald eine Beleidigung, @wo@ sie sticht, aber
er kann sie Großmüthig ertragen, und braucht seine Kentniß dazu,
daß er sich hütet, andere zu beleidigen; die Verzärtelten hinge-
gen sind empfindlich, auch die kleinste Beleidigu«g»ng nehmen sie gleich
sehr übel auf. An eine Mansperson ist dieß eine Schwäche, an
einem Frauenzimmer, leiden wir die Empfindlichkeit wegen
ihres Geschlechts; wir halten die Zärtlichkeit an ihnen hoch - und ein
dreistes Frauenzimmer ist uns zuwieder, eben so; wie ein wei-
bischer Kerl, ein Mann muß empfindsam und zärtlich seyn, aber
nicht empfindlich und verzärtelt. Empfindsam heißt daß man
die kleinsten Beleidigungen gleich merckt, sie aber standhafft er-
trägt, und sich sorgfältig hütet, dieselben einem andern anzuthun. - 
Durch Verschwendung verliert der Geschmack viel, wenn er gleich
dabey zuf@ri\in@den ist, denn er bestehet eben darinn, mit Sparsamkeit
und wenig Kosten etwas schön zu haben. So sagte der Mahler
von der Venus eines andern Mahlers: da du sie nicht schön hast
mahlen können; so mahlst du sie reich, er hatte sie nemlich mit Iuwe-
len behangen. Eine Persohn mit vielen Reichthümern behangen,
gefällt nicht. Das sanfte gefällt, daß ist nicht kostbar, sondern Simpel
und geschmackvoll. - Ein Kleid muß comode zu seyn schei-
nen, nicht als wenn man sich ängstlich fürchtet, irgend wo damit

/ an

|P_162

/anzustoßen, um es nicht zu beschädigen. - Beym Geschmack muß
etwas legeres seyn - Wenn ich an einem Orte zu Gaste bin, und
die Frau laüft samt den Bedienten und Mägden «das»im Hauß
um und um, bloß um mich zu bewirthen; so gefällt mir
die ganze Aufnahme nicht, die Speisen mögen auch noch so schön
und niedlich zugerichte«s»t seyn. Beym Vergnügen muß alles
commode scheinen, es muß sich alles gleichsam wie durch eine Zau-
berckunst herbeyfinden. - In Ansehung des Geschmacks müßen wir
etwas festgeseztes - gewiße Bilder machen, sonst wird die Mode
alles zerstöhren. Der griechische und lateinische Geschmack hat sich
noch am reinsten gehalten und dient zum Muster. Würden
die griechischen und lateinischen Dichter verlohren gehen; so wür-
de der Geschmack großen Revolutionen unterworfen seyn. Jezt
haben wir noch dauerhaffte Muster; wenn diese fehlen sollten
so würde der Geschmack wancken und in 50 Jahren völlig ver-
lohren seyn. Homer. Virgil. Horatz dienen uns zum Muster - von
unsern jetzigen Dichtern kann keiner ein Muster seyn. Pope
und Milton sind zwar offenbar beßer als Homer, sie müßten
aber in einer todten Sprache geschrieben haben, denn sonst än-
dern sich Worter und Ausdrucke.

/In Ansehung der Schreibart waren in Deütschland viele und verschie-
dene Moden. Zu einer Zeit herrschte der Geschmack mit lauter
Iuwelen und Perlen, Donner, Blitz, Stürmen, schwarzen Wolcken
die Gedichte anzufüllen. Darauf kam die Manier auf Tändeleyen
zu schreiben, man wollte witzig seyn, und es entstand was fades
und schlechtes, es sollte eine Munterkeit seyn, die aber nicht je- 

/ dem

|P_163

/jedem anstund. Man wollte es den Franzosen nachmachen. Nach-
her, kam ein gewißes Spiel des Witzes in Anthitesen auf die
Bau = man kann es der Schreib«e»-art bald ansehen, wenn sie auf eine
gewiße Leiste gemacht ist. Eine Schreibart muß nicht gezwungen
seyn, es muß scheinen gleichsam keine Mühe gekostet zu haben.
Sollte etwas gut geschrieben seyn, so müßte man dieses nicht
einmal bemercken, als nur nachher in den Folgen. Jeder
Mensch will gerne ein Original seyn, diese Idee empfielt
ihm, sich eine Mode zu wählen, wenn er sich dabey vorstellt, wie
viele ihm darin folgen werden. Eine Idee muß immer seyn,
die bey einer Sache zum Grunde lieget; ehe können wir et-
was nicht schön nennen, bis wir die Sache kennen und wißen,
was da schön seyn soll, denn eine Sache kann in verschiedenen
Verhältnißen schön auch nicht schön genannt werden. Von der Schön-
heit kann man nicht eher urtheilen, als bis man die Sache weiß.
Ein gemahlter Kopf kann als Mansperson schön und als Frauens-
Kopf häßlich seyn, ein Rock kann als Regenrock betrachtet schön,
als Gallarock häßlich seyn. Ich muß wißen was die Sache seyn
soll, wenn ich ihren rechten Werth bestimmen will. - Den Be-
griff der Sache muß ich zuerst haben; die Schönheit wird als ein acci-
dens bey einem Dinge angesehen, und was der Absicht der
Schönheit wiederstreitet, ist der Schönheit zuwieder, und kann
nicht lange gefallen. Z.B. ein Kleid daß zu enge ist, gefällt nicht, denn
es wiederstreitet die Absicht - es soll Comode seyn. Die Moden schei-
nen keine dauerhaffte Schönheit zu haben, weil es viel Mühe
gekostet hat, sie einzuführen. In einem Gedicht oder einer Rede
beruhet das Selbständige der Schönheit auf Wahrheit und Reinlichkeit.

/ Die

|P_164

/Die logische Vollkommenheit macht das Selbstständige Schöne aus.
Sonst kann wohl Firnis da seyn, aber man sieht doch daß das wah-
re Schöne fehlt. Die Schönsten Mahlereyen sind in einem
schlechten Zimmer unnütz und übel angebracht. Der Verstand
muß, die Grundlage machen, und denn kann die Schönheit
darüber verbreitet werden. - Schönheit und Farben setzen
eine Substanz voraus, worauf sie angebracht werden sollen.
Nicht ein einziger unter den Schrifftstellern, die das Selbststän-
dige nicht gehabt, sind in ihrem Geschmack lange bewundert
worden. Wo diese Schönheit ist, da ist auch die Bewunderung dau-
erhafft.

/Die Lehre des Geschmacks oder die Aestetic kann also keine
Doctrin seyn, sondern nur eine Critick. Man kann nur
gewiße Produckte critisiren und den Geschmack dadurch
üben. Die Critic ist eine Untersuchung des Werths im gege-
benen Object. Doctrin ist eine Unterweisung, wie man
etwas schönes hervorbringen soll. Wenn die Aesthetic eine
Doctrin wäre; so müßte man lernen können witzig zu seyn,
und Einfälle zu haben. Die Critic lehrt uns den Vorrath den
wir an Erckenntnißen haben, wohl anwenden. Was gefällt
ist den aesthetischen Reglen gemäß, aber nicht was nach aestheti-
schen Regeln abgefaßt ist, gefällt. Die aesthetische Regel ist nur darum
recht, weil etwas gefällt, wenn es so ist. Ist aber ein Fall der unter
Regeln stehet, nicht nach Geschmack und gefällt nicht, so ist die Regel
falsch - nicht der Geschmack. Die Aesthetische Regel, kann nicht apri-
ori, sondern aus Beyspielen durch Erfahrung bewiesen werden;
es ist daher sehr übel, daß man glaubt, wenn man die Aesthetic lernt,

/ man

|P_165

/man darnach nur zuschneiden dürfe - Das geschieht leider
in den Schulen. Der Mangel an Genies unserer Zeiten
rührt würcklich aus den Schulen her. In den Schulen sollte das
gar nicht tractirt werden, die Kinder werden da nach ge-
wißen Regeln, Formen, Modellen ausgezogenen Phra-
sen pp aus den Autoren unterrichtet. - Diesen Zwang kann
man hernach sehr spät und offt garnicht ablegen. - Die
Höflichkeit die man dem Frauenzimmer erzeigt, und die Distinc-
tion mit denen man ihnen begegnet; ist die nicht aus der Großmuth
entsprungen? Würden die Manspersohnen sie nicht Großmü-
thig begegnen, wie tief würden sie wegen ihre Schwäche sincken?
So erwarten alle Menschen von der Großmuth anderer Achtung. Will
man den Wirth kennen; so mercke man wer den untersten Platz
am Tisch nimmt, wer den lezten Teller beckommt, wer alle aufzumun-
tern und ihnen Vergnügen zu machen sucht - wer am meisten
sieht, ob andern etwas fehlt. Ist das nicht Politeße? zeigt das
nicht eine Gutartige Gesinnung an? Ist das nicht Tugend obgleich
nur auf einen halben Tag? nur auf einen Umstand ange-
wandt? Man mag nicht gerne sehen, daß Jemand von sich
selber spricht, denn man giebt nicht gerne zu; daß einer sich
über den andern erheben soll; dieß ist der Geschmack im
Umgange.

/Der Geschmack ist eine beständige Cultur der Tugend. So ist der
Geschmack in allen Stücken - in Kleidung, Eßen, Trincken, Vergnü-
gungen pp Indem der Geschmack den Verstand schärfft, indem er das ge-
ringste gegen einander abwir«¿¿»ft; so wird der Mensch dadurch fähig in
wichtigen Dingen auf das pflichtmäßige zu sehen, um die geringste

/ Dis

|P_166

/Disharmonie zu bemercken. - Alles Schöne hat seinen Grund in
der Moralitaet, alle Manieren haben dies zum Grunde, was boßhaf-
tes kann nicht schön seyn - man könte die Moralitaet in allen Hand-
lungen der Menschen finden, denn sie ist nicht ungesellig.

/Die Tugend nimmt uns ein, nicht durch den Gebrauch, sondern so fer-
ne sie uns gefällt. Auf solche Weise arbeitet der Geschmack der Tugend
vor. Der Geschmack ist ein analogon der Vollkommenheit, er ist das
in der Anschauung, was Sittlichkeit in der Vernunft ist. Das
Studium des Geschmacks ist also sehr nothwendig. Wie studiert
man aber den Geschmack? man muß ihn lernen, der Mensch
ist eine besondere Creatur, daß er alles lernen muß. Hu-
me sagt selbst die Tugend muß gelernt werden. Durch Er-
lernung kann man den Geschmack zwar nicht erzeügen, aber
doch ein gewiß natürlich Talent des Geschmacks excoliren.
Welches ist nun die Art der Erlernung, durch welcher man zum
richtigen und gesunden Geschmack kommen kann? Nach Regeln ge-
schiehts nicht, der Geschmack unterwirft sich keine Regeln, son-
dern nur der Anschauung der Beyspiele in der Sache selbst und
dem unmittelbaren Anschauen, daß die Sache in mir hervor-
bringt. Reitz gehört zur Liebe; Rührung zur Furcht und Achtung des
Erhabenen - Reitz und Rührung gehören nicht zum Geschmack. Alles
was groß ist dehnt unser Gefühl des Lebens gewaltig aus. Was durch
Mannigfaltigkeit gefällt, und nicht durchs Spiel in Thätlichkeit ver-
sezt, ist Reitz. Was uns aber durch Rührung ermuntert, daß schwillt
uns auf, und gehört zum Erhabenen, es gränzt an Furcht und Achtung,
und dauert nicht lange. Das Erhabene sehen wir sehr gerne, weil
wir es andern erzählen können, ist aber ein Mensch verlaßen und einsam
auf einer Insel; so erweckt ihn alles Wunderbare Grausen. Der Anblick

/ des

|P_167

/des bestirnten Himmels muß uns erschrecken - wenn wir bedencken,
wie viel tausend Wolcken sich dort in einem unermäßlichen Raum wälzen.

/ ≥ Vom Wohlgefallen und Mißfallen in Ansehung der Gegenstände
soferne sie gut oder böse sind. ≤

/Was gefällt in der Erscheinung ist schön, was gefällt im Begriff ist
ist gut. Die gründe des Wohlgefallen des Schonens sind subjectiv. - 
Beym guten sind sie objectiv. Wenn einem etwas schön vorkomt,
dem andern aber nicht Z.B. der eine reitet, der andre fährt gerne;
so beziehen sie sich nur auf das, wie jeder afficirt wird. Vom Object
urtheilt man hier garnicht. Das Urtheil, ob etwas gut oder böse
sey, gehet nicht auf die Art, wie die Sache von mir empfunden
oder angeschaut wird, sondern wie die Sache an sich selbst ist. Gefällt
mir etwas in der Erscheinung oder sinnlicher Anschauung; so ist der
Grund des Wohlgefallens zum Theil Objectiv, aber nur nach Regeln
der Sinnlichkeit. Wenn Jemand sagt das schmerzt sehr, so beschreibt er
nicht das Object, sondern die Veränderung die er dabey hat. Wenn man
aber sagt: das Gemählde ist schön, so redet er von der Farbe, von der
Beschaffenheit der Sache. Die Sachen erscheinen zwar nicht auf aller-
ley art, es giebt aber doch Gesetze, die vor alle Gelten. Alle Beur-
theilung@en@ des Gegenstandes in Ansehung des Wohlgefallens und Mißfallens
durch Sinnlichkeit sind auch objectiv, und haben auch allgemeine gültige
Gesetze. Das Urtheil ist nicht für mich allein, sondern es gillt auch für
andere, hierunter wird der wahre Geschmack verstanden. - Es giebt aber
gewiße allgemeine Gesetze, die ich a_priori durch Vernunft vor aller
Erfahrung erkenne. Gestalten und Spielen sind Gegenstände
der sinnlichen Anschauung. Die Thöne sind ein Spiel der Empfindun-
gen; hier kommt es darauf an, wie viel Empfindungen sich begleiten

/ oder

|P_168

/oder aufeinander folgen. Nur die Music allein ist im Stande in
uns ein Vergnügen, durch das Gefühl der Empfindungen zu er-
regen. Bey der Musick kommts auch viel auf das Klopfen der Lufft au@f@
unsere Getrummel an. Eine einzige Empfindung macht kein
Vergnügen. Z.B. ein Schall, ein Thon hat schon was vergnü«d»gendes,
denn da ist schon was aufeinander folgendes, da¿ ist schon ein
Spiel der Empfindungen, weil eine Me«¿»<n>ge von Zitterungen
ist. Die Empfindungen gefallen uns nicht, sondern das Spiel der-
selben. Alle Music bestehet in einer Mannigfaltigkeit von Töhnen
die Menge von Schallen in einer gewißen Proportion ver-
gnügen.

/Im Raum gefällt die Gestallt i.e. die Qualitaet in der Einschranckung
des Raums, Größe gefällt nicht im Raum, gefällt sie; so ge-
hörts zum Erhabenen und kommt von der Rührung her. Schön bleibt
Schön, aber Erhaben, bleibt nicht Erhaben, wenn ichs gewohnt wer-
de. Werde ich durch die Größe nicht afficirt; so ist sie für mich nicht er-
haben. Die Erhabenheit ist also nicht objectiv. Die Menschen können sich mit Recht
in Ansehung des Erhabenen wiedersprechen, aber in Ansehung des Schönen
nicht, ohne das Jemand Unrecht hat, denn das Schöne kann man schön
nennen, ohne davon gerührt zu werden. Die Urtheile der
Schönheit sind allgemein für Menschen. Die Urtheile des Guten
sind allgemein vor alle vernünftige Wesen, sie mögen seyn
wo, und was sie wollen. Engel oder vernünftige Geschöpfe in an-
dern Planeten, aber das Schöne darf ihnen nicht gefallen, denn
sie können andere Gesetze der Sinnlichkeit haben. Einiges ist in An-
sehung unser erhaben, und zwar so sehr erhaben, daß es uns erschüttern
kann. Z.B. der Ocean. Das Weltsystem, wo sich soviele Millionen Sonnen
und drehen. Beym Erhabenen kommts nicht auf proportion, rauhe herüber

/ han

|P_169

/hangende Felsen, wo kein Ebenmaaß, nur Größe ist, sind erhaben.
Es kommt nicht aufs Gefallen, sondern auf die Größe des Affects an.
Was Wohl gefallen kann, ohne daß es allgemeinen Regeln unter-
ordnet ist, daß muß nicht nach allgemeinen Gesetzen gefallen. Alles
Urtheil vom Erhabenen gehört also zum subjectiven. Ein Engelländer
sagt: eine lange Linie, ein weiter Umfang. Z.B. der Ocean ist
erhaben, eine große Höhe, ein Fels ist noch erhabener, aber eine große
Tiefe noch erhabener. Die Tiefe erweckt ein Schrecken bey uns; alle
überhangende Felsen am tobenden Meer erschrecken uns. Bey
Felsen kommts nicht auf das Verhältniß an, sondern auf den lezten
Effeckt, den ich davon habe. Was nicht aufs Verhältniß gehet, kann
nicht zur Regel für andere dienen. Man würde gewiß keine Ver-
anderung vom Object auf uns für wahr halten, wenn andere nicht über ein-
stimmen sollten. Wenn mir etwas in den Ohren klingelt, und andere
sagen es wird gelaütet, so halte ich meine Empfindung für wahr.

/ ≥ Von der vernünftigen Urtheils_Krafft

/Der Verstand urtheilt was gut oder böse ist. Die Beurtheilung durch
den Verstand ist allgemein gültig. Wenn ich sage, etwas ist sehr gut; so
müßen entweder alle einstimmen, oder ich urtheile falsch, denn hier
sagt ein jeder, wie die Sache ist. Vom Guten und Bösen wird man
principia der Beurtheilung a_priori d.i. Maximen geben können: Voll-
kommen oder gut ist etwas, entweder Beziehungsweise, auf gewiße
Zwecke, d.i. mittelbar, oder es ist an sich selbst, d.i. unmittelbar gut und
vollkommen, ein solches Ding, hat einen innern Werth. Das erste heißt
bloß nützlich. Die Tugend ist zu allen Dingen nützlich. Die Ehrlichkeit
wird dem Menschen zulezt vielen Nutzen bringen, wenn sie ihm
vielleicht vorhero viel geschadet hat. Im ganzen genommen ist die

/ Tu

|P_170

/Tugend würcklich nützlicher, als das Laster, sie hat einen innern Werth, und
ist schon an sich selbst Achtungswürdig. - Die Dinge außer dem Men-
schen sind nur mittelbar gut. Das Gute das wir beurtheilen sollen,
kan gut seyn, entweder nach logischen Regeln d.i. wahr oder nach
practischen Regeln, d.i. brauchbar, es dient zur Vollkommenheit.
Dieweil unsere Vernunft würcksam ist, wir uns auch nicht
der Würckung bewußt sind; so geschiehts daß wir bisweilen
durch Vernunft urtheilen, wo wir durch Sinnlichkeit geurtheilt
zu haben glauben, das nennt man Sentiment. Gehet ein Poet
bloß auf das Spiel des Reitzenden, so fehlt ihm Sentiment. Von Dich-
tern fordert man ein Urtheil, was neben der Sinnlichkeit stehet.
Sentiment ist das, was, was im guten Gout und in der Abstechung
das Schöne ist. Die Franzosen haben auch Sentiment, aber
nicht so viel, als die Engelländer. Sentiment gehört mit zur
Vollkommenheit des Geschmacks.

/ ≥ Vom Begehrungs Vermögen

/Wir befinden uns offt in einem Zustande, in dem wir gar nichts
begehren, gegen alles pflegmatisch und gleichgültig sind. Es giebt
Characktere, die so geartet sind, daß sie den ganzen Tag vor dem
Fenster stehen, und ihr Leben so hin bringen, ohne sich des Lebens
bewust zu seyn. Dahingegen giebts wieder andere, (welches vorzüg-
lich Reiche sind) die von Sehnsuchten gefoltert werden, sie sind unruhig
und voller Verdruß, ohne zu wißen was sie begehren, und sind
in Grillen versenckt. Den Zustand übler Laune, nennet man
beym Frauenzimmer Vapeurs, einige sind schon so, daß sie sich an
Einformigkeit, andere an Wechsel, andere an Genuß gewohnen. Es

/ ist

|P_171

/ist immer eine Kranckheit, wenn man sich wornach sehnt, und uns nichts
einfällt, was uns gefällt. Die desperatesten Selbstmorde sind Wür-
kungen dieses übellaunigt«¿»en sehnsuchtsvollen Zustandes gewesen,
da Menschen sich das Leben genommen, weil ihre Fähigkeit zu ge-
nüßen ohnerachtet alles Vergnügens, sich einen Genuß zu ver-
schaffen, stumpf geworden. Eine solche Kranckheit ist durch nicht zu
heben, als mit Geschäffte, «w»die man mit Zwang thut. Das Lesen
füllt bey weiten den Raum nicht aus, wenn man nicht eine Absicht
hat. Wer sich selbst arbeit auferlegt, arbeitet nichts, - er machts so wie
die Flagellanten, die sich selbst Casteien, aber nicht zu hitzig auf sich
loßpeitschen, sondern zeitig aufhören, wenn sie mercken daß es
durch kommt. Es ist nur occupatio in otio, aber keine eigentliche
arbeit. Wir müßen im Zwange stehen, keine andere Bemühung
kann uns zufrieden stellen, als eine Beschwerliche. Kaufleüten ist
kein Tag angenehmer, als der Postag. Wer den Vormittag gut an
gewandt hat, der wird den Nachmittag vergnügt zu bringen. Der
Mensch mag studieren wie er will - er kann nicht so vergnügt
seyn, wenn er nicht zwangmäßige Arbeit hat. Man ¿wünsche sich
eine Muße und Ruhe, wenn man sich nicht vorher eine ge-
zwungene Arbeit besorgt hat, sonst fallt man in den verzähren-
den Zustand der Grillen und Sehnsuchten. Das Begehren ist zweyfach

/1.) daß müßige Begehren oder wünschen, wobey wir bemercken
daß wir nicht Krafft zu dem haben, was wir begehren.

/2.) das täthige Begehren, die erstren wünschen, die zweyten wollen.

/Das Romanlesen, flößt nicht nur Sehnsuchten ein, sondern es
disponirt uns auch zu dergleichen Dingen. Der Mensch findet
ein chimairisches Vergnügen in Dingen, die nichts bedeü-
ten, und närrisch sind. Es entspringt auch noch das Ubel daraus,

/ daß

|P_172

/daß man sich wahre Ideale vorstellet, und davon so ein nehmen läßt, daß
man anstatt practische thätige Begierden in sich zu erwecken, diesen
imaginairen «w»Wünschen nachhängt. Es ist in der Religion der schädlichste
Wahn, daß man glaubt, die wahre Religion bestehe in Seüfzen und ehr-
furchtsvollen Sehnen; wenn es aber darauf ankommt, «e»Ehrfurcht und
Gehorsam gegen Gott thätig zu zeigen, dadurch daß mann sei-
nen Geschöpfen zu dienen sucht, und seine Gesetze hällt,
da ist man nicht zu Hause. Ich will nicht das Mitleiden anderer gegen
mich haben, Nein! wacker soll das Herz eines jeden gegen mich seyn und
ein Redlicher helfe mir aus grundsätzen, nicht aus Rührung. Das erhebt
die Seele, wenn man selbständig wohlthut - man sey nicht ein Spiel, - ein
Ball des Schicksals anderer. Man sehe darauf den Nothleidenden zu
helfen; kann man nicht; so kehre man sich ab. Der Unterschied zwischen
thätigen und müßigen Begierden ist sehr wichtig. Es ist fürs erste
bemerckbar, daß man offt eine große Meynung von sich hat,
wenn man nur bloße Wünsche nach etwas Guten nährt.
Man hält gute Wünsche für guten thätigen Willen; da doch gute
Wünsche nur in Verlangen nach gutem Willen sind. Das
Waarten bringt sehr viele leere Wünsche hervor. In der Welt
geht nichts nach unserm Willen - volentem fata ducand
nolentem trahunt. Man muß sich in die Dinge schicken.
Man ist über nichts so sehr aufgebracht, als über einen Men-
schen, dem wir nicht schaden können. Wir müßen nichts begeh-
ren als was in unsern Vermögen steht. Begierden sind die
ersten Regungen, nach dem was wir uns vorstellen. Begier-
den sind entweder sinnliche, die aus dem angenehmen und

/ un

|P_173

/unangenehmen entspringen, deren Grund in unserer Sinnlich-
keit Acceptivitaet liegt, oder intellectuall die aus der Vorstellung
des Guten und Bösen entspringen. Die sinnlichen Begierden sind
unwillkührlich und heißen Triebe. Hang ist keine willkührliche
Begierde, sondern ein Grund, warum beym Menschen eine Begier-
de entstehen kan. So haben alle Wilde einen Hang zur Trun-
kenheit und das weibliche Geschlecht einen Hang zum Herr-
schen. Obgleich keine Neigung da ist. Man darf sie aber nur
in solchen Umständen versetzen, und ihnen Gelegenheit ver-
schaffen; so wird der Hang zur Neigung. Alle Neigungen
setzen uns in Sklaverey - wir haben immer alle Hände voll
zu thun, um unseren Neigungen zu wiederstehen. Triebe
werden nicht zur Neigung als nur durch unsere Nachsicht und
Mangel des Wiederstandes. Selbst zum Guten muß man nicht
Neigung haben, man muß den Urtheilen des Verstandes folgen,
und nicht den Neigungen. Einige Menschen sind sehr behend aus
Trieben Neigungen zu machen, aber diese haben auch wieder
eben so bald abneigung. Last uns doch nicht mit Neigungen
an Sachen kleben, sie schaden immer, auch wenn sie auf was Gutes
gerichtet sind. Der Mensch heißt unempfindlich auf den Gegenstän-
de keinen Eindruck machen. Es ist gut daß der Mensch empfindsam
ist. Alles ladet ihn ein zum Genuß der Dinge, aber er muß der Ver-
nunft folgen, und diese Triebe nicht Neigungen werden laßen.
Die Menschen trauen sich in Ansehung der Grundsätze wenig zu,
daher wünschen sie Neigungen. Der Eheman triffts am besten

/ der

|P_174

/der des Wirthschaffts wegen eine Frau nimmt. Durch die Länge der
Zeit findet sich die Neigung, und die ist von dauerhaffterer Art, als die
hitzige und voreilige. Alle enthusiastische Flammen sind verboten
den unglücklichsten Ehen; indeßen wünscht man doch immer Neigun-
gen, weil man die Thierheit am Menschen für starcker hällt, als
das intellectuale.

/Wir können die Begierden eintheilen, in Hang, Trieb, Neigung
Affeckten und Leidenschafften. Der Hang ist die receptivitaet zur Nei-
gung, es fehlt ihm nichts als Gelegenheit. Jedes Geschlecht hat einen
natürlichen Hang zum Andern, auch Kinder - doch haben die noch
keine Neigung. Man nehme den Menschen das Glück der Erziehung;
so wird ihm so wenig was gutes als böses beyzumeßen seyn.
Mit Recht bedauret man einen Missethäter der zum Galgen ge-
führt wird - vielleicht würde er eben die Begriffe von Ehre
und Großmuth haben, als ein anderer, wenn er eben solche
Gelegenheit gehabt, seine Neigungen dahin einzulencken.
Der Mensch hat also einen Hang zum Bösen - der erste Hang ist
thierisch, die Wilden und Grönländer haben einen Hang zum
Tobackrauchen und besaufen. Der Grund des Ursprungs einer
sinnlichen Begierde heißt Trieb, Stimulus. Hier empfinde ich schon
was und begehre noch nichts. Die Gründe von den Trieben sind ob-
iectiv

/Der Mensch sympathisirt mit andern sein ganzes Leben hindurch;
fühlt einer, so fühlts der andere auch - hebt einer etwas schweres,
so stöhnt der andere mit. Die Triebe sind an sich blind - sie geben
keine Disposition zum Dencken, wenn sie nicht unter der Regierung

/ der

|P_175

/der Regierung der Vernunft stehen. Die Eltern haben Triebe zu
ihren Kindern, aber nicht die Kinder zu de«m»n Eltern. Die Hochach-
tung, welche Kinder gegen Eltern haben lehrt ihnen nur die Reflexion.
Man sieht es am Vieh, daß sorgt nur für die Jungen. Die Natur
hat uns keinen Trieb der Zärtlichkeit gegen die Eltern gegeben, denn
sie hat die Erhaltung des menschlichen Geschlechts - die Erhaltung der Art
zu ihrem vohrnemsten Zweck. Die Groß-Eltern haben ihre Groß-Kinder
darum so lieb, sagt Jemand; weil sie Feinde ihrer Feinde sind. Nei-
gung ist ein habitus der Begierde. Eine Begierde zu etwas ist ein
Bedürfniß, d.i. deßen Mangel uns unzufrieden macht -
der Mensch laße sich regiren, und wähle nach vernünftigen
Be«g»wegungs Gründen, nicht nach Neigungen. Neigungen sind die
receptivitaeten des Schmerzens. Eine Frau würde mit einem
Mann nicht zufrieden seyn, der aus Pflicht sie ehret und liebet, der
wie man sagt, ohne affecktion ist - sie verlangt eine blinde Nei-
gung; denn wer durch Vernunfft liebt, bemerckt gar zu leicht die
Fehler und Unvollkommenheiten. Der Scharfsichtige ist nicht so gut
zu regieren als der durch Neigung blind ist. - Die Menschen haben ein
Vermögen, ihren Neigungen zuwieder zu handeln, ja über ihre
Neigungen zu urtheilen zu reflectiren, und sich beßere Neigun-
gen zu wünschen. Die Neigungen sind nicht der Grund des mensch-
lichen Begehrungs Vermögens, wohl aber des thierischen ¿

/Die Characktere der Menschen sind verschieden, einige laßen sich
ein, ein Bewegungsgründe der Vernunft, andere überlaßen sich
den Neigungen. Neigungen erwachsen aus den Trieben, sie

/ ent

|P_176

/entdecken den Hang der Kinder. Das Kind muß gar keine Neigung
wozu haben; denn alle Neigungen haben das schädliche; daß sie die Frey-
heit einschräncken, die Vernunftbegriffe und des Verstandes schwächen.
Fallen die Neigungen auf das, was ich durch den Verstand gut heiße,
so ists zwar Gut, aber ich verliere dadurch doch die Zügel, die ich in
Händen hatte.

/Sachen machen die Menschen nicht unzufrieden, sondern Neigungen,
wenn man die Sachen nicht haben kann - Ein Kind muß keine
Neigung zum guten Eßen haben, daß erhällt man dadurch,
wenn man ihnen bald das beste, bald das schlechste vor sezt. Eine
Begierde die so groß ist, daß sie uns unvermögend macht den
Gegenstand unserer Begierden, mit der Summe aller Neigungen
zu vergleichen, heißt Affect. Unser Wohlbefinden ist aus vielen
Gefühlen zusammengesezt, welche alle müßen befriedigt werden.
Es giebt eine Liebe, wo man nicht verliebt seyn darf - schon in
dem Begriff eines Verliebten liegt die Thorheit deßelben. - Es ist
sehr unrathsam sich mit Neigungen zu beladen, denn daß sind wahre
Schreyhälse. Uberhaupt ist es in keinem Stück gut und weise
gehandelt, sich Bedürfniße nothwendig zu machen, und zu über-
nehmen, ehe man noch auf Mittel gedacht, selbige zu befriedigen
Da die Klugheit eine Fähigkeit ist, unsere Glückseeligkeit als die
Summe aller Neigungen zu befriedigen; so wiederstreitet ihr
alles was uns blind macht, und folglich auch der Affect. Ein Mensch
im Affeckt des Zorns zieht gar nicht dienstfertigkeit dessen, der
ihm wiederspricht, in Erwägung; Man scheint über haupt durch

/ den

|P_177

/den Affeckt in den Zustand der Stupi«t»ditaet versezt zu werden.
So pflegt ein Mensch, der in blindem Affeckt des Zorns geräth und
dem Gegenstande seines Zornes die schwersten Vorwürfe machen will,
ganz stum zu seyn. Ein recht verliebter gehet von seiner Ge-
liebten immer wegen eines schlechten Betragens mit Selbst-
reprochen ab. Kurz, jeder Blinde Affeckt wiederstreitet der Sitt-
lichkeit.

/Einige Engellische Autoren unterscheiden, und zwar mit
Recht, den Affeckt und die Leidenschafft oder Paßion. Die Lei-
denschafft ist eine Begierde, die uns unfähig macht auf die Summe
aller Begierden zu sehen; der Affeckt ist aber ein Gefühl, welcher
uns unfähig macht - die Summe aller Gefühle zu Rathe zu
ziehen. Jede Neigung die sehr vergnügt wird erschöpft; die Maßig-
keit hingegen hält die Sinne offen für Vergnügungen anderer Art.
Jedes gefühl volle mit Ruhe verknüpft, ist des grösten Ver-
gnügens fähig. Nichts ahnedlres ist, als eine Tafelmusick,
man kann sich bey Tische wohl auf eine weit feinere und ädle-
re Art vergnügen. Die Leidenschafften ist der Zustand der
Begierden, der uns auf andere Acht zu haben unvermögend
macht - sie verursacht daß ich die Gegenstände nicht nach der Summe
aller Begierden wählen kann. Hier opfert der Mensch seine Kräf-
te auf, etwas zu thun, was zu seinem Nutzen ist. aber seiner wah-
ren Glückseeligkeit handelt er zu wieder. Im Affeckt kann der Mensch
keine vernünftige Wahl vornehmen - der Affeck ist eine Neigung
der so wächst, daß sie alle andere Neigungen vertilgen, folglich

/ die

|P_178

/die Glückseeligkeit, die in der Befriedigung aller Neigungen be-
stehet vernichtet. - Man glaubt nicht eher, daß der andere etwas
im Ernste meine, als bis wir ihn mit Affeckt sehen. Es ist wahr
wo Affeckt ist, da ist auch Ernst, allein beym Kaltsinn kann auch Ernst
und noch großerer als beym Affeckt seyn. Wenn wir erst von
einem Gegenstande starck gerührt werden; so ists gewiß, daß
den Affeckt der Ekel bald ablösen werde, denn weil wir unse-
re Empfindsamkeit mit einmahl zu hoch gestimmt haben; so können
wir sie nicht lange aushalten. Kömmts aber zum Ab-
nehmen, so ist gleich Verdruß, Kummer und Eckel da, weil
wir die höchste Empfindung zum Maaßstabe angenommen ha-
ben. Man suche doch sein Leben immer so einzurichten, daß man
seinen Zustand steigern könne; das ist das einzige Mittel zur Glück-
seligkeit. Ein Verliebter im Betrunckenen Muth glaubt seine
Geliebte sey der schönste Gegenstand auf Erden; genüßt er sie und
die ersten Funcken brechen in volle Flammen aus, verlodern aber
gleich; so glaubt er, wenn er si«h»e hernach minder reitzend fin-
det betrogen zu seyn, da er sich doch selbst betrogen hat. - Die
fromme heilige Hitze ist die dollste unter allen. Die Natur hat in
uns keime zu Leidenschafften gelegt, um die grösten Zwecke
des Menschen dadurch zu befördern - Zorn ist eine Vertheydigungs-
Leidenschafft.

/Neigungen werden zu Affeckten dadurch, daß das Gemüth auf
eine Neigung aufmercksamer ist, als auf alle andere.
Die Natur hatte die Absicht, gleich in der zarten Kindheit den
Menschen zu seinen Zwecken zu führen, dies konnte durch die erst
angehende Vernunfft nicht geschehen, aber durch Keime zu Affeckten.

/ Wird

|P_179

/Wird aber die Neigung reif, so muß man den Affeckten weiter kein
Gehör geben, als nur so ferne, daß er sich von ihnen an die Zwecke
des Lebens erinnern läßt. Die Indianer haben alle die Affeckten,
welche die Europaeer haben, aber sie laßen keine zum Ausbruch
kommen wegen ihrer Freyheit.

/ ≥ Wir können die Neigungen eintheilen ≤

/1.) Nach der allgemeinen Bedingung aller Neigungen,
dies ist die Form

/2.) Nach den Objecten aller Neigungen.

/Die allgemeine Bedingung aller Neigungen ist Freyheit
und Vermögen. Ich kann nicht hoffen, daß mein Zustand der
Neigung gemäß möglich sey, wenn ich nicht frey bin, die Neigung nach
Freyheit ist die allerhöchste, weil sie die Bedingung aller Neigungen ist. Das
ist der schrecklichste Zustand eines Menschen, wenn immer ein ande-
rer seinen Zustand bestimmt, und für sein Glück nach seiner eig-
nen Neigung sorgt. Zum Vergnügen gehört. 1. Ansehen unter
den Menschen. 2. Gesundheit und Geschicklichkeit oder Talend. 3. Geld - 
dieß ist ein Mittel, alles was durch Menschen möglich ist sich zu ver-
schaffen. Menschen haben große Lust immer andere zu besiegen, es
sey auch worinn es wolle. Tapferkeit ist bey allen rohen Na-
tionen die größte Tugend. Dreistigkeit ist ein edles Vermögen
wenn sie aus einer bescheidenen Selbstbewustheit entspringt.
Kein Mensch kann dreister werden, der es nicht schon von Natur
ist, und jeder der es ist mißbraucht offt die Dreistigkeit. Wie kommts
daß der Geitzige ein unmittelbar Vergnügen am Gelde findet und
auf alle andere Zwecke des Lebens Verzicht thut? Vielleicht
aus Gewohnheit, indem er glaubt bey der Menge des Geldes alles

/ ge

|P_180

/genüßen zu können, aber würcklich nichts genüßt, auf allen
Genuß renuncirt, und bloß in der Beschauung seiner Schätze
Vergnügen und Wonne findet. Er «h»behilft sich bloß mit einem
idealen Genuß seines Vermögens, und es ist vor ihm schon Be-
«sch»friedigung, alles, was nur durch Menschen Bemühung mög-
lich genüßen zu können, wenn er nur will. Man kann sicher drauf
Rechnen die Neigung zur Gemächlichkeit. Die gröste Ungemächlich-
keit ist Zwang, und die Befehlshaberey eines Menschen, besonders, wen
er der Naturgaben nach, unter uns stehet, so daß wir ihn innerlich ver-
achten, aber doch Gehorsam seyn müßen. Alle Wilden finden in
der Unabhängligkeit die Ersetzung alles ihres Ungemachs.
Gemächlichkeit begleitet fast alle Begierden - einige Persohnen
scheinen immer darnach zu streben. Alle Werke der Kunst, die
Schwierigkeit und Peinlichkeit, zeigen Mißfallen, alle künstliche
Reden gleichfalls.

/ ≥ Gegenstände unserer Affeckten und Leidenschafften

/Der Autor theilt sie ein nach der Annehmlichkeit %und Unannehm-
lichkeit. Unangenehme Affeckten kanns wohl geben aber
nicht Leidenschafften; weil jene Gefühle - diese aber Begier-
den sind. Jeden angenehmen Affeckt nennen wir Freüde,
jeden unangenehmen Traurigkeit; Es muß aber die Annehm-
lichkeit bis zum Grade des Affeckts steigen um Freüde zu heißen.
Die Fröhlichkeit, da man alle Dinge von der Seite ansieht, daß
wir daraus Ruhe und Heiterkeit schöpfen, diese glückliche Laune,
das princip des Epicurs, ist das gröste Geschenck auf der Welt.
Man verachtet alle Menschen die im Affeckt sind, den ädlen Zorn
ausgenommen, wenn Jemand über einen armen
unschuldig unterdrückten in Affeckt geräth; den verdüncken
wir Niemanden. Im Affeckt ist der Mensch nicht mehr sein

/ eig

|P_181

/eigener Herr. Ausgelaßne Freüde ist Kindisch. Wenn man
sich über ein allgemeines Glück freüt, das vielen wieder-
fahren ist, so hat der Affeckt der Freüde noch Entschuldigung vor sich.
Bey den Affeckten verspürt man eine große Reitzbarkeit, wel-
che eben in dem schnellen Ursprunge der Begierden bestehet
und von der Empfindsamkeit, die bloß zum Urtheilen die-
net, weit unterschieden ist. Jemand kann ein zart Gefühl,
oder delicatesse der Ehre haben, d.i. durch den geringsten
Umstand beleidigt werden. Die zarte Empfindung ist er-
laubt, aber das Gefühl muß nicht zart seyn; oder die Em-
pfindsamkeit muß nicht in eine Begierde verwandelt wer-
den. Ein Mann muß nicht verzärtelt oder Weibisch seyn. Die
Frauenzimmer halten in gemein auf ihre Vorzüge, und sind
in Ansehung der Ehre und des Ranges sehr delicat. Man
kann allgemein anmercken, daß man auf einem Punckt,
über den noch gestritten wird, sehr hält und auf einen Vor-
zug destomehr erpicht sey je zweydeütiger er ist. Frauen-
zimmer haben keine eigentliche Vorzüge, nicht durch Ge-
lehrsamkeit, noch durch Staats-Maximen pp keine rechte
Verdienste vor die man Hochachtung haben sollte, und daher
sind sie so eifersüchtig auf ihre Ehre. Feige Leüte haben starcke
Leidenschafften ohne Hefftigkeit und Ungestüm, sie laßen sie
nicht ausbrechen, weil sie ihr Unvermögen zu satisfaciren
kennen. Zorn und Haß haben das gemein, daß sie beyde
auf den Unwillen gegen Jemanden ihre Beziehung
haben. Ihr unterschied bestehet wiederum darinn, daß der

/ Zorn

|P_182

/Zorn überraschend, der Haß aber daurend ist.

/Alle Neigungen gehen entweder auf die Menschen, oder Sachen;
die letztere sind bloß Mittel, unser Verhältniß gegen die er-
sten zu erhöhen, weil die Sachen an und vor sich keine
Wichtigkeit zu haben scheinen, sondern dieselbe nur Menschen
und dem Zustande derselben widmen. Wir bemercken,
daß der Zustand des Menschen jederzeit ein Grund der Sym-
pathie für uns ist, in ansehung der Empfindungen. Die Sym-
pathie ist eine Regemachung einer Menge von Empfindunge
die Affeckten hervorbringen. So hängen alle Neigungen mit
der Ehrliebe zusammen - man ist nicht bloß mit seinem ange-
nehmen Zustande zufrieden sondern man will auch in der
Meinung anderer in Ansehung unserer Persohn und Zustan-
des eine vortheilhaffte Stelle haben. Es läßt sich aber
nicht allein die Ehre, oder ein Tugendhaffter Mann, für
gleich viel bedeütend, doch dies gilt bloß von einem Ehrlie-
benden, nicht Ehrbegierigen, denn der leztere muß sich noth-
wendig in Gesellschafft lächerlich machen; die Ehrliebe kann
aber auch so gar eine Neigung zur Einsamkeit vernachlaßen.
Ein Ehrgeitziger aber unterscheidet sich darinn, daß er auch bey
die geringste Kleinigkeiten seine Ehre zu vergrößern sucht.
Die Menschen haben ferner einen Hang zur Gemeinheit, einer
will immer daß das, was ihn gefällt, auch andern gefallen soll.
Keiner verbirgt seine Wißenschafft, den er sucht den Werth
derselben in allgemeinen Beyfall und Gefallen. Die
Menschen Vergnügen uns also bloß wegen dieses Hanges.

/ Wir

|P_183

/Wir gerathen in Affeckt, nicht weil uns ein großes Ubel,
sondern weil uns Unrecht geschieht. Entweder wird unser Recht,
an den Sachen ange«h»griffen, oder es ist eine unmittelbare Be-
leidigung unserer Person, dieses leztere wird vorzüglich
mit der grösten Empfindung aufgenommen. Zorn gehört nicht
zum Haß, sondern zur Hefftigkeit der Empfindungen, die im
Ubergewicht besteht. Wir leiden und entschuldigen keinen
Zorn, und das darum, weil es ohne Uberlegung geschieht,
und gleich vorüber geht. Wir nennen solches Naturel ein
hitziges Temperament.

/Wenn dieser Zorn habituell wird; so ist er ganz unerträglich, denn
man ist vor ihm keinen Augenblick sicher, Bitterkeit und Haß
ist fast einerley, daß erste ist ein dauerhaffter Has. Der Zorn
kann noch entschuldiget werden, durch eine unbewuste Uber-
eilung des Menschen. Aber der Jachzorn das hitzige und auffahren-
de Gemüth läßt sich durch nichts entschuldigen. Was hilfts daß mi¿
ein solcher abbittet, ich bin doch nie für ihn sicher. Die Ursache liegt
in der Erziehung, wenn solche in der Jugend nicht genug
wierstand gefunden haben. Man kann sich die Hefftigkeit leicht
angewöhnen. - 

/ ≥ Vom Charackter der Menschen

/Wir können den Menschen betrachten

/1.) In Ansehung seines Cörpers. i.e. seiner Complexion.

/2.) In Ansehung der Verbindung des Cörpers mit der Seele.

/3.) ------ Gemüthkräfte oder des Naturells

/4.) ------ des Gebrauchs und der Anwendung derselben. i.e.
sein Charackter.

/Die Betrachtung der Complexion gehört zur Medicin, indeßen

/ hört

|P_184

/hört man nicht öffters, als dieses sagen: Der Mensch ist von ei-
ner starcken, trocknen, schwachen Complexion. Die Gemüths
Beschaffenheit in Verhältniß auf die Complexion des Menschen
erwägen

/ ≥ Die Temperamente

/Die Temperamente werden in 4; wir wollen sie in 2, %und
jede wieder in 2 «ein»theilen.

/I.) In Ansehung des Gefühls sind sie entweder

/a.) sanguinisch oder

/b.) Melancholisch

/Sie haben ihre Beziehung auf die Summe der Annehmlichkeit
die Jemand aus einem Gegenstande zu ziehen geneigt
ist. Es beruhet nemlich immer auf den Menschen, wie er die
Welt ansehen will, ob Beyfalls, oder Verachtungs würdig.
Traurigkeit und Freude stehen beständig unter seiner Dis-
position.

/Das sanguinische Temperament ist leichtsinnig; das me-
lancholische bleibt bey seinem Vorsatze hartnäckig,
es enthält Dauerhafftigkeit, Schwurigkeit und Verbindlichkeit,
alles zu übernehmen, und das übernommene beständig zu
befolgen. Beym Melancholico ist überhaupt der Haß, die Feind-
schafft und der Unwille gegen andere schwer zu vertilgen. Ei-
ne jede Achtung die sich der Mensch erwirbt, beruhet starck
auf einen Zusatz von Melancholie. Ein patriotischer Eifer %und
große Vorsätze erfordern ernsthafftigkeit, und bezeigen einen
Unwillen über eigenes Unvermögen sie hervorzubringen.
Wenn wir auf den Unterschied der complexion bey diesen Unter-
schiedenen Temperamenten stehen, so erfordert solches eine

/ groß

|P_185

/große Kenntniß der Medicin, welche aber selbst nicht im Stande
ist, bis dahin zu steigen. So viel können wir aber behaup-
ten, daß diese Verschiedenheit der Temperamente eigent-
lich darauf beruhe, daß bey einem Cörper die Eindrücke länger
hafften, als bey dem andern. Es läst sich auch leicht einsehen
daß eine Spannung der Nerven und Fasern, ein verkücktes
und leicht transpirirendes Blut den Menschen ein größeres Leben
empfinden läst, hingegen ist ein dick«ck»es Blut und schlaffe Span-
nung der Nerven eine große Hinderniß das Leben zu fühlen.
Aus diesen Verschiedenheiten entspringt die Lust oder Unlust.

/II.) In Ansehung der thätigen Begierden theilt man
die Temperamenten ein.

/a.) in cholerisch %und

/b.) in phlegmatische

/Das cholerische kann man das Temperament der Thätigkeit
nennen - überhaupt kann man von dieser Eintheilung behaup-
ten, daß sie in der Natur der Sache gegründet sey. Bey dem
cholerischen erblickt man eine völlige Gesundheit, eine
receptivitaet zu allen Empfindungen, welches ihm immer wäh-
rendes Vergnügen verschafft. Er muß beständig was zu thun haben,
er läuft der Arbeit nicht wegen seines Vergöttzens nach, sondern
bloß um etwas zu thun zu haben. Hieraus folgt von selbsten
daß der cholericus eine Neigung zur Ehre, denn derjenige hat
den grösten Antrieb nöthig, welcher davon, was der Empfindung
am wenigsten Nachkommt, bewegt wird.

/Beym Phlegmatico entscheidet die Ungemächlichkeit alles, und die

/ An

|P_186

/Anstrengung seiner Kräffte erweckt bey ihm den grosten Wie-
derwillen. Daß ein solches Phlegma öffters eine Ursache ha-
be, die im Cörper steckt und die Fähigkeiten deßelben bindet,
sehen wir an manchen Thieren, die gar keine Lust haben, ihre Kräffte
anzustrengen, wie z. B. das Faulthier. Ein Phlegmaticus genießt
wen er nichts thun darf, sich selbst. Im gelindern Sinne bedeutet
Phlegma den Mangel der Reitzbarkeit, und dient den Ausbruch der
Sinnlichkeit vor der Uberlegung der Vernunft zu hemmen, da
eine sehr große Reitzbarkeit immer Reüe nach sich zieht. Von einem
General fordert man Phlegma, von Soldaten aber choleri-
sches Feüer. Bey einem Frauenzimmer ist Phlegma und beson-
ders für einem jungen Mädchen kein großer Lobspruch. Bey den
Seeleuten findet sich bey der langen Seereise ein Phlegma, ihr
Temperament mag sonst beschaffen seyn wie es immerhin will.
Der enge Raum auf ihrem Schiffe verbietet ihnen Abwechselun-
gen, und öffters müßen sie auch wichtige Uberlegungen an-
stellen. Uberhaupt kann man behaupten, daß jemehr die Menschen
Anlaß haben große Leidenschafften zu entwickeln, desto mehrere Besorg-
niße entspringen, weil sie alles wichtig ansehen. Hingegen sind
diejenigen am lustigsten, welchen es leicht wird ihre Nahrung
zu finden. Beym Soldaten gründet sich das cholerisches Tempera-
ment, weil er offt, «¿»zum Zorn gelegenheit hat, dies aber entspringt
aus dem Bewustseyn seines Vermögens.

/Dem Kaufman ist sein Temperament am besten zu getheilt, wenn
er sich nicht durch die Neüigkeit der Sache will hintergehen laßen, %und
sie über ihren Werth bezahlen. Er muß nicht hitzig auffahren

/ wenn

|P_187

/wenn er betrogen wird, er muß sogleich die Uberlegung machen,
daß es zum Abgeben in tripl@o@ kommen könne. Das Cholerische Tempe-
rament hat den Fehler des Stolzes an sich. Die Franzosen sind un-
ter allen Nationen am meisten sanguinisch; denn obgleich der
Bauer und gemeine Mann nirgends mehr gedrückt wird als
in Franckreich, so sind sie dem ohnerachtet beständig heiter. Die
Nordischen Nationen sind in Ansehung des Vergnügens ganz passiv.
Sie können nicht anders recht passiv vergnügt seyn als bis sie sich be-
rauschen. Der Sanguinicus hat die Qvellen seines Vergnügens
in sich selbst, er kann sich mit bloßem Singen die Zeit vertrei-
ben. Eine gemeinschafftliche Gemüthsart bringt diese Neigung
gleichfalls hervor, denn jeder Genuß erschöpft, so wohl wenn er in
der Anwendung eigener Kräffte als auch überladung mit frem-
der Materie bestehet. Die Freude welche aus dem Discours entstehet,
ist die gröste, der Geschmack des Wirthen zeigt sich vornehmlich da-
rin, wenn er seine Gäste so placirt, daß ein jegliches Gele-
genheit hat, sein Talent zu zeigen, und der Gesellschaft
Vergnügen zu machen. Einige Persohnen sind dazu beson-
ders aufgelegt den allgemeinen Antheil zu mercken, der einem
Gegenstande «ge»zufallen konnte, und die Gesellschafft, welche im
discours lustig geworden ist, wieder dazu aufzuheitern. Der san-
guinische ist Reitzbar in Ansehung des Vergnügens und wird
von der Neüigkeit ergözt. Hingegen verdrießt ihm die Einer-
leyheit, wenn nehmlich ein Organ auf eine und dieselbe Art zu
lange gebraucht wird. Er hat den Fehler daß er offt das gute mit
dem schlechten verwechselt. Der Melancholische ist seiner Natur nach stanhafft

/ zur

|P_188

/zur Rache, aber nicht zum Zorn geneigt. In Religions-Sachen
ist ein Schwarmer - er sieht die Menschen beständig als Fein-
de an und ist daher mißtrauisch. Er stellt sich das Schicksal
der Menschen als traurig vor und wird dadurch erhaben,
weil er allein Dinge die wichtig sind vorzunehmen im Stan-
de ist - Von den Engelländern behauptet man, daß sie me-
lancholisch sind. Ob es nun gleich damit seine Richtigkeit hat
so muß man doch gestehen, daß man in allen ihren Wercken
Tiefsinn erblickt, welches sich sogar bis auf ihre Seiden-Manu-
facturen, die unter allen am dauerhaftesten sind erstreckt.
Man findet nach der obigen Eintheilung (bey jeden Menschen)
zwey Temperamente, folglich sind auch nur so viel Zusammensetzun-
gen möglich.

/1. Das cholerico sanguineum

/2.) Das phlegmatico sanguineum, welches ganz und gar der Wol-
lust ergeben ist, es thut weder Gutes noch Böses, denn beydes
incommodirt ihn

/3.) Das cholerico melancholicum welches in Engelland häufig
angetroffen wird, und daher auch zu weilen revolutionen
und Schwärmereyen Anlaß gegeben.

/4.) Das phlegmatico melancholicum.

/Wenn man endlich das sanguinische mit dem melancholi-
schen vermischt, so scheint dies zwar ein Wiederspruch zu
seyn, allein es will nur soviel sagen; daß sie gemä-
ßigt seyn und alle Temperamente sehr aneinander gränzen

/ könn

|P_189

/können. - Diejenigen, welche den Unterschied der Tem-
peramente, von der Beschaffenheit des Bluts herleiten, glauben,
daß das melancholische ein schwarzes Blut habe, dies ist aber
irrig; denn das physicalische der Temperamente ist uns noch
sehr unbekannt, und der Unterschied kann eher von den vesten
als flüßigen Theilen herühren, weil diese vermittelst jener be-
wegt werden. Die es aber von der Neigung herleiten wollen,
haben ein unrichtiges Object gewählt. Was den Punkt der Ehre
betrifft; so verdient dies nach Verschiedenheit der Länder und
Temperamente verschiedene Anmerckungen. In Franckreich hält
man es für die gröste Ehre, am Hofe gewesen zu seyn. In
Engelland hingegen macht man sich nichts daraus. Ein Fran-
zose will in Gesellschafften für nichts lieber, als einen Man von
gutem Ton gehalten werden. - Ein jedes Temperament kann
Ehre besitzen.

/In Religions-Sachen unterscheiden sich die Temperamente auf
folgende Art. Das Melancholische ist zur Schwermerey geneigt, weil
es alle Sachen von einer gefehrlichen Seite ansieht. Bey der Schwer-
merey liegt immer eine heilige Kühnheit zum Grunde - sie hat mit
der blasphemie sehr viel ähnliches, daher man mehrentheils
blasphemische Wörter, die die Ehrerbietigkeit gegen Gott aus den
Augen setzt, und eine Vertraulichkeit mit diesem Wesen
anzeigen sollen, dabey antrifft, ob sie gleich aus einem verkehr-
ten Grunde ihren Ursprung nimmt. Der Sanguinicus inclinirt

/ zur

|P_190

/zur Freygeisterey, welches eine Ungeduld anzeigt, sich an ge-
wiße Regeln zu binden. Es ist ganz was anderes, wenn man
aus Grundsätzen von einer Religion abgehet. So ist z.B. der mo-
ralische Freygeist derjenige, der sich aus Grundsätzen von den Vor-
schrifften der Religion loßzumachen sucht. Der Sanguinicus hält
die Religion nur für eine Mode des Landes, und dergleichen
Freygeister giebts in Fran«g»kreich die Menge. Der Cholericus
ist ein Orthodox; dies rührt bey ihm aus einer Herrschaft her.
Ein Geistlicher, wenn er ein Cholericus ist, mischt sich gern in frem-
de Händel; er sucht Aemter, wo er welche erhaschen kann, die
Orthodoxie ist nichts anders, als eine gewiße Strenge der
Observance andere und sich selbst an eine gewiße Regel,
die einmal eingeführt ist, zu binden. Der Phlegmaticus ist
Aberglaübisch, er ist beständig in einer Pö«g»belhafften Unthätig-
keit, die vorgetragene Dinge zu examiniren, und mag er-
zählungen von Wunderdingen gerne hören. Der Zustand der
alten Mönche in den Klöstern, die sich bloß ihrer Einbildungskrafft
überließen, war von der Art.

/In der Schreibart ist der Melancholische tiefsinnig, der sanguinische
nett, artig und schön. Bey den Deütschen findet man in allen
Stücken das methodische, und zwar in solcher Art, daß zulezt alles
schulmäßig zu seyn scheint. Das methodische kommt wohl von ihrem
cholerischen Temperament her, indem der Cholericus beständig
auf Ordnung hällt. Uberhaupt incliniren alle nordische Nationen
zum Phlegma, welches zu weilen wohl auch etwas gutes hervor

/ brin

|P_191

/bringen kann. Z. B. In Ansehung des äußern Anstandes bringt
eine große Sittsamkeit hervor. Verschiedene französische Schrifft-
steller behaupten von ihren Frauenzimmern, daß es das freündschaft
lichste Herz gegen Mansperson habe, selbst gegen diejenigen, mit wel-
chen es in keiner vertraulichen Conversation stehen. In Franckreich
findet man in Ansehung der Conduite zwischen dem vornehmen
und gemeinen Mann keinen Unterscheid; von dem engllischen
Pöbel kann man hingegen behaupten, daß in keinem Lande sich die
Gelehrsamkeit. Bis auf den gemeinen Mann so sehr erstrecket, als hier.
Englische Acteurs sollen Lustspiele. französische Trauerspiele
gut vorstellen.

/ ≥ Vom Naturell

/Naturell ist das Vermögen und die Gemüthskräffte, die Jeman-
den zu dem einen oder andern Stück geschickt machen; daher sagt man:
ein sanftes Naturell, welches sich in der Neigung und Begier-
de von andern etwas zu lernen, äußert, und ein demüthiges
dencken von sich selbst anzeigt. Ein rohes Naturell ist daßjenige,
welches immer in Wiedersprüchen ausbricht. Es gehören überhaupt
alle angebohrne Fähigkeiten des Kopfs zum naturell. Von den
Rußen hat man überhaupt angemerckt, daß sie ein sehr gelee-
riges Naturell haben, und emsige Nachahmer sind - sie besitzen
aber kein Genie. Dies ist auch die Ursache, warum so viele fremde
Gelehrte in ihr Land ziehen; denn ein recht Gelehrter muß noth-
wendig Genie haben. Der kann niemalen gut lehren der die Wahr-
heiten so «trag» vorträgt, wie er sie selbst gelernt hat. Fähigkeiten
in Ansehung des Kopfs heißen Talente. Genie hingegen ist ein

/ ei

|P_192

/eigenthümlicher Geist. Geist wird hier in der Bedeütung genommen,
in welcher es im Umgange in der Mahlerey, gilt. Wir nennen Bücher,
in welchen die Sachen zwar gründlich vorgetragen, aber altäglich
sind, ohne Geist. Hieraus sehen wir, daß wir darunter daßjenige ver-
stehen, was unsern Leben gleichsam einen Stoß giebt, oder alles daß,
was unsere Gemüths Kräffte durch große Aussichten, Abstechung, Neuig-
keit in Bewegung bringen kann. Das Genie ahmt nicht nach, und ob
man sich nicht in einigen Wißenschafften auch ohne Genie fortkom-
men kann; so sind Genies doch vorzüglich Hochzu achten, weil sie selten
sind. - In Engelland und Italien giebts wohl die meisten Genies,
weil ihre Regierungsform so beschaffen ist, daß es keiner vor noth-
wendig hällt sich dem Hofe, den Vornehmen, oder irgend einem
andern zu accommodiren. In Engelland treibt man die Kinder nicht
sonderlich zum Lernen an; allein bey jeder Gelegenheit zeigt man
ihnen, wo etwas zu gewinnen sey.

/ ≥ Vom Charackter

/Characktere sind nichts anders als das Eigenthümliche der obern Fä-
higkeiten. In jedem Menschen liegen zuvor große Triebfedern
und Zurüstungen zu allerhand Thätigkeiten, allein es liegt noch ein
oberes princip in ihm, aller der Fähigkeiten und Triebfedern sich
zu bedienen; Empfindungen aufzuopfern und zu hemmen pp Die Be-
schaffenheit dieser obern Kräffte macht den Charackter aus. Man sagt
also auch nicht, wenn man das Wort Charackter braucht, was der Mensch
für Fähigkeiten habe, sondern wie er sich derselben bedienet, und was er
thun werde. Man muß alle die Zwecke die die Handlungen des Menschen

/ un

|P_193

/untersuchen, wißen, wenn man seinen Charackter bestimmen will. Es
ist schwer die Characktere kennen zu lernen - In den Jugendjahren weiß
man sie zwar nicht zu bestimmen, weil sie noch nicht kenntlich genug
sind, und man noch nicht fällen genug vor sich hat, sie auszuforschen;
so wie man auch nicht zuverläßig vor dem 16ten oder 17ten Jahre
wißen kann, wie der Mensch aussehen werde, da er sich jederzeit
verändert und auswächst. Der Mensch kann sich keinen andern Cha-
rackter geben, als den er von Natur hat, und alles «ist» was er thun
kann, ist das schlimme zu mildern. Zum Guten müßen Keime vorhan-
den seyn, und man kann bald sehen ob sie da sind.

/ ≥ Von der Physionomie

/Die Menschen haben eine erstaunende Begierde Jemanden
kennen zu lernen, von dem sie eine Beschreibung gehört haben.
Uberhaupt wollen sich die Menschen daß außerordentliche gleich-
sam an den Augen ansehen, und ehe sie sie noch kennen, schon wißen,
was sie thun werden. Die Erfahrung lehrt es, daß einem Frem-
den jeder starr in die Augen sieht, von unten bis oben betrach-
tet, um ihn kennen zu lernen. Auch der Ursache sind wir auch
begierig einen Delinquenten beym Urtheil sprechen zu hören, kurz,
wir wollen einen Menschen, der wichtig ist, voraus kennen lernen,
und trauen seinen künstlichen Betragen viel weniger zu, als
seinen Gesichtszügen. Wir hören weniger auf seine Worte, als wir
ihm ins Gesicht sehen. Es erhellet also hieraus, daß uns schon die Natur
darauf führet, auf die Gestalt des Menschen Achtung zu geben, dies ist
ein ganz natürlicher Instinct, allein die Mittel und die Geschicklich-
keit zu finden, dem Menschen aus der Physionomie zu beurtheilen,

/ ist

|P_194

/ist ganz unsicher. Würde allgemeine Regeln dieser Kunst entwor-
fen werden, können; so würden wir jeden Menschen darnach bestimmen
wir würden jemanden Haßen, der es auch nicht mit seinen Hand-
lungen verdient. Dies ist aber der Bestimmung der Natur nicht gemäß,
denn sie will unter allen Menschen ein Vertrauen erhalten.
Wir wollen bey Beobachtung der Physionomie nicht bloß bey den
Merckmalen der Gesichtszüge stehen bleiben, sondern auch seine
Manieren, seinen Gang, auf alles, was der Anblick lehrt, überhaupt
auf die ganze Form des Menschen, so viel man wißen kann, einen Blick
werfen, und von der Beurtheilung des gegenwärtigen Zustandes den Anfang
machen. - Der Mensch stellt sich zuweilen vergnügt und ganz frey an,
allein man entdeckt doch an ihm den Gram und die Verlegenheit. Eini-
ge Menschen grinseln einem nur zu gefallen, wenn man etwas zu
lachen will und selbst den Thon dazu angiebt, man kann ihnen aber an
den starren Augen ansehen, daß es nicht ihr Ernst ist. Aus einigen Gesich-
tern kann man nicht urtheilen ob der Mensch vergnügt oder trau-
rig sey. Bey den Cholericis ist dies am schwersten zu erckennen. Ein
Cholericus ist an seinem beständigen steifen Gange zu kennen, %und
der sanguinicus an seiner unruhigen Stellung. Auf diese Weise
kann man einem faßt auf dem Gesichte lesen ob er verdrüßlich
oder aufgeräumt, zornig oder gütig, traurig oder vergnügt, schalck-
hafft und muthwillig, oder aufrichtig und redlich «s»gesinnt sey. Wenn
das Weiße im Auge trocken ist (welches überhaupt bey einer großen
Hitze zu geschehen pflegt) und die Farben des Regenbogens in
demselben wohl determinirt und wohl abgeschnitten sind; so pflegt
der Mensch gut disponirt zu seyn, flüßen aber die Farben am

/ Ran

|P_195

/Rande zusammen; so findet gewöhlich das Gegentheil statt. Fer-
ner wenn die Farbe im Regenbogen heller oder dunckler
ist, als sonsten Z. B. blauer, schwärzer pp oder die Augenlieder
sind weiter aufgethan, wie gewohnlich, so ist der Mensch ordinair
munter und gesund.

/Von dem jetzigen Zustand aber ist die Fertigkeit und der habitus sehr
unterschieden. Ein Mensch der jetzo vergnügt ist, kann sonst beständig
schwermüthig seyn. Wir wollen hier zuerst auf die complexion des
Menschen sehen. Hierauf pflegen insonderheit Mannspersohnen, wenn
sie heirathen sollen, oder wollen bey ihrer künftigen Frau zu regar-
diren. Z.B. Die von phlegmatischer complexion, pflegt sich gerne
bedienen zu laßen. Der Herr wird auf die complexion seines Bedienten
acht haben. - Man kann aber die Talente schwer erckennen, man siehet
zwar manchen den Verstand, den Witz, das drolligte Wesen, den
Muth pp an den Augen, allein solches ist gemeinhin sehr zweydeütig, be-
sonders beym lezten, indem diejenigen, die den grösten Muth ha-
ben, bloß zu seyn scheinen, und ihre Miene sanft und edel sind. - Man
glaubt den edlen Stolz jemanden ansehen zu können, daß muß aber
nicht seyn, sonst hört er auf edel zu seyn. Man findet daß Bauren
sich den König als einen Mann vorstellen, der durch keine Thür
kommen kann, und wundern sich sehr, wenn sie bis weilen in ei-
ner sehr kleinen Statur erblicken. Die Physionomie ist eine
Geselligkeit die keine Regel hat, man kann sie nur durch den Umgang,
Menschenkenntniß, Scharfsinnigkeit und Erfahrung lernen. Man muß
sie aber keines weges als eine bloße Chimaire ansehen. Alle Affeck- 

/ ten

|P_196

/ten bringen Mienen hervor, und wenn man eine Miene nach
macht so sezt man sich dadurch in Affeckt. Die Mienen
Sprache ist gewiß die beste, die natürlichste, und die ganze Welt wür-
de sie verstehen. Wer zu einem Affeckt eine Neigung hat, der wird
auch seine Mienen darnach bilden. Es ist aber zu mercken, daß
kein Mensch ohne alle Mienen sey - wenn man die auslegen
kann; so weiß man die Denckungs art des Menschen. - Im Gesicht
liegen die Mienen schon lange praeparirt; so wie der Hang. Mann
könnte sich leicht davon belehren, wenn man mit verschiedenen, die
man ausholen wollte, sich in ein tiefes Gespräch einlaßen wollte,
allein dieß ist nicht allemal rathsam, denn man beleidigt bestän-
dig einen, wenn man sich über ihn eine gar zu genaue Critic einläßt,
und man kann sich auch leicht in schlüßen übereilen. Einige Ge-
sichter scheinen gar keine Anlagen zu Mienen zu haben.
Andere haben wieder sehr viele Mienen, und können auch deren sehr
viele nachmachen, man nennt dieses einen Witz. - Bey einem Menschen
der von Natur zu einem Charackter gestimmt ist, findet man schon im
Zuschnitt seines Gesichts das Portrait. Die Mischung der Mienen kann
unschuldig seyn, und alle Menschen sehen alsdann gleich aus, allein
bey dem einen sticht dieses, beym andern jenes hervor. Im Gesicht ist
das Gepräge des Menschen; die Miene äußert also den Charackter, -
das Herz unterscheidet sich vom Temperament, und die Gestalten von den
Mienen. Der Charakter betrifft das Herz, dieser Ausdruck gilt nicht vom
Temperament, nicht von der Gestalt, auch nicht von den Talenten. Es ist
also eine große Feinheit, und erfordert viel Scharfsinn, denselben aufzu- 

/ su

|P_197

/suchen, und die Art der Gesinnungen zu erforschen. Man sieht darauf
am meisten. In einer Gesellschafft von Unbekannten sucht man sich
nach den Mienen jemandem zum Discours aus. Der etwas gefälli-
ges, gutherziges und Talente an sich zeigt. Die Offenherzigkeit liebt
man an Jedermann, weil dieß ein Zutrauen zum andern äußert,
und keinen Argwohn vom Bösen bey sich führt. Einem solchen Men-
schen nann sich gerne. Man siehts ihm an den Augen daß uns die Zeit
nicht lange währen wird. Was ist aber von den Büchern zu halten, die
von der Physionomie handeln? - Vieles ist darinnen wahr, aber all-
gemein gelten können sie nicht. Es giebt zu weilen «g»Augen die ganz un-
ruhig sind, und man kann sicher behaupten, daß wenn Jemand bey der
Erzählung mit den Augen spielt sonst aber nicht, so erzählt er die Unwahr-
heit. Das Blaß und Rothwerden ist noch ein sehr zweydeutiges Merck-
mal, woraus sich mit Gewißheit selten etwas schließen läßt. - Einige
Menschen sind besonders sehr dazu aufgelegt selbst in ihrem Gemüthe die klein-
sten Veränderungen wahrzunehmen. Wenn sich nun die Bewegungen
der Miene, die sich in diesem oder jenem Fall bey ihnen finden,
wahrnehmen, und solche auch bey andern bemercken, so können sie
offt mit vieler Zuverläßigkeit die Gemüths art des einen, und
des andern errathen und auf solche Art es in der Physionomie
weit bringen. Jemehr sich der Mensch verfeinert, desto reden-
der wird seine Miene, je kleiner der Umgang mit artigen
Menschen ist, desto weniger ausdrücke hat seine Miene. Den
Charackter eines Menschen kann man zu weilen an¿ der Gesellschafft

/ aus

|P_198

/den Lieblingszerstreuungen, auch aus der Kleidung, die Jemand beständig
wahlt, einigermaßen errathen. Bey den der das harte in den Farben
liebt, kann man kein Mittelmaß in der Abstechung in seiner Denkungs
Art, wohl aber, viele versprechende Eigenschafften in seinem Charackter
vermuthen.

/ ≥ Vom National_Charackter

/Giebts wohl National-Characktere? Diese Frage ist zu verneinen,
wenn man behaupten wollte, daß ein jedes einzelne Subject von ein
und demselben Volck einerley Charackter haben müßte, welches der be-
rühmte Hume in «se» einer seiner Abhandlung gleichfals zu verneinen
scheint. Wenn indeßen die Characktere nur das Herz und die Gesinnun-
gen allein gehen, so muß man doch gestehen, daß die Keime immer auf die
complexion ankommen. Es ist Z.b kein Wunder, wenn ein Mensch,
der eine Trägheit seiner Organe fühlt, in allen Handlungen, eine
Gleichgültigkeit beweiset. Alle Americaner haben eine große Gleichgül-
tigkeit in ihrem Character; so daß selbst die creolen daran participiren.
Sie können am längsten in tiefen gedanken stehen, sie thun entweder
gar nichts oder legen sich aufs Glücks und Wagespiel. Bey der ganzen
Türckischen Race, ob sie sich gleich so sehr ausgebreitet haben, daß die
Völcker derselben, unter ganz verschiedenen Himmelsstrichen wohnen,
und von Nahrungs Mitteln leben, die gar sehr differiren, findet sich
etwas stolzes und trotziges.

/ ≥ Anmerckung

/Was hier sonst noch angeführt werden könnte, ist schon
bey den Bemerckungen des Geschmacks abgehandelt.

/ Vom

/~δRand_198_Z_9

/{2- Zwar läst Sich in
Betracht des Na-
tional-Characters
nicht Sagen: dass
jedes einzelne Sub-
ject, einerley Ka-
racter haben sollte;
doch insofern der
Character, das Herz
und die Gesinnungen
allein umfast, hän
gen die Keime
immer von der Or-
ganisazion ab. -2} ~

|P_199

/ ≥ Vom Charackter der Geschlechter. ≤

/Das weibliche Geschlecht hat die gröste Schwäche und dessen Organisation den wenig-
sten Nachdruck. <Ihre> Bestimmung ist eigentlich den Mann zu regiren, es muß
also doch künstlich eingerichtet seyn? Eine Machine die an und für
sich dauerhafft ist, erfordert nicht so weitläufige Anstalten, und daher
ist das weibliche Geschlecht künstlicher Gebaut, als das männliche. Der
Mangel der Dauerhafftigkeit wird hier durch die Kunst ersezt.
Zur Vereinigung gewißer Persohnen, gehört nicht bloß eine Über-
einstimmung der Gesinnungen, Einerleyheit und Aehnlichkeit,
welches eine bloße Verträglichkeit bewürckt, sondern sie
muß sich unentbehrlich seyn, dieses findet aber nur alsdenn statt,
wenn die eine Person das hat, was der andern fehlt; wo folglich nur
alsden die höchste Vollkommenheit statt findet, wenn sie sich vereinigt ha-
ben. - Männliche Eigenschafften an einem Weibe, sind eben so
unschicklich, als weibliche an einem Manne. - Betrachtet man
den Schreck und die Furchtsamkeit der Weiber; so sieht man, daß
sie beym Manne unausstehlich wären; Beym Frauenzimmer aber
ists was Schenes - daher sie auch offt Schwachheiten affectiren - 
den Männern so zu sagen, zu gefallen, weil sie ihnen dadurch Ge-
legenheit verschaffen, ihre Stärcke und Großmuth zu zeigen und
sie zu beschützen. - Der Mann muß gar keine Schwürigkeit machen
seiner Frau oder ein anders Frauenzimmer durchs Waßer zu
tragen, wenn er gleich ebenso dünne Schue An hat als sie. Uber- 

/ haupt

/~δRand_199_Z_3

/{2- das weibliche
Geschlecht hat
die schwächste
OrganiSazion,
die eben darum
durch Kunst
ersezzt wird.
/
/
/eben darum
ist ihnen die
Vereinigung
mit dem Stär-
kern männ-
lichen Geschl
echt %unent-
behrlich. -2} ~

|P_200

/haupt scheints eine Gewohnheit zu seyn gegen Manns-personen, wenn
ihnen vom Frauenzimmer was aufgetragen wird. Der Mann ist
in Ansehung des Weibes physicalisch starck und practisch schwach. Der
Man hat eine besondere Schwäche gegen das Weib, welche das Weib
gegen den Mann nicht hat. Man findet es alle mahl sehr unanstän-
dig, wenn eine Eheman seine Frau schlägt, oder ihr auch nur gewiße
Beschwerlichkeiten auferlegt. Der Mann ist in Ansehung der Wahl
eines Frauenzimmers sehr delicat; das Frauenzimmer in Ansehung der
Männer lange nicht sehr, denn die Männer sind durchgehends nicht so
schön gebaut als die Weiber, und dahero müßen letztere auch nicht eine
so große delicatesse haben, sonst würden sie keinen Man leiden können,
der schlechter aussehen mögte wie sie. Eine andere Ursache des Man-
gels der delicatesse des Frauenzimmers in Ansehung der Wahl der
Männer ist, daß sie nicht selbsten wählen, sondern gewählt werden, und
deßwegen muß ihre Neigung auch allgemein und nicht auf eine
gewiße Mannspersohn geheftet seyn. Eine Frauensperson muß sich
durch aus nicht äußern, daß sie eine Neigung zu einer Mansperson hat,
sie stellen sich dahero auch gewöhnlich, als wenn sie den Mann nehmen, weil
er sie durchaus haben will. Die Natur hat ihnen diesen Stolz gegeben und
sie stellen sich dahero auch gewöhnlich, als wenn sie die Männer und ihre Caressen
höchstens nur dulden, aber kein vergnügen daran finde.

/Im engen Verstande sind alle Frauenzimmer coquette, und dies ist

/ auch

/~δRand_200_Z_4

/{2- der Mann ist in
Ansehung des Weibes
physikalisch Stark,
practisch Schwach.
/
/das Frauenzimmer
ist in der Wahl
des Mannes nicht
So delicat
/1. weil es weni-
ge Schöne Män-
ner Giebt
/2. weil sie
nicht selbst
wählt, son-
dern Gewählt
wird. -2} ~

|P_201

/auch der Natur sehr gemäß, denn da sie conti@noii@rlich gefallen sollen, wenn
sie gleich schon verheiratet sind, so kann man es ihnen auch nicht
übelnehmen, daß ihre Neigung aufs allgemeine gehet, wenn
sie nur nicht zu weit über ihre Schrancken hinausgehet, es kann ja leicht
geschehen daß ihr Mann stirbt, und denn hat sie ja wieder einen Beschützer
nöthig. Ohne Ehestand würden die Frauenspersonen die elendesten Ge-
schöpfe seyn, die lediglich dem Apetit der Männer zu Geboth stehen müßten.
Die Weiber bekommen die Herrschafft über die Dinge durch den Ehestand, durch
die Ehe verliert der Mann, und die Frau gewinnt Freyheit. Das Vermögen
des Mannes ist durch die Frau nachdrücklich. Wir finden auch daß fast all Frau-
enzimmer, sie mögen auch noch so viel Geld haben, dennoch heiraten, welches
aber nicht durchgehends von den Männern geschieht. Junge Männer herschen
über alte Weiber und umgekehrt, die Ursache ist leicht zu errathen, wenn
man nur überhaupt bemerckt, daß derjenige der nicht bezahlen kan, statt
der Zahlung sich mit Complimenten abzufinden sucht. Man kann sicher ver-
muthen, daß der, der sehr höflich ist, nicht im Stande ist gerecht werden.
Dies kann zur practischen Lehren dienen, wenn man so offt wahrnimmt,
wie die frühen Ausschweifungen der Männer, sie zu ihrer späten Knecht-
schafft praepariren.

/Wenn das Hauswesen von der Frau besorgt wird, so gehts offt
sehr verckehrt zu, wenn die Frauens gleich Verstand genug besitzen
so fehlt ihnen doch der Verstand der Männer, welches einem mänhichen

/ Ver

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/Verstande eigenthümlich ist und der dirigirende Verstand genannt wird.
Die Frauenzimmer sind zwar erfinderisch, aber nicht so fertig in der Exaction.
Sie sind sehr geneigt in dem innern ihres Haus wesens, was nicht jeder-
man sieht zu kargen: sie eßen schlecht, zwacken offt dem Gesinde
etwas ab, um nur, was die äußere façon der Glückseligkeit be-
trifft desto beßer parodiren zu können. Sie sind untereinander in be-
ständiger Jalousie und in einem immerwehrenden Kriege, besonders
wenn sie schön sind, als denn sucht immer eine die andere zu übertreffen,
und denn ist es erst recht was für sie wenn eine der andern einen
Vorzug abzwicken kann. Sie trauen sich auch einander nicht, und
es gestehet nicht leicht eine der andern ihre Leidenschafften %und Trie-
be, wie man es so offt bei den Männern sieht. Sie sind beständig delicater
auf Tittel und Vorzug, als die Männer, denn der Werth der Tittel des Wohl-
gefallen ihrer Frauens ist. - Das Frauenzimmer ist immer geschikter sich
in alle Räncke zu schicken als die Männer, es sey denn wenn sie aus einem
gar zu niedrigen Stande auf einmahl in nur höhere überstiegen
ist, alsdenn wird sie durch ihr gar zu große Höflichkeit ihre niedere Her-
kunft verrathen.

/Indessen kann ein artiges wohlgezogenes Mädchen immer einen vor-
nehmen Mann heirathen. Hat den die Natur eine Absicht Jalou-
sie unter den Weibern zu erwecken? Allerdings, wenn die nicht
wäre, so würden sie sich vereinigen, und die Herrschafft der Männer

/ über

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/über würde umsonst zweyfelhafft seyn. Die Frauens sind immer karger,
als die Manner, sie mögen auch noch so reich seyn, weil sie keine Verbind-
lichkeit erckennen, sondern alles was ihnen zu gefallen geschieht, für Pflicht
und Schuldigkeit halten. Ein Mann hingegen glaubt durch gefälligkeiten
zu Gegendiensten verpflichtet zu seyn. Sie selbst, die Weiber, ge-
ben nichts, welches auch wohl sehr nöthig ist, weil sie selbst nichts ver-
dienen. Das Geld wofür sie sich Bänder kaufen, ist ihnen gleich-
sam ans Herz gewachsen, sie geben es auch nur für den Putz aus. Wenn
diese Sparsamkeit nicht ausschweift, so ist sie sehr nützlich. Einem Mann
ist die Freygebigkeit weit anständiger, und einem kargen Mann
kann man keinen guten Wirth nennen, weil er sich selbst nicht gut
aufnimmt. Zwey arten giebt es das Haus wesen zu erhalten: viel
auf eine vernünftige Art auszugeben, wenn man viel einnimmt,
und wenig ausgeben, wenn man nicht viel einzunehmen hat. Der
persöhnliche Geschmack an der Reinlichkeit findet sich immer eher bey
den Mannspersonen, als bey dem Frauenzimmer. Bey diesem Ge-
schlecht laüft alles auf den Schein aus; bey dem männlichen hingegen,
immer mehr auf den wahren Besitz der Sache. Was den Ehren-
punckt der Männer anbetrifft, so sehen sie immer darauf, was die
Leute von ihnen dencken. Die Weiber können sich über diese
Einfalt der Männer nicht genug verwundern. Sie machen sich sehr

/ we

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/wenig daraus, was andere von ihnen dencken; wenn sie nur versichert
sind daß ihnen keiner ihre Fehler und Laster unter die Augen sezen
werde. Schmeycheleien hat das Frauenzimmer von den Männern im
reichlichsten Maaße, einzuerndten; es ist dieses ein unaufhörlicher
Tribut, den ihnen die Männer zahlen, ihr ganzer Werth ist durch
die Meynung der Männer, und durch das, was sie ihnen vorsagen be-
stimmt.

/Die Männer können sich ihren Werth selbst geben, sie müßen also einen
Tribut an das weibliche Geschlecht zahlen, wegen des Werths den sie schon
von Natur haben. Einen gewißen Stolz verlangt der Man von sei-
ner Frau, und ein Regiment über ihre Meinungen. Es ist auch besonders,
man kann einen jungen Frauenzimmer alle mögliche Schmeicheleyen
sagen, es mag auch auf die schalk«¿¿»haffteste Art beschehen. - Die Beyden
Stücken geschencke und Schmeycheleyen sind die gefährlichsten Klippen
eines Frauenzimmers, sie glauben zu sündigen, wenn sie den Mann
fahren laßen, den sie so sehr bezaubert haben.

/Das Frauenzimmer schäzet die Verdienste nicht unmittelbar, sondern
wie sie sich auf sie beziehen. Sie wollen also nicht selber die Eigen-
schafft haben, sondern nur einen Mann, der sie besitzt. So wünschen sie sich Z.B.
beym Romanlesen, da wo wir uns selbst in die Stelle des Roman-
helden setzen, nur einen solchen Mann zu haben. Ohne die Neigungen
der Männer, wäre dies Geschlecht nichts, und dennoch ist es stolz, das bewunde

/ rungs

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/rungswürdigste ist, daß die Männer diesen Stolz und diese Sprödig-
keit bey Personen, die sie lieben, so gerne sehen. Dieser gewiße Zwie-
spalt der Natur in den Geschlechtern ist sehr merckwürdig und wichtig - 
die Kenntniß davon hat im Umgange, im ehehlichen Stande und in der
Erziehung ihren sehr betröglichen Nutzen.

/ ≥ Ende der Antropologie

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